der proceß - kritische ausgabe - textband

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Franz Kaa Kritische Ausgabe Der Proceß S. Fischer

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Page 1: Der Proceß - Kritische Ausgabe - Textband

Franz KaaKritische Ausgabe

Der Proceß

S. Fischer

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Franz KaaSchrien Tagebücher Briefe

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Franz KaaSchrien Tagebücher Briefe

Kritische Ausgabe

Herausgegeben von

Jürgen Born, Gerhard Neumann,Malcolm Pasley und Jost Schillemeit

unter Beratung vonNahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe

und Marthe Robert

S. Fischer

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Franz Kaa

Der Proceß

Herausgegebenvon Malcolm Pasley

S. Fischer

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Redaktion dieses Bandes:Hans-Gerd Koch

Forschungsstelle Prager deutsche LiteraturBergische Universität

Gesamthochschule Wuppertal

Die Ausgabe wirdvon der Deutschen Forschungsgemeinscha

und dem Minister für Wissenscha und Forschungdes Landes Nordrhein-Westfalen gefördert

Der Prozeß, herausgegeben von Max Brod,erschien erstmals im Jahre im Verlag Die Schmiede, Berlin.

Lizenzausgabe mit Genehmigungvon Schocken Books Inc., New York City, USAfür die S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M.

Copyright by Schocken Verlag, BerlinCopyright by Schocken Books Inc., New York City, USA

Copyright , by Schocken Books Inc., New York City, USAFür diese Ausgabe:

© Schocken Books Inc., New York City, USAGestaltung: Peter W. Schmidt

Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, DarmstadtDruck: Wagner GmbH, Nördlingen

Einband: G. Lachenmaier, ReutlingenPrinted in Germany

--- --- (Textband)

--- (Apparatband)

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Der Proceß

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Verhaung

Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohnedaß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgensverhaet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zim-mervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr frühdas Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war nochniemals geschehn. K. wartete noch ein Weilchen, sah vonseinem Kopissen aus die alte Frau die ihm gegenüberwohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhn-lichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitigbefremdet und hungrig, läutete er. Sofort klope es undein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gese-hen hatte trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut,er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlichden Reiseanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen,Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war undinfolgedessen, ohne daß man sich darüber klar wurde,wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien.

„Wer sind Sie?“ fragte K. und saß gleich halb aufrecht imBett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, alsmüsse man seine Erscheinung hinnehmen und sagte bloßseinerseits: „Sie haben geläutet?“ „Anna soll mir das

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Frühstück bringen“, sagte K. und versuchte zunächststillschweigend durch Aufmerksamkeit und Überlegungfestzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber diesersetzte sich nicht allzulange seinen Blicken aus, sondernwandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, umjemandem, der offenbar knapp hinter der Tür stand, zusagen: „Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt.“Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es warnach dem Klang nicht sicher ob nicht mehrere Personendaran beteiligt waren. Trotzdem der fremde Mann da-durch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schonfrüher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Toneeiner Meldung: „Es ist unmöglich.“ „Das wäre neu“,sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch seine Hosenan. „Ich will doch sehn, was für Leute im Nebenzimmersind und wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüberverantworten wird.“ Es fiel ihm zwar gleich ein, daß erdas nicht hätte laut sagen müssen und daß er dadurchgewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremdenanerkannte, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig. Im-merhin faßte es der Fremde so auf, denn er sagte:

„Wollen Sie nicht lieber hier bleiben?“ „Ich will wederhierbleiben noch von Ihnen angesprochen werden, so-lange Sie sich mir nicht vorstellen.“ „Es war gut ge-meint“, sagte der Fremde und öffnete nun freiwillig dieTür. Im Nebenzimmer, in das K. langsamer eintrat als erwollte, sah es auf den ersten Blick fast genau so aus, wie

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am Abend vorher. Es war das Wohnzimmer der FrauGrubach, vielleicht war in diesem mit Möbeln DeckenPorzellan und Photographien überfüllten Zimmer heuteein wenig mehr Raum als sonst, man erkannte das nichtgleich, umsoweniger als die Hauptveränderung in derAnwesenheit eines Mannes bestand, der beim offenenFenster mit einem Buch saß, von dem er jetzt aulickte.

„Sie hätten in Ihrem Zimmer bleiben sollen! Hat esIhnen denn Franz nicht gesagt?“ „Ja, was wollen Siedenn?“ sagte K. und sah von der neuen Bekanntscha zudem mit Franz Benannten, der in der Tür stehen geblie-ben war, und dann wieder zurück. Durch das offeneFenster erblickte man wieder die alte Frau, die mitwahrha greisenhaer Neugierde zu dem jetzt gegen-überliegenden Fenster getreten war, um auch weiterhinalles zu sehn. „Ich will doch Frau Grubach – “, sagte K.,machte eine Bewegung, als reiße er sich von den zweiMännern los, die aber weit von ihm entfernt standen,und wollte weitergehn. „Nein“, sagte der Mann beimFenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand auf.

„Sie dürfen nicht weggehn, Sie sind ja gefangen.“ „Essieht so aus“, sagte K. „Und warum denn?“ fragte erdann. „Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen.Gehn Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahrenist nun einmal eingeleitet und Sie werden alles zurrichtigen Zeit erfahren. Ich gehe über meinen Auraghinaus, wenn ich Ihnen so freundschalich zurede. Aber

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ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz und der istselbst gegen alle Vorschri freundlich zu Ihnen. WennSie auch weiterhin so viel Glück haben, wie bei derBestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversicht-lich sein.“ K. wollte sich setzen, aber nun sah er, daß imganzen Zimmer keine Sitzgelegenheit war, außer demSessel beim Fenster. „Sie werden noch einsehn, wie wahrdas alles ist“, sagte Franz und gieng gleichzeitig mit demandern Mann auf ihn zu. Besonders der letztere über-ragte K. bedeutend und klope ihm öers auf die Schul-ter. Beide prüen K.’s Nachthemd und sagten, daß erjetzt ein viel schlechteres Hemd werde anziehn müssen,daß sie aber dieses Hemd wie auch seine übrige Wäscheauewahren und, wenn seine Sache günstig ausfallensollte, ihm wieder zurückgeben würden. „Es ist besser,Sie geben die Sachen uns, als ins Depot“, sagten sie,

„denn im Depot kommen öers Unterschleife vor undaußerdem verkau man dort alle Sachen nach einergewissen Zeit, ohne Rücksicht ob das betreffende Ver-fahren zuende ist, oder nicht. Und wie lange dauerndoch derartige Processe besonders in letzter Zeit! Siebekämen dann schließlich allerdings vom Depot denErlös, aber dieser Erlös ist erstens an sich schon gering,denn beim Verkauf entscheidet nicht die Höhe des An-gebotes sondern die Höhe der Bestechung, und zweitensverringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß, wenn sievon Hand zu Hand und von Jahr zu Jahr weitergegeben

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werden.“ K. achtete auf diese Reden kaum, das Verfü-gungsrecht über seine Sachen, das er vielleicht nochbesaß, schätzte er nicht hoch ein, viel wichtiger war esihm Klarheit über seine Lage zu bekommen; in Gegen-wart dieser Leute konnte er aber nicht einmal nachden-ken, immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wäch-ters – es konnten ja nur Wächter sein – förmlich freund-schalich an ihn, sah er aber auf, dann erblickte er ein zudiesem dicken Körper gar nicht passendes trockenesknochiges Gesicht, mit starker seitlich gedrehter Nase,das sich über ihn hinweg mit dem andern Wächterverständigte. Was waren denn das für Menschen? Wovonsprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebtedoch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alleGesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seinerWohnung zu überfallen? Er neigte stets dazu, alles mög-lichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Ein-tritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für dieZukun zu treffen, selbst wenn alles drohte. Hier schienihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das ganzeals Spaß ansehn, als einen groben Spaß, den ihm ausunbekannten Gründen, vielleicht weil heute sein drei-ßigster Geburtstag war, die Kollegen in der Bank ver-anstaltet hatten, es war natürlich möglich, vielleichtbrauchte er nur auf irgendeine Weise den Wächtern insGesicht zu lachen und sie würden mitlachen, vielleichtwaren es Dienstmänner von der Straßenecke, sie sahen

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ihnen nicht unähnlich – trotzdem war er diesmal förm-lich schon seit dem ersten Anblick des Wächters Franzentschlossen nicht den geringsten Vorteil, den er viel-leicht gegenüber diesen Leuten besaß, aus der Hand zugeben. Darin daß man später sagen würde, er habekeinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Ge-fahr, wohl aber erinnerte er sich – ohne daß es sonstseine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrungen zulernen – an einige an sich unbedeutende Fälle, in denener zum Unterschied von seinen Freunden mit Bewußt-sein, ohne das geringste Gefühl für die möglichen Folgensich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch dasErgebnis gestra worden war. Es sollte nicht wiedergeschehn, zumindest nicht diesmal, war es eine Komö-die, so wollte er mitspielen. Noch war er frei. „Erlauben Sie“, sagte er und giengeilig zwischen den Wächtern durch in sein Zimmer. „Erscheint vernünig zu sein“, hörte er hinter sich sagen. Inseinem Zimmer riß er gleich die Schubladen des Schreib-tisches auf, es lag dort alles in großer Ordnung, abergerade die Legitimationspapiere, die er suchte, konnte erin der Aufregung nicht gleich finden. Schließlich fand erseine Radfahrlegitimation und wollte schon mit ihr zuden Wächtern gehn, dann aber schien ihm das Papier zugeringfügig und er suchte weiter, bis er den Geburts-schein fand. Als er wieder in das Nebenzimmer zurück-kam, öffnete sich gerade die gegenüberliegende Tür und

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Frau Grubach wollte dort eintreten. Man sah sie nureinen Augenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt, alssie offenbar verlegen wurde, um Verzeihung bat, ver-schwand und äußerst vorsichtig die Türe schloß. „Kom-men Sie doch herein“, hatte K. gerade noch sagen kön-nen. Nun aber stand er mit seinen Papieren in der Mittedes Zimmers, sah noch auf die Tür hm, die sich nichtwieder öffnete und wurde erst durch einen Anruf derWächter aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am offe-nen Fenster saßen und wie K. jetzt erkannte, sein Früh-stück verzehrten. „Warum ist sie nicht eingetreten?“fragte er. „Sie darf nicht“, sagte der große Wächter, „Siesind doch verhaet.“ „Wie kann ich denn verhaet sein?Und gar auf diese Weise?“ „Nun fangen Sie also wiederan“, sagte der Wächter und tauchte ein Butterbrot insHonigfäßchen. „Solche Fragen beantworten wir nicht.“

„Sie werden sie beantworten müssen“, sagte K. „Hiersind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir jetzt dieIhrigen und vor allem den Verhabefehl.“ „Du lieberHimmel!“ sagte der Wächter, „daß Sie sich in Ihre Lagenicht fügen können und daß Sie es darauf angelegt zuhaben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlichvon allen Ihren Mitmenschen am nächsten stehn, nutzloszu reizen.“ „Es ist so, glauben Sie es doch“, sagte Franz,führte die Kaffeetasse die er in der Hand hielt nicht zumMund sondern sah K. mit einem langen wahrscheinlichbedeutungsvollen, aber unverständlichen Blicke an. K.

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ließ sich ohne es zu wollen in ein Zwiegespräch derBlicke mit Franz ein, schlug dann aber doch auf seinePapiere und sagte: „Hier sind meine Legitimationspa-piere.“ „Was kümmern uns denn die?“ rief nun schonder große Wächter, „Sie führen sich ärger auf als einKind. Was wollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großenverfluchten Proceß dadurch zu einem raschen Endebringen, daß Sie mit uns den Wächtern über Legitima-tion und Verhabefehl diskutieren? Wir sind niedrigeAngestellte, die sich in einem Legitimationspapier kaumauskennen und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tunhaben, als daß sie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wachehalten und dafür bezahlt werden. Das ist alles, was wirsind, trotzdem aber sind wir fähig einzusehn, daß diehohen Behörden, in deren Dienst wir stehn, ehe sie einesolche Verhaung verfügen, sich sehr genau über dieGründe der Verhaung und die Person des Verhaetenunterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere Be-hörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur dieniedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld inder Bevölkerung, sondern wird wie es im Gesetz heißtvon der Schuld angezogen und muß uns Wächter aus-schicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?“

„Dieses Gesetz kenne ich nicht“, sagte K. „Destoschlimmer für Sie“, sagte der Wächter. „Es besteht wohlauch nur in Ihren Köpfen“, sagte K., er wollte sichirgendwie in die Gedanken der Wächter einschleichen,

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sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern.Aber der Wächter sagte nur abweisend: „Sie werden eszu fühlen bekommen.“ Franz mischte sich ein und sagte:

„Sieh Willem er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht undbehauptet gleichzeitig schuldlos zu sein.“ „Du hast ganzrecht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen“,sagte der andere. K. antwortete nichts mehr; muß ich,dachte er, durch das Geschwätz dieser niedrigsten Or-gane – sie geben selbst zu, es zu sein – mich noch mehrverwirren lassen? Sie reden doch jedenfalls von Dingen,die sie gar nicht verstehn. Ihre Sicherheit ist nur durchihre Dummheit möglich. Ein paar Worte, die ich miteinem mir ebenbürtigen Menschen sprechen werde,werden alles unvergleichlich klarer machen, als die läng-sten Reden mit diesen. Er gieng einige Male in demfreien Raum des Zimmers auf und ab, drüben sah er diealte Frau die einen noch viel altern Greis zum Fenstergezerrt hatte, den sie umschlungen hielt; K. mußtedieser Schaustellung ein Ende machen: „Führen Sie michzu Ihrem Vorgesetzten“, sagte er. „Bis er es wünscht;nicht früher“, sagte der Wächter, der Willem genanntworden war. „Und nun rate ich Ihnen“, fügte er hinzu,

„in Ihr Zimmer zu gehn, sich ruhig zu verhalten unddarauf zu warten, was über Sie verfügt werden wird. Wirraten Ihnen, zerstreuen Sie sich nicht durch nutzloseGedanken, sondern sammeln Sie sich, es werden großeAnforderungen an Sie gestellt werden. Sie haben uns

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nicht so behandelt, wie es unser Entgegenkommen ver-dient hätte, Sie haben vergessen, daß wir, mögen wirauch sein was immer, zumindest jetzt Ihnen gegenüberfreie Männer sind, das ist kein kleines Übergewicht.Trotzdem sind wir bereit, falls Sie Geld haben, Ihnen einkleines Frühstück aus dem Kafeehaus drüben zu brin-gen.“ Ohne auf dieses Angebot zu antworten, stand K. einWeilchen lang still. Vielleicht würden ihn die Beiden,wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Türdes Vorzimmers öffnen würde, gar nicht zu hindernwagen, vielleicht wäre es die einfachste Lösung desGanzen, daß er es auf die Spitze trieb. Aber vielleichtwürden sie ihn doch packen und war er einmal niederge-worfen, so war auch alle Überlegenheit verloren, die erihnen jetzt gegenüber in gewisser Hinsicht doch wahrte.Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor, wie sie dernatürliche Verlauf bringen mußte, und ging in sein Zim-mer zurück, ohne daß von seiner Seite oder von Seite derWächter ein weiteres Wort gefallen wäre. Er warf sich auf sein Bett und nahm vom Nachttischeinen schönen Apfel, den er sich gestern Abend für dasFrühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einzigesFrühstück und jedenfalls, wie er sich beim ersten großenBissen versicherte, viel besser, als das Frühstück aus demschmutzigen Nachtkafe gewesen wäre, das er durch dieGnade der Wächter hätte bekommen können. Er fühlte

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sich wohl und zuversichtlich, in der Bank versäumte erzwar heute vormittag seinen Dienst, aber das war bei derverhältnismäßig hohen Stellung die er dort einnahm,leicht entschuldigt. Sollte er die wirkliche Entschuldi-gung anführen? Er gedachte es zu tun. Würde man ihmnicht glauben, was in diesem Fall begreiflich war, sokonnte er Frau Grubach als Zeugin führen oder auch diebeiden Alten von drüben, die wohl jetzt auf dem Marschzum gegenüberliegenden Fenster waren. Es wunderteK., wenigstens aus dem Gedankengang der Wächterwunderte es ihn, daß sie ihn in das Zimmer getriebenund ihn hier allein gelassen hatten, wo er doch zehnfacheMöglichkeit hatte sich umzubringen. Gleichzeitig aller-dings fragte er sich, mal aus seinem Gedankengang, wasfür einen Grund er haben könnte, es zu tun. Etwa weildie zwei nebenan saßen und sein Frühstück abgefangenhatten? Es wäre so sinnlos gewesen sich umzubringen,daß er, selbst wenn er es hätte tun wollen, infolge derSinnlosigkeit dessen dazu nicht imstande gewesen wäre.Wäre die geistige Beschränktheit der Wächter nicht soauffallend gewesen, so hätte man annehmen können, daßauch sie infolge der gleichen Überzeugung keine Gefahrdarin gesehen hätten, ihn allein zu lassen. Sie mochtenjetzt, wenn sie wollten zusehn, wie er zu einem Wand-schränkchen gieng, in dem er einen guten Schnaps aue-wahrte, wie er ein Gläschen zuerst zum Ersatz desFrühstücks leerte und wie er ein zweites Gläschen dazu

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bestimmte, ihm Mut zu machen, das letztere nur ausVorsicht für den unwahrscheinlichen Fall, daß es nötigsein sollte. Da erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmerderartig, daß er mit den Zähnen ans Glas schlug. „DerAufseher ru Sie“, hieß es. Es war nur das Schreien, dasihn erschreckte, dieses kurze abgehackte militärischeSchreien, das er dem Wächter Franz gar nicht zugetrauthätte. Der Befehl selbst war ihm sehr willkommen,

„endlich“ rief er zurück, versperrte den Wandschrankund eilte sofort ins Nebenzimmer. Dort standen diezwei Wächter und jagten ihn, als wäre das selbstver-ständlich, wieder in sein Zimmer zurück. „Was fälltEuch ein?“ riefen sie, „im Hemd wollt Ihr vor denAufseher? Er läßt Euch durchprügeln und uns mit!“„Laßt mich, zum Teufel“, rief K., der schon bis zuseinem Kleiderkasten zurückgedrängt war, „wenn manmich im Bett überfällt, kann man nicht erwarten michim Festanzug zu finden.“ „Es hil nichts“, sagten dieWächter, die immer wenn K. schrie, ganz ruhig, ja fasttraurig wurden und ihn dadurch verwirrten oder gewis-sermaßen zur Besinnung brachten. „Lächerliche Cere-monien!“ brummte er noch, hob aber schon einen Rockvom Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mit beiden Hän-den, als unterbreite er ihn dem Urteil der Wächter. Sieschüttelten die Köpfe. „Es muß ein schwarzer Rocksein“, sagten sie. K. warf darauin den Rock zu Boden

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und sagte – er wußte selbst nicht, in welchem Sinn er essagte –: „Es ist doch noch nicht die Hauptverhandlung.“Die Wächter lächelten, blieben aber bei ihrem: „Es mußein schwarzer Rock sein.“ „Wenn ich dadurch die Sachebeschleunige, soll es mir recht sein“, sagte K., öffneteselbst den Kleiderkasten, suchte lange unter den vielenKleidern, wählte sein bestes schwarzes Kleid, ein Jakett-kleid, das durch seine Taille unter den Bekannten fastAufsehen gemacht hatte, zog nun auch ein anderesHemd an und begann sich sorgfältig anzuziehn. ImGeheimen glaubte er eine Beschleunigung des Ganzendamit erreicht zu haben, daß die Wächter vergessenhatten, ihn zum Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, obsie sich vielleicht daran doch erinnern würden, aber dasfiel ihnen natürlich gar nicht ein, dagegen vergaß Willemnicht, Franz mit der Meldung, daß sich K. anziehe, zumAufseher zu schicken. Als er vollständig angezogen war, mußte er knapp vorWillem durch das leere Nebenzimmer in das folgendeZimmer gehn, dessen Tür mit beiden Flügeln bereitsgeöffnet war. Dieses Zimmer wurde wie K. genau wußteseit kurzer Zeit von einem Fräulein Bürstner, einerSchreibmaschinistin bewohnt, die sehr früh in die Arbeitzu gehen pflegte, spät nachhause kam und mit der K.nicht viel mehr als die Grußworte gewechselt hatte. Jetztwar das Nachttischchen von ihrem Bett als Verhand-lungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt und der

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Aufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beine über einan-der geschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne desStuhles gelegt. In einer Ecke des Zimmers standen dreijunge Leute und sahen die Photographien des FräuleinBürstner an, die in einer an der Wand aufgehängtenMatte steckten. An der Klinke des offenen Fenstershieng eine weiße Bluse. Im gegenüberliegenden Fensterlagen wieder die zwei Alten, doch hatte sich ihre Gesell-scha vergrößert, denn hinter ihnen sie weit überragendstand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd,der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückteund drehte. „Josef K.?“ fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.’szerstreute Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. „Sie sinddurch die Vorgänge des heutigen Morgens wohl sehrüberrascht?“ fragte der Aufseher und verschob dabei mitbeiden Händen die paar Gegenstände die auf demNachttischchen lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, einBuch und ein Nadelkissen, als seien es Gegenstände, dieer zur Verhandlung benötige. „Gewiß“, sagte K. und dasWohlgefühl endlich einem vernünigen Menschen ge-genüberzustehn und über seine Angelegenheit mit ihmsprechen zu können ergriff ihn, „gewiß ich bin über-rascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.“ „Nichtsehr überrascht?“ fragte der Aufseher und stellte nun dieKerze in die Mitte des Tischchens, während er dieandern Sachen um sie gruppierte. „Sie mißverstehen

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mich vielleicht“, beeilte sich K. zu bemerken. „Ichmeine – “ Hier unterbrach sich K. und sah sich nacheinem Sessel um. „Ich kann mich doch setzen?“ fragteer. „Es ist nicht üblich“, antwortete der Aufseher. „Ichmeine“, sagte nun K. ohne weitere Pause, „ich binallerdings sehr überrascht, aber man ist, wenn mandreißig Jahre auf der Welt ist und sich allein hat durch-schlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegenÜberraschungen abgehärtet und nimmt sie nicht zuschwer. Besonders die heutige nicht.“ „Warum beson-ders die heutige nicht?“ „Ich will nicht sagen, daß ichdas Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir dieVeranstaltungen die gemacht wurden, doch zu umfang-reich. Es müßten alle Mitglieder der Pension daranbeteiligt sein und auch Sie alle, das gienge über dieGrenzen eines Spaßes. Ich will also nicht sagen, daß esein Spaß ist.“ „Ganz richtig“, sagte der Aufseher und sahnach, wieviel Zündhölzchen in der Zündhölzchen-schachtel waren. „Anderseits aber“, fuhr K. fort undwandte sich hiebei an alle und hätte gern sogar den dreibei den Photographien sich zugewendet, „andererseitsaber kann die Sache auch nicht viel Wichtigkeit haben.Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt bin, aber nichtdie geringste Schuld auffinden kann wegen deren manmich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich,die Hauptfrage ist: von wem bin ich angeklagt? WelcheBehörde führt das Verfahren? Sind Sie Beamte? Keiner

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hat eine Uniform, wenn man nicht Ihr Kleid“ – hierwandte er sich an Franz – „eine Uniform nennen will,aber es ist doch eher ein Reiseanzug. In diesen Fragen ver-lange ich Klarheit und ich bin überzeugt, daß wir nach die-ser Klarstellung von einander den herzlichsten Abschiedwerden nehmen können.“ Der Aufseher schlug die Zünd-hölzchenschachtel auf den Tisch nieder. „Sie befinden sichin einem großen Irrtum“, sagte er. „Diese Herren hierund ich sind für Ihre Angelegenheit vollständig nebensäch-lich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts. Wir könntendie regelrechtesten Uniformen tragen und Ihre Sache wür-de um nichts schlechter stehn. Ich kann Ihnen auch durch-aus nicht sagen, daß Sie angeklagt sind oder vielmehrich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind verhaet, das istrichtig, mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben die Wäch-ter etwas anderes geschwätzt, dann ist eben nur Ge-schwätz gewesen. Wenn ich nun also auch Ihre Fragennicht beantworten kann, so kann ich Ihnen doch raten,denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen ge-schehen wird, denken Sie lieber mehr an sich. Und ma-chen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Un-schuld, es stört den nicht gerade schlechten Eindruck, denSie im übrigen machen. Auch sollten Sie überhaupt imReden zurückhaltender sein, fast alles was Sie vorhin ge-sagt haben, hätte man auch wenn Sie nur paar Worte ge-sagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen können, außer-dem war es nichts übermäßig für Sie Günstiges.“

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K. starrte den Aufseher an. Schulmäßige Lehren be-kam er hier von einem vielleicht jungem Menschen? Fürseine Offenheit wurde er mit einer Rüge bestra? Undüber den Grund seiner Verhaung und über deren Auf-traggeber erfuhr er nichts? Er geriet in eine gewisseAufregung, gieng auf und ab, woran ihn niemand hin-derte, schob seine Manschetten zurück, befühlte dieBrust, strich sein Haar zurecht, kam an den drei Herrenvorüber, sagte „es ist ja sinnlos“, worauf sich diese zuihm umdrehten und ihn entgegenkommend aber ernstansahen, und machte endlich wieder vor dem Tisch desAufsehers halt. „Der Staatsanwalt Hasterer ist meinguter Freund“, sagte er, „kann ich ihm telephonieren?“

„Gewiß“, sagte der Aufseher, „aber ich weiß nicht,welchen Sinn das haben sollte, es müßte denn sein, daßSie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu bespre-chen haben.“ „Welchen Sinn?“ rief K. mehr bestürzt, alsgeärgert. „Wer sind Sie denn? Sie wollen einen Sinn undführen das Sinnloseste auf was es gibt? Ist es nicht zumSteinerweichen? Die Herren haben mich zuerst überfal-len und jetzt sitzen oder stehn sie hier herum und lassenmich vor Ihnen die hohe Schule reiten. Welchen Sinn eshätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn ichangeblich verhaet bin? Gut, ich werde nicht telepho-nieren.“ „Aber doch“, sagte der Aufseher und strecktedie Hand zum Vorzimmer aus, wo das Telephon war,

„bitte telephonieren Sie doch.“ „Nein, ich will nicht

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mehr“, sagte K. und ging zum Fenster. Drüben war nochdie Gesellscha beim Fenster und schien nur jetzt da-durch, daß K. ans Fenster herangetreten war, in derRuhe des Zuschauens ein wenig gestört. Die Alten woll-ten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen beruhigtesie. „Dort sind auch solche Zuschauer“, rief K. ganz lautdem Aufseher zu und zeigte mit dem Zeigefinger hinaus.

„Weg von dort“, rief er dann hinüber. Die drei wichenauch sofort ein paar Schritte zurück, die beiden Altensogar noch hinter den Mann, der sie mit seinem breitenKörper deckte und nach seinen Mundbewegungen zuschließen, irgendetwas auf die Entfernung hin unver-ständliches sagte. Ganz aber verschwanden sie nicht,sondern schienen auf den Augenblick zu warten, bis siesich unbemerkt wieder dem Fenster nähern könnten.

„Zudringliche, rücksichtslose Leute!“ sagte K., als ersich ins Zimmer zurückwendete. Der Aufseher stimmteihm möglicherweise zu, wie K. mit einem Seitenblick zuerkennen glaubte. Aber es war ebensogut möglich daß ergar nicht zugehört hatte, denn er hatte eine Hand festauf den Tisch gedrückt und schien die Finger ihrerLänge nach zu vergleichen. Die zwei Wächter saßen aufeinem mit einer Schmuckdecke verhüllten Koffer undrieben ihre Knie. Die drei jungen Leute hatten dieHände in die Hüen gelegt und sahen ziellos herum. Eswar still wie in irgendeinem vergessenen Bureau. „Nunmeine Herren“, rief K., es schien ihm einen Augenblick

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lang, als trage er alle auf seinen Schultern, „Ihrem Aus-sehn nach zu schließen, düre meine Angelegenheitbeendet sein. Ich bin der Ansicht, daß es am besten ist,über die Berechtigung oder Nichtberechtigung IhresVorgehns nicht mehr nachzudenken und der Sachedurch einen gegenseitigen Händedruck einen versöhnli-chen Abschluß zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansichtsind, dann bitte – “ und er trat an den Tisch des Aufse-hers hin und reichte ihm die Hand. Der Aufseher hobdie Augen, nagte an den Lippen und sah auf K.’s ausge-streckte Hand, noch immer glaubte K. der Aufseherwerde einschlagen. Dieser aber stand auf, nahm einenharten runden Hut, der auf Fräulein Bürstners Bett lagund setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen auf,wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. „Wieeinfach Ihnen alles scheint!“ sagte er dabei zu K. „Wirsollten der Sache einen versöhnlichen Abschluß geben,meinten Sie? Nein, nein, das geht wirklich nicht. Womitich andererseits durchaus nicht sagen will, daß Sie ver-zweifeln sollen. Nein, warum denn? Sie sind nur verhaf-tet, nichts weiter. Das hatte ich Ihnen mitzuteilen, habees getan und habe auch gesehn, wie Sie es aufgenommenhaben. Damit ist es für heute genug und wir können unsverabschieden, allerdings nur vorläufig. Sie werden wohljetzt in die Bank gehn wollen?“ „In die Bank?“ fragte K.

„Ich dachte, ich wäre verhaet.“ K. fragte mit einemgewissen Trotz, denn obwohl sein Handschlag nicht

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angenommen worden war, fühlte er sich insbesondereseitdem der Aufseher aufgestanden war immer unabhän-giger von allen diesen Leuten. Er spielte mit ihnen. Erhatte die Absicht, falls sie weggehn sollten, bis zumHaustor nachzulaufen und ihnen seine Verhaung anzu-bieten. Darum wiederholte er auch: „Wie kann ich dennin die Bank gehn, da ich verhaet bin?“ „Ach so“, sagteder Aufseher, der schon bei der Tür war, „Sie habenmich mißverstanden, Sie sind verhaet, gewiß, aber dassoll Sie nicht hindern Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollenauch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindertsein.“ „Dann ist das Verhaetsein nicht sehr schlimm“,sagte K. und gieng nahe an den Aufseher heran. „Ichmeinte es niemals anders“, sagte dieser. „Es scheint aberdann nicht einmal die Mitteilung der Verhaung sehrnotwendig gewesen zu sein“, sagte K. und gieng nochnäher. Auch die andern hatten sich genähert. Alle warenjetzt auf einem engen Raum bei der Tür versammelt. „Eswar meine Pflicht“, sagte der Aufseher. „Eine dummePflicht“, sagte K. unnachgiebig. „Mag sein“, antworteteder Aufseher, „aber wir wollen mit solchen Reden nichtunsere Zeit verlieren. Ich hatte angenommen, daß Sie indie Bank gehn wollen. Da Sie auf alle Worte aufpassen,füge ich hinzu: ich zwinge Sie nicht in die Bank zu gehn,ich hatte nur angenommen, daß Sie es wollen. Und umIhnen das zu erleichtern und Ihre Ankun in der Bankmöglichst unauffällig zu machen, habe ich diese drei

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Herren Ihre Kollegen hier zu Ihrer Verfügung gehalten.“„Wie?“ rief K. und staunte die drei an. Diese so uncha-rakteristischen blutarmen jungen Leute, die er immernoch nur als Gruppe bei den Photographien in derErinnerung hatte, waren tatsächlich Beamte aus seinerBank, nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und bewieseine Lücke in der Allwissenheit des Aufsehers, aberuntergeordnete Beamte aus der Bank waren es aller-dings. Wie hatte K. das übersehen können? Wie hatte erdoch hingenommen sein müssen, von dem Aufseher undden Wächtern, um diese drei nicht zu erkennen. Densteifen, die Hände schwingenden Rabensteiner, denblonden Kullich mit den tiefliegenden Augen und Kami-ner mit dem unausstehlichen durch eine chronischeMuskelzerrung bewirkten Lächeln. „Guten Morgen!“sagte K. nach einem Weilchen und reichte den sichkorrekt verbeugenden Herren die Hand. „Ich habe Siegar nicht erkannt. Nun werden wir also an die Arbeitgehn, nicht?“ Die Herren nickten lachend und eifrig, alshätten sie die ganze Zeit über darauf gewartet, nur als K.seinen Hut vermißte, der in seinem Zimmer liegen ge-blieben war, liefen sie sämtlich hintereinander ihn holen,was immerhin auf eine gewisse Verlegenheit schließenließ. K. stand still und sah ihnen durch die zwei offenenTüren nach, der letzte war natürlich der gleichgültigeRabensteiner, der bloß einen eleganten Trab angeschla-gen hatte. Kaminer überreichte den Hut und K. mußte

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sich, wie dies übrigens auch öers in der Bank nötig war,ausdrücklich sagen, daß Kaminers Lächeln nicht Absichtwar, ja daß er überhaupt absichtlich nicht lächelnkonnte. Im Vorzimmer öffnete dann Frau Grubach, diegar nicht sehr schuldbewußt aussah, der ganzen Gesell-scha die Wohnungstür und K. sah, wie so o, auf ihrSchürzenband nieder, das so unnötig tief in ihren mäch-tigen Leib einschnitt. Unten entschloß sich K., die Uhrin der Hand, ein Automobil zu nehmen, um die schonhalbstündige Verspätung nicht unnötig zu vergrößern.Kaminer lief zur Ecke, um den Wagen zu holen, die zweiandern versuchten offensichtlich K. zu zerstreuen, alsplötzlich Kullich auf das gegenüberliegende Haustorzeigte, in dem eben der Mann mit dem blonden Spitzbarterschien und im ersten Augenblick ein wenig verlegendarüber, daß er sich jetzt in seiner ganzen Größe zeigte,zur Wand zurücktrat und sich anlehnte. Die Alten warenwohl noch auf der Treppe. K. ärgerte sich über Kullich,daß dieser auf den Mann aufmerksam machte, den erselbst schon früher gesehn, ja den er sogar erwartethatte. „Schauen Sie nicht hin“, stieß er hervor ohne zubemerken, wie auffallend eine solche Redeweise gegen-über selbständigen Männern war. Es war aber auch keineErklärung nötig, denn gerade kam das Automobil, mansetzte sich und fuhr los. Da erinnerte sich K. daß er dasWeggehn des Aufsehers und der Wächter gar nicht be-merkt hatte, der Aufseher hatte ihm die drei Beamten

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verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher. VielGeistesgegenwart bewies das nicht und K. nahm sichvor, sich in dieser Hinsicht genauer zu beobachten.Doch drehte er sich noch unwillkürlich um und beugtesich über das Hinterdeck des Automobils vor, um mög-licherweise den Aufseher und die Wächter noch zu sehn.Aber gleich wendete er sich wieder zurück ohne auchnur den Versuch gemacht zu haben jemanden zu suchen,und lehnte sich bequem in die Wagenecke. Trotzdem esnicht den Anschein hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruchnötig gehabt, aber nun schienen die Herren ermüdet,Rabensteiner sah rechts aus dem Wagen, Kullych linksund nur Kaminer stand mit seinem Grinsen zur Verfü-gung, über das einen Spaß zu machen leider die Mensch-lichkeit verbot.

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Gespräch mit Frau Grubach Dann Fräulein Bürstner

In diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weisezu verbringen, daß er nach der Arbeit wenn dies nochmöglich war – er saß meistens bis neun Uhr im Bureau –einen kleinen Spaziergang allein oder mit Bekanntenmachte und dann in eine Bierstube gieng, wo er an einemStammtisch mit meist altern Herren gewöhnlich bis elfUhr beisammensaß. Es gab aber auch Ausnahmen vondieser Einteilung, wenn K. z. B. vom Bankdirektorder seine Arbeitskra und Vertrauenswürdigkeit sehrschätzte zu einer Autofahrt oder zu einem Abendessenin seiner Villa eingeladen wurde. Außerdem gieng K.einmal in der Woche zu einem Mädchen namens Elsa,die während der Nacht bis in den späten Morgen alsKellnerin in einer Weinstube bediente und während desTages nur vom Bett aus Besuche empfieng. An diesem Abend aber – der Tag war unter ange-strengter Arbeit und vielen ehrenden und freundschali-chen Geburtstagswünschen schnell verlaufen – wollte K.sofort nachhause gehn. In allen kleinen Pausen der Ta-gesarbeit hatte er daran gedacht; ohne genau zu wissen,was er meinte, schien es ihm, als ob durch die Vorfälle

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des Morgens eine große Unordnung in der ganzen Woh-nung der Frau Grubach verursacht worden sei und daßgerade er nötig sei, um die Ordnung wieder herzustellen.War aber einmal diese Ordnung hergestellt, dann warjede Spur jener Vorfälle ausgelöscht und alles nahmseinen alten Gang wieder auf. Insbesondere von den dreiBeamten war nichts zu befürchten, sie waren wieder indie große Beamtenscha der Bank versenkt, es war keineVeränderung an ihnen zu bemerken. K. hatte sie öerseinzeln und gemeinsam in sein Bureau berufen, zu kei-nem andern Zweck als um sie zu beobachten; immerhatte er sie befriedigt entlassen können. Als er um halb zehn Uhr abends vor dem Hause, indem er wohnte ankam, traf er im Haustor einen jungenBurschen, der dort breitbeinig stand und eine Pfeiferauchte. „Wer sind Sie“, fragte K. sofort und brachte seinGesicht nahe an den Burschen, man sah nicht viel imHalbdunkel des Flurs. „Ich bin der Sohn des Hausmei-sters, gnädiger Herr“, antwortete der Bursche, nahm diePfeife aus dem Mund und trat zur Seite. „Der Sohn desHausmeisters?“ fragte K. und klope mit seinem Stockungeduldig den Boden. „Wünscht der gnädige Herretwas? Soll ich den Vater holen?“ „Nein, nein“, sagte K.,in seiner Stimme lag etwas Verzeihendes, als habe derBursche etwas Böses ausgeführt, er aber verzeihe ihm.

„Es ist gut“, sagte er dann und gieng weiter, aber ehe erdie Treppe hinaufstieg, drehte er sich noch einmal um.

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Er hätte geradewegs in sein Zimmer gehen können,aber da er mit Frau Grubach sprechen wollte, klope ergleich an ihre Türe an. Sie saß mit einem Strickstrumpfam Tisch, auf dem noch ein Haufen alter Strümpfe lag.K. entschuldigte sich zerstreut, daß er so spät komme,aber Frau Grubach war sehr freundlich und wollte keineEntschuldigung hören: für ihn sei sie immer zu spre-chen, er wisse sehr gut, daß er ihr bester und liebsterMieter sei. K. sah sich im Zimmer um, es war wiedervollkommen in seinem alten Zustand, das Frühstücksge-schirr, das früh auf dem Tischchen beim Fenster gestan-den hatte, war auch schon weggeräumt. Frauenhändebringen doch im Stillen viel fertig, dachte er, er hätte dasGeschirr vielleicht auf der Stelle zerschlagen, aber gewißnicht hinaustragen können. Er sah Frau Grubach miteiner gewissen Dankbarkeit an. „Warum arbeiten Sienoch so spät“, fragte er. Sie saßen nun beide am Tischund K. vergrub von Zeit zu Zeit eine Hand in dieStrümpfe. „Es gibt viel Arbeit“, sagte sie, „während desTages gehöre ich den Mietern; wenn ich meine Sachen inOrdnung bringen will, bleiben mir nur die Abende.“

„Ich habe Ihnen heute wohl noch eine außergewöhnli-che Arbeit gemacht.“ „Wieso denn“, fragte sie etwas eifri-gerwerdend, die Arbeit ruhte in ihrem Schooß. „Ich meinedie Männer, die heute früh hier waren.“ „Ach so“, sagtesie und kehrte wieder in ihre Ruhe zurück, „das hat mirkeine besondere Arbeit gemacht.“ K. sah schweigend

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zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm. „Siescheint sich zu wundern, daß ich davon spreche“, dach-te er, „sie scheint es nicht für richtig zu halten daß ichdavon spreche. Desto wichtiger ist es daß ich es tue. Nurmit einer alten Frau kann ich davon sprechen.“ „Doch,Arbeit hat es gewiß gemacht“, sagte er dann, „aber eswird nicht wieder vorkommen.“ „Nein, das kann nichtwieder vorkommen“, sagte sie bekräigend und lächelteK. fast wehmütig an. „Meinen Sie das ernstlich?“ fragteK. „Ja“, sagte sie leiser, „aber vor allem dürfen Sie esnicht zu schwer nehmen. Was geschieht nicht alles in derWelt! Da Sie so vertraulich mit mir reden Herr K., kannich Ihnen ja eingestehn, daß ich ein wenig hinter der Türgehorcht habe und daß mir auch die beiden Wächter eini-ges erzählt haben. Es handelt sich ja um Ihr Glück unddas liegt mir wirklich am Herzen, mehr als mir vielleichtzusteht, denn ich bin ja bloß die Vermieterin. Nun, ichhabe also einiges gehört, aber ich kann nicht sagen, daßes etwas besonders Schlimmes war. Nein. Sie sind zwarverhaet, aber nicht so wie ein Dieb verhaet wird.Wenn man wie ein Dieb verhaet wird, so ist es schlimm,aber diese Verhaung – . Es kommt mir wie etwas Ge-lehrtes vor, entschuldigen Sie wenn ich etwas Dummessage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwarnicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß.“ „Es ist gar nichts Dummes, was Sie gesagt haben FrauGrubach, wenigstens bin auch ich zum Teil Ihrer Mei-

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nung, nur urteile ich über das ganze noch schärfer alsSie, und halte es einfach nicht einmal für etwas Gelehrtessondern überhaupt für nichts. Ich wurde überrumpelt,das war es. Wäre ich gleich nach dem Erwachen, ohnemich durch das Ausbleiben der Anna beirren zu lassen,gleich aufgestanden und ohne Rücksicht auf irgendje-mand, der mir in den Weg getreten wäre, zu Ihnengegangen, hätte ich diesmal ausnahmsweise etwa in derKüche gefrühstückt, hätte mir von Ihnen die Kleidungs-stücke aus meinem Zimmer bringen lassen, kurz hätteich vernünig gehandelt, es wäre nichts weiter geschehn,es wäre alles, was werden wollte, erstickt worden. Manist aber so wenig vorbereitet. In der Bank z. B. bin ichvorbereitet, dort könnte mir etwas derartiges unmöglichgeschehn, ich habe dort einen eigenen Diener, das allge-meine Telephon und das Bureautelephon stehn vor mirauf dem Tisch, immerfort kommen Leute, Parteien undBeamte; außerdem aber und vor allem bin ich dortimmerfort im Zusammenhang der Arbeit, daher geistes-gegenwärtig, es würde mir geradezu ein Vergnügen ma-chen dort einer solchen Sache gegenübergestellt zu wer-den. Nun es ist vorüber und ich wollte eigentlich auchgar nicht mehr darüber sprechen, nur Ihr Urteil, dasUrteil einer vernünigen Frau wollte ich hören und binsehr froh, daß wir darin übereinstimmen. Nun müssenSie mir aber die Hand reichen, eine solche Übereinstim-mung muß durch Handschlag bekräigt werden.“

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Ob sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hatmir die Hand nicht gereicht, dachte er und sah die Frauanders als früher, prüfend an. Sie stand auf weil auch eraufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil ihrnicht alles was K. gesagt hatte verständlich gewesen war.Infolge dieser Befangenheit sagte sie aber etwas, was siegar nicht wollte und was auch gar nicht am Platze war:

„Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Herr K.“, sagtesie, hatte Tränen in der Stimme und vergaß natürlichauch an den Handschlag. „Ich wüßte nicht, daß ich esschwer nehme“, sagte K. plötzlich ermüdet und dasWertlose aller Zustimmungen dieser Frau einsehend. Bei der Tür fragte er noch: „Ist Fräulein Bürstnerzuhause?“ „Nein“, sagte Frau Grubach und lächelte beidieser trockenen Auskun mit einer verspäteten ver-nünigen Teilnahme. „Sie ist im Teater. Wollten Sieetwas von ihr? Soll ich ihr etwas ausrichten?“ „Ach, ichwollte nur paar Worte mit ihr reden.“ „Ich weiß leidernicht, wann sie kommt; wenn sie im Teater ist, kommtsie gewöhnlich spät.“ „Das ist ja ganz gleichgültig“,sagte K. und drehte schon den gesenkten Kopf der Türzu, um wegzugehn, „ich wollte mich nur bei ihr ent-schuldigen, daß ich heute ihr Zimmer in Anspruchgenommen habe.“ „Das ist nicht nötig, Herr K., Sie sindzu rücksichtsvoll, das Fräulein weiß ja von gar nichts, siewar seit dem frühen Morgen noch nicht zuhause, es istauch schon alles in Ordnung gebracht, sehen Sie selbst.“

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Und sie öffnete die Tür zu Fräulein Bürstners Zimmer.„Danke, ich glaube es“, sagte K., gieng dann aber dochzu der offenen Tür. Der Mond schien still in das dunkleZimmer. Soviel man sehen konnte war wirklich alles anseinem Platz, auch die Bluse hieng nicht mehr an derFensterklinke. Auffallend hoch schienen die Polster imBett, sie lagen zum Teil im Mondlicht. „Das Fräuleinkommt o spät nachhause“, sagte K. und sah FrauGrubach an, als trage sie die Verantwortung dafür. „Wieeben junge Leute sind!“ sagte Frau Grubach entschuldi-gend. „Gewiß, gewiß“, sagte K., „es kann aber zu weitgehn.“ „Das kann es“, sagte Frau Grubach, „wie sehrhaben Sie recht Herr K. Vielleicht sogar in diesem Fall.Ich will Fräulein Bürstner gewiß nicht verleumden, sieist ein gutes liebes Mädchen, freundlich, ordentlich,pünktlich, arbeitsam, ich schätze das alles sehr, abereines ist wahr, sie sollte stolzer, zurückhaltender sein.Ich habe sie in diesem Monat schon zweimal in entlege-nen Straßen immer mit einem andern Herrn gesehn. Esist mir sehr peinlich, ich erzähle es beim wahrhaigenGott nur Ihnen Herr K., aber es wird sich nicht vermei-den lassen, daß ich auch mit dem Fräulein selbst darüberspreche. Es ist übrigens nicht das einzige, das sie mirverdächtig macht.“ „Sie sind auf ganz falschem Weg“,sagte K., wütend und fast unfähig es zu verbergen,

„übrigens haben Sie offenbar auch meine Bemerkungüber das Fräulein mißverstanden, so war es nicht ge-

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meint. Ich warne Sie sogar aufrichtig, dem Fräuleinirgendetwas zu sagen, Sie sind durchaus im Irrtum, ichkenne das Fräulein sehr gut, es ist nichts davon wahr wasSie sagten. Übrigens vielleicht gehe ich zu weit, ich willSie nicht hindern, sagen Sie ihr, was Sie wollen. GuteNacht.“ „Herr K.“, sagte Frau Grubach bittend undeilte K. bis zu seiner Tür nach, die er schon geöffnethatte, „ich will ja noch gar nicht mit dem Fräulein reden,natürlich will ich sie vorher noch weiter beobachten, nurIhnen habe ich anvertraut was ich wußte. Schließlichmuß es doch im Sinne jedes Mieters sein, wenn man diePension rein zu erhalten sucht und nichts anderes istmein Bestreben dabei.“ „Die Reinheit!“ rief K. nochdurch die Spalte der Tür, „wenn Sie die Pension reinerhalten wollen, müssen Sie zuerst mir kündigen.“ Dannschlug er die Tür zu, ein leises Klopfen beachtete er nichtmehr. Dagegen beschloß er, da er gar keine Lust zum Schla-fen hatte, noch wachzubleiben und bei dieser Gelegen-heit auch festzustellen wann Fräulein Bürstner kommenwürde. Vielleicht wäre es dann auch möglich, so unpas-send es sein mochte, noch paar Worte mit ihr zu reden.Als er im Fenster lag und die müden Augen drückte,dachte er einen Augenblick sogar daran, Frau Grubachzu bestrafen und Fräulein Bürstner zu überreden, ge-meinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschien ihmdas entsetzlich übertrieben und er hatte sogar den Ver-

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dacht gegen sich, daß er darauf ausgieng, die Wohnungwegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichtswäre unsinniger und vor allem zweckloser und verächt-licher gewesen. Als er des Hinausschauens auf die leere Straße über-drüssig geworden war, legte er sich auf das Kanapee,nachdem er die Tür zum Vorzimmer ein wenig geöffnethatte, um jeden der die Wohnung betrat, gleich vomKanapee aus sehn zu können. Etwa bis elf Uhr lag erruhig eine Cigarre rauchend auf dem Kanapee. Von daab hielt er es aber nicht mehr dort aus, sondern gieng einwenig ins Vorzimmer, als könne er dadurch die Ankundes Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hatte kein be-sonderes Verlangen nach ihr, er konnte sich nicht einmalgenau erinnern, wie sie aussah, aber nun wollte er mit ihrreden und es reizte ihn, daß sie durch ihr spätes Kom-men auch noch in den Abschluß dieses Tages Unruheund Unordnung brachte. Sie war auch schuld daran, daßer heute nicht zu abend gegessen und daß er den fürheute beabsichtigten Besuch bei Elsa unterlassen hatte.Beides konnte er allerdings noch dadurch nachholen,daß er jetzt in das Weinlokal gieng, in dem Elsa bedien-stet war. Er wollte es auch noch später nach der Unterre-dung mit Fräulein Bürstner tun. Es war halb zwölf vorüber, als jemand im Treppen-haus zu hören war. K., der seinen Gedanken hingegebenim Vorzimmer, so als wäre es sein eigenes Zimmer, laut

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auf und abgieng, flüchtete hinter seine Tür. Es warFräulein Bürstner, die gekommen war. Fröstelnd zog sie,während sie die Tür versperrte, einen seidenen Shawl umihre schmalen Schultern zusammen. Im nächsten Au-genblick mußte sie in ihr Zimmer gehn, in das K. gewißum Mitternacht nicht eindringen dure; er mußte siealso jetzt ansprechen, hatte aber unglücklicherweise ver-säumt, das elektrische Licht in seinem Zimmer anzu-drehn, so daß sein Vortreten aus dem dunklen Zimmerden Anschein eines Überfalls hatte und wenigstens sehrerschrecken mußte. In seiner Hilflosigkeit und da keineZeit zu verlieren war, flüsterte er durch den Türspalt:

„Fräulein Bürstner.“ Es klang wie eine Bitte, nicht wieein Anruf. „Ist jemand hier“, fragte Fräulein Bürstnerund sah sich mit großen Augen um. „Ich bin es“, sagteK. und trat vor. „Ach Herr K.!“ sagte Fräulein Bürstnerlächelnd, „Guten Abend“ und sie reichte ihm die Hand.

„Ich wollte ein paar Worte mit Ihnen sprechen, wollenSie mir das jetzt erlauben?“ „Jetzt?“ fragte FräuleinBürstner, „muß es jetzt sein? Es ist ein wenig sonderbar,nicht?“ „Ich warte seit neun Uhr auf Sie.“ „Nun ja, ichwar im Teater, ich wußte doch nichts von Ihnen.“ „DerAnlaß für das was ich Ihnen sagen will hat sich erst heuteergeben.“ „So, nun ich habe ja nichts grundsätzlichesdagegen, außer daß ich zum Hinfallen müde bin. Alsokommen Sie auf paar Minuten in mein Zimmer. Hierkönnen wir uns auf keinen Fall unterhalten, wir wecken

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ja alle und das wäre mir unseretwegen noch unangeneh-mer als der Leute wegen. Warten Sie hier, bis ich inmeinem Zimmer angezündet habe, und drehn Sie dannhier das Licht ab. K. tat so, wartete dann aber noch, bisFräulein Bürstner ihn aus ihrem Zimmer nochmals leiseaufforderte zu kommen. „Setzen Sie sich“, sagte sie undzeigte auf die Ottomane, sie selbst blieb aufrecht amBettpfosten trotz der Müdigkeit, von der sie gesprochenhatte; nicht einmal ihren kleinen, aber mit einer Über-fülle von Blumen geschmückten Hut legte sie ab. „Waswollten Sie also? Ich bin wirklich neugierig.“ Sie kreuzteleicht die Beine. „Sie werden vielleicht sagen“, begannK., „daß die Sache nicht so dringend war, um jetztbesprochen zu werden, aber – “ „Einleitungen überhöreich immer“, sagte Fräulein Bürstner. „Das erleichtertmeine Aufgabe“, sagte K. „Ihr Zimmer ist heute früh,gewissermaßen durch meine Schuld, ein wenig inUnordnung gebracht worden, es geschah durch fremdeLeute gegen meinen Willen und doch wie gesagt durchmeine Schuld; dafür wollte ich um Entschuldigung bit-ten.“ „Mein Zimmer?“ fragte Fräulein Bürstner und sahstatt des Zimmers, K. prüfend an. „Es ist so“, sagte K.und nun sahen sich beide zum erstenmal in die Augen,

„die Art und Weise in der es geschah, ist an sich keinesWortes wert.“ „Aber doch das eigentlich Interessante“,sagte Fräulein Bürstner. „Nein“, sagte K. „Nun“, sagteFräulein Bürstner, „ich will mich nicht in Geheimnisse

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eindrängen, bestehen Sie darauf, daß es uninteressant ist,so will ich auch nichts dagegen einwenden. Die Ent-schuldigung um die Sie bitten gebe ich Ihnen hiemitgern, besonders da ich keine Spur einer Unordnungfinden kann.“ Sie machte, die flachen Hände tief an dieHüen gelegt, einen Rundgang durch das Zimmer. Beider Matte mit den Photographien blieb sie stehn. „SehnSie doch“, rief sie, „meine Photographien sind wirklichdurcheinandergeworfen. Das ist aber häßlich. Es ist alsojemand unberechtigter Weise in meinem Zimmer gewe-sen.“ K. nickte und verfluchte im stillen den BeamtenKaminer, der seine öde sinnlose Lebhaigkeit niemalszähmen konnte. „Es ist sonderbar“, sagte FräuleinBürstner, „daß ich gezwungen bin, Ihnen etwas zu ver-bieten was Sie sich selbst verbieten müßten, nämlich inmeiner Abwesenheit mein Zimmer zu betreten.“ „Icherklärte Ihnen doch Fräulein“, sagte K. und gieng auchzu den Photographien, „daß nicht ich es war, der sich anIhren Photographien vergangen hat; aber da Sie mirnicht glauben, so muß ich also eingestehn, daß dieUntersuchungskommission drei Bankbeamte mitge-bracht hat, von denen der eine, den ich bei nächsterGelegenheit aus der Bank hinausbefördern werde, diePhotographien wahrscheinlich in die Hand genommenhat.“ „Ja es war eine Untersuchungskommission hier“,fügte K. hinzu, da ihn das Fräulein mit einem fragendenBlick ansah. „Ihretwegen?“ fragte das Fräulein. „Ja“,

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antwortete K. „Nein“, rief das Fräulein und lachte.„Doch“, sagte K., „glauben Sie denn daß ich schuldlosbin?“ „Nun schuldlos …“, sagte das Fräulein, „ich willnicht gleich ein vielleicht folgenschweres Urteil ausspre-chen, auch kenne ich Sie doch nicht, immerhin, es mußdoch schon ein schwerer Verbrecher sein, dem mangleich eine Untersuchungskommission auf den Leibschickt. Da Sie aber doch frei sind – ich schließe wenig-stens aus Ihrer Ruhe, daß Sie nicht aus dem Gefängnisentlaufen sind – so können Sie doch kein solches Verbre-chen begangen haben.“ „Ja“, sagte K., „aber die Unter-suchungskommission kann doch eingesehen haben, daßich unschuldig bin oder doch nicht so schuldig wieangenommen wurde.“ „Gewiß, das kann sein“, sagteFräulein Bürstner sehr aufmerksam. „Sehn Sie“, sagteK., „Sie haben nicht viel Erfahrung in Gerichtssachen.“

„Nein das habe ich nicht“, sagte Fräulein Bürstner, „undhabe es auch schon o bedauert, denn ich möchte alleswissen und gerade Gerichtssachen interessieren michungemein. Das Gericht hat eine eigentümliche Anzie-hungskra, nicht? Aber ich werde in dieser Richtungmeine Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ich tretenächsten Monat als Kanzleikra in ein Advokatenbu-reau ein.“ „Das ist sehr gut“, sagte K., „Sie werden mirdann in meinem Proceß ein wenig helfen können.“ „Daskönnte sein“, sagte Fräulein Bürstner, „warum dennnicht? Ich verwende gern meine Kenntnisse.“ „Ich

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meine es auch im Ernst“, sagte K., „oder zumindest indem halben Ernst, in dem Sie es meinen. Um einenAdvokaten heranzuziehn, dazu ist die Sache doch zukleinlich, aber einen Ratgeber könnte ich gut brau-chen.“ „Ja, aber wenn ich Ratgeber sein soll, müßte ichwissen, um was es sich handelt“, sagte Fräulein Bürstner.

„Das ist eben der Haken“, sagte K., „das weiß ich selbstnicht.“ „Dann haben Sie sich also einen Spaß aus mirgemacht“, sagte Fräulein Bürstner übermäßig ent-täuscht, „es war höchst unnötig sich diese späte Nacht-zeit dazu auszusuchen.“ Und sie gieng von den Photo-graphien weg, wo sie so lang vereinigt gestanden waren.

„Aber nein Fräulein“, sagte K., „ich mache keinen Spaß.Daß Sie mir nicht glauben wollen! Was ich weiß habe ichIhnen schon gesagt. Sogar mehr als ich weiß, denn eswar gar keine Untersuchungskommission, ich nenne esso weil ich keinen andern Namen dafür weiß. Es wurdegar nichts untersucht, ich wurde nur verhaet, aber voneiner Kommission.“ Fräulein Bürstner saß auf der Otto-mane und lachte wieder: „Wie war es denn?“ fragte sie.

„Schrecklich“, sagte K. aber er dachte jetzt gar nichtdaran, sondern war ganz vom Anblick des FräuleinBürstner ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte

– der Elbogen ruhte auf dem Kissen der Ottomane –während die andere Hand langsam die Hüe strich.

„Das ist zu allgemein“, sagte Fräulein Bürstner. „Was istzu allgemein?“ fragte K. Dann erinnerte er sich und

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fragte: „Soll ich Ihnen zeigen, wie es gewesen ist?“ Erwollte Bewegung machen und doch nicht weggehn. „Ichbin schon müde“, sagte Fräulein Bürstner. „Sie kamen sospät“, sagte K. „Nun endet es damit, daß ich Vorwürfebekomme, es ist auch berechtigt, denn ich hätte Sie nichtmehr hereinlassen sollen. Notwendig war es ja auchnicht, wie sich gezeigt hat.“ „Es war notwendig, daswerden Sie erst jetzt sehn“, sagte K. „Darf ich dasNachttischchen von Ihrem Bett herrücken?“ „Was fälltIhnen ein?“ sagte Fräulein Bürstner, „das dürfen Sienatürlich nicht!“ „Dann kann ich es Ihnen nicht zeigen“,sagte K. aufgeregt, als füge man ihm dadurch einenunermeßlichen Schaden zu. „Ja wenn Sie es zur Darstel-lung brauchen, dann rücken Sie das Tischchen nur ruhigfort“, sagte Fräulein Bürstner und fügte nach einemWeilchen mit schwächerer Stimme hinzu: „Ich bin somüde, daß ich mehr erlaube, als gut ist.“ K. stellte dasTischchen in die Mitte des Zimmers und setzte sichdahinter. „Sie müssen sich die Verteilung der Personenrichtig vorstellen, es ist sehr interessant. Ich bin derAufseher, dort auf dem Koffer sitzen zwei Wächter, beiden Photographien stehn drei junge Leute. An der Fen-sterklinke hängt, was ich nur nebenbei erwähne, eineweiße Bluse. Und jetzt fängt es an. Ja, ich vergesse mich,die wichtigste Person, also ich stehe hier vor dem Tisch-chen. Der Aufseher sitzt äußerst bequem, die Beineübereinandergelegt, den Arm hier über die Lehne hinun-

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terhängend, ein Lümmel sondergleichen. Und jetzt fängtes also wirklich an. Der Aufseher ru als ob er michwecken müßte, er schreit geradezu, ich muß leider, wennich es Ihnen begreiflich machen will, auch schreien, es istübrigens nur mein Name, den er so schreit.“ FräuleinBürstner die lachend zuhörte legte den Zeigefinger anden Mund, um K. am Schreien zu hindern, aber es warzu spät, K. war zu sehr in der Rolle, er rief langsam

„Josef K.!“, übrigens nicht so laut wie er gedroht hatte,aber doch so daß sich der Ruf, nachdem er plötzlichausgestoßen war, erst allmählich im Zimmer zu verbrei-ten schien. Da klope es an die Tür des Nebenzimmers einige-mal, stark, kurz und regelmäßig. Fräulein Bürstner er-bleichte und legte die Hand aufs Herz. K. erschrakdeshalb besonders stark, weil er noch ein Weilchen ganzunfähig gewesen war, an etwas anderes zu denken, als andie Vorfälle des Morgens und an das Mädchen, dem ersie vorführte. Kaum hatte er sich gefaßt sprang er zuFräulein Bürstner und nahm ihre Hand. „Fürchten Sienichts“, flüsterte er, „ich werde alles in Ordnung brin-gen. Wer kann es aber sein? Hier nebenan ist doch nurdas Wohnzimmer, in dem niemand schlä.“ „Doch“,flüsterte Fräulein Bürstner an K.’s Ohr, „seit gesternschlä hier ein Neffe von Frau Grubach, ein Haupt-mann. Es ist gerade kein anderes Zimmer frei. Auch ichhabe daran vergessen. Daß Sie so schreien mußten! Ich

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bin unglücklich darüber.“ „Dafür ist gar kein Grund“,sagte K. und küßte, als sie jetzt auf das Kissen zurück-sank, ihre Stirn. „Weg, weg“, sagte sie und richtete sicheilig wieder auf, „gehn Sie doch, gehn Sie doch. Waswollen Sie, er horcht doch an der Tür, er hört doch alles.Wie Sie mich quälen!“ „Ich gehe nicht früher“, sagte K.,„bis Sie ein wenig beruhigt sind. Kommen Sie in dieandere Ecke des Zimmers, dort kann er uns nicht hö-ren.“ Sie ließ sich dorthin führen. „Sie überlegen nicht“,sagte er, „daß es sich zwar um eine Unannehmlichkeitfür Sie handelt, aber durchaus nicht um eine Gefahr. Siewissen wie mich Frau Grubach, die in dieser Sache dochentscheidet, besonders da der Hauptmann ihr Neffe ist,geradezu verehrt und alles was ich sage unbedingtglaubt. Sie ist auch im übrigen von mir abhängig, dennsie hat eine größere Summe von mir geliehn. Jeden IhrerVorschläge über eine Erklärung für unser Beisammennehme ich an, wenn er nur ein wenig zweckentspre-chend ist und verbürge mich Frau Grubach dazu zubringen, die Erklärung nicht nur vor der Öffentlichkeit,sondern wirklich und aufrichtig zu glauben. Mich müs-sen Sie dabei in keiner Weise schonen. Wollen Sie ver-breitet haben, daß ich Sie überfallen habe, so wird FrauGrubach in diesem Sinne unterrichtet werden und wirdes glauben, ohne das Vertrauen zu mir zu verlieren, sosehr hängt sie an mir.“ Fräulein Bürstner sah still und einwenig zusammengesunken vor sich auf den Boden.

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„Warum sollte Frau Grubach nicht glauben, daß ich Sieüberfallen habe“, fügte K. hinzu. Vor sich sah er ihrHaar, geteiltes, niedrig gebauschtes, fest zusammenge-haltenes rötliches Haar. Er glaubte sie werde ihm denBlick zuwenden, aber sie sagte in unveränderter Hal-tung: „Verzeihen Sie, ich bin durch das plötzliche Klop-fen so erschreckt worden, nicht so sehr durch die Fol-gen, die die Anwesenheit des Hauptmanns habenkonnte. Es war so still nach Ihrem Schrei und da klopees, deshalb bin ich so erschrocken, ich saß auch in derNähe der Tür, es klope fast neben mir. Für Ihre Vor-schläge danke ich, aber ich nehme sie nicht an. Ich kannfür alles, was in meinem Zimmer geschieht die Verant-wortung tragen undzwar gegenüber jedem. Ich wunderemich, daß Sie nicht merken, was für eine Beleidigung fürmich in Ihren Vorschlägen liegt, neben den guten Ab-sichten natürlich, die ich gewiß anerkenne. Aber nungehn Sie, lassen Sie mich allein, ich habe es jetzt nochnötiger als früher. Aus den paar Minuten, um die Siegebeten haben, ist nun eine halbe Stunde und mehrgeworden.“ K. faßte sie bei der Hand und dann beimHandgelenk: „Sie sind mir aber nicht böse?“ sagte er. Siestreie seine Hand ab und antwortete: „Nein, nein, ichbin niemals und niemandem böse.“ Er faßte wieder nachihrem Handgelenk, sie duldete es jetzt und führte ihn sozur Tür. Er war fest entschlossen wegzugehn. Aber vorder Tür, als hätte er nicht erwartet, hier eine Tür zu

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finden, stockte er, diesen Augenblick benützte FräuleinBürstner sich loszumachen, die Tür zu öffnen, ins Vor-zimmer zu schlüpfen und von dort aus K. leise zu sagen:

„Nun kommen Sie doch, bitte. Sehn Sie“ – sie zeigte aufdie Tür des Hauptmanns, unter der ein Lichtscheinhervorkam – „er hat angezündet und unterhält sich überuns.“ „Ich komme schon“, sagte K., lief vor, faßte sie,küßte sie auf den Mund und dann über das ganzeGesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über dasendlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlichküßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dortließ er die Lippen lange liegen. Ein Geräusch aus demZimmer des Hauptmanns ließ ihn aufschauen. „Jetztwerde ich gehn“, sagte er, er wollte Fräulein Bürstnerbeim Taufnamen nennen, wußte ihn aber nicht. Sienickte müde, überließ ihm schon halb abgewendet dieHand zum Küssen, als wisse sie nichts davon und gienggebückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. in seinemBett. Er schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafendachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, erwar damit zufrieden, wunderte sich aber, daß er nichtnoch zufriedener war; wegen des Hauptmanns machteer sich für Fräulein Bürstner ernstliche Sorgen.

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Erste Untersuchung

K. war telephonisch verständigt worden, daß am näch-sten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angele-genheit stattfinden würde. Man machte ihn darauf auf-merksam, daß diese Untersuchungen nun regelmäßig,wenn auch vielleicht nicht jede Woche so doch häufigereinander folgen würden. Es liege einerseits im allgemei-nen Interesse, den Proceß rasch zu Ende zu führen,anderseits aber müssen die Untersuchungen in jederHinsicht gründlich sein und doch wegen der damitverbundenen Anstrengung niemals allzulange dauern.Deshalb habe man den Ausweg dieser rasch aufeinander-folgenden aber kurzen Untersuchungen gewählt. DieBestimmung des Sonntags als Untersuchungstag habeman deshalb vorgenommen, um K. in seiner beruflichenArbeit nicht zu stören. Man setze voraus, daß er damiteinverstanden sei, sollte er einen andern Termin wün-schen, so würde man ihm so gut es gienge entgegenkom-men. Die Untersuchungen wären beispielsweise auch inder Nacht möglich, aber da sei wohl K. nicht genugfrisch. Jedenfalls werde man es, solange K. nichts ein-wende, beim Sonntag belassen. Es sei selbstverständlich,

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daß er bestimmt erscheinen müsse, darauf müsse manihn wohl nicht erst aufmerksam machen. Es wurde ihmdie Nummer des Hauses genannt, in dem er sich einfin-den solle, es war ein Haus in einer entlegenen Vorstadt-straße, in der K. noch niemals gewesen war. K. hängte, als er diese Meldung erhalten hatte, ohnezu antworten, den Hörer an; er war gleich entschlossen,Sonntag zu gehn, es war gewiß notwendig, der Proceßkam in Gang und er mußte sich dem entgegenstellen,diese erste Untersuchung sollte auch die letzte sein. Erstand noch nachdenklich beim Apparat, da hörte erhinter sich die Stimme des Direktor-Stellvertreters, dertelephonieren wollte, dem aber K. den Weg verstellte.

„Schlechte Nachrichten?“ fragte der Direktor-Stellver-treter leichthin, nicht um etwas zu erfahren, sondern umK. vom Apparat wegzubringen. „Nein, nein“, sagte K.,trat beiseite, gieng aber nicht weg. Der Direktor-Stell-vertreter nahm den Hörer und sagte, während er auf dietelephonische Verbindung wartete, über das Hörrohrhinweg: „Eine Frage, Herr K.? Möchten Sie mir Sonntagfrüh das Vergnügen machen, eine Partie auf meinemSegelboot mitzumachen? Es wird eine größere Gesell-scha sein, gewiß auch Ihre Bekannten darunter. Unteranderem Staatsanwalt Hasterer. Wollen Sie kommen?Kommen Sie doch!“ K. versuchte darauf achtzugeben,was der Direktor-Stellvertreter sagte. Es war nicht un-wichtig für ihn, denn diese Einladung des Direktor-

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Stellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut vertra-gen hatte, bedeutete einen Versöhnungsversuch von des-sen Seite und zeigte, wie wichtig K. in der Bank gewor-den war und wie wertvoll seine Freundscha oder we-nigstens seine Unparteilichkeit dem zweithöchsten Be-amten der Bank erschien. Diese Einladung war eine De-mütigung des Direktor-Stellvertreters, mochte sie auchnur in Erwartung der telephonischen Verbindung überdas Hörrohr hinweg gesagt sein. Aber K. mußte einezweite Demütigung folgen lassen, er sagte: „Vielen Dank!Aber ich habe leider Sonntag keine Zeit, ich habe schoneine Verpflichtung.“ „Schade“, sagte der Direktor-Stell-vertreter und wandte sich dem telephonischen Gesprächzu, das gerade hergestellt worden war. Es war kein kurzesGespräch, aber K. blieb in seiner Zerstreutheit die gan-ze Zeit über neben dem Apparat stehn. Erst als der Direk-tor-Stellvertreter abläutete, erschrak er und sagte, um seinunnützes Dastehn nur ein wenig zu entschuldigen: „Ichbin jetzt antelephoniert worden, ich möchte irgendwo hin-kommen, aber man hat vergessen, mir zu sagen zu wel-cher Stunde.“ „Fragen Sie doch noch einmal nach“, sagteder Direktor-Stellvertreter. „Es ist nicht so wichtig“, sagteK., trotzdem dadurch seine frühere schon an sich mangel-hae Entschuldigung noch weiter zerfiel. Der Direktor-Stellvertreter sprach noch im Weggehn über andere Dinge,K. zwang sich auch zu antworten, dachte aber hauptsäch-lich daran, daß es am besten sein werde, Sonntag um

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neun Uhr vormittag hinzukommen, da zu dieser Stun-de an Werketagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen. Sonntag war trübes Wetter, K. war sehr ermüdet, da erwegen einer Stammtischfeierlichkeit bis spät in dieNacht im Gasthaus geblieben war, er hätte fast verschla-fen. Eilig, ohne Zeit zu haben, zu überlegen und dieverschiedenen Pläne, die er während der Woche ausge-dacht hatte, zusammenzustellen, kleidete er sich an undlief, ohne zu frühstücken in die ihm bezeichnete Vor-stadt. Eigentümlicher Weise traf er, trotzdem er wenigZeit hatte umherzublicken, die drei an seiner Angelegen-heit beteiligten Beamten, Rabensteiner, Kullych und Ka-miner. Die erstem zwei fuhren in einer Elektrischen querüber K.’s Weg, Kaminer aber saß auf der Terasse einesKafeehauses und beugte sich gerade als K. vorüberkam,neugierig über die Brüstung. Alle sahen ihm wohl nachund wunderten sich, wie ihr Vorgesetzter lief; es warirgendein Trotz, der K. davon abgehalten hatte zu fah-ren, er hatte Abscheu vor jeder, selbst der geringstenfremden Hilfe in dieser seiner Sache, auch wollte erniemanden in Anspruch nehmen und dadurch selbst nurim allerentferntesten einweihen, schließlich hatte er aberauch nicht die geringste Lust sich durch allzugroßePünktlichkeit vor der Untersuchungskommission zu er-niedrigen. Allerdings lief er jetzt, um nur möglichst umneun Uhr einzutreffen, trotzdem er nicht einmal für einebestimmte Stunde bestellt war.

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Er hatte gedacht das Haus schon von der Ferne anirgendeinem Zeichen, das er sich selbst nicht genauvorgestellt hatte, oder an einer besondern Bewegung vordem Eingang schon von weitem zu erkennen. Aber dieJuliusstraße, in der es sein sollte und an deren Beginn K.einen Augenblick lang stehen blieb, enthielt auf beidenSeiten fast ganz einförmige Häuser, hohe graue vonarmen Leuten bewohnte Miethäuser. Jetzt am Sonntag-morgen waren die meisten Fenster besetzt, Männer inHemdärmeln lehnten dort und rauchten oder hieltenkleine Kinder vorsichtig und zärtlich an den Fenster-rand. Andere Fenster waren hoch mit Bettzeug ange-füllt, über dem flüchtig der zerraue Kopf einer Frauerschien. Man rief einander über die Gasse zu, einsolcher Zuruf bewirkte gerade über K. ein großes Ge-lächter. Regelmäßig verteilt befanden sich in der langenStraße kleine unter dem Straßenniveau liegende, durchpaar Treppen erreichbare Läden mit verschiedenenLebensmitteln. Dort giengen Frauen aus und ein oderstanden auf den Stufen und plauderten. Ein Obsthänd-ler, der seine Waren zu den Fenstern hinauf empfahl,hätte ebenso unaufmerksam wie K. mit seinem Karrendiesen fast niedergeworfen. Eben begann ein in bessernStadtvierteln ausgedientes Grammophon mörderisch zuspielen. K. gieng tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hätteer nun schon Zeit oder als sähe ihn der Untersuchungs-

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richter aus irgendeinem Fenster und wisse also daß sichK. eingefunden habe. Es war kurz nach neun. Das Hauslag ziemlich weit, es war fast ungewöhnlich ausgedehnt,besonders die Toreinfahrt war hoch und weit. Sie waroffenbar für Lastfuhren bestimmt, die zu den verschie-denen Warenmagazinen gehörten, die, jetzt versperrt,den großen Hof umgaben und Aufschrien von Firmentrugen, von denen K. einige aus dem Bankgeschäkannte. Gegen seine sonstige Gewohnheit sich mit allendiesen Äußerlichkeiten genauer befassend, blieb er auchein wenig am Eingang des Hofes stehn. In seiner Näheauf einer Kiste saß ein bloßfüßiger Mann und las eineZeitung. Auf einem Handkarren schaukelten zwei Jun-gen. Vor einer Pumpe stand ein schwaches junges Mäd-chen in einer Nachtjoppe und blickte, während dasWasser in ihre Kanne strömte, auf K. hin. In einer Eckedes Hofes wurde zwischen zwei Fenstern ein Strickgespannt, auf dem die zum Trocknen bestimmte Wäscheschon hieng. Ein Mann stand unten und leitete dieArbeit durch ein paar Zurufe. K. wandte sich der Treppe zu, um zum Untersu-chungszimmer zu kommen, stand dann aber wieder still,denn außer dieser Treppe sah er im Hof noch dreiverschiedene Treppenaufgänge und überdies schien einkleiner Durchgang am Ende des Hofes noch in einenzweiten Hof zu führen. Er ärgerte sich daß man ihm dieLage des Zimmers nicht näher bezeichnet hatte, es war

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doch eine sonderbare Nachlässigkeit oder Gleichgültig-keit, mit der man ihn behandelte, er beabsichtigte, dassehr laut und deutlich festzustellen. Schließlich stieg erdoch die erste Treppe hinauf und spielte in Gedankenmit einer Erinnerung an den Ausspruch des WächtersWillem, daß das Gericht von der Schuld angezogenwerde, woraus eigentlich folgte, daß das Untersuchungs-zimmer an der Treppe liegen mußte, die K. zufälligwählte. Er störte im Hinaufgehn viele Kinder, die auf derTreppe spielten und ihn, wenn er durch ihre Reiheschritt, böse ansahn. „Wenn ich nächstens wieder herge-hen sollte“, sagte er sich, „muß ich entweder Zucker-werk mitnehmen, um sie zu gewinnen oder den Stockum sie zu prügeln.“ Knapp vor dem ersten Stockwerkmußte er sogar ein Weilchen warten, bis eine Spielkugelihren Weg vollendet hatte, zwei kleine Jungen mit denverzwickten Gesichtern erwachsener Strolche hieltenihn indessen an den Beinkleidern; hätte er sie abschüt-teln wollen, hätte er ihnen wehtun müssen und er fürch-tete ihr Geschrei. Im ersten Stockwerk begann die eigentliche Suche. Daer doch nicht nach der Untersuchungskommission fra-gen konnte, erfand er einen Tischler Lanz – der Namefiel ihm ein weil der Hauptmann, der Neffe der FrauGrubach, so hieß – und wollte nun in allen Wohnungennachfragen, ob hier ein Tischler Lanz wohne, um so die

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Möglichkeit zu bekommen, in die Zimmer hineinzu-sehn. Es zeigte sich aber, daß das meistens ohne weitersmöglich war, denn fast alle Türen standen offen und dieKinder liefen ein und aus. Es waren in der Regel kleineeinfenstrige Zimmer, in denen auch gekocht wurde.Manche Frauen hielten Säuglinge im Arm und arbeitetenmit der freien Hand auf dem Herd. Halbwüchsigescheinbar nur mit Schürzen bekleidete Mädchen liefenam fleißigsten hin und her. In allen Zimmern standen dieBetten noch in Benützung, es lagen dort Kranke odernoch Schlafende oder Leute die sich dort in Kleidernstreckten. An den Wohnungen, deren Türen geschlossenwaren, klope K. an und fragte, ob hier ein TischlerLanz wohne. Meistens öffnete eine Frau, hörte die Fragean und wandte sich ins Zimmer zu jemanden der sichaus dem Bett erhob. „Der Herr fragt ob ein TischlerLanz hier wohnt.“ „Tischler Lanz?“ fragte der aus demBett. „Ja“, sagte K., trotzdem sich hier die Untersu-chungskommission zweifellos nicht befand und daherseine Aufgabe beendet war. Viele glaubten es Hege K.sehr viel daran den Tischler Lanz zu finden, dachten langenach, nannten einen Tischler, der aber nicht Lanz hieß,oder einen Namen, der mit Lanz eine ganz entfernteÄhnlichkeit hatte, oder sie fragten bei Nachbarn oderbegleiteten K. zu einer weit entfernten Tür, wo ihrerMeinung nach ein derartiger Mann möglicherweise inAermiete wohne oder wo jemand sei der bessere Aus-

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kun als sie selbst geben könne. Schließlich mußte K.kaum mehr selbst fragen, sondern wurde auf diese Weisedurch die Stockwerke gezogen. Er bedauerte seinenPlan, der ihm zuerst so praktisch erschienen war. Vordem fünen Stockwerk entschloß er sich die Sucheaufzugeben, verabschiedete sich von einem freundlichenjungen Arbeiter, der ihn weiter hinaufführen wollte, undgieng hinunter. Dann aber ärgerte ihn wieder das Nutz-lose dieser ganzen Unternehmung, er gieng nochmalszurück und klope an die erste Tür des fünen Stock-werks. Das erste was er in dem kleinen Zimmer sah,war eine große Wanduhr, die schon zehn Uhr zeigte.

„Wohnt ein Tischler Lanz hier?“ fragte er. „Bitte“, sagteeine junge Frau mit schwarzen leuchtenden Augen, die ge-rade in einem Kübel Kinderwäsche wusch, und zeigte mitder nassen Hand auf die offene Tür des Nebenzimmers. K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Ge-dränge der verschiedensten Leute – niemand kümmertesich um den Eintretenden – füllte ein mittelgroßes zwei-fenstriges Zimmer, das knapp an der Decke von einerGalerie umgeben war, die gleichfalls vollständig besetztwar und wo die Leute nur gebückt stehen konnten undmit Kopf und Rücken an die Decke stießen. K., dem dieLu zu dumpf war, trat wieder hinaus und sagte zu derjungen Frau, die ihn wahrscheinlich falsch verstandenhatte: „Ich habe nach einem Tischler, einem gewissenLanz gefragt?“ „Ja“, sagte die Frau, „gehn Sie bitte

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hinein.“ K. hätte ihr vielleicht nicht gefolgt, wenn dieFrau nicht auf ihn zugegangen wäre, die Türklinke er-griffen und gesagt hätte: „Nach Ihnen muß ich schlie-ßen, es darf niemand mehr hinein.“ „Sehr vernünig“,sagte K., „es ist aber schon jetzt zu voll.“ Dann gieng eraber doch wieder hinein. Zwischen zwei Männern hindurch, die sich unmittel-bar bei der Tür unterhielten – der eine machte mit beidenweit vorgestreckten Händen die Bewegung des Geldauf-zählens, der andere sah ihm scharf in die Augen – faßteeine Hand nach K. Es war ein kleiner rotbäckiger Junge.

„Kommen Sie, kommen Sie“, sagte er. K. ließ sich vonihm führen, es zeigte sich, daß in dem durcheinander-wimmelnden Gedränge doch ein schmaler Weg frei war,der möglicherweise zwei Parteien schied; dafür sprachauch daß K. in den ersten Reihen rechts und links kaumein ihm zugewendetes Gesicht sah, sondern nur dieRücken von Leuten, welche ihre Reden und Bewegun-gen nur an Leute ihrer Partei richteten. Die meistenwaren schwarz angezogen, in alten lange und lose hin-unterhängenden Feiertagsröcken. Nur diese Kleidungbeirrte K., sonst hätte er das ganze als eine politischeBezirksversammlung angesehn. Am andern Ende des Saales, zu dem K. geführt wurde,stand auf einem sehr niedrigen gleichfalls überfülltenPodium ein kleiner Tisch der Quere nach aufgestellt undhinter ihm, nahe am Rand des Podiums, saß ein kleiner

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dicker schnaufender Mann, der sich gerade mit einemhinter ihm Stehenden – dieser hatte den Elbogen auf dieSessellehne gestützt und die Beine gekreuzt – untergroßem Gelächter unterhielt. Manchmal warf er denArm in die Lu, als karikiere er jemanden. Der Junge,der K. führte, hatte Mühe seine Meldung vorzubringen.Zweimal hatte er schon auf den Fußspitzen stehendetwas auszurichten versucht, ohne von dem Mann obenbeachtet worden zu sein. Erst als einer der Leute obenauf dem Podium auf den Jungen aufmerksam machte,wandte sich der Mann ihm zu und hörte herunterge-beugt seinen leisen Bericht an. Dann zog er seine Uhrund sah schnell nach K. hin. „Sie hätten vor einer Stundeund fünf Minuten erscheinen sollen“, sagte er. K. wollteetwas antworten, aber er hatte keine Zeit, denn kaumhatte der Mann ausgesprochen, erhob sich in der rechtenSaalhäle ein allgemeines Murren. „Sie hätten vor einerStunde und fünf Minuten erscheinen sollen“, wieder-holte nun der Mann mit erhobener Stimme und sah nunauch schnell in den Saal hinunter. Sofort wurde auch dasMurren stärker und verlor sich, da der Mann nichtsmehr sagte, nur allmählich. Es war jetzt im Saal vielstiller als bei K.’s Eintritt. Nur die Leute auf der Galleriehörten nicht auf, ihre Bemerkungen zu machen. Sieschienen soweit man oben in dem Halbdunkel, Dunstund Staub etwas unterscheiden konnte schlechter ange-zogen zu sein, als die unten. Manche hatten Polster

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mitgebracht, die sie zwischen den Kopf und die Zim-merdecke gelegt hatten, um sich nicht wundzudrücken. K. hatte sich entschlossen mehr zu beobachten als zureden, infolgedessen verzichtete er auf die Verteidigungwegen seines angeblichen Zuspätkommens und sagtebloß: „Mag ich zu spät gekommen sein, jetzt bin ichhier.“ Ein Beifallklatschen wieder aus der rechten Saal-häle folgte. „Leicht zu gewinnende Leute“, dachte K.und war nur gestört durch die Stille in der linkenSaalhäle, die gerade hinter ihm lag und aus der sich nurganz vereinzeltes Händeklatschen erhoben hatte. Erdachte nach, was er sagen könnte, um alle auf einmaloder wenn das nicht möglich sein sollte, wenigstenszeitweilig auch die andern zu gewinnen. „Ja“, sagte der Mann, „aber ich bin nicht mehr ver-pflichtet, Sie jetzt zu verhören“ – wieder das Murren,diesmal aber mißverständlich, denn der Mann fuhr, in-dem er den Leuten mit der Hand abwinkte, fort – „ichwill es jedoch ausnahmsweise heute noch tun. Einesolche Verspätung darf sich aber nicht mehr wiederho-len. Und nun treten Sie vor!“ Irgendjemand sprang vomPodium herunter, so daß für K. ein Platz freiwurde, aufden er hinaufstieg. Er stand eng an den Tisch gedrückt,das Gedränge hinter ihm war so groß, daß er ihmWiderstand leisten mußte, wollte er nicht den Tisch desUntersuchungsrichters und vielleicht auch diesen selbstvom Podium hinunterstoßen.

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Der Untersuchungsrichter kümmerte sich aber nichtdarum, sondern saß genug bequem auf seinem Sesselund griff, nachdem er dem Mann hinter ihm ein ab-schließendes Wort gesagt hatte, nach einem kleinen An-merkungsbuch, dem einzigen Gegenstand auf seinemTisch. Es war schulheartig, alt, durch vieles Blätternganz aus der Form gebracht. „Also“, sagte der Untersu-chungsrichter, blätterte in dem He und wendete sichim Tone einer Feststellung an K.: „Sie sind Zimmerma-ler?“ „Nein“, sagte K., „sondern erster Prokurist einergroßen Bank.“ Dieser Antwort folgte bei der rechtenPartei unten ein Gelächter, das so herzlich war, daß K.mitlachen mußte. Die Leute stützten sich mit den Hän-den auf ihre Knie und schüttelten sich wie unter schwe-ren Hustenanfällen. Es lachten sogar einzelne auf derGallerie. Der ganz böse gewordene Untersuchungsrich-ter, der wahrscheinlich gegen die Leute unten machtloswar, suchte sich an der Gallerie zu entschädigen, sprangauf, drohte der Gallerie und seine sonst wenig auffallen-den Augenbrauen drängten sich buschig schwarz undgroß über seinen Augen. Die linke Saalhäle war aber noch immer still, dieLeute standen dort in Reihen, hatten ihre Gesichter demPodium zugewendet und hörten den Worten die obengewechselt wurden ebenso ruhig zu wie dem Lärm derandern Partei, sie duldeten sogar, daß einzelne aus ihrenReihen mit der andern Partei hie und da gemeinsam

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vorgiengen. Die Leute der linken Partei, die übrigensweniger zahlreich war, mochten im Grunde ebenso un-bedeutend sein wie die der rechten Partei, aber die Ruheihres Verhaltens ließ sie bedeutungsvoller erscheinen.Als K. jetzt zu reden begann, war er überzeugt, in ihremSinne zu sprechen. „Ihre Frage Herr Untersuchungsrichter ob ich Zim-mermaler bin – vielmehr Sie haben gar nicht gefragt,sondern es mir auf den Kopf zugesagt – ist bezeichnendfür die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich geführtwird. Sie können einwenden, daß es ja überhaupt keinVerfahren ist, Sie haben sehr Recht, denn es ist ja nur einVerfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber icherkenne es also für den Augenblick jetzt an, aus Mitleidgewissermaßen. Man kann sich nicht anders als mitleidigdazu stellen, wenn man es überhaupt beachten will. Ichsage nicht, daß es ein lüderliches Verfahren ist, aber ichmöchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnisangeboten haben.“ K. unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Waser gesagt hatte, war scharf, schärfer als er es beabsichtigthatte, aber doch richtig. Es hätte Beifall hier oder dortverdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbargespannt auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht inder Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machenwürde. Störend war es, daß sich jetzt die Tür am Saal-ende öffnete, die junge Wäscherin, die ihre Arbeit wahr-

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scheinlich beendet hatte, eintrat und trotz aller Vorsichtdie sie aufwendete, einige Blicke auf sich zog. Nur derUntersuchungsrichter machte K. unmittelbare Freude,denn er schien von den Worten sofort getroffen zuwerden. Er hatte bisher stehend zugehört, denn er warvon K.’s Ansprache überrascht worden, während er sichfür die Gallerie aufgerichtet hatte. Jetzt in der Pausesetzte er sich allmählich als sollte es nicht bemerktwerden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigennahm er wieder das Hechen vor. „Es hil nichts“, fuhr K. fort, „auch Ihr HechenHerr Untersuchungsrichter bestätigt was ich sage.“ Zu-frieden damit, nur seine ruhigen Worte in der fremdenVersammlung zu hören, wagte es K. sogar, kurzerhanddas He dem Untersuchungsrichter wegzunehmen undes mit den Fingerspitzen, als scheue er sich davor, aneinem mittleren Blatte hochzuheben, so daß beiderseitsdie engbeschriebenen fleckigen, gelbrandigen Blätterhinunterhiengen. „Das sind die Akten des Untersu-chungsrichters“, sagte er und ließ das He auf den Tischhinunterfallen. „Lesen Sie darin ruhig weiter Herr Un-tersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch fürchte ichmich wahrhaig nicht, trotzdem es mir unzugänglichist, denn ich kann es nur mit zwei Fingerspitzen anfas-sen.“ Es konnte nur ein Zeichen tiefer Demütigung seinoder es mußte zumindest so aufgefaßt werden, daß derUntersuchungsrichter nach dem Hechen, wie es auf

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den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zubringen suchte und es wieder vornahm, um darin zulesen. Die Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren sogespannt auf K. gerichtet, daß er ein Weilchen lang zuihnen hinuntersah. Es waren durchwegs ältere Männer,einige waren weißbärtig. Waren vielleicht sie die Ent-scheidenden, die die ganze Versammlung beeinflussenkonnten, welche auch durch die Demütigung des Unter-suchungsrichters sich nicht aus der Regungslosigkeitbringen ließ, in welche sie seit K.’s Rede versunken war. „Was mir geschehen ist“, fuhr K. fort etwas leiser alsfrüher und suchte immer wieder die Gesichter der erstenReihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen Aus-druck gab, „was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzel-ner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nichtsehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfah-rens wie es gegen viele geübt wird. Für diese stehe ichhier ein, nicht für mich.“ Er hatte unwillkürlich seine Stimme gehoben. Ir-gendwo klatschte jemand mit erhobenen Händen undrief: „Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und wiederBravo!“ Die in der ersten Reihe griffen hie und da in ihreBarte, keiner kehrte sich wegen des Ausrufs um. AuchK. maß ihm keine Bedeutung bei, war aber doch aufge-muntert; er hielt es jetzt gar nicht mehr für nötig, daßalle Beifall klatschten, es genügte wenn die Allgemein-

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heit über die Sache nachzudenken begann und nurmanchmal einer durch Überredung gewonnen wurde. „Ich will nicht Rednererfolg“, sagte K. aus dieserÜberlegung heraus, „er düre mir auch nicht erreichbarsein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht wahr-scheinlich viel besser, es gehört ja zu seinem Beruf. Wasich will, ist nur die öffentliche Besprechung eines öffent-lichen Mißstandes. Hören Sie: Ich bin vor etwa zehnTagen verhaet worden, über die Tatsache der Verhaf-tung selbst lache ich, aber das gehört jetzt nicht hierher.Ich wurde früh im Bett überfallen, vielleicht hatte man –es ist nach dem was der Untersuchungsrichter sagtenicht ausgeschlossen – den Befehl irgendeinen Zimmer-maler der ebenso unschuldig ist, wie ich zu verhaen,aber man wählte mich. Das Nebenzimmer war von zweigroben Wächtern besetzt. Wenn ich ein gefährlicherRäuber wäre, hätte man nicht bessere Vorsorge treffenkönnen. Diese Wächter waren überdies demoralisiertesGesindel, sie schwätzten mir die Ohren voll, sie wolltensich bestechen lassen, sie wollten mir unter Vorspiege-lungen Wäsche und Kleider herauslocken, sie wolltenGeld, um mir angeblich ein Frühstück zu bringen, nach-dem sie mein eigenes Frühstück vor meinen Augenschamlos aufgegessen hatten. Nicht genug daran. Ichwurde in ein drittes Zimmer vor den Aufseher geführt.Es war das Zimmer einer Dame die ich sehr schätze undich mußte zusehn, wie dieses Zimmer meinetwegen aber

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ohne meine Schuld durch die Anwesenheit der Wächterund des Aufsehers gewissermaßen verunreinigt wurde.Es war nicht leicht ruhig zu bleiben. Es gelang mir aberund ich fragte den Aufseher vollständig ruhig – wenn erhier wäre, müßte er es bestätigen – warum ich verhaetsei. Was antwortete nun dieser Aufseher den ich jetztnoch vor mir sehe, wie er auf dem Sessel der erwähntenDame als eine Darstellung des stumpfsinnigsten Hoch-muts sitzt? Meine Herren, er antwortete im Grundenichts, vielleicht wußte er wirklich nichts, er hatte michverhaet und war damit zufrieden. Er hat sogar noch einübriges getan und in das Zimmer jener Dame drei nied-rige Angestellte meiner Bank gebracht, die sich damitbeschäigten, Photographien, Eigentum der Dame, zubetasten und in Unordnung zu bringen. Die Anwesen-heit dieser Angestellten hatte natürlich noch einen än-dern Zweck, sie sollten, ebenso wie meine Vermieterinund ihr Dienstmädchen die Nachricht von meiner Ver-haung verbreiten, mein öffentliches Ansehen schädigenund insbesondere in der Bank meine Stellung erschüt-tern. Nun ist nichts davon auch nicht im geringstengelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz einfachePerson – ich will ihren Namen hier in ehrendem Sinnenennen, sie heißt Frau Grubach – selbst Frau Grubachwar verständig genug einzusehn, daß eine solche Verhaf-tung nicht mehr bedeutet, als ein Anschlag, den nichtgenügend beaufsichtigte Jungen auf der Gasse ausfüh-

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ren. Ich wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehm-lichkeiten und vorübergehenden Ärger bereitet, hätte esaber nicht auch schlimmere Folgen haben können?“ Als K. sich hier unterbrach und nach dem stillenUntersuchungsrichter hinsah, glaubte er zu bemerken,daß dieser gerade mit einem Blick jemandem in derMenge ein Zeichen gab. K. lächelte und sagte: „Ebengibt hier neben mir der Herr Untersuchungsrichter je-mandem von Ihnen ein geheimes Zeichen. Es sind alsoLeute unter Ihnen, die von hier oben dirigiert werden.Ich weiß nicht, ob das Zeichen jetzt Zischen oder Beifallbewirken sollte und verzichte dadurch, daß ich die Sachevorzeitig verrate, ganz bewußt darauf, die Bedeutung.des Zeichens zu erfahren. Es ist mir vollständig gleich-gültig und ich ermächtige den Herrn Untersuchungs-richter öffentlich, seine bezahlten Angestellten dort un-ten statt mit geheimen Zeichen, laut mit Worten zubefehligen, indem er etwa einmal sagt: ,Jetzt zischt‘ unddas nächste Mal: ,Jetzt klatscht‘.“ In Verlegenheit oder Ungeduld rückte der Untersu-chungsrichter auf seinem Sessel hin und her. Der Mannhinter ihm, mit dem er sich schon früher unterhaltenhatte, beugte sich wieder zu ihm, sei es um ihm imallgemeinen Mut zuzusprechen oder um ihm einen be-sondern Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leuteleise, aber lebha. Die zwei Parteien, die früher soentgegengesetzte Meinungen gehabt zu haben schienen,

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vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem Fin-ger auf K., andere auf den Untersuchungsrichter. Dernebelige Dunst im Zimmer war äußerst lästig, er verhin-derte sogar eine genauere Beobachtung der Fernerste-henden. Besonders für die Galleriebesucher mußte erstörend sein, sie waren gezwungen, allerdings unterscheuen Seitenblicken nach dem Untersuchungsrichter,leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen,um sich näher zu unterrichten. Die Antworten wur-den im Schutz der vorgehaltenen Hände ebenso leisegegeben. „Ich bin gleich zuende“, sagte K. und schlug, da keineGlocke vorhanden war mit der Faust auf den Tisch, imSchrecken darüber fuhren die Köpfe des Untersu-chungsrichters und seines Ratgebers augenblicklich aus-einander: „Mir steht die ganze Sache fern, ich beurteilesie daher ruhig und Sie können, vorausgesetzt daß Ihnenan diesem angeblichen Gericht etwas gelegen ist, großenVorteil davon haben, wenn Sie mir zuhören. Ihre gegen-seitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe, bitteich Sie für späterhin zu verschieben, denn ich habe keineZeit und werde bald weggehn.“ Sofort war es still, so sehr beherrschte schon K. dieVersammlung. Man schrie nicht mehr durcheinander wieam Anfang, man klatschte nicht einmal mehr Beifall,aber man schien schon überzeugt oder auf dem nächstenWege dazu.

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„Es ist kein Zweifel“, sagte K. sehr leise, denn ihnfreute das angespannte Auorchen der ganzen Ver-sammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen, das aufrei-zender war als der verzückteste Beifall, „es ist keinZweifel, daß hinter allen Äußerungen dieses Gerichtes, inmeinem Fall also hinter der Verhaung und der heutigenUntersuchung eine große Organisation sich befindet.Eine Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter,läppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die gün-stigsten Falles bescheiden sind, beschäigt, sondern dieweiterhin jedenfalls eine Richterscha hohen und höch-sten Grades unterhält mit dem zahllosen unumgängli-chen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen undandern Hilfskräen, vielleicht sogar Henkern, ichscheue vor dem Wort nicht zurück. Und der Sinn diesergroßen Organisation, meine Herren? Er besteht darin,daß unschuldige Personen verhaet und gegen sie einsinnloses und meistens wie in meinem Fall ergebnislosesVerfahren eingeleitet wird. Wie ließe sich bei dieserSinnlosigkeit des Ganzen, die schlimmste Korruptionder Beamtenscha vermeiden? Das ist unmöglich, dasbrächte auch der höchste Richter nicht einmal für sichselbst zustande. Darum suchen die Wächter den Verhae-ten die Kleider vom Leib zu stehlen, darum brechen Auf-seher in fremde Wohnungen ein, darum sollen Unschul-dige statt verhört lieber vor ganzen Versammlungen ent-würdigt werden. Die Wächter haben mir von Depots er-

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zählt, in die man das Eigentum der Verhaeten bringt, ichwollte einmal diese Depotsplätze sehn, in denen das müh-sam erarbeitete Vermögen der Verhaeten fault soweites nicht von diebischen Depotbeamten gestohlen ist.“ K. wurde durch ein Kreischen vom Saalende unter-brochen, er beschattete die Augen um hinsehn zu kön-nen, denn das trübe Tageslicht machte den Dunst weiß-lich und blendete. Es handelte sich um die Waschfrau,die K. gleich bei ihrem Eintritt als eine wesentlicheStörung erkannt hatte. Ob sie jetzt schuldig war odernicht konnte man nicht erkennen. K. sah nur, daß einMann sie in einen Winkel bei der Tür gezogen hatte unddort an sich drückte. Aber nicht sie kreischte sondernder Mann, er hatte den Mund breit gezogen und blicktezur Decke. Ein kleiner Kreis hatte sich um beide gebil-det, die Galleriebesucher in der Nähe schienen darüberbegeistert, daß der Ernst, den K. in die Versammlungeingeführt hatte, auf diese Weise unterbrochen wurde.K. wollte unter dem ersten Eindruck gleich hinlaufen,auch dachte er allen würde daran gelegen sein, dortOrdnung zu schaffen und zumindest das Paar aus demSaal zu weisen, aber die ersten Reihen vor ihm bliebenganz fest, keiner rührte sich und keiner ließ K. durch. ImGegenteil man hinderte ihn, alte Männer hielten denArm vor und irgendeine Hand – er hatte nicht Zeit sichumzudrehn – faßte ihn hinten am Kragen, K. dachtenicht eigentlich mehr an das Paar, ihm war, als werde

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seine Freiheit eingeschränkt, als mache man mit derVerhaung ernst und er sprang rücksichtslos vom Po-dium hinunter. Nun stand er Aug’ in Aug’ dem Ge-dränge gegenüber. Hatte er die Leute nicht richtig beur-teilt? Hatte er seiner Rede zuviel Wirkung zugetraut?Hatte man sich verstellt, solange er gesprochen hatteund hatte man jetzt, da er zu den Schlußfolgerungenkam, die Verstellung satt? Was für Gesichter rings umihn! Kleine schwarze Äuglein huschten hin und her, dieWangen hiengen herab, wie bei Versoffenen, die langenBarte waren steif und schütter und griff man in sie, sowar es als bilde man bloß Krallen, nicht als griffe man inBarte. Unter den Barten aber – und das war die eigentli-che Entdeckung, die K. machte – schimmerten amRockkragen Abzeichen in verschiedener Größe undFarbe. Alle hatten diese Abzeichen, soweit man sehenkonnte. Alle gehörten zu einander, die scheinbaren Par-teien rechts und links, und als er sich plötzlich um-drehte, sah er die gleichen Abzeichen am Kragen desUntersuchungsrichters, der, die Hände im Schooß, ruhighinuntersah. „So!“ rief K. und warf die Arme in dieHöhe, die plötzliche Erkenntnis wollte Raum, – „Ihrseid ja alle Beamte wie ich sehe, Ihr seid ja die korrupteBande, gegen die ich sprach, Ihr habt Euch hier ge-drängt, als Zuhörer und Schnüffler, habt scheinbareParteien gebildet und eine hat applaudiert um mich zuprüfen, Ihr wolltet lernen, wie man Unschuldige verfüh-

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ren soll. Nun Ihr seid nicht nutzlos hier gewesen, hoffeich, entweder habt Ihr Euch darüber unterhalten, daßjemand die Verteidigung der Unschuld von Euch erwar-tet hat oder aber – laß mich oder ich schlage“, rief K.einem zitternden Greis zu, der sich besonders nahe anihn geschoben hatte – „oder aber Ihr habt wirklich etwasgelernt. Und damit wünsche ich Euch Glück zu EueremGewerbe.“ Er nahm schnell seinen Hut, der am Randdes Tisches lag, und drängte sich unter allgemeiner Stille,jedenfalls der Stille vollkommenster Überraschung, zumAusgang. Der Untersuchungsrichter schien aber nochschneller als K. gewesen zu sein, denn er erwartete ihnbei der Tür. „Einen Augenblick“, sagte er, K. bliebstehn, sah aber nicht auf den Untersuchungsrichter son-dern auf die Tür, deren Klinke er schon ergriffen hatte.

„Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen“, sagteder Untersuchungsrichter, „daß Sie sich heute – es düreIhnen noch nicht zu Bewußtsein gekommen sein – desVorteils beraubt haben, den ein Verhör für den Verhae-ten in jedem Falle bedeutet.“ K. lachte die Tür an. „IhrLumpen“, rief er, „ich schenke Euch alle Verhöre“,öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter. Hinter ihmerhob sich der Lärm der wieder lebendig gewordenenVersammlung, welche die Vorfälle wahrscheinlich nachArt von Studierenden zu besprechen begann.

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Im leeren Sitzungssaal Der Student

Die Kanzleien

K. wartete während der nächsten Woche von Tag zu Tagauf eine neuerliche Verständigung, er konnte nicht glau-ben, daß man seinen Verzicht auf Verhöre wörtlichgenommen hatte und als die erwartete Verständigung bisSamstag abend wirklich nicht kam, nahm er an, er seistillschweigend in das gleiche Haus für die gleiche Zeitwieder vorgeladen. Er begab sich daher Sonntags wiederhin, gieng diesmal geradewegs über Treppen und Gänge,einige Leute, die sich seiner erinnerten, grüßten ihn anihren Türen, aber er mußte niemanden mehr fragen undkam bald zu der richtigen Tür. Auf sein Klopfen wurdeihm gleich aufgemacht und ohne sich weiter nach derbekannten Frau umzusehn, die bei der Tür stehen blieb,wollte er gleich ins Nebenzimmer. „Heute ist keineSitzung“, sagte die Frau. „Warum sollte keine Sitzungsein?“ fragte er und wollte es nicht glauben. Aber dieFrau überzeugte ihn, indem sie die Tür des Nebenzim-mers öffnete. Es war wirklich leer und sah in seinerLeere noch kläglicher aus, als am letzten Sonntag. Aufdem Tisch, der unverändert auf dem Podium stand,

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lagen einige Bücher. „Kann ich mir die Bücher an-schauen“, fragte K., nicht aus besonderer Neugierde,sondern nur um nicht vollständig nutzlos hiergewesen zusein. „Nein“, sagte die Frau und schloß wieder die Tür,

„das ist nicht erlaubt. Die Bücher gehören dem Unter-suchungsrichter.“ „Ach so“, sagte K. und nickte, „die Bü-cher sind wohl Gesetzbücher und es gehört zu der Art die-ses Gerichtswesens, daß man nicht nur unschuldig, son-dern auch unwissend verurteilt wird.“ „Es wird so sein“,sagte die Frau, die ihn nicht genau verstanden hatte. „Nun,dann gehe ich wieder“, sagte K. „Soll ich dem Unter-suchungsrichter etwas melden?“ fragte die Frau. „Siekennen ihn?“ fragte K. „Natürlich“, sagte die Frau, „meinMann ist ja Gerichtsdiener.“ Erst jetzt merkte K. daß dasZimmer, in dem letzthin nur ein Waschbottich gestandenwar, jetzt ein völlig eingerichtetes Wohnzimmer bildete.Die Frau bemerkte sein Staunen und sagte: „Ja, wirhaben hier freie Wohnung, müssen aber an Sitzungsta-gen das Zimmer ausräumen. Die Stellung meines Man-nes hat manche Nachteile.“ „Ich staune nicht so sehrüber das Zimmer“, sagte K. und blickte sie böse an, „alsvielmehr darüber, daß Sie verheiratet sind.“ „Spielen Sievielleicht auf den Vorfall in der letzten Sitzung an, durchden ich Ihre Rede störte“, fragte die Frau. „Natürlich“,sagte K., „heute ist es ja schon vorüber und fast verges-sen, aber damals hat es mich geradezu wütend gemacht.Und nun sagen Sie selbst, daß Sie eine verheiratete Frau

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sind.“ „Es war nicht zu Ihrem Nachteil, daß Ihre Redeabgebrochen wurde. Man hat nachher noch sehr ungün-stig über sie geurteilt.“ „Mag sein“, sagte K. ablenkend,

„aber Sie entschuldigt das nicht.“ „Ich bin vor allenentschuldigt, die mich kennen“, sagte die Frau, „derwelcher mich damals umarmt hat, verfolgt mich schonseit langem. Ich mag im allgemeinen nicht verlockendsein, für ihn bin ich es aber. Es gibt hiefür keinen Schutz,auch mein Mann hat sich schon damit abgefunden; willer seine Stellung behalten muß er es dulden, denn jenerMann ist Student und wird voraussichtlich zu größererMacht kommen. Er ist immerfort hinter mir her, geradeehe Sie kamen, ist er fortgegangen.“ „Es paßt zu allemandern“, sagte K., „es überrascht mich nicht.“ „Siewollen hier wohl einiges verbessern?“ fragte die Fraulangsam und prüfend, als sage sie etwas was sowohl fürsie als für K. gefährlich war. „Ich habe das schon ausIhrer Rede geschlossen, die mir persönlich sehr gutgefallen hat. Ich habe allerdings nur einen Teil gehört,den Anfang habe ich versäumt und während des Schlus-ses lag ich mit dem Studenten auf dem Boden.“ „Es ist jaso widerlich hier“ sagte sie nach einer Pause und faßteK.’s Hand. „Glauben Sie, daß es Ihnen gelingen wird,eine Besserung zu erreichen?“ K. lächelte und drehteseine Hand ein wenig in ihren weichen Händen. „Ei-gentlich“, sagte er, „bin ich nicht dazu angestellt, Besse-rungen hier zu erreichen, wie Sie sich ausdrücken, und

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wenn Sie es z. B. dem Untersuchungsrichter sagen wür-den, würden Sie ausgelacht oder bestra werden. Tat-sächlich hätte ich mich auch aus freiem Willen in dieseDinge gewiß nicht eingemischt und meinen Schlaf hättedie Verbesserungsbedürigkeit dieses Gerichtswesensniemals gestört. Aber ich bin, dadurch daß ich angeblichverhaet wurde – ich bin nämlich verhaet – gezwungenworden, hier einzugreifen, undzwar um meinetwillen.Wenn ich aber dabei auch Ihnen irgendwie nützlich seinkann, werde ich es natürlich sehr gerne tun. Nicht etwanur aus Nächstenliebe, sondern außerdem deshalb, weilauch Sie mir helfen können.“ „Wie könnte ich denn das“,fragte die Frau. „Indem Sie mir z. B. jetzt die Bücherdort auf dem Tisch zeigen.“ „Aber gewiß“, rief die Frauund zog ihn eiligst hinter sich her. Es waren alte abge-griffene Bücher, ein Einbanddeckel war in der Mitte fastzerbrochen, die Stücke hiengen nur durch Fasern zu-sammen. „Wie schmutzig hier alles ist“, sagte K. kopf-schüttelnd und die Frau wischte mit ihrer Schürze, eheK. nach den Büchern greifen konnte wenigstens ober-flächlich den Staub weg. K. schlug das oberste Buch auf,es erschien ein unanständiges Bild. Ein Mann und eineFrau saßen nackt auf einem Kanapee, die gemeine Ab-sicht des Zeichners war deutlich zu erkennen, aber seineUngeschicklichkeit war so groß gewesen, daß schließlichdoch nur ein Mann und eine Frau zu sehen waren, dieallzu körperlich aus dem Bilde hervorragten, übermäßig

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aufrecht dasaßen und infolge falscher Perspektive nurmühsam sich einander zuwendeten. K. blätterte nichtweiter sondern schlug nur noch das Titelblatt des zwei-ten Buches auf, es war ein Roman mit dem Titel: „DiePlagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu erlei-den hatte.“ „Das sind die Gesetzbücher, die hier studiertwerden“, sagte K. „Von solchen Menschen soll ich ge-richtet werden.“ „Ich werde Ihnen helfen“, sagte dieFrau. „Wollen Sie?“ „Könnten Sie denn das wirklich ohnesich selbst in Gefahr zu bringen, Sie sagten doch vorhin,Ihr Mann sei sehr abhängig von Vorgesetzten.“ „Trotz-dem will ich Ihnen helfen“, sagte die Frau. „KommenSie, wir müssen es besprechen. Über meine Gefahr redenSie nicht mehr, ich fürchte die Gefahr nur dort, wo ichsie fürchten will. Kommen Sie.“ Sie zeigte auf das Po-dium und bat ihn sich mit ihr auf die Stufe zu setzen.

„Sie haben schöne dunkle Augen“, sagte sie, nachdemsie sich gesetzt hatten und sah K. von unten ins Gesicht,

„man sagt mir ich hätte auch schöne Augen, aber Ihresind viel schöner. Sie fielen mir übrigens gleich damalsauf, als Sie zum erstenmal hier eintraten. Sie waren auchder Grund, warum ich dann später hierher ins Versamm-lungszimmer gieng, was ich sonst niemals tue und wasmir sogar gewissermaßen verboten ist.“ „Das ist alsoalles“, dachte K., „sie bietet sich mir an, sie ist verdorbenwie alle hier ringsherum, sie hat die Gerichtsbeamtensatt, was ja begreiflich ist, und begrüßt deshalb jeden

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beliebigen Fremden mit einem Kompliment wegen sei-ner Augen.“ Und K. stand stillschweigend auf, als hätteer seine Gedanken laut ausgesprochen und dadurch derFrau sein Verhalten erklärt. „Ich glaube nicht, daß Siemir helfen könnten“, sagte er, „um mir wirklich zuhelfen, müßte man Beziehungen zu hohen Beamtenhaben. Sie aber kennen gewiß nur die niedrigen Ange-stellten, die sich hier in Mengen herumtreiben. Diesekennen Sie gewiß sehr gut und könnten bei ihnen auchmanches durchsetzen, das bezweifle ich nicht, aber dasGrößte, was man bei ihnen durchsetzen könnte, wärefür den endgiltigen Ausgang des Processes gänzlich be-langlos. Sie aber hätten sich dadurch doch einigeFreunde verscherzt. Das will ich nicht. Führen Sie Ihrbisheriges Verhältnis zu diesen Leuten weiter, es scheintmir nämlich daß es Ihnen unentbehrlich ist. Ich sage dasnicht ohne Bedauern, denn, um Ihr Kompliment dochauch irgendwie zu erwidern, auch Sie gefallen mir gut,besonders wenn Sie mich wie jetzt so traurig ansehn,wozu übrigens für Sie gar kein Grund ist. Sie gehören zuder Gesellscha, die ich bekämpfen muß, befinden sichaber in ihr sehr wohl, Sie lieben sogar den Studenten undwenn Sie ihn nicht lieben, so ziehen Sie ihn doch wenig-stens Ihrem Manne vor. Das konnte man aus IhrenWorten leicht erkennen.“ „Nein“, rief sie, blieb sitzenund griff nur nach K.’s Hand, die er ihr nicht raschgenug entzog, „Sie dürfen jetzt nicht weggehn, Sie dür-

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fen nicht mit einem falschen Urteil über mich weggehn.Brächten Sie es wirklich zustande, jetzt wegzugehn? Binich wirklich so wertlos, daß Sie mir nicht einmal denGefallen tun wollen noch ein kleines Weilchen hierzu-bleiben?“ „Sie mißverstehen mich“, sagte K. und setztesich, „wenn Ihnen wirklich daran hegt, daß ich hierbleibe, bleibe ich gern, ich habe ja Zeit, ich kam doch inder Erwartung her, daß heute eine Verhandlung seinwerde. Mit dem, was ich früher sagte, wollte ich Sie nurbitten, in meinem Proceß nichts für mich zu unterneh-men. Aber auch das muß Sie nicht kränken, wenn Sie be-denken, daß mir am Ausgang des Processes gar nichts liegtund daß ich über eine Verurteilung nur lachen werde.Vorausgesetzt daß es überhaupt zu einem wirklichenAbschluß des Processes kommt, was ich sehr bezweifle.Ich glaube vielmehr, daß das Verfahren infolge Faulheitoder Vergeßlichkeit oder vielleicht sogar infolge Angstder Beamtenscha schon abgebrochen ist oder in der näch-sten Zeit abgebrochen werden wird. Möglich ist aller-dings auch, daß man in Hoffnung auf irgendeine größereBestechung den Proceß scheinbar weiterführen wird,ganz vergeblich, wie ich heute schon sagen kann, dennich besteche niemanden. Es wäre immerhin eine Gefäl-ligkeit, die Sie mir leisten könnten, wenn Sie dem Unter-suchungsrichter oder irgendjemandem sonst, der wich-tige Nachrichten gern verbreitet, mitteilen würden, daßich niemals und durch keine Kunststücke, an denen die

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Herren wohl reich sind, zu einer Bestechung zu bewe-gen sein werde. Es wäre ganz aussichtslos, das könnenSie ihnen offen sagen. Übrigens wird man es vielleichtselbst schon bemerkt haben und selbst wenn dies nichtsein sollte, liegt mir gar nicht soviel daran, daß man esjetzt schon erfährt. Es würde ja dadurch den Herren nurArbeit erspart werden, allerdings auch mir einige Unan-nehmlichkeiten, die ich aber gern auf mich nehme, wennich weiß, daß jede gleichzeitig ein Hieb für die andernist. Und daß es so wird, dafür will ich sorgen. KennenSie eigentlich den Untersuchungsrichter?“ „Natürlich“,sagte die Frau, „an den dachte ich sogar zuerst, als ichIhnen Hilfe anbot. Ich wußte nicht daß er nur einniedriger Beamter ist, aber da Sie es sagen, wird eswahrscheinlich richtig sein. Trotzdem glaube ich daß derBericht, den er nach oben liefert, immerhin einigenEinfluß hat. Und er schreibt soviel Berichte. Sie sagen,daß die Beamten faul sind, alle gewiß nicht, besondersdieser Untersuchungsrichter nicht, er schreibt sehr viel.Letzten Sonntag z. B. dauerte die Sitzung bis gegenAbend. Alle Leute giengen weg, der Untersuchungsrich-ter aber blieb im Saal, ich mußte ihm eine Lampebringen, ich hatte nur eine kleine Küchenlampe, aber erwar mit ihr zufrieden und fieng gleich zu schreiben an.Inzwischen war auch mein Mann gekommen, der anjenem Sonntag gerade Urlaub hatte, wir holten die Mö-bel, richteten wieder unser Zimmer ein, es kamen dann

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noch Nachbarn ein, wir unterhielten uns noch bei einerKerze, kurz wir vergaßen an den Untersuchungsrichterund giengen schlafen. Plötzlich in der Nacht, es mußschon tief in der Nacht gewesen sein, wache ich auf,neben dem Bett steht der Untersuchungsrichter undblendet die Lampe mit der Hand ab, so daß auf meinenMann kein Licht fällt, es war unnötige Vorsicht, meinMann hat einen solchen Schlaf daß ihn auch das Lichtnicht geweckt hätte. Ich war so erschrocken, daß ich fastgeschrien hätte, aber der Untersuchungsrichter war sehrfreundlich, ermahnte mich zur Vorsicht, flüsterte mir zu,daß er bis jetzt geschrieben habe, daß er mir jetzt dieLampe zurückbringe und daß er niemals den Anblickvergessen werde, wie er mich schlafend gefunden habe.Mit dem allen wollte ich Ihnen nur sagen, daß derUntersuchungsrichter tatsächlich viel Berichte schreibt,insbesondere über Sie: denn Ihre Einvernahme war ge-wiß einer der Hauptgegenstände der sonntägigen Sit-zung. Solche lange Berichte können aber doch nichtganz bedeutungslos sein. Außerdem aber können Siedoch auch aus dem Vorfall sehn, daß sich der Unter-suchungsrichter um mich bewirbt und daß ich geradejetzt in der ersten Zeit, er muß mich überhaupt erstjetzt bemerkt haben, großen Einfluß auf ihn haben kann.Daß ihm viel an mir liegt, dafür habe ich jetzt auchnoch andere Beweise. Er hat mir gestern durch den Stu-denten, zu dem er viel Vertrauen hat und der sein Mit-

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arbeiter ist, seidene Strümpfe zum Geschenk geschickt,angeblich dafür, daß ich das Sitzungszimmer aufräume,aber das ist nur ein Vorwand, denn diese Arbeit istdoch meine Pflicht und für sie wird mein Mann be-zahlt. Es sind schöne Strümpfe, sehen Sie“ – sie strecktedie Beine, zog die Röcke bis zum Knie hinauf und sahauch selbst die Strümpfe an – „es sind schöne Strümp-fe aber doch eigentlich zu fein und für mich nicht ge-eignet.“ Plötzlich unterbrach sie sich, legte ihre Hand auf K.’sHand, als wolle sie ihn beruhigen und flüsterte: „Still,Bertold sieht uns zu!“ K. hob langsam den Blick. In derTür des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er warklein, hatte nicht ganz gerade Beine, und suchte sichdurch einen kurzen schüttern rötlichen Vollbart, in demer die Finger fortwährend herumführte, Würde zu ge-ben. K. sah ihn neugierig an, es war ja der erste Studentder unbekannten Rechtswissenscha, dem er gewisser-maßen menschlich begegnete, ein Mann, der wahr-scheinlich auch einmal zu höhern Beamtenstellen gelan-gen würde. Der Student dagegen kümmerte sich um K.scheinbar gar nicht, er winkte nur mit einem Finger, dener für einen Augenblick aus seinem Barte zog, der Frauund gieng zum Fenster, die Frau beugte sich zu K. undflüsterte: „Seien Sie mir nicht böse, ich bitte Sie viele-mals, denken Sie auch nicht schlecht von mir, ich mußjetzt zu ihm gehn, zu diesem scheußlichen Menschen,

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sehn Sie nur seine krummen Beine an. Aber ich kommegleich zurück und dann geh ich mit Ihnen, wenn Siemich mitnehmen, ich gehe wohin Sie wollen, Sie könnenmit mir tun, was Sie wollen, ich werde glücklich sein,wenn ich von hier für möglichst lange Zeit fort bin, amliebsten allerdings für immer.“ Sie streichelte noch K.’sHand, sprang auf und lief zum Fenster. Unwillkürlichhaschte noch K. nach ihrer Hand ins Leere. Die Frauverlockte ihn wirklich, er fand trotz alles Nachdenkenskeinen haltbaren Grund dafür, warum er der Verlockungnicht nachgeben sollte. Den flüchtigen Einwand, daß ihndie Frau für das Gericht einfange, wehrte er ohne Müheab. Auf welche Weise konnte sie ihn einfangen? Blieb ernicht immer so frei, daß er das ganze Gericht, wenig-stens soweit es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte?Konnte er nicht dieses geringe Vertrauen zu sich haben?Und ihr Anerbieten einer Hilfe klang aufrichtig und warvielleicht nicht wertlos. Und es gab vielleicht keinebessere Rache an dem Untersuchungsrichter und seinemAnhang, als daß er ihnen diese Frau entzog und an sichnahm. Es könnte sich dann einmal der Fall ereignen, daßder Untersuchungsrichter nach mühevoller Arbeit anLügenberichten über K. in später Nacht das Bett derFrau leer fand. Und leer deshalb, weil sie K. gehörte,weil diese Frau am Fenster, dieser üppige gelenkigewarme Körper im dunklen Kleid aus grobem schwerenStoff durchaus nur K. gehörte.

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Nachdem er auf diese Weise die Bedenken gegen dieFrau beseitigt hatte, wurde ihm das leise Zwiegesprächam Fenster zu lang, er klope mit den Knöcheln auf dasPodium und dann auch mit der Faust. Der Student sahkurz über die Schulter der Frau hinweg nach K. hin, ließsich aber nicht stören, ja drückte sich sogar enger an dieFrau und umfaßte sie. Sie senkte tief den Kopf, als höresie ihm aufmerksam zu, er küßte sie, als sie sich bückte,laut auf den Hals, ohne sich im Reden wesentlich zuunterbrechen. K. sah darin die Tyrannei bestätigt, dieder Student nach den Klagen der Frau über sie ausübte,stand auf und gieng im Zimmer auf und ab. Er überlegteunter Seitenblicken nach dem Studenten wie er ihnmöglichst schnell wegschaffen könnte und es war ihmdaher nicht unwillkommen, als der Student, offenbargestört durch K.’s Herumgehn, das schon zeitweilig zueinem Trampeln ausgeartet war, bemerkte: „Wenn Sieungeduldig sind, können Sie weggehn. Sie hätten auchschon früher weggehn können, es hätte Sie niemandvermißt. Ja, Sie hätten sogar weggehn sollen undzwarschon bei meinem Eintritt undzwar schleunigst.“ Esmochte in dieser Bemerkung alle mögliche Wut zumAusbruch kommen, jedenfalls lag darin aber auch derHochmut des künigen Gerichtsbeamten der zu einemmißliebigen Angeklagten sprach. K. blieb ganz nahe beiihm stehn und sagte lächelnd: „Ich bin ungeduldig dasist richtig, aber diese Ungeduld wird am leichtesten

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dadurch zu beseitigen sein, daß Sie uns verlassen. WennSie aber vielleicht hergekommen sind, um zu studieren –ich hörte daß Sie Student sind – so will ich Ihnen gernePlatz machen und mit der Frau weggehn. Sie werdenübrigens noch viel studieren müssen, ehe Sie Richterwerden. Ich kenne zwar Ihr Gerichtswesen noch nichtsehr genau, nehme aber an, daß es mit groben Redenallein, die Sie allerdings schon unverschämt gut zu füh-ren wissen, noch lange nicht getan ist.“ „Man hätte ihnnicht so frei herumlaufen lassen sollen“, sagte der Stu-dent, als wolle er der Frau eine Erklärung für K.’sbeleidigende Rede geben, „es war ein Mißgriff. Ich habees dem Untersuchungsrichter gesagt. Man hätte ihn zwi-schen den Verhören zumindest in seinem Zimmer haltensollen. Der Untersuchungsrichter ist manchmal unbe-greiflich.“ „Unnütze Reden“, sagte K. und streckte dieHand nach der Frau aus. „Kommen Sie.“ „Ach so“,sagte der Student, „nein, nein, die bekommen Sie nicht“,und mit einer Kra, die man ihm nicht zugetraut hatte,hob er sie auf einen Arm, und lief mit gebeugtemRücken, zärtlich zu ihr aufsehend zur Tür. Eine gewisseAngst vor K. war hiebei nicht zu verkennen, trotzdemwagte er es K. noch zu reizen, indem er mit der freienHand den Arm der Frau streichelte und drückte. K. liefpaar Schritte neben ihm her, bereit ihn zu fassen undwenn es sein mußte zu würgen, da sagte die Frau: „Eshil nichts, der Untersuchungsrichter läßt mich holen,

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ich darf nicht mit Ihnen gehn, dieses kleine Scheusal“,sie fuhr hiebei dem Studenten mit der Hand übersGesicht, „dieses kleine Scheusal läßt mich nicht.“ „UndSie wollen nicht befreit werden“, schrie K. und legte dieHand auf die Schulter des Studenten, der mit den Zäh-nen nach ihr schnappte. „Nein“, rief die Frau undwehrte K. mit beiden Händen ab, „nein, nein nur dasnicht, woran denken Sie denn! Das wäre mein Verder-ben. Lassen Sie ihn doch, o bitte, lassen Sie ihn doch. Erführt ja nur den Befehl des Untersuchungsrichters ausund trägt mich zu ihm.“ „Dann mag er laufen und Siewill ich nie mehr sehn“, sagte K. wütend vor Enttäu-schung und gab dem Studenten einen Stoß in den Rük-ken, daß er kurz stolperte, um gleich darauf, vor Ver-gnügen darüber, daß er nicht gefallen war, mit seinerLast desto höher zu springen. K. gieng ihnen langsamnach, er sah ein, daß dies die erste zweifellose Niederlagewar, die er von diesen Leuten erfahren hatte. Es warnatürlich gar kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, ererhielt die Niederlage nur deshalb, weil er den Kampfaufsuchte. Wenn er zuhause bliebe und sein gewohntesLeben führen würde, war er jedem dieser Leute tausend-fach überlegen und konnte jeden mit einem Fußtritt vonseinem Wege räumen. Und er stellte sich die allerlächer-lichste Szene vor, die es z. B. geben würde, wenn dieserklägliche Student, dieses aufgeblasene Kind, dieserkrumme Bartträger vor Elsas Bett knien und mit gefalte-

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ten Händen um Gnade bitten würde. K. gefiel dieseVorstellung so, daß er beschloß, wenn sich nur irgend-eine Gelegenheit dafür ergeben sollte, den Studenteneinmal zu Elsa mitzunehmen. Aus Neugierde eilte K. noch zur Tür, er wollte sehn,wohin die Frau getragen wurde, der Student würde siedoch nicht etwa über die Straßen auf dem Arm tragen.Es zeigte sich, daß der Weg viel kürzer war. Gleichgegenüber der Wohnungstür führte eine schmale höl-zerne Treppe wahrscheinlich zum Dachboden, sie mach-te eine Wendung, so daß man ihr Ende nicht sah. Überdiese Treppe trug der Student die Frau hinauf, schonsehr langsam und stöhnend, denn er war durch das bishe-rige Laufen geschwächt. Die Frau grüßte mit der Handzu K. hinunter, und suchte durch Auf- und Abziehnder Schultern zu zeigen, daß sie an der Entführung un-schuldig sei, viel Bedauern lag aber in dieser Bewegungnicht. K. sah sie ausdruckslos, wie eine Fremde an, erwollte weder verraten, daß er enttäuscht war, noch auchdaß er die Enttäuschung leicht überwinden könne. Die zwei waren schon verschwunden, K. aber standnoch immer in der Tür. Er mußte annehmen, daß ihn dieFrau nicht nur betrogen, sondern mit der Angabe daß siezum Untersuchungsrichter getragen werde, auch belo-gen habe. Der Untersuchungsrichter würde doch nichtauf dem Dachboden sitzen und warten. Die Holztreppeerklärte nichts, solange man sie auch ansah. Da bemerkte

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K. einen kleinen Zettel neben dem Aufgang, gieng hin-über und las in einer kindlichen, ungeübten Schri:

„Aufgang zu den Gerichtskanzleien.“ Hier auf demDachboden dieses Miethauses waren also die Gerichts-kanzleien? Das war keine Einrichtung, die viel Achtungeinzuflößen imstande war und es war für einen Ange-klagten beruhigend, sich vorzustellen, wie wenig Geld-mittel diesem Gericht zur Verfügung standen, wenn esseine Kanzleien dort unterbrachte, wo die Mietparteien,die schon selbst zu den Ärmsten gehörten, ihren unnüt-zen Kram hinwarfen. Allerdings war es nicht ausge-schlossen, daß man Geld genug hatte, daß aber dieBeamtenscha sich darüber warf, ehe es für Gerichts-zwecke verwendet wurde. Das war nach den bisherigenErfahrungen K.’s sogar sehr wahrscheinlich, nur wardann eine solche Verlotterung des Gerichtes für einenAngeklagten zwar entwürdigend, aber im Grunde nochberuhigender, als es die Armut des Gerichtes gewesenwäre. Nun war es K. auch begreiflich, daß man sichbeim ersten Verhör schämte, den Angeklagten auf denDachboden vorzuladen und es vorzog, ihn in seinerWohnung zu belästigen. In welcher Stellung befand sichdoch K. gegenüber dem Richter, der auf dem Dachbo-den saß, während er selbst in der Bank ein großesZimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eineriesige Fensterscheibe auf den belebten Stadtplatz hinun-tersehen konnte. Allerdings hatte er keine Nebenein-

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küne aus Bestechungen oder Unterschlagungen undkonnte sich auch vom Diener keine Frau auf dem Armins Bureau tragen lassen. Darauf wollte K. aber, wenig-stens in diesem Leben, gerne verzichten. K. stand noch vor dem Anschlagzettel, als ein Manndie Treppe herauam, durch die offene Tür ins Wohn-zimmer sah, aus dem man auch in das Sitzungszimmersehen konnte, und schließlich K. fragte, ob er hier nichtvor kurzem eine Frau gesehn habe. „Sie sind der Ge-richtsdiener, nicht?“ fragte K. „Ja“, sagte der Mann, „achso, Sie sind der Angeklagte K., jetzt erkenne ich Sieauch, seien Sie willkommen.“ Und er reichte K., der esgar nicht erwartet hatte, die Hand. „Heute ist aber keineSitzung angezeigt“, sagte dann der Gerichtsdiener, als K.schwieg. „Ich weiß“, sagte K. und betrachtete den Civil-rock des Gerichtsdieners, der als einziges amtliches Ab-zeichen neben einigen gewöhnlichen Knöpfen auch zweivergoldete Knopfe aufwies, die von einem alten Offi-ziersmantel abgetrennt zu sein schienen. „Ich habe voreinem Weilchen mit Ihrer Frau gesprochen. Sie ist nichtmehr hier. Der Student hat sie zum Untersuchungsrich-ter getragen.“ „Sehen Sie“, sagte der Gerichtsdiener,

„immer trägt man sie mir weg. Heute ist doch Sonntagund ich bin zu keiner Arbeit verpflichtet, aber nur, ummich von hier zu entfernen, schickt man mich mit einerjedenfalls unnützen Meldung weg. Undzwar schicktman mich nicht weit weg, so daß ich die Hoffnung habe,

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wenn ich mich sehr beeile, vielleicht noch rechtzeitigzurückzukommen. Ich laufe also, so sehr ich kann,schreie dem Amt, zu dem ich geschickt wurde, meineMeldung durch den Türspalt so atemlos zu, daß man siekaum verstanden haben wird, laufe wieder zurück, aberder Student hat sich noch mehr beeilt als ich, er hatteallerdings auch einen kürzern Weg, er mußte nur dieBodentreppe hinunterlaufen. Wäre ich nicht so abhän-gig, ich hätte den Studenten schon längst hier an derWand zerdrückt. Hier neben dem Anschlagzettel. Da-von träume ich immer. Hier ein wenig über dem Fußbo-den ist er festgedrückt, die Arme gestreckt, die Fingergespreizt, die krummen Beine zum Kreis gedreht undringsherum Blutspritzer. Bisher war es aber nur Traum.“

„Eine andere Hilfe gibt es nicht?“ fragte K. lächelnd.„Ich wüßte keine“, sagte der Gerichtsdiener. „Und jetztwird es ja noch ärger, bisher hat er sie nur zu sichgetragen, jetzt trägt er sie, was ich allerdings längsterwartet habe, auch zum Untersuchungsrichter.“ „Hatdenn Ihre Frau gar keine Schuld dabei“, fragte K., ermußte sich bei dieser Frage bezwingen, so sehr fühlteauch er jetzt die Eifersucht. „Aber gewiß“, sagte derGerichtsdiener, „sie hat sogar die größte Schuld. Sie hatsich ja an ihn gehängt. Was ihn betri, er läu allenWeibern nach. In diesem Hause allein, ist er schon ausfünf Wohnungen in die er sich eingeschlichen hat, her-ausgeworfen worden. Meine Frau ist allerdings die

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schönste im ganzen Haus und gerade ich darf mich nichtwehren.“ „Wenn es sich so verhält, dann gibt es aller-dings keine Hilfe“, sagte K. „Warum denn nicht“, fragteder Gerichtsdiener. „Man müßte den Studenten, der einFeigling ist, einmal wenn er meine Frau anrühren will sodurchprügeln, daß er es niemals mehr wagt. Aber ichdarf es nicht und andere machen mir den Gefallen nicht,denn alle fürchten seine Macht. Nur ein Mann, wie Sie,könnte es tun.“ „Wieso denn ich?“ fragte K. erstaunt.

„Sie sind doch angeklagt“, sagte der Gerichtsdiener.„Ja“, sagte K., „aber desto mehr müßte ich doch fürch-ten, daß er wenn auch vielleicht nicht Einfluß auf denAusgang des Processes, so doch wahrscheinlich auf dieVoruntersuchung hat.“ „Ja, gewiß“, sagte der Gerichts-diener, als sei die Ansicht K.’s genau so richtig wie seineeigene. „Es werden aber bei uns in der Regel keineaussichtslosen Processe geführt.“ „Ich bin nicht IhrerMeinung“, sagte K., „das soll mich aber nicht hindern,gelegentlich den Studenten in Behandlung zu nehmen.“

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar“, sagte der Gerichtsdieneretwas förmlich, er schien eigentlich doch nicht an dieErfüllbarkeit seines höchsten Wunsches zu glauben. „Eswürden vielleicht“, fuhr K. fort, „auch noch andereIhrer Beamten und vielleicht sogar alle das Gleicheverdienen.“ „Ja, ja“, sagte der Gerichtsdiener als handlees sich um etwas Selbstverständliches. Dann sah er K.mit einem zutraulichen Blick an, wie er es bisher trotz

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aller Freundlichkeit nicht getan hatte, und fügte hinzu:„Man rebelliert eben immer.“ Aber das Gespräch schienihm doch ein wenig unbehaglich geworden zu sein, denner brach es ab, indem er sagte: „Jetzt muß ich mich in derKanzlei melden. Wollen Sie mitkommen?“ „Ich habedort nichts zu tun“, sagte K. „Sie könnten die Kanzleienansehn. Es wird sich niemand um Sie kümmern.“ „Ist esdenn sehenswert?“ fragte K. zögernd, hatte aber großeLust mitzugehn. „Nun“, sagte der Gerichtsdiener, „ichdachte es würde Sie interessieren.“ „Gut“, sagte K.schließlich, „ich gehe mit“, und er lief schneller als derGerichtsdiener die Treppe hinauf. Beim Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter derTür war noch eine Stufe. „Auf das Publikum nimmt mannicht viel Rücksicht“, sagte er. „Man nimmt überhauptkeine Rücksicht“, sagte der Gerichtsdiener, „sehn Sienur hier das Wartezimmer.“ Es war ein langer Gang, vondem aus roh gezimmerte Türen zu den einzelnen Abtei-lungen des Dachbodens führten. Trotzdem kein unmit-telbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht vollstän-dig dunkel, denn manche Abteilungen hatten gegen denGang zu statt einheitlicher Bretterwände, bloße aller-dings bis zur Decke reichende Holzgitter, durch dieeiniges Licht drang und durch die man auch einzelneBeamte sehen konnte, wie sie an Tischen schrieben odergeradezu am Gitter standen und durch die Lücken dieLeute auf dem Gang beobachteten. Es waren, wahr-

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scheinlich weil Sonntag war, nur wenig Leute auf demGang. Sie machten einen sehr bescheidenen Eindruck. Infast regelmäßigen Entfernungen von einander saßen sieauf den zwei Reihen langer Holzbänke, die zu beidenSeiten des Ganges angebracht waren. Alle waren ver-nachlässigt angezogen, trotzdem die meisten nach demGesichtsausdruck, der Haltung, der Barttracht und vie-len kaum sicherzustellenden kleinen Einzelheiten denhöheren Klassen angehörten. Da keine Kleiderhakenvorhanden waren, hatten sie die Hüte, wahrscheinlicheiner dem Beispiel des andern folgend, unter die Bankgestellt. Als die, welche zunächst der Tür saßen, K. undden Gerichtsdiener erblickten, erhoben sie sich zumGruß; da das die folgenden sahen, glaubten sie auchgrüßen zu müssen, so daß alle beim Vorbeigehn derzwei sich erhoben. Sie standen niemals vollständig auf-recht, der Rücken war geneigt, die Knie geknickt, siestanden wie Straßenbettler. K. wartete auf den ein wenighinter ihm gehenden Gerichtsdiener und sagte: „Wiegedemütigt die sein müssen.“ „Ja“, sagte der Gerichts-diener, „es sind Angeklagte, alle die Sie hier sehn, sindAngeklagte.“ „Wirklich?“ sagte K. „Dann sind es jameine Kollegen.“ Und er wandte sich an den nächsten,einen großen schlanken schon fast grauhaarigen Mann.

„Worauf warten Sie hier?“ fragte K. höflich. Die uner-wartete Ansprache aber machte den Mann verwirrt, wasumso peinlicher aussah, da es sich offenbar um einen

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welterfahrenen Menschen handelte, der anderswo gewißsich zu beherrschen verstand und die Überlegenheit, dieer sich über viele erworben hatte, nicht leicht aufgab.Hier aber wußte er auf eine so einfache Frage nicht zuantworten und sah auf die andern hin, als seien sieverpflichtet ihm zu helfen und als könne niemand vonihm eine Antwort verlangen, wenn diese Hilfe ausbliebe.Da trat der Gerichtsdiener hinzu und sagte, um denMann zu beruhigen und aufzumuntern: „Der Herr hierfragt ja nur, auf was Sie warten. Antworten Sie doch.“Die ihm wahrscheinlich bekannte Stimme des Gerichts-dieners wirkte besser: „Ich warte – “ begann er undstockte. Offenbar hatte er diesen Anfang gewählt, umganz genau auf die Fragestellung zu antworten, fandaber jetzt die Fortsetzung nicht. Einige der Wartendenhatten sich genähert und umstanden die Gruppe, derGerichtsdiener sagte zu ihnen: „Weg, weg, macht denGang frei.“ Sie wichen ein wenig zurück, aber nicht biszu ihren frühern Sitzen. Inzwischen hatte sich der Ge-fragte gesammelt und antwortete sogar mit einem klei-nen Lächeln: „Ich habe vor einem Monat einige Beweis-anträge in meiner Sache gemacht und warte auf dieErledigung.“ „Sie scheinen sich ja viele Mühe zu geben“,sagte K. „Ja“, sagte der Mann, „es ist ja meine Sache.“

„Jeder denkt nicht so wie Sie“, sagte K., „ich z. B. binauch angeklagt, habe aber, so wahr ich selig werden will,weder einen Beweisantrag gestellt noch auch sonst ir-

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gendetwas derartiges unternommen. Halten Sie denn dasfür nötig?“ „Ich weiß nicht genau“, sagte der Mannwieder in vollständiger Unsicherheit; er glaubte offenbarK. mache mit ihm einen Scherz, deshalb hätte er wahr-scheinlich am liebsten, aus Furcht irgendeinen neuenFehler zu machen, seine frühere Antwort ganz wieder-holt, vor K.’s ungeduldigem Blick aber sagte er nur:

„was mich betri, ich habe Beweisanträge gestellt.“ „Sieglauben wohl nicht daß ich angeklagt bin“, fragte K.

„Oh bitte gewiß“, sagte der Mann, und trat ein wenigzur Seite, aber in der Antwort war nicht Glaube, son-dern nur Angst. „Sie glauben mir also nicht?“ fragte K.und faßte ihn, unbewußt durch das demütige Wesen desMannes dazu aufgefordert, beim Arm, als wolle er ihnzum Glauben zwingen. Aber er wollte ihm nichtSchmerz bereiten, hatte ihn auch nur ganz leicht ange-griffen, trotzdem aber schrie der Mann auf, als habe K.ihn nicht mit zwei Fingern, sondern mit einer glühendenZange erfaßt. Dieses lächerliche Schreien machte ihn K.endgültig überdrüssig; glaubte man ihm nicht daß erangeklagt war, so war es desto besser; vielleicht hielt erihn sogar für einen Richter. Und er faßte ihn nun zumAbschied wirklich fester, stieß ihn auf die Bank zurückund gieng weiter. „Die meisten Angeklagten sind soempfindlich“, sagte der Gerichtsdiener. Hinter ihnensammelten sich jetzt fast alle Wartenden um den Mann,der schon zu schreien aufgehört hatte, und schienen ihn

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über den Zwischenfall genau auszufragen. K. entgegenkam jetzt ein Wächter, der hauptsächlich an einem Säbelkenntlich war, dessen Scheide, wenigstens der Farbenach, aus Aluminium bestand. K. staunte darüber undgriff sogar mit der Hand hin. Der Wächter, der wegendes Schreiens gekommen war, fragte nach dem Vorgefal-lenen. Der Gerichtsdiener suchte ihn mit einigen Wortenzu beruhigen, aber der Wächter erklärte doch nochselbst nachsehn zu müssen, salutierte und gieng weitermit sehr eiligen aber sehr kurzen, wahrscheinlich durchGicht abgemessenen Schritten. K. kümmerte sich nicht lange um ihn und die Gesell-scha auf dem Gang, besonders da er etwa in der Häledes Ganges die Möglichkeit sah, rechts durch eine tür-lose Öffnung einzubiegen. Er verständigte sich mit demGerichtsdiener darüber, ob das der richtige Weg sei, derGerichtsdiener nickte und K. bog nun wirklich dort ein.Es war ihm lästig, daß er immer einen oder zwei Schrittevor dem Gerichtsdiener gehen mußte, es konnte wenig-stens an diesem Ort den Anschein haben, als ob erverhaet vorgeführt werde. Er wartete also öers aufden Gerichtsdiener, aber dieser blieb gleich wieder zu-rück. Schließlich sagte K. um seinem Unbehagen einEnde zu machen: „Nun habe ich gesehn wie es hieraussieht, ich will jetzt weggehn.“ „Sie haben noch nichtalles gesehn“, sagte der Gerichtsdiener vollständig un-verfänglich. „Ich will nicht alles sehn“, sagte K., der sich

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übrigens wirklich müde fühlte, „ich will gehn, wiekommt man zum Ausgang?“ „Sie haben sich doch nichtschon verirrt“, fragte der Gerichtsdiener erstaunt, „Siegehn hier bis zur Ecke und dann rechts den Ganghinunter geradeaus zur Tür.“ „Kommen Sie mit“, sagteK. „Zeigen Sie mir den Weg, ich werde ihn verfehlen, essind hier so viele Wege.“ „Es ist der einzige Weg“, sagteder Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, „ich kannnicht wieder mit Ihnen zurückgehn, ich muß dochmeine Meldung vorbringen und habe schon viel Zeitdurch Sie versäumt.“ „Kommen Sie mit“, wiederholteK. jetzt schärfer, als habe er endlich den Gerichtsdienerauf einer Unwahrheit ertappt. „Schreien Sie doch nichtso“, flüsterte der Gerichtsdiener, „es sind ja hier überallBureaux. Wenn Sie nicht allein zurückgehn wollen, sogehn Sie noch ein Stückchen mit mir oder warten Siehier bis ich meine Meldung erledigt habe, dann will ichja gern mit Ihnen wieder zurückgehn.“ „Nein, nein“,sagte K., „ich werde nicht warten und Sie müssen jetztmit mir gehn.“ K. hatte sich noch gar nicht in dem Raumumgesehen in dem er sich befand, erst als jetzt eine dervielen Holztüren, die ringsherum standen sich öffneteblickte er hin. Ein Mädchen, das wohl durch K.’s lautesSprechen herbeigerufen war, trat ein und fragte: „Waswünscht der Herr?“ Hinter ihr in der Ferne sah man imHalbdunkel noch einen Mann sich nähern. K. blickteden Gerichtsdiener an. Dieser hatte doch gesagt, daß

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sich niemand um K. kümmern werde und nun kamenschon zwei, es brauchte nur wenig und die Beamten-scha wurde auf ihn aufmerksam, würde eine Erklärungseiner Anwesenheit haben wollen. Die einzig verständli-che und annehmbare war die, daß er Angeklagter warund das Datum des nächsten Verhöres erfahren wollte,gerade diese Erklärung aber wollte er nicht geben, be-sonders da sie auch nicht wahrheitsgemäß war, denn erwar nur aus Neugierde gekommen oder, was als Erklä-rung noch unmöglicher war, aus dem Verlangen festzu-stellen, daß das Innere dieses Gerichtswesens ebensowiderlich war wie sein Äußeres. Und es schien ja, daß ermit dieser Annahme recht hatte, er wollte nicht weitereindringen, er war beengt genug von dem, was er bishergesehen hatte, er war gerade jetzt nicht in der Verfassungeinem höhern Beamten gegenüberzutreten, wie er hinterjeder Tür auauchen konnte, er wollte weggehn, und-zwar mit dem Gerichtsdiener oder allein wenn es seinmußte. Aber sein stummes Dastehn mußte auffallend seinund wirklich sahen ihn das Mädchen und der Gerichts-diener derartig an, als ob in der nächsten Minute irgend-eine große Verwandlung mit ihm geschehen müsse, diesie zu beobachten nicht versäumen wollten. Und in derTüröffnung stand der Mann, den K. früher in der Fernebemerkt hatte, er hielt sich am Deckbalken der niedrigenTür fest und schaukelte ein wenig auf den Fußspitzen,

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wie ein ungeduldiger Zuschauer. Das Mädchen abererkannte doch zuerst, daß das Benehmen K.’s in einemleichten Unwohlsein seinen Grund hatte, sie brachteeinen Sessel und fragte: „Wollen Sie sich nicht setzen?“K. setzte sich sofort und stützte, um noch bessern Haltzu bekommen, die Elbogen auf die Lehnen. „Sie habenein wenig Schwindel, nicht?“ fragte sie ihn. Er hatte nunihr Gesicht nahe vor sich, es hatte den strengen Aus-druck, wie ihn manche Frauen gerade in ihrer schönstenJugend haben. „Machen Sie sich darüber keine Gedan-ken“, sagte sie, „das ist hier nichts Außergewöhnliches,fast jeder bekommt einen solchen Anfall, wenn er zumersten Mal herkommt. Sie sind zum ersten Mal hier?Nun ja, das ist also nichts Außergewöhnliches. DieSonne brennt hier auf das Dachgerüst und das heißeHolz macht die Lu so dumpf und schwer. Der Ort istdeshalb für Bureauräumlichkeiten nicht sehr geeignet, sogroße Vorteile er allerdings sonst bietet. Aber was dieLu betri, so ist sie an Tagen großen Parteienverkehrs,und das ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar. Wenn Siedann noch bedenken, daß hier auch vielfach Wäschezum Trocknen ausgehängt wird – man kann es denMietern nicht gänzlich untersagen, – so werden Sie sichnicht mehr wundern, daß Ihnen ein wenig übel wurde.Aber man gewöhnt sich schließlich an die Lu sehr gut.Wenn Sie zum zweiten oder drittenmal herkommen,werden Sie das Drückende hier kaum mehr spüren.

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Fühlen Sie sich schon besser?“ K. antwortete nicht, eswar ihm zu peinlich, durch diese plötzliche Schwächeden Leuten hier ausgeliefert zu sein, überdies war ihm,da er jetzt die Ursachen seiner Übelkeit erfahren hattenicht besser, sondern noch ein wenig schlechter. DasMädchen merkte es gleich, nahm, um K. eine Erfri-schung zu bereiten, eine Hakenstange die an der Wandlehnte und stieß damit eine kleine Luke auf, die geradeüber K. angebracht war und ins Freie führte. Aber es fielsoviel Ruß herein, daß das Mädchen die Luke gleichwieder zuziehn und mit ihrem Taschentuch die HändeK.’s vom Ruß reinigen mußte, denn K. war zu müde,um das selbst zu besorgen. Er wäre gern hier ruhigsitzen geblieben, bis er sich zum Weggehn genügendgekräigt hatte, das mußte aber umso früher geschehn jeweniger man sich um ihn kümmern würde. Nun sagteaber überdies das Mädchen: „Hier können Sie nichtbleiben, hier stören wir den Verkehr“ – K. fragte mit denBlicken, welchen Verkehr er denn hier störe – „ichwerde Sie, wenn Sie wollen, ins Krankenzimmer füh-ren.“ „Helfen Sie mir bitte“, sagte sie zu dem Mann inder Tür, der auch gleich näher kam. Aber K. wollte nichtins Krankenzimmer, gerade das wollte er ja vermeiden,weiter geführt zu werden, je weiter er kam, desto ärgermußte es werden. „Ich kann schon gehn“, sagte erdeshalb und stand, durch das bequeme Sitzen verwöhnt,zitternd auf. Dann aber konnte er sich nicht aufrechthal-

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ten. „Es geht doch nicht“, sagte er kopfschüttelnd undsetzte sich seufzend wieder nieder. Er erinnerte sich anden Gerichtsdiener, der ihn trotz allem leicht herausfüh-ren könnte, aber der schien schon längst weg zu sein, K.sah zwischen dem Mädchen und dem Mann, die vor ihmstanden, hindurch, konnte aber den Gerichtsdiener nichtfinden. „Ich glaube“, sagte der Mann, der übrigens elegantgekleidet war und besonders durch eine graue Westeauffiel, die in zwei langen scharf geschnittenen Spitzenendigte, „das Unwohlsein des Herrn geht auf die Atmo-sphäre hier zurück, es wird daher am besten und auchihm am liebsten sein wenn wir ihn nicht erst ins Kran-kenzimmer sondern überhaupt aus den Kanzleien hin-ausführen.“ „Das ist es“, rief K, und fuhr vor lauterFreude fast noch in die Rede des Mannes hinein, „mirwird gewiß sofort besser werden, ich bin auch gar nichtso schwach, nur ein wenig Unterstützung unter denAchseln brauche ich, ich werde Ihnen nicht viel Mühemachen, es ist ja auch kein langer Weg, führen Sie michnur zur Tür, ich setze mich dann noch ein wenig auf dieStufen und werde gleich erholt sein, ich leide nämlichgar nicht unter solchen Anfällen, es kommt mir selbstüberraschend. Ich bin doch auch Beamter und an Bu-reaulu gewöhnt, aber hier scheint es doch zu arg, Siesagen es selbst. Wollen Sie also die Freundlichkeit haben,mich ein wenig zu führen, ich habe nämlich Schwindel

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und es wird mir schlecht, wenn ich allein aufstehe.“ Under hob die Schultern, um es den beiden zu erleichternihm unter die Arme zu greifen. Aber der Mann folgte der Aufforderung nicht, son-dern hielt die Hände ruhig in den Hosentaschen undlachte laut. „Sehen Sie“, sagte er zu dem Mädchen, „ichhabe also doch das Richtige getroffen. Dem Herrn istnur hier nicht wohl, nicht im allgemeinen.“ Das Mäd-chen lächelte auch, schlug aber dem Mann leicht mit denFingerspitzen auf den Arm, als hätte er sich mit K. einenzu starken Spaß erlaubt. „Aber was denken Sie denn“,sagte der Mann noch immer lachend, „ich will ja denHerrn wirklich hinausführen.“ „Dann ist es gut“, sagtedas Mädchen indem sie ihren zierlichen Kopf für einenAugenblick neigte. „Messen Sie dem Lachen nicht zuvielBedeutung zu“, sagte das Mädchen zu K., der wiedertraurig geworden vor sich hinstarrte und keine Erklä-rung zu brauchen schien, „dieser Herr – ich darf Siedoch vorstellen?“ (der Herr gab mit einer Handbewe-gung die Erlaubnis) „– dieser Herr also ist der Auskun-geber. Er gibt den wartenden Parteien alle Ausküne,die sie brauchen, und da unser Gerichtswesen in derBevölkerung nicht sehr bekannt ist, werden viele Aus-küne verlangt. Er weiß auf alle Fragen eine Antwort,Sie können ihn, wenn Sie einmal Lust dazu haben,darauin erproben. Das ist aber nicht sein einzigerVorzug, sein zweiter Vorzug ist die elegante Kleidung.

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Wir d. h. die Beamtenscha meinte einmal, man müsseden Auskungeber, der immerfort undzwar als erstermit Parteien verhandle, des würdigen ersten Eindruckshalber, auch elegant anziehn. Wir andern sind, wie Siegleich an mir sehn können, leider sehr schlecht undaltmodisch angezogen; es hat auch nicht viel Sinn für dieKleidung etwas zu verwenden, da wir fast unauörlichin den Kanzleien sind, wir schlafen ja auch hier. Aberwie gesagt für den Auskungeber hielten wir einmalschöne Kleidung für nötig. Da sie aber von unsererVerwaltung, die in dieser Hinsicht etwas sonderbar ist,nicht erhältlich war, machten wir eine Sammlung – auchParteien steuerten bei – und wir kauen ihm diesesschöne Kleid und noch andere. Alles wäre jetzt vorbe-reitet einen guten Eindruck zu machen, aber durch seinLachen verdirbt er es wieder und erschreckt die Leute.“

„So ist es“, sagte der Herr spöttisch, „aber ich verstehenicht, Fräulein, warum Sie dem Herrn alle unsere Inti-mitäten erzählen, oder besser aufdrängen, denn er willsie ja gar nicht erfahren. Sehen Sie nur, wie er, offenbarmit seinen eigenen Angelegenheiten beschäigt, da-sitzt.“ K. hatte nicht einmal Lust zu widersprechen, dieAbsicht des Mädchens mochte eine gute sein, sie warvielleicht darauf gerichtet ihn zu zerstreuen oder ihm dieMöglichkeit zu geben sich zu sammeln, aber das Mittelwar verfehlt. „Ich mußte ihm Ihr Lachen erklären“,sagte das Mädchen. „Es war ja beleidigend.“ „Ich glaube,

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er würde noch ärgere Beleidigungen verzeihen, wenn ichihn schließlich hinausführe.“ K. sagte nichts, sah nichteinmal auf, er duldete es, daß die zwei über ihn wie übereine Sache verhandelten, es war ihm sogar am liebsten.Aber plötzlich fühlte er die Hand des Auskungebers aneinem Arm und die Hand des Mädchens am andern.

„Also auf, Sie schwacher Mann“, sagte der Auskunge-ber. „Ich danke Ihnen beiden vielmals“, sagte K. freudigüberrascht, erhob sich langsam und führte selbst diefremden Hände an die Stellen, an denen er die Stütze ammeisten brauchte. „Es sieht so aus“, sagte das Mädchenleise in K.’s Ohr, während sie sich dem Gang näherten,

„als ob mir besonders viel daran gelegen wäre, denAuskungeber in ein gutes Licht zu stellen, aber manmag es glauben, ich will doch die Wahrheit sagen. Er hatkein hartes Herz. Er ist nicht verpflichtet, kranke Par-teien hinauszuführen und tut es doch, wie Sie sehn.Vielleicht ist niemand von uns hartherzig, wir wolltenvielleicht alle gern helfen, aber als Gerichtsbeamte be-kommen wir leicht den Anschein als ob wir hartherzigwären und niemandem helfen wollten. Ich leide gera-dezu darunter.“ „Wollen Sie sich nicht hier ein wenigsetzen“, fragte der Auskungeber, sie waren schon imGang und gerade vor dem Angeklagten, den K. früherangesprochen hatte. K. schämte sich fast vor ihm, früherwar er so aufrecht vor ihm gestanden, jetzt mußten ihnzwei stützen, seinen Hut balancierte der Auskungeber

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auf den gespreizten Fingern, die Frisur war zerstört, dieHaare hiengen ihm in die schweißbedeckte Stirn. Aberder Angeklagte schien nichts davon zu bemerken, demü-tig stand er vor dem Auskungeber, der über ihn hin-wegsah, und suchte nur seine Anwesenheit zu entschul-digen. „Ich weiß“, sagte er, „daß die Erledigung meinerAnträge heute noch nicht gegeben werden kann. Ich binaber doch gekommen, ich dachte ich könnte doch hierwarten, es ist Sonntag, ich habe ja Zeit und hier störe ichnicht.“ „Sie müssen das nicht so sehr entschuldigen“,sagte der Auskungeber, „Ihre Sorgsamkeit ist ja ganzlobenswert, Sie nehmen hier zwar unnötiger Weise denPlatz weg, aber ich will Sie trotzdem solange es mir nichtlästig wird, durchaus nicht hindern, den Gang IhrerAngelegenheit genau zu verfolgen. Wenn man Leutegesehn hat, die ihre Pflicht schändlich vernachlässigen,lernt man es mit Leuten wie Sie sind Geduld zu haben.Setzen Sie sich.“ „Wie er mit den Parteien zu redenversteht“, flüsterte das Mädchen. K. nickte, fuhr abergleich auf, als ihn der Auskungeber wieder fragte:

„Wollen Sie sich nicht hier niedersetzen.“ „Nein“, sagteK., „ich will mich nicht ausruhn.“ Er hatte das mitmöglichster Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hättees ihm aber sehr wohlgetan sich niederzusetzen; er warwie seekrank. Er glaubte auf einem Schiff zu sein, dassich in schwerem Seegang befand. Es war ihm als stürzedas Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der

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Tiefe des Ganges ein Brausen her, wie von überschlagen-dem Wasser, als schaukle der Gang in der Quere und alswürden die wartenden Parteien zu beiden Seiten gesenktund gehoben. Desto unbegreiflicher war die Ruhe desMädchens und des Mannes, die ihn führten. Er warihnen ausgeliefert, ließen sie ihn los, so mußte er hinfal-len wie ein Brett. Aus ihren kleinen Augen giengenscharfe Blicke hin und her; ihre gleichmäßigen Schrittefühlte K. ohne sie mitzumachen, denn er wurde fast vonSchritt zu Schritt getragen. Endlich merkte er, daß sie zuihm sprachen, aber er verstand sie nicht, er hörte nur denLärm der alles erfüllte und durch den hindurch einunveränderlicher hoher Ton wie von einer Sirene zuklingen schien. „Lauter“, flüsterte er mit gesenktemKopf und schämte sich, denn er wußte, daß sie lautgenug, wenn auch für ihn unverständlich gesprochenhatten. Da kam endlich, als wäre die Wand vor ihmdurchrissen ein frischer Luzug ihm entgegen und erhörte neben sich sagen: „Zuerst will er weg, dann aberkann man ihm hundertmal sagen, daß hier der Ausgangist und er rührt sich nicht.“ K. merkte, daß er vor derAusgangstür stand, die das Mädchen geöffnet hatte. Ihmwar als wären alle seine Kräe mit einem Mal zurückge-kehrt, um einen Vorgeschmack der Freiheit zu gewin-nen, trat er gleich auf eine Treppenstufe und verabschie-dete sich von dort aus von seinen Begleitern, die sich zuihm herabbeugten. „Vielen Dank“, wiederholte er,

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drückte beiden wiederholt die Hände und ließ erst ab,als er zu sehen glaubte, daß sie, an die Kanzleilugewöhnt, die verhältnismäßig frische Lu, die von derTreppe kam, schlecht ertrugen. Sie konnten kaum ant-worten und das Mädchen wäre vielleicht abgestürzt,wenn nicht K. äußerst schnell die Tür geschlossen hätte.K. stand dann noch einen Augenblick still, strich sichmit Hilfe eines Taschenspiegels das Haar zurecht, hobseinen Hut auf, der auf dem nächsten Treppenabsatz lag

– der Auskungeber hatte ihn wohl hingeworfen – undlief dann die Treppe hinunter so frisch und in so langenSprüngen, daß er vor diesem Umschwung fast Angstbekam. Solche Überraschungen hatte ihm sein sonstganz gefestigter Gesundheitszustand noch nie bereitet.Wollte etwa sein Körper revolutionieren und ihm einenneuen Proceß bereiten, da er den alten so mühelosertrug? Er lehnte den Gedanken nicht ganz ab, beinächster Gelegenheit zu einem Arzt zu gehn, jedenfallsaber wollte er – darin konnte er sich selbst beraten – allezukünigen Sonntagvormittage besser als diesen ver-wenden.

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Der Prügler

Als K. an einem der nächsten Abende den Korridorpassierte, der sein Bureau von der Haupttreppe trennte –er gieng diesmal fast als der letzte nachhause, nur in derExpedition arbeiteten noch zwei Diener im kleinenLichtfeld einer Glühlampe – hörte er hinter einer Tür,hinter der er immer nur eine Rumpelkammer vermutethatte, ohne sie jemals selbst gesehen zu haben, Seufzerausstoßen. Er blieb erstaunt stehn und horchte nocheinmal auf um festzustellen ob er sich nicht irrte, – eswurde ein Weilchen still, dann waren es aber dochwieder Seufzer. – Zuerst wollte er einen der Dienerholen, man konnte vielleicht einen Zeugen brauchen,dann aber faßte ihn eine derart unbezähmbare Neu-gierde, daß er die Tür förmlich aufriß. Es war, wie errichtig vermutet hatte, eine Rumpelkammer. Unbrauch-bare alte Drucksorten, umgeworfene leere irdene Tin-tenflaschen lagen hinter der Schwelle. In der Kammerselbst aber standen drei Männer, gebückt in dem niedri-gen Raum. Eine auf einem Regal festgemachte Kerze gabihnen Licht. „Was treibt Ihr hier?“ fragte K. sich vorAufregung überstürzend, aber nicht laut. Der eine

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Mann, der die andern offenbar beherrschte und zuerstden Blick auf sich lenkte, stak in einer Art dunklernLederkleidung, die den Hals bis tief zur Brust und dieganzen Arme nackt ließ. Er antwortete nicht. Aber diezwei andern riefen: „Herr! Wir sollen geprügelt werden,weil Du Dich beim Untersuchungsrichter über uns be-klagt hast.“ Und nun erst erkannte K., daß es wirklichdie Wächter Franz und Willem waren, und daß derDritte eine Rute in der Hand hielt, um sie zu prügeln.

„Nun“, sagte K. und starrte sie an, „ich habe mich nichtbeklagt, ich habe nur gesagt, wie es sich in meinerWohnung zugetragen hat. Und einwandfrei habt IhrEuch ja nicht benommen.“ „Herr“, sagte Willem wäh-rend Franz sich hinter ihm vor dem Dritten offenbar zusichern suchte, „wenn Ihr wüßtet wie schlecht wir ge-zahlt sind, Ihr würdet besser über uns urteilen. Ich habeeine Familie zu ernähren und Franz hier wollte heiraten,man sucht sich zu bereichern, wie es geht, durch bloßeArbeit gelingt es nicht, selbst durch die angestrengteste,Euere feine Wäsche hat mich verlockt, es ist natürlichden Wächtern verboten, so zu handeln, es war unrecht,aber Tradition ist es, daß die Wäsche den Wächterngehört, es ist immer so gewesen, glaubt es mir; es ist jaauch verständlich, was bedeuten denn noch solche Dingefür den, welcher so unglücklich ist verhaet zu werden.Bringt er es dann allerdings öffentlich zur Sprache, dannmuß die Strafe erfolgen.“ „Was Ihr jetzt sagt, wußte ich

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nicht, ich habe auch keineswegs Euere Bestrafung ver-langt, mir ging es um ein Princip.“ „Franz“, wandte sichWillem zum andern Wächter, „sagte ich Dir nicht, daßder Herr unsere Bestrafung nicht verlangt hat. Jetzthörst Du, daß er nicht einmal gewußt hat, daß wirbestra werden müssen.“ „Laß Dich nicht durch solcheReden rühren“, sagte der Dritte zu K., „die Strafe istebenso gerecht als unvermeidlich.“ „Höre nicht aufihn“, sagte Willem und unterbrach sich nur um dieHand, über die er einen Rutenhieb bekommen hatteschnell an den Mund zu führen, „wir werden nur ge-stra, weil Du uns angezeigt hast. Sonst wäre uns nichtsgeschehn, selbst wenn man erfahren hätte, was wir getanhaben. Kann man das Gerechtigkeit nennen? Wir zwei,insbesondere aber ich, hatten uns als Wächter durchlange Zeit sehr bewährt – Du selbst mußt eingestehn,daß wir vom Gesichtspunkt der Behörde gesehn, gutgewacht haben – wir hatten Aussicht vorwärtszukom-men und wären gewiß bald auch Prügler geworden, wiedieser, der eben das Glück hatte, von niemandem ange-zeigt worden zu sein, denn eine solche Anzeige kommtwirklich nur sehr selten vor. Und jetzt Herr ist allesverloren, unsere Lauahn beendet, wir werden nochviel untergeordnetere Arbeiten leisten müssen, als derWachdienst ist und überdies bekommen wir jetzt dieseschrecklich schmerzhaen Prügel.“ „Kann denn dieRute solche Schmerzen machen“, fragte K. und prüe

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die Rute, die der Prügler vor ihm schwang. „Wir werdenuns ja ganz nackt ausziehn müssen“, sagte Willem. „Achso“, sagte K. und sah den Prügler genauer an, er warbraun gebrannt wie ein Matrose und hatte ein wildesfrisches Gesicht. „Gibt es keine Möglichkeit den zweindie Prügel zu ersparen“, fragte er ihn. „Nein“, sagte derPrügler und schüttelte lächelnd den Kopf. „Zieht Euchaus“, befahl er den Wächtern. Und zu K. sagte er: „Dumußt ihnen nicht alles glauben. Sie sind durch die Angstvor den Prügeln schon ein wenig schwachsinnig gewor-den. Was dieser hier z. B.“ – er zeigte auf Willem – „überseine mögliche Lauahn erzählt hat, ist geradezu lä-cherlich. Sieh an, wie fett er ist, – die ersten Rutenstrei-che werden überhaupt im Fett verloren gehn. – Weißt Duwodurch er so fett geworden ist? Er hat die Gewohnheitallen Verhaeten das Frühstück aufzuessen. Hat er nichtauch Dein Frühstück aufgegessen? Nun ich sagte es ja.Aber ein Mann mit einem solchen Bauch kann nie undnimmermehr Prügler werden, das ist ganz ausgeschlos-sen.“ „Es gibt auch solche Prügler“, behauptete Willemder gerade seinen Hosengürtel löste. „Nein!“ sagte derPrügler und strich ihm mit der Rute derartig über denHals, daß er zusammenzuckte, „Du sollst nicht zuhören,sondern Dich ausziehn.“ „Ich würde Dich gut belohnen,wenn Du sie laufen läßt“, sagte K. und zog ohne denPrügler nochmals anzusehn – solche Geschäe werdenbeiderseits mit niedergeschlagenen Augen am besten

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abgewickelt – seine Brieasche hervor. „Du willst wohldann auch mich anzeigen“, sagte der Prügler, „und auchnoch mir Prügel verschaffen. Nein, nein!“ „Sei dochvernünig“, sagte K., „wenn ich gewollt hätte, daß diesezwei bestra werden, würde ich sie doch jetzt nichtloskaufen wollen. Ich könnte einfach die Tür hier zu-schlagen, nichts weiter sehn und hören wollen undnachhausegehn. Nun tue ich das aber nicht, vielmehrhegt mir ernstlich daran sie zu befreien; hätte ich geahnt,daß sie bestra werden sollen oder auch nur bestrawerden können hätte ich ihre Namen nie genannt. Ichhalte sie nämlich gar nicht für schuldig, schuldig ist dieOrganisation, schuldig sind die hohen Beamten.“ „So istes“, riefen die Wächter und bekamen sofort einen Hiebüber ihren schon entkleideten Rücken. „Hättest Du hierunter Deiner Rute einen hohen Richter“, sagte K. unddrückte während er sprach die Rute, die sich schonwieder erheben wollte, nieder, „ich würde Dich wahr-haig nicht hindern loszuschlagen, im Gegenteil ichwürde Dir noch Geld geben, damit Du Dich für die guteSache kräigst.“ „Was Du sagst, klingt ja glaubwürdig“,sagte der Prügler, „aber ich lasse mich nicht bestechen.Ich bin zum Prügeln angestellt, also prügle ich.“ DerWächter Franz, der vielleicht in Erwartung eines gutenAusganges des Eingreifens von K. bisher ziemlich zu-rückhaltend gewesen war, trat jetzt nur noch mit denHosen bekleidet zur Tür, hing sich niederknieend an

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K.’s Arm und flüsterte: „Wenn Du für uns beide Scho-nung nicht durchsetzen kannst, so versuche wenigstensmich zu befreien. Willem ist älter als ich, in jeder Hin-sicht weniger empfindlich, auch hat er schon einmal vorpaar Jahren eine leichte Prügelstrafe bekommen, ich aberbin noch nicht entehrt und bin doch zu meiner Hand-lungsweise nur durch Willem gebracht worden, der inGutem und Schlechtem mein Lehrer ist. Unten vor derBank wartet meine arme Braut auf den Ausgang, ichschäme mich ja so erbärmlich.“ Er trocknete mit K.’sRock sein von Tränen ganz überlaufenes Gesicht. „Ichwarte nicht mehr“, sagte der Prügler, faßte die Rute mitbeiden Händen und hieb auf Franz ein, während Willemin einem Winkel kauerte und heimlich zusah, ohne eineKopfwendung zu wagen. Da erhob sich der Schrei, denFranz ausstieß, ungeteilt und unveränderlich, er schiennicht von einem Menschen, sondern von einem gemar-terten Instrument zu stammen, der ganze Korridor töntevon ihm, das ganze Haus mußte es hören, „schrei nicht“,rief K., er konnte sich nicht zurückhalten und währender gespannt in die Richtung sah, aus der die Dienerkommen mußten, stieß er in Franz, nicht stark aber dochstark genug, daß der Besinnungslose niederfiel und imKrampf mit den Händen den Boden absuchte; denSchlägen entgieng er aber nicht, die Rute fand ihn auchauf der Erde, während er sich unter ihr wälzte, schwangsich ihre Spitze regelmäßig auf und ab. Und schon

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erschien in der Ferne ein Diener und ein paar Schrittehinter ihm ein zweiter. K. hatte schnell die Tür zugewor-fen, war zu einem nahen Hoffenster getreten und öffnetees. Das Schreien hatte vollständig aufgehört. Um dieDiener nicht herankommen zu lassen, rief er: „Ich bines.“ „Guten Abend, Herr Prokurist“, rief es zurück.

„Ist etwas geschehn?“ „Nein nein“, antwortete K., „esschreit nur ein Hund auf dem Hof.“ Als die Diener sichdoch nicht rührten, fügte er hinzu: „Sie können bei Ihrer,Arbeit bleiben.“ Um sich in kein Gespräch mit denDienern einlassen zu müssen, beugte er sich aus demFenster. Als er nach einem Weilchen wieder in denKorridor sah, waren sie schon weg. K. aber blieb nunbeim Fenster, in die Rumpelkammer wagte er nicht zugehn und nachhause gehn wollte er auch nicht. Es warein kleiner viereckiger Hof, in den er hinunter sah,ringsherum waren Bureauräume untergebracht, alle Fen-ster waren jetzt schon dunkel, nur die obersten fiengeneinen Widerschein des Mondes auf. K. suchte ange-strengt mit den Blicken in das Dunkel eines Hofwinkelseinzudringen, in dem einige Handkarren ineinanderge-fahren waren. Es quälte ihn, daß es ihm nicht gelungenwar, das Prügeln zu verhindern, aber es war nicht seineSchuld, daß es nicht gelungen war, hätte Franz nichtgeschrien – gewiß es mußte sehr wehgetan haben, aber ineinem entscheidenden Augenblick muß man sich beherr-schen – hätte er nicht geschrien, so hätte K., wenigstens

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sehr wahrscheinlich, noch ein Mittel gefunden, denPrügler zu überreden. Wenn die ganze unterste Beam-tenscha Gesindel war, warum hätte gerade der Prügler,der das unmenschlichste Amt hatte, eine Ausnahmemachen sollen, K. hatte auch gut beobachtet, wie ihmbeim Anblick der Banknote die Augen geleuchtet hatten,er hatte mit dem Prügeln offenbar nur deshalb Ernstgemacht, um die Bestechungssumme noch ein wenig zuerhöhn. Und K. hätte nicht gespart, es lag ihm wirklichdaran die Wächter zu befreien; wenn er nun schonangefangen hatte die Verderbnis dieses Gerichtswesenszu bekämpfen, so war es selbstverständlich, daß er auchvon dieser Seite eingriff. Aber in dem Augenblick, woFranz zu schreien angefangen hatte, war natürlich alleszuende. K. konnte nicht zulassen, daß die Diener undvielleicht noch alle möglichen Leute kämen und ihn inUnterhandlungen mit der Gesellscha in der Rumpel-kammer überraschten. Diese Aufopferung konnte wirk-lich niemand von K. verlangen. Wenn er das zu tunbeabsichtigt hätte, so wäre es ja fast einfacher gewesen,K. hätte sich selbst ausgezogen und dem Prügler alsErsatz für die Wächter angeboten. Übrigens hätte derPrügler diese Vertretung gewiß nicht angenommen, da erdadurch, ohne einen Vorteil zu gewinnen, dennoch seinePflicht schwer verletzt hätte und wahrscheinlich doppeltverletzt hätte, denn K. mußte wohl, solange er im Ver-fahren stand, für alle Angestellten des Gerichtes unver-

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letzlich sein. Allerdings konnten hier auch besondereBestimmungen gelten. Jedenfalls hatte K. nichts anderestun können, als die Tür zuschlagen, trotzdem dadurchauch jetzt noch für K. durchaus nicht jede Gefahrbeseitigt blieb. Daß er noch zuletzt Franz einen Stoßgegeben hatte, war bedauerlich und nur durch seineAufregung zu entschuldigen. In der Ferne hörte er die Schritte der Diener; umihnen nicht auffällig zu werden, schloß er das Fensterund gieng in der Richtung zur Haupttreppe. Bei der Türzur Rumpelkammer blieb er ein wenig stehn undhorchte. Es war ganz still. Der Mann konnte die Wäch-ter totgeprügelt haben, sie waren ja ganz in seine Machtgegeben. K. hatte schon die Hand nach der Klinkeausgestreckt, zog sie dann aber wieder zurück. Helfenkonnte er niemandem mehr und die Diener mußtengleich kommen; er gelobte sich aber, die Sache noch zurSprache zu bringen und die wirklich Schuldigen, diehohen Beamten, von denen sich ihm noch keiner zuzeigen gewagt hatte, soweit es in seinen Kräen war,gebührend zu bestrafen. Als er die Freitreppe der Bankhinuntergieng, beobachtete er sorgfältig alle Passanten,aber selbst in der weitern Umgebung war kein Mädchenzu sehn, das auf jemanden gewartet hätte. Die Bemer-kung Franzens, daß seine Braut auf ihn warte, erwiessich als eine allerdings verzeihliche Lüge, die nur denZweck gehabt hatte größeres Mitleid zu erwecken.

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Auch noch am nächsten Tage kamen K. die Wächternicht aus dem Sinn; er war bei der Arbeit zerstreut undmußte, um sie zu bewältigen, noch ein wenig länger imBureau bleiben als am Tag vorher. Als er auf dem Nach-hauseweg wieder an der Rumpelkammer vorüberkam,öffnete er sie wie aus Gewohnheit. Vor dem, was er stattdes erwarteten Dunkels erblickte, wußte er sich nicht zufassen. Alles war unverändert, so wie er es am Abend vor-her beim Öffnen der Tür gefunden hatte. Die Drucksor-ten und Tintenflaschen gleich hinter der Schwelle, derPrügler mit der Rute, die noch vollständig angezogenenWächter, die Kerze auf dem Regal und die Wächter be-gannen zu klagen und riefen: „Herr!“ Sofort warf K. dieTür zu und schlug noch mit den Fäusten gegen sie, als seisie dann fester verschlossen. Fast weinend lief er zu denDienern, die ruhig an der Kopiermaschine arbeiteten understaunt in ihrer Arbeit innehielten. „Räumt doch end-lich die Rumpelkammer aus“, rief er. „Wir versinken jaim Schmutz.“ Die Diener waren bereit es am nächstenTag zu tun, K. nickte, jetzt spät am Abend konnte er sienicht mehr zu der Arbeit zwingen, wie er es eigentlich be-absichtigt hatte. Er setzte sich ein wenig, um die Dienerein Weilchen lang in der Nähe zu behalten, warf einige Ko-pien durcheinander, wodurch er den Anschein zu erwek-ken glaubte, daß er sie überprüfe und gieng dann, da ereinsah, daß die Diener nicht wagen würden, gleichzeitigmit ihm wegzugehn, müde und gedankenlos nachhause.

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Der Onkel Leni

Eines Nachmittags – K. war gerade vor dem Postab-schluß sehr beschäigt – drängte sich zwischen zweiDienern, die Schristücke hereintrugen K.’s Onkel Karl,ein kleiner Grundbesitzer vom Lande, ins Zimmer. K.erschrak bei dem Anblick weniger, als er schon vorlängerer Zeit bei der Vorstellung vom Kommen desOnkels erschrocken war. Der Onkel mußte kommen,das stand bei K. schon etwa einen Monat lang fest.Schon damals hatte er ihn zu sehen geglaubt, wie er einwenig gebückt, den eingedrückten Panamahut in derLinken die Rechte schon von weitem ihm entgegen-streckte und sie mit rücksichtsloser Eile über denSchreibtisch hin reichte, alles umstoßend, was ihm imWege war. Der Onkel befand sich immer in Eile, denn erwar von dem unglücklichen Gedanken verfolgt, beiseinem immer nur eintägigen Aufenthalt in der Haupt-stadt müsse er alles erledigen können, was er sich vorge-nommen hatte und dürfe überdies auch kein gelegentlichsich darbietendes Gespräch oder Geschä oder Vergnü-gen sich entgehen lassen. Dabei mußte ihm K., der ihmals seinem gewesenen Vormund besonders verpflichtet

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war, in allem möglichen behilflich sein und ihn außer-dem bei sich übernachten lassen. „Das Gespenst vomLande“ pflegte er ihn zu nennen. Gleich nach der Begrüßung – sich in das Fauteuil zusetzen, wozu ihn K. einlud, hatte er keine Zeit – bat erK. um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. „Es istnotwendig“, sagte er, mühselig schluckend, „zu meinerBeruhigung ist es notwendig.“ K. schickte sofort dieDiener aus dem Zimmer mit der Weisung niemandeinzulassen. „Was habe ich gehört, Josef?“ rief der On-kel, als sie allein waren, setzte sich auf den Tisch undstope unter sich ohne hinzusehn verschiedene Papiere,um besser zu sitzen. K. schwieg, er wußte was kommenwürde, aber, plötzlich von der anstrengenden Arbeitentspannt, wie er war, gab er sich zunächst einer ange-nehmen Mattigkeit hin und sah durch das Fenster auf diegegenüberliegende Straßenseite, von der von seinem Sitzaus nur ein kleiner dreieckiger Ausschnitt zu sehen war,ein Stück leerer Häusermauer zwischen zwei Geschäs-auslagen. „Du schaust aus dem Fenster“, rief der Onkelmit erhobenen Armen, „um Himmelswillen Josef ant-worte mir doch. Ist es wahr, kann es denn wahr sein?“

„Lieber Onkel“, sagte K. und riß sich von seiner Zer-streutheit los, „ich weiß ja gar nicht, was Du von mirwillst.“ „Josef“, sagte der Onkel warnend, „die Wahrheithast Du immer gesagt soviel ich weiß. Soll ich Deineletzten Worte als schlimmes Zeichen auffassen.“ „Ich

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ahne ja, was Du willst“, sagte K. folgsam, „Du hastwahrscheinlich von meinem Proceß gehört.“ „So ist es“,antwortete der Onkel, langsam nickend, „ich habe vonDeinem Proceß gehört.“ „Von wem denn?“ fragte K.

„Erna hat es mir geschrieben“, sagte der Onkel, „sie hatja keinen Verkehr mit Dir, Du kümmerst Dich leidernicht viel um sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heutehabe ich den Brief bekommen und bin natürlich soforthergefahren. Aus keinem andern Grund, aber es scheintein genügender Grund zu sein. Ich kann Dir die Brief-stelle die Dich betri vorlesen.“ Er zog den Brief ausder Brieasche. „Hier ist es. Sie schreibt: ,Josef habe ichschon lange nicht gesehn, vorige Woche war ich einmalin der Bank, aber Josef war so beschäigt, daß ich nichtvorgelassen wurde; ich habe fast eine Stunde gewartet,mußte dann aber nachhause, weil ich Klavierstundehatte. Ich hätte gern mit ihm gesprochen, vielleicht wirdsich nächstens eine Gelegenheit finden. Zu meinem Na-menstag hat er mir eine große Schachtel Chokoladegeschickt, es war sehr lieb und aufmerksam. Ich hattevergessen, es Euch damals zu schreiben, erst jetzt da Ihrmich fragt, erinnere ich mich daran. Chokolade müßtIhr wissen verschwindet nämlich in der Pension sofort,kaum ist man zum Bewußtsein dessen gekommen, daßman mit Chokolade beschenkt worden ist, ist sie auchschon weg. Aber was Josef betri, wollte ich Euch nochetwas sagen: Wie erwähnt, wurde ich in der Bank nicht

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zu ihm vorgelassen, weil er gerade mit einem Herrnverhandelte. Nachdem ich eine Zeitlang ruhig gewartethatte, fragte ich einen Diener, ob die Verhandlung nochlange dauern werde. Er sagte das düre wohl sein, dennes handle sich wahrscheinlich um den Proceß, der gegenden Herrn Prokuristen geführt werde. Ich fragte, wasdenn das für ein Proceß sei, ob er sich nicht irre, er abersagte, er irre sich nicht, es sei ein Proceß undzwar einschwerer Proceß, mehr aber wisse er nicht. Er selbstmöchte dem Herrn Prokuristen gerne helfen, denn die-ser sei ein sehr guter und gerechter Herr, aber er wissenicht wie er es anfangen sollte und er möchte nurwünschen, daß sich einflußreiche Herren seiner anneh-men würden. Dies werde auch sicher geschehn und eswerde schließlich ein gutes Ende nehmen, vorläufig aberstehe es, wie er aus der Laune des Herrn Prokuristenentnehmen könne, gar nicht gut. Ich legte diesen Redennatürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte auch deneinfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm anderngegenüber davon zu sprechen und halte das Ganze fürein Geschwätz. Trotzdem wäre es vielleicht gut, wennDu, liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch derSache nachgehn wolltest, es wird Dir leicht sein, Ge-naueres zu erfahren und wenn es wirklich nötig seinsollte, durch Deine großen einflußreichen Bekanntschaf-ten einzugreifen. Sollte es aber nicht nötig sein, was jadas Wahrscheinlichste ist, so wird es wenigstens Deiner

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Tochter bald Gelegenheit geben Dich zu umarmen, wassie freuen würde.‘ Ein gutes Kind“, sagte der Onkel alser die Vorlesung beendet hatte und wischte einige Tränenaus den Augen fort. K. nickte, er hatte infolge derverschiedenen Störungen der letzten Zeit vollständig anErna vergessen, sogar an ihren Geburtstag hatte er ver-gessen und die Geschichte von der Chokolade waroffenbar nur zu dem Zweck erfunden, um ihn vor Onkelund Tante in Schutz zu nehmen. Es war sehr rührendund mit den Teaterkarten, die er ihr von jetzt ab regel-mäßig schicken wollte, gewiß nicht genügend belohnt,aber zu Besuchen in der Pension und zu Unterhaltungenmit einer kleinen siebzehnjährigen Gymnasiastin fühlteer sich jetzt nicht geeignet. „Und was sagst Du jetzt?“fragte der Onkel, der durch den Brief an alle Eile undAufregung vergessen hatte und ihn noch einmal zu lesenschien. „Ja, Onkel“, sagte K., „es ist wahr.“ „Wahr?“ riefder Onkel. „Was ist wahr? Wie kann es denn wahr sein?Was für ein Proceß? Doch nicht ein Strafproceß?“ „EinStrafproceß“, antwortete K. „Und Du sitzt ruhig hierund hast einen Strafproceß auf dem Halse?“ rief derOnkel, der immer lauter wurde. „Je ruhiger ich bin,desto besser ist es für den Ausgang“, sagte K. müde.

„Fürchte nichts.“ „Das kann mich nicht beruhigen“, riefder Onkel, „Josef, lieber Josef, denke an Dich, an DeineVerwandten, an unsern guten Namen. Du warst bisherunsere Ehre, Du darfst nicht unsere Schande werden.

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Deine Haltung“, er sah K. mit schief geneigtem Kopfean, „gefällt mir nicht, so verhält sich kein unschuldigAngeklagter, der noch bei Kräen ist. Sag mir nur schnell,um was es sich handelt, damit ich Dir helfen kann. Eshandelt sich natürlich um die Bank?“ „Nein“, sagte K.und stand auf, „Du sprichst aber zu laut, lieber Onkel,der Diener steht wahrscheinlich an der Tür und horcht.Das ist mir unangenehm. Wir wollen lieber weggehn.Ich werde Dir dann alle Fragen so gut es geht beantwor-ten. Ich weiß sehr gut, daß ich der Familie Rechenschaschuldig bin.“ „Richtig“, sehne der Onkel, „sehr richtig,beeile Dich nur, Josef, beeile Dich.“ „Ich muß nur nocheinige Auräge geben“, sagte K. und berief telephonischseinen Vertreter zu sich, der in wenigen Augenblickeneintrat. Der Onkel in seiner Aufregung zeigte ihm mitder Hand, daß K. ihn habe rufen lassen, woran auchsonst kein Zweifel gewesen wäre. K., der vor demSchreibtisch stand, erklärte dem jungen Mann, der kühlaber aufmerksam zuhörte, mit leiser Stimme unter Zu-hilfenahme verschiedener Schristücke, was in seinerAbwesenheit heute noch erledigt werden müsse. DerOnkel störte, indem er zuerst mit großen Augen undnervösem Lippenbeißen dabeistand, ohne allerdings zu-zuhören, aber der Anschein dessen war schon störendgenug. Dann aber gieng er im Zimmer auf und ab undblieb hie und da vor dem Fenster oder vor einem Bildstehn, wobei er immer in verschiedene Ausrufe aus-

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brach, wie: „Mir ist es vollständig unbegreiflich“ oder„Jetzt sagt mir nur was soll denn daraus werden“. Derjunge Mann tat, als bemerke er nichts davon, hörte ruhigK.’s Auräge bis zu Ende an, notierte sich auch einiges und gieng, nachdem er sich vor K. wie auch vor demOnkel verneigt hatte, der ihm aber gerade den Rückenzukehrte, aus dem Fenster sah und mit ausgestrecktenHänden die Vorhänge zusammenknüllte. Die Tür hattesich noch kaum geschlossen, als der Onkel ausrief:

„Endlich ist der Hampelmann weggegangen, jetzt kön-nen doch auch wir gehn. Endlich!“ Es gab leider keinMittel, den Onkel zu bewegen, in der Vorhalle, woeinige Beamte und Diener herumstanden und die geradeauch der Direktor-Stellvertreter kreuzte, die Fragen we-gen des Processes zu unterlassen. „Also, Josef“, begannder Onkel, während er die Verbeugungen der Umstehen-den durch leichtes Salutieren beantwortete, „jetzt sag’mir offen, was es für ein Proceß ist.“ K. machte einigenichtssagende Bemerkungen, lachte auch ein wenig underst auf der Treppe erklärte er dem Onkel, daß er vorden Leuten nicht habe offen reden wollen. „Richtig“,sagte der Onkel, „aber jetzt rede.“ Mit geneigtem Kopf,eine Zigarre in kurzen, eiligen Zügen rauchend hörte erzu. „Vor allem, Onkel“, sagte K., „handelt es sich garnicht um einen Proceß vor dem gewöhnlichen Gericht.“

„Das ist schlimm“, sagte der Onkel. „Wie?“ sagte K. undsah den Onkel an. „Daß das schlimm ist, meine ich“,

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wiederholte der Onkel. Sie standen auf der Freitreppe,die zur Straße führte; da der Portier zu horchen schien,zog K. den Onkel hinunter; der lebhae Straßenverkehrnahm sie auf. Der Onkel der sich in K. eingehängt hatte,fragte nicht mehr so dringend nach dem Proceß, siegiengen sogar eine Zeitlang schweigend weiter. „Wie istes aber geschehn?“ fragte endlich der Onkel so plötzlichstehen bleibend, daß die hinter ihm gehenden Leuteerschreckt auswichen. „Solche Dinge kommen dochnicht plötzlich, sie bereiten sich seit langem vor, esmüssen Anzeichen dessen gewesen sein, warum hast Dumir nicht geschrieben. Du weißt daß ich für Dich allestue, ich bin ja gewissermaßen noch Dein Vormund undwar bis heute stolz darauf. Ich werde Dir natürlich auchjetzt noch helfen, nur ist es jetzt, wenn der Proceß schonim Gange ist, sehr schwer. Am besten wäre es jedenfalls,wenn Du Dir jetzt einen kleinen Urlaub nimmst und zuuns aufs Land kommst. Du bist auch ein wenig abgema-gert, jetzt merke ich es. Auf dem Land wirst Du Dichkräigen, das wird gut sein, es stehen Dir ja gewißAnstrengungen bevor. Außerdem aber wirst Du dadurchdem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier habensie alle möglichen Machtmittel, die sie notwendigerWeise, automatischer Weise auch Dir gegenüber anwen-den; auf das Land müßten sie aber erst Organe delegie-ren oder nur brieflich telegraphisch telephonisch aufDich einzuwirken suchen. Das schwächt natürlich die

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Wirkung ab, befreit Dich zwar nicht, aber läßt Dichaufatmen.“ „Sie könnten mir ja verbieten, wegzufah-ren“, sagte K. den die Rede des Onkels ein wenig inihren Gedankengang gezogen hatte. „Ich glaube nicht

daß sie das tun werden“, sagte der Onkel nachdenklich,„so groß ist der Verlust an Macht nicht, den sie durchDeine Abreise erleiden.“ „Ich dachte“, sagte K. und faßteden Onkel unterm Arm, um ihn am Stehenbleibenhindern zu können, „daß Du dem Ganzen noch wenigerBedeutung beimessen würdest als ich und jetzt nimmstDu es selbst so schwer.“ „Josef“, rief der Onkel undwollte sich ihm entwinden um stehn bleiben zu könnenaber K. ließ ihn nicht, „Du bist verwandelt, Du hattestdoch immer ein so richtiges Auffassungsvermögen undgerade jetzt verläßt es Dich? Willst Du denn den Proceßverlieren? Weißt Du was das bedeutet? Das bedeutet, daßDu einfach gestrichen wirst. Und daß die ganze Ver-wandtscha mitgerissen oder wenigstens bis auf denBoden gedemütigt wird, Josef, nimm Dich doch zusam-men. Deine Gleichgültigkeit bringt mich um den Ver-stand. Wenn man Dich ansieht möchte man fast demSprichwort glauben: ,Einen solchen Proceß haben, heißtihn schon verloren haben‘.“ „Lieber Onkel“, sagte K.,

„die Aufregung ist so unnütz, sie ist es auf Deiner Seiteund wäre es auch auf meiner. Mit Aufregung gewinntman die Processe nicht, laß auch meine praktischenErfahrungen ein wenig gelten, so wie ich Deine, selbst

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wenn sie mich überraschen, immer und auch jetzt sehrachte. Da Du sagst, daß auch die Familie durch denProceß in Mitleidenscha gezogen würde, – was ich fürmeinen Teil durchaus nicht begreifen kann, das ist aberNebensache – so will ich Dir gerne in allem folgen. Nurden Landaufenthalt halte ich selbst in Deinem Sinn nichtfür vorteilha, denn das würde Flucht und Schuldbe-wußtsein bedeuten. Überdies bin ich hier zwar mehrverfolgt, kann aber auch selbst die Sache mehr betrei-ben.“ „Richtig“, sagte der Onkel in einem Ton als kämensie jetzt endlich einander näher, „ich machte den Vor-schlag nur, weil ich wenn Du hier bliebst die Sache vonDeiner Gleichgültigkeit gefährdet sah und es für besserhielt, wenn ich statt Deiner für Dich arbeitete. Willst Du esaber mit aller Kra selbst betreiben, so ist es natürlichweit besser.“ „Darin wären wir also einig“, sagte K.

„Und hast Du jetzt einen Vorschlag dafür, was ichzunächst machen soll?“ „Ich muß mir natürlich dieSache noch überlegen“, sagte der Onkel, „Du mußtbedenken, daß ich jetzt schon zwanzig Jahre fast unun-terbrochen auf dem Land bin, dabei läßt der Spürsinn indiesen Richtungen nach. Verschiedene wichtige Verbin-dungen mit Persönlichkeiten, die sich hier vielleichtbesser auskennen, haben sich von selbst gelockert. Ichbin auf dem Land ein wenig verlassen, das weißt Du ja.Selbst merkt man es eigentlich erst bei solchen Gelegen-heiten. Zum Teil kam mir Deine Sache auch unerwartet,

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wenn ich auch merkwürdiger Weise nach Ernas Briefschon etwas derartiges ahnte und es heute bei DeinemAnblick fast mit Bestimmtheit wußte. Aber das istgleichgültig, das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlie-ren.“ Schon während seiner Rede hatte er auf den Fuß-spitzen stehend einem Automobil gewinkt und zog jetztwährend er gleichzeitig dem Wagenlenker eine Adressezurief K. hinter sich in den Wagen. „Wir fahren jetztzum Advokaten Huld“, sagte er, „er war mein Schulkol-lege. Du kennst den Namen gewiß auch? Nicht? Das istaber merkwürdig. Er hat doch als Verteidiger und Ar-menadvokat einen bedeutenden Ruf. Ich aber habe be-sonders zu ihm als Menschen großes Vertrauen.“ „Mirist alles recht, was Du unternimmst“, sagte K., trotzdemihm die eilige und dringliche Art mit der der Onkel dieAngelegenheit behandelte, Unbehagen verursachte. Eswar nicht sehr erfreulich, als Angeklagter zu einemArmenadvokaten zu fahren. „Ich wußte nicht“, sagte er,„daß man in einer solchen Sache auch einen Advokatenzuziehn könne.“ „Aber natürlich“, sagte der Onkel,

„das ist ja selbstverständlich. Warum denn nicht? Undnun erzähle mir, damit ich über die Sache genau unter-richtet bin, alles was bisher geschehen ist.“ K. begannsofort zu erzählen, ohne irgendetwas zu verschweigen,seine vollständige Offenheit war der einzige Protest, dener sich gegen des Onkels Ansicht, der Proceß sei einegroße Schande, erlauben konnte. Fräulein Bürstners Na-

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men erwähnte er nur einmal und flüchtig, aber dasbeeinträchtigte nicht die Offenheit, denn Fräulein Bürst-ner stand mit dem Proceß in keiner Verbindung. Wäh-rend er erzählte, sah er aus dem Fenster und beobach-tete, wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten, in derdie Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel dar-auf aufmerksam, der aber das Zusammentreffen nichtbesonders auffallend fand. Der Wagen hielt vor einemdunklen Haus. Der Onkel läutete gleich im Parterre beider ersten Tür; während sie warteten, fletschte er lä-chelnd seine großen Zähne und flüsterte: „Acht Uhr,eine ungewöhnliche Zeit für Parteienbesuche. Huldnimmt es mir aber nicht übel.“ Im Guckfenster der Türerschienen zwei große schwarze Augen, sahen ein Weil-chen die zwei Gäste an und verschwanden; die Türöffnete sich aber nicht. Der Onkel und K. bestätigteneinander gegenseitig die Tatsache, die zwei Augen gese-hen zu haben. „Ein neues Stubenmädchen, das sich vorFremden fürchtet“, sagte der Onkel und klope noch-mals. Wieder erschienen die Augen, man konnte sie jetztfast für traurig halten, vielleicht war das aber auch nureine Täuschung, hervorgerufen durch die offene Gas-flamme, die nahe über den Köpfen stark zischendbrannte, aber wenig Licht gab. „Offnen Sie“, rief derOnkel und hieb mit der Faust gegen die Tür, „es sindFreunde des Herrn Advokaten.“ „Der Herr Advokat istkrank“, flüsterte es hinter ihnen. In einer Tür am andern

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Ende des kleinen Ganges stand ein Herr im Schlafrockund machte mit äußerst leiser Stimme diese Mitteilung.Der Onkel, der schon wegen des langen Wartens wütendwar, wandte sich mit einem Ruck um, rief: „Krank? Siesagen, er ist krank?“ und gieng fast drohend, als sei derHerr die Krankheit, auf ihn zu. „Man hat schon geöff-net“, sagte der Herr, zeigte auf die Tür des Advokaten,rae seinen Schlafrock zusammen und verschwand. DieTür war wirklich geöffnet worden, ein junges Mädchen– K. erkannte die dunklen ein wenig hervorgewälztenAugen wieder – stand in langer weißer Schürze imVorzimmer und hielt eine Kerze in der Hand. „Näch-stens öffnen Sie früher“, sagte der Onkel statt einerBegrüßung, während das Mädchen einen kleinen Knixmachte. „Komm, Josef“, sagte er dann zu K., der sichlangsam an dem Mädchen vorüberschob. „Der HerrAdvokat ist krank“, sagte das Mädchen, da der Onkelohne sich aufzuhalten auf eine Tür zueilte. K. stauntedas Mädchen noch an, während es sich schon umgedrehthatte, um die Wohnungstüre wieder zu versperren, eshatte ein puppenförmig gerundetes Gesicht, nicht nurdie bleichen Wangen und das Kinn verliefen rund, auchdie Schläfen und die Stirnränder. „Josef“, rief der Onkelwieder und das Mädchen fragte er: „Es ist das Herzlei-den?“ „Ich glaube wohl“, sagte das Mädchen, es hatteZeit gefunden mit der Kerze voranzugehn und dieZimmertür zu öffnen. In einem Winkel des Zimmers,

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wohin das Kerzenlicht noch nicht drang, erhob sich imBett ein Gesicht mit langem Bart. „Leni, wer kommtdenn“, fragte der Advokat, der durch die Kerze geblen-det die Gäste noch nicht erkannte. „Albert, Dein alterFreund ist es“, sagte der Onkel. „Ach Albert“, sagte derAdvokat und ließ sich auf die Kissen zurückfallen, alsbedürfe es diesem Besuch gegenüber keiner Verstellung.

„Steht es wirklich so schlecht?“ fragte der Onkel undsetzte sich auf den Bettrand. „Ich glaube es nicht. Es istein Anfall Deines Herzleidens und wird vorübergehnwie die frühern.“ „Möglich“, sagte der Advokat leise,

„es ist aber ärger als es jemals gewesen ist. Ich atmeschwer, schlafe gar nicht und verliere täglich an Kra.“

„So“, sagte der Onkel und drückte den Panamahut mitseiner großen Hand fest aufs Knie. „Das sind schlechteNachrichten. Hast Du übrigens die richtige Pflege? Es istauch so traurig hier, so dunkel. Es ist schon lange her,seitdem ich zum letztenmal hier war, damals schien esmir freundlicher. Auch Dein kleines Fräulein hierscheint nicht sehr lustig oder sie verstellt sich.“ DasMädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei derTür, soweit ihr unbestimmter Blick erkennen ließ sah sieeher K. an als den Onkel, selbst als dieser jetzt von ihrsprach. K. lehnte an einem Sessel, den er in die Nähe desMädchens geschoben hatte. „Wenn man so krank ist, wieich“, sagte der Advokat, „muß man Ruhe haben. Mir istes nicht traurig.“ Nach einer kleinen Pause fügte er

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hinzu: „Und Leni pflegt mich gut, sie ist brav.“ DenOnkel konnte das aber nicht überzeugen, er war sicht-lich gegen die Pflegerin voreingenommen und wenn erjetzt auch dem Kranken nichts entgegnete so verfolgte erdoch die Pflegerin mit strengen Blicken, als sie jetzt zumBett hingieng, die Kerze auf das Nachttischchen stellte,sich über den Kranken hinbeugte und beim Ordnen derKissen mit ihm flüsterte. Er vergaß fast die Rücksichtauf den Kranken, stand auf, gieng hinter der Pflegerinhin und her und K. hätte es nicht gewundert, wenn er siehinten an den Röcken erfaßt und vom Bett fortgezogenhätte. K. selbst sah allem ruhig zu, die Krankheit desAdvokaten war ihm sogar nicht ganz unwillkommen,dem Eifer, den der Onkel für seine Sache entwickelthatte, hatte er sich nicht entgegenstellen können, dieAblenkung, die dieser Eifer jetzt ohne sein Zutun erfuhr,nahm er gerne hin. Da sagte der Onkel, vielleicht nur inder Absicht die Pflegerin zu beleidigen: „Fräulein bitte,lassen Sie uns ein Weilchen allein, ich habe mit meinemFreund eine persönliche Angelegenheit zu besprechen.“Die Pflegerin, die noch weit über den Kranken hinge-beugt war und gerade das Leintuch an der Wand glättete,wendete nur den Kopf und sagte sehr ruhig, was einenauffallenden Unterschied zu dem von Wut stockendenund dann wieder überfließenden Reden des Onkels bil-dete: „Sie sehen, der Herr ist so krank, er kann keineAngelegenheiten besprechen.“ Sie hatte die Worte des

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Onkels wahrscheinlich nur aus Bequemlichkeit wieder-holt, immerhin konnte es selbst von einem Unbeteiligtenals spöttisch aufgefaßt werden, der Onkel aber fuhrnatürlich wie ein Gestochener auf. „Du Verdammte“,sagte er im ersten Gurgeln der Aufregung noch ziemlichunverständlich, K. erschrak trotzdem er etwas Ähnlicheserwartet hatte, und lief auf den Onkel zu mit der be-stimmten Absicht ihm mit beiden Händen den Mund zuschließen. Glücklicherweise erhob sich aber hinter demMädchen der Kranke, der Onkel machte ein finsteresGesicht, als schlucke er etwas Abscheuliches hinunter,und sagte dann ruhiger: „Wir haben natürlich auch nochden Verstand nicht verloren; wäre das was ich verlangenicht möglich, würde ich es nicht verlangen. Bitte gehnSie jetzt.“ Die Pflegerin stand aufgerichtet am Bett, demOnkel voll zugewendet, mit der einen Hand streicheltesie, wie K. zu bemerken glaubte die Hand des Advoka-ten. „Du kannst vor Leni alles sagen“, sagte der Krankezweifellos im Ton einer dringenden Bitte. „Es betrinicht mich“, sagte der Onkel, „es ist nicht mein Geheim-nis.“ Und er drehte sich um, als gedenke er in keineVerhandlungen mehr einzugehn, gebe aber noch einekleine Bedenkzeit. „Wen betri es denn?“ fragte derAdvokat mit erlöschender Stimme und legte sich wiederzurück. „Meinen Neffen“, sagte der Onkel, „ich habeihn auch mitgebracht.“ Und er stellte vor: „ProkuristJosef K.“ „Oh“, sagte der Kranke viel lebhaer und

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streckte K. die Hand entgegen, „verzeihen Sie, ich habeSie gar nicht bemerkt.“ „Geh, Leni“, sagte er dann zu derPflegerin, die sich auch gar nicht mehr wehrte, undreichte ihr die Hand, als gelte es einen Abschied für langeZeit. „Du bist also“, sagte er endlich zum Onkel, derauch versöhnt nähergetreten war, „nicht gekommen, mireinen Krankenbesuch zu machen, sondern Du kommstin Geschäen.“ Es war als hätte die Vorstellung einesKrankenbesuches den Advokaten bisher gelähmt, sogekräigt sah er jetzt aus, blieb ständig auf einen Elbo-gen aufgestützt, was ziemlich anstrengend sein mußteund zog immer wieder an einem Bartstrahn in der Mitteseines Bartes. „Du siehst schon viel gesünder aus“, sagteder Onkel, „seitdem diese Hexe draußen ist.“ Er unter-brach sich, flüsterte: „Ich wette daß sie horcht“ undsprang zur Tür. Aber hinter der Tür war niemand, derOnkel kam zurück, nicht enttäuscht, denn ihr Nichthor-chen erschien ihm als eine noch größere Bosheit, wohlaber verbittert. „Du verkennst sie“, sagte der Advokat,ohne die Pflegerin weiter in Schutz zu nehmen; vielleichtwollte er damit ausdrücken, daß sie nicht schutzbedürf-tig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone fuhr er fort:

„Was die Angelegenheit Deines Herrn Neffen betri,so würde ich mich allerdings glücklich schätzen, wennmeine Kra für diese äußerst schwierige Aufgabe ausrei-chen könnte; ich fürchte sehr, daß sie nicht ausreichenwird, jedenfalls will ich nichts unversucht lassen; wenn

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ich nicht ausreiche könnte man ja noch jemanden andernbeiziehn. Um aufrichtig zu sein, interessiert mich dieSache zu sehr, als daß ich es über mich bringen könnte,auf jede Beteiligung zu verzichten. Hält es mein Herznicht aus, so wird es doch wenigstens hier eine würdigeGelegenheit finden, gänzlich zu versagen.“ K. glaubtekein Wort dieser ganzen Rede zu verstehn, er sah denOnkel an, um dort eine Erklärung zu finden, aber diesersaß mit der Kerze in der Hand auf dem Nachttischchen,von dem bereits eine Arzneiflasche auf den Teppichgerollt war, nickte zu allem, was der Advokat sagte, warmit allem einverstanden und sah hie und da auf K. mitder Aufforderung zu gleichem Einverständnis hin. Hattevielleicht der Onkel schon früher dem Advokaten vondem Proceß erzählt, aber das war unmöglich, alles wasvorhergegangen war, sprach dagegen. „Ich verstehenicht – “ sagte er deshalb. „Ja, habe vielleicht ich Siemißverstanden?“ fragte der Advokat ebenso erstauntund verlegen wie K. „Ich war vielleicht voreilig. Wor-über wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich dachte eshandle sich um Ihren Proceß?“ „Natürlich“, sagte derOnkel und fragte dann K.: „Was willst Du denn?“ „Ja,aber woher wissen Sie denn etwas über mich und meinenProceß?“ fragte K. „Ach so“, sagte der Advokat lä-chelnd, „ich bin doch Advokat, ich verkehre in Ge-richtskreisen, man spricht über verschiedene Processeund auffallendere, besonders wenn es den Neffen eines

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Freundes betri, behält man im Gedächtnis. Das istdoch nichts merkwürdiges.“ „Was willst Du denn?“fragte der Onkel K. nochmals, „Du bist so unruhig.“

„Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen“, fragte K.„Ja“, sagte der Advokat. „Du fragst wie ein Kind“, sagteder Onkel. „Mit wem sollte ich denn verkehren, wennnicht mit Leuten meines Faches?“ fügte der Advokathinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nichtantwortete. „Sie arbeiten doch bei dem Gericht im Ju-stizpalast, und nicht bei dem auf dem Dachboden“, hatteer sagen wollen, konnte sich aber nicht überwinden, eswirklich zu sagen. „Sie müssen doch bedenken“, fuhrder Advokat fort, in einem Tone, als erkläre er etwasselbstverständliches, überflüssigerweise und nebenbei,

„Sie müssen doch bedenken, daß ich aus einem solchenVerkehr auch große Vorteile für meine Klientel zieheundzwar in vielfacher Hinsicht, man darf nicht einmalimmer davon reden. Natürlich bin ich jetzt infolgemeiner Krankheit ein wenig behindert, aber ich be-komme trotzdem Besuch von guten Freunden vom Ge-richt und erfahre doch einiges. Erfahre vielleicht mehr,als manche die in bester Gesundheit den ganzen Tag beiGericht verbringen. So habe ich z. B. gerade jetzt einenlieben Besuch.“ Und er zeigte in eine dunkle Zimmer-ecke. „Wo denn?“ fragte K. in der ersten Überraschungfast grob. Er sah unsicher herum; das Licht der kleinenKerze drang bis zur gegenüberliegenden Wand bei wei-

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tem nicht. Und wirklich begann sich dort in der Eckeetwas zu rühren. Im Licht der Kerze die der Onkel jetzthochhielt, sah man dort bei einem kleinen Tischcheneinen altern Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht geat-met, daß er solange unbemerkt geblieben war. Jetztstand er umständlich auf, offenbar unzufrieden damitdaß man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war alswolle er mit den Händen, die er wie kurze Flügelbewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen abweh-ren, als wolle er auf keinen Fall die andern durch seineAnwesenheit stören und als bitte er dringend wieder umdie Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seinerAnwesenheit. Das konnte man ihm nun aber nicht mehrzugestehn. „Ihr habt uns nämlich überrascht“, sagte derAdvokat zur Erklärung und winkte dabei dem Herrnaufmunternd zu, näherzukommen, was dieser langsam,zögernd herumblickend und doch mit einer gewissenWürde tat, „der Herr Kanzleidirektor – ach so, Verzei-hung, ich habe nicht vorgestellt – hier mein FreundAlbert K., hier sein Neffe Prokurist Josef K. und hierder Herr Kanzleidirektor – der Herr Kanzleidirektoralso war so freundlich mich zu besuchen. Den Werteines solchen Besuches kann eigentlich nur der Einge-weihte würdigen, welcher weiß, wie der Herr Kanzleidi-rektor mit Arbeit überhäu ist. Nun er kam also trotz-dem, wir unterhielten uns friedlich, soweit meineSchwäche es erlaubte, wir hatten zwar Leni nicht verbo-

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ten Besuche einzulassen, denn es waren keine zu erwar-ten, aber unsere Meinung war doch, daß wir alleinbleiben sollten, dann aber kamen Deine Fausthiebe,Albert, der Herr Kanzleidirektor rückte mit Sessel undTisch in den Winkel, nun aber zeigt sich, daß wirmöglicherweise, d. h. wenn der Wunsch danach besteht,eine gemeinsame Angelegenheit zu besprechen habenund sehr gut wieder zusammenrücken können. HerrKanzleidirektor“, sagte er mit Kopfneigen und unter-würfigem Lächeln und zeigte auf einen Lehnstuhl in derNähe des Bettes. „Ich kann leider nur noch paar Minu-ten bleiben“, sagte der Kanzleidirektor freundlich, setztesich breit in den Lehnstuhl und sah auf die Uhr, „dieGeschäe rufen mich. Jedenfalls will ich nicht die Gele-genheit vorübergehn lassen, einen Freund meines Freun-des kennen zu lernen.“ Er neigte den Kopf leicht gegenden Onkel, der von der neuen Bekanntscha sehr befrie-digt schien, aber infolge seiner Natur Gefühle der Erge-benheit nicht ausdrücken konnte und die Worte desKanzleidirektors mit verlegenem aber lautem Lachenbegleitete. Ein häßlicher Anblick! K. konnte ruhig allesbeobachten, denn um ihn kümmerte sich niemand, derKanzleidirektor nahm, wie es seine Gewohnheit schien,da er nun schon einmal hervorgezogen war die Herr-scha über das Gespräch an sich, der Advokat, dessenerste Schwäche vielleicht nur dazu hatte dienen sollen,den neuen Besuch zu vertreiben, hörte aufmerksam, die

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Hand am Ohre zu, der Onkel als Kerzenträger – erbalanzierte die Kerze auf seinem Schenkel, der Advokatsah öers besorgt hin – war bald frei von Verlegenheitund nur noch entzückt sowohl von der Art der Rede desKanzleidirektors als auch von den sanen wellenförmi-gen Handbewegungen, mit denen er sie begleitete. K.,der am Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektorvielleicht sogar mit Absicht vollständig vernachlässigtund diente den alten Herren nur als Zuhörer. Übrigenswußte er kaum wovon die Rede war und dachte bald andie Pflegerin und an die schlechte Behandlung, die sievom Onkel erfahren hatte, bald daran, ob er den Kanz-leidirektor nicht schon einmal gesehn hatte, vielleichtsogar in der Versammlung bei seiner ersten Untersu-chung. Wenn er sich auch vielleicht täuschte, so hättesich doch der Kanzleidirektor den Versammlungsteil-nehmern in der ersten Reihe, den alten Herren mit denschüttern Barten vorzüglich eingefügt. Da ließ ein Lärm aus dem Vorzimmer wie von zerbre-chendem Porzellan alle auorchen. „Ich will nachsehn,was geschehen ist“, sagte K. und gieng langsam hinausals gebe er den andern noch Gelegenheit ihn zurückzu-halten. Kaum war er ins Vorzimmer getreten und wolltesich im Dunkel zurechtfinden, als sich auf die Hand, mitder er die Tür noch festhielt, eine kleine Hand legte, vielkleiner als K.’s Hand, und die Tür leise schloß. Es wardie Pflegerin, die hier gewartet hatte. „Es ist nichts

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geschehn“, flüsterte sie, „ich habe nur einen Teller gegendie Mauer geworfen, um Sie herauszuholen.“ In seinerBefangenheit sagte K.: „Ich habe auch an Sie gedacht.“

„Desto besser“, sagte die Pflegerin. „Kommen Sie.“Nach ein paar Schritten kamen sie zu einer Tür ausmattem Glas, welche die Pflegerin vor K. öffnete. „Tre-ten Sie doch ein“, sagte sie. Es war jedenfalls das Ar-beitszimmer des Advokaten; soweit man im Mondlichtsehen konnte, das jetzt nur einen kleinen viereckigenTeil des Fußbodens an jedem der zwei großen Fensterstark erhellte, war es mit schweren alten Möbeln ausge-stattet. „Hierher“, sagte die Pflegerin und zeigte auf einedunkle Truhe mit holzgeschnitzter Lehne. Noch als ersich gesetzt hatte, sah sich K. im Zimmer um, es war einhohes großes Zimmer, die Kundscha des Armenadvo-katen mußte sich hier verloren vorkommen. K. glaubtedie kleinen Schritte zu sehn, mit denen die Besucher zudem gewaltigen Schreibtisch vorrückten. Dann aber ver-gaß er daran und hatte nur noch Augen für die Pflegerin,die ganz nahe neben ihm saß und ihn fast an die Seiten-lehne drückte. „Ich dachte“, sagte sie, „Sie würden alleinzu mir herauskommen ohne daß ich Sie erst rufenmüßte. Es war doch merkwürdig. Zuerst sahen Sie michgleich beim Eintritt ununterbrochen an und dann ließenSie mich warten.“ „Nennen Sie mich übrigens Leni“,fügte sie noch rasch und unvermittelt ein, als solle keinAugenblick dieser Aussprache versäumt werden.

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„Gern“, sagte K. „Was aber die Merkwürdigkeit betri,Leni, so ist sie leicht zu erklären. Erstens mußte ich dochdas Geschwätz der alten Herren anhören und konntenicht grundlos weglaufen, zweitens aber bin ich nichtfrech, sondern eher schüchtern und auch Sie Leni sahenwahrhaig nicht so aus, als ob Sie in einem Sprung zugewinnen wären.“ „Das ist es nicht“, sagte Leni, legteden Arm über die Lehne und sah K. an, „aber ich gefielIhnen nicht und gefalle Ihnen wahrscheinlich auch jetztnicht.“ „Gefallen wäre ja nicht viel“, sagte K. auswei-chend. „Oh!“ sagte sie lächelnd und gewann durch K.’sBemerkung und diesen kleinen Ausruf eine gewisseÜberlegenheit. Deshalb schwieg K. ein Weilchen. Da ersich an das Dunkel im Zimmer schon gewöhnt hatte,konnte er verschiedene Einzelheiten der Einrichtungunterscheiden. Besonders fiel ihm ein großes Bild auf,das rechts von der Tür hieng, er beugte sich vor, um esbesser zu sehn. Es stellte einen Mann im Richtertalardar; er saß auf einem hohen Tronsessel, dessen Vergol-dung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Unge-wöhnliche war, daß dieser Richter nicht in Ruhe undWürde dort saß, sondern den linken Arm fest an Rük-ken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm abervöllig frei hatte und nur mit der Hand die Seitenlehneumfaßte, als wolle er im nächsten Augenblick mit einerheigen und vielleicht empörten Wendung aufspringenum etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil

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zu verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen derTreppe zu denken, deren oberste mit einem gelben Tep-pich bedeckte Stufen noch auf dem Bilde zu sehenwaren. „Vielleicht ist das mein Richter“, sagte K. undzeigte mit einem Finger auf das Bild. „Ich kenne ihn“,sagte Leni und sah auch zum Bilde auf, „er kommt öershierher. Das Bild stammt aus seiner Jugend, er kann aberniemals dem Bilde auch nur ähnlich gewesen sein, denner ist fast winzig klein. Trotzdem hat er sich auf demBild so in die Länge ziehen lassen, denn er ist unsinnigeitel, wie alle hier. Aber auch ich bin eitel und sehrunzufrieden damit, daß ich Ihnen gar nicht gefalle.“ Zuder letzten Bemerkung antwortete K. nur damit, daß erLeni umfaßte und an sich zog, sie lehnte still den Kopfan seine Schulter. Zu dem übrigen aber sagte er: „Was füreinen Rang hat er?“ „Er ist Untersuchungsrichter“, sagtesie, ergriff K.’s Hand mit der er sie umfaßt hielt undspielte mit seinen Fingern. „Wieder nur Untersuchungs-richter“, sagte K. enttäuscht, „die hohen Beamten ver-stecken sich. Aber er sitzt doch auf einem Tronsessel.“

„Das ist alles Erfindung“, sagte Leni, das Gesicht überK.’s Hand gebeugt, „in Wirklichkeit sitzt er auf einemKüchensessel, auf dem eine alte Pferdedecke zusammen-gelegt ist. Aber müssen Sie denn immerfort an IhrenProceß denken?“ fügte sie langsam hinzu. „Nein, durch-aus nicht“, sagte K., „ich denke wahrscheinlich sogar zuwenig an ihn.“ „Das ist nicht der Fehler, den Sie ma-

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chen“, sagte Leni, „Sie sind zu unnachgiebig, so habe iches gehört.“ „Wer hat das gesagt?“ fragte K., er fühlteihren Körper an seiner Brust und sah auf ihr reichesdunkles fest gedrehtes Haar hinab. „Ich würde zuvielverraten, wenn ich das sagte“, antwortete Leni. „FragenSie bitte nicht nach Namen, stellen Sie aber Ihren Fehlerab, seien Sie nicht mehr so unnachgiebig, gegen diesesGericht kann man sich ja nicht wehren, man muß dasGeständnis machen. Machen Sie doch bei nächster Gele-genheit das Geständnis. Erst dann ist die Möglichkeit zuentschlüpfen gegeben, erst dann. Jedoch selbst das istohne fremde Hilfe nicht möglich, wegen dieser Hilfeaber müssen Sie sich nicht ängstigen, die will ich Ihnenselbst leisten.“ „Sie verstehen viel von diesem Gerichtund von den Betrügereien, die hier nötig sind“, sagte K.und hob sie, da sie sich allzu stark an ihn drängte, aufseinen Schooß. „So ist es gut“, sagte sie und richtete sichauf seinem Schooß ein, indem sie den Rock glättete unddie Bluse zurechtzog. Dann hieng sie sich mit beidenHänden an seinen Hals, lehnte sich zurück und sah ihnlange an. „Und wenn ich das Geständnis nicht mache,dann können Sie mir nicht helfen?“ fragte K. versuchs-weise. Ich werbe Helferinnen, dachte er fast verwundert,zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdie-ners und endlich diese kleine Pflegerin, die ein unbe-greifliches Bedürfnis nach mir zu haben scheint. Wie sieauf meinem Schooß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger

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Platz! „Nein“, antwortete Leni und schüttelte langsamden Kopf, „dann kann ich Ihnen nicht helfen. Aber Siewollen ja meine Hilfe gar nicht, es liegt Ihnen nichtsdaran, Sie sind eigensinnig und lassen sich nicht über-zeugen.“ „Haben Sie eine Geliebte?“ fragte sie nacheinem Weilchen. „Nein“, sagte K. „Oh doch“, sagte sie.

„Ja, wirklich“, sagte K., „denken Sie nur, ich habe sieverleugnet und trage doch sogar ihre Photographie beimir.“ Auf ihre Bitten zeigte er ihr eine PhotographieElsas, zusammengekrümmt auf seinem Schooß studiertesie das Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa warnach einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn indem Weinlokal gern tanzte, ihr Rock flog noch imFaltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte sieauf die Hüen gelegt und sah mit straffem Hals lachendzur Seite; wem ihr Lachen galt, konnte man aus demBild nicht erkennen. „Sie ist stark geschnürt“, sagte Leniund zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung nach zusehen war. „Sie gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen undroh. Vielleicht ist sie aber Ihnen gegenüber san undfreundlich, darauf könnte man nach dem Bilde schlie-ßen. So große starke Mädchen wissen o nichts anderesals san und freundlich zu sein. Würde sie sich aber fürSie opfern können?“ „Nein“, sagte K., „sie ist wedersan und freundlich noch würde sie sich für mich opfernkönnen. Auch habe ich bisher weder das eine noch dasandere von ihr verlangt. Ja ich habe noch nicht einmal

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das Bild so genau angesehn, wie Sie,“ „Es liegt Ihnenalso gar nicht viel an ihr“, sagte Leni, „sie ist also garnicht Ihre Geliebte.“ „Doch“, sagte K. „Ich nehme meinWort nicht zurück.“ „Mag sie also jetzt Ihre Geliebtesein“, sagte Leni, „Sie würden sie aber nicht sehr vermis-sen, wenn Sie sie verlieren oder für jemand andern z. B.für mich eintauschen würden.“ „Gewiß“, sagte K. lä-chelnd, „das wäre denkbar, aber sie hat einen großenVorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von meinemProceß, und selbst wenn sie etwas davon wüßte, würdesie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur Nach-giebigkeit zu überreden suchen.“ „Das ist kein Vorteil“,sagte Leni. „Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, ver-liere ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichenFehler?“ „Einen körperlichen Fehler?“ fragte K. „Ja“,sagte Leni, „ich habe nämlich einen solchen kleinenFehler, sehen Sie.“ Sie spannte den Mittel- und Ringfin-ger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen denen dasVerbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk derkurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel nichtgleich, was sie ihm zeigen wollte, sie führte deshalb seineHand hin, damit er es abtaste. „Was für ein Naturspiel“,sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickthatte, hinzu: „Was für eine hübsche Kralle!“ Mit einerArt Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer wiederihre zwei Finger auseinanderzog und zusammenlegte,bis er sie schließlich flüchtig küßte und losließ. „Oh!“

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rief sie aber sofort, „Sie haben mich geküßt!“ Eilig, mitoffenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinenSchooß, K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt da sie ihmso nahe war gieng ein bitterer aufreizender Geruch wievon Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich,beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinenHals, biß selbst in seine Haare. „Sie haben mich einge-tauscht“, rief sie von Zeit zu Zeit, „sehen Sie nun habenSie mich doch eingetauscht!“ Da glitt ihr Knie aus, miteinem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K.umfaßte sie, um sie noch zu halten, und wurde zu ihrhinabgezogen. „Jetzt gehörst Du mir“, sagte sie. „Hier hast Du den Hausschlüssel, komm wann Duwillst“, waren ihre letzten Worte und ein zielloser Kußtraf ihn noch im Weggehn auf den Rücken. Als er ausdem Haustor trat, fiel ein leichter Regen, er wollte in dieMitte der Straße gehn, um vielleicht Leni noch beimFenster erblicken zu können, da stürzte aus einem Auto-mobil, das vor dem Hause wartete und das K. in seinerZerstreutheit gar nicht bemerkt hatte, der Onkel, faßteihn bei den Armen und stieß ihn gegen das Haustor, alswolle er ihn dort festnageln. „Junge“, rief er, „wiekonntest Du nur das tun! Du hast Deiner Sache, die aufgutem Wege war, schrecklich geschadet. VerkriechstDich mit einem kleinen schmutzigen Ding, das überdiesoffensichtlich die Geliebte des Advokaten ist, undbleibst stundenlang weg. Suchst nicht einmal einen Vor-

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wand, verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen, laufstzu ihr und bleibst bei ihr. Und unterdessen sitzen wirbeisammen, der Onkel, der sich für Dich abmüht, derAdvokat, der für Dich gewonnen werden soll, der Kanz-leidirektor vor allem, dieser große Herr, der Deine Sachein ihrem jetzigen Stadium geradezu beherrscht. Wirwollen beraten wie Dir zu helfen wäre, ich muß denAdvokaten vorsichtig behandeln, dieser wieder denKanzleidirektor und Du hättest doch allen Grund michwenigstens zu unterstützen. Statt dessen bleibst Du fort.Schließlich läßt es sich nicht verheimlichen, nun es sindhöfliche gewandte Männer, sie sprechen nicht davon, sieschonen mich, schließlich können aber auch sie sichnicht mehr überwinden und da sie von der Sache nichtreden können, verstummen sie. Wir sind minutenlangschweigend dagesessen und haben gehorcht ob Du nichtdoch endlich kämest. Alles vergebens. Endlich steht derKanzleidirektor, der viel länger geblieben ist, als erursprünglich wollte, auf, verabschiedet sich, bedauertmich sichtlich ohne mir helfen zu können, wartet inunbegreiflicher Liebenswürdigkeit noch eine Zeitlang inder Tür, dann geht er. Ich war natürlich glücklich, daß erweg war, mir war schon die Lu zum Atmen ausgegan-gen. Auf den kranken Advokaten hat alles noch stärkereingewirkt, er konnte, der gute Mann, gar nicht spre-chen als ich mich von ihm verabschiedete. Du hastwahrscheinlich zu seinem vollständigen Zusammenbre-

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chen beigetragen und beschleunigst so den Tod einesMannes auf den Du angewiesen bist. Und mich DeinenOnkel läßt Du hier im Regen, fühle nur, ich bin ganzdurchnäßt, stundenlang warten.“

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Advokat Fabrikant

Maler

An einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee imtrüben Licht – saß K. trotz der frühen Stunde schonäußerst müde in seinem Bureau. Um sich wenigstens vorden untern Beamten zu schützen, hatte er dem Dienerden Aurag gegeben, niemanden von ihnen einzulassen,da er mit einer größern Arbeit beschäigt sei. Aber stattzu arbeiten drehte er sich in seinem Sessel, verschoblangsam einige Gegenstände auf dem Tisch, ließ dannaber, ohne es zu wissen den ganzen Arm ausgestreckt aufder Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopfunbeweglich sitzen. Der Gedanke an den Proceß verließ ihn nicht mehr.Öers schon hatte er überlegt, ob es nicht gut wäre, eineVerteidigungsschri auszuarbeiten und bei Gericht ein-zureichen. Er wollte darin eine kurze Lebensbeschrei-bung vorlegen und bei jedem irgendwie wichtigern Er-eignis erklären, aus welchen Gründen er so gehandelthatte, ob diese Handlungsweise nach seinem gegenwär-tigen Urteil zu verwerfen oder zu billigen war undwelche Gründe er für dieses oder jenes anführen konnte.Die Vorteile einer solchen Verteidigungsschri gegen-

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über der bloßen Verteidigung durch den übrigens auchsonst nicht einwandfreien Advokaten waren zweifellos.K. wußte ja gar nicht was der Advokat unternahm; vielwar es jedenfalls nicht, schon einen Monat lang hatte erihn nicht mehr zu sich berufen und auch bei keiner derfrühern Besprechungen hatte K. den Eindruck gehabt,daß dieser Mann viel für ihn erreichen könne. Vor allemhatte er ihn fast gar nicht ausgefragt. Und hier war dochsoviel zu fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hattedas Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragenstellen könnte. Der Advokat dagegen statt zu fragenerzählte selbst oder saß ihm stumm gegenüber, beugtesich, wahrscheinlich wegen seines schwachen Gehörs einwenig über den Schreibtisch vor, zog an einem Bart-strahn innerhalb seines Bartes und blickte auf den Tep-pich nieder, vielleicht gerade auf die Stelle, wo K. mitLeni gelegen war. Hie und da gab er K. einige leereErmahnungen, wie man sie Kindern gibt. Ebenso nutz-lose wie langweilige Reden, die K. in der Schlußabrech-nung mit keinem Heller zu bezahlen gedachte. Nachdemder Advokat ihn genügend gedemütigt zu haben glaubte,fieng er gewöhnlich an, ihn wieder ein wenig aufzumun-tern. Er habe schon, erzählte er dann, viele ähnlicheProcesse ganz oder teilweise gewonnen, Processe, diewenn auch in Wirklichkeit vielleicht nicht so schwierigwie dieser, äußerlich noch hoffnungsloser waren. EinVerzeichnis dieser Processe habe er hier in der Schublade

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– hiebei klope er an irgendeine Lade des Tisches –, dieSchrien könne er leider nicht zeigen, da es sich umAmtsgeheimnisse handle. Trotzdem komme jetzt natür-lich die große Erfahrung die er durch alle diese Processeerworben habe, K. zugute. Er habe natürlich sofort zuarbeiten begonnen und die erste Eingabe sei schon fastfertiggestellt. Sie sei sehr wichtig, weil der erste Ein-druck den die Verteidigung mache, o die ganze Rich-tung des Verfahrens bestimme. Leider, darauf müsse erK. allerdings aufmerksam machen, geschehe es manch-mal, daß die ersten Eingaben bei Gericht gar nichtgelesen werden. Man lege sie einfach zu den Akten undweise darauf hin, daß vorläufig die Einvernahme undBeobachtung des Angeklagten wichtiger sei als allesGeschriebene. Man fügt wenn der Petent dringlich wird,hinzu, daß man vor der Entscheidung bis alles Materialgesammelt ist, im Zusammenhang natürlich alle Akten,also auch diese erste Eingabe überprüfen wird. Leider seiaber auch dies meistens nicht richtig, die erste Eingabewerde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich verlorenund selbst wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werdesie, wie der Advokat allerdings nur gerüchtweise erfah-ren hat, kaum gelesen. Das alles sei bedauerlich, abernicht ganz ohne Berechtigung, K. möge doch nichtaußer acht lassen, daß das Verfahren nicht öffentlich sei,es kann, wenn das Gericht es für nötig hält, öffentlichwerden, das Gesetz aber schreibt Öffentlichkeit nicht

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vor. Infolgedessen sind auch die Schrien des Gerichtes,vor allem die Anklageschri dem Angeklagten und sei-ner Verteidigung unzugänglich, man weiß daher im all-gemeinen nicht oder wenigstens nicht genau, wogegensich die erste Eingabe zu richten hat, sie kann dahereigentlich nur zufälliger Weise etwas enthalten, was fürdie Sache von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende undbeweisführende Eingaben kann man erst später ausarbei-ten, wenn im Laufe der Einvernahmen des Angeklagtendie einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründungdeutlicher hervortreten oder erraten werden können.Unter diesen Verhältnissen ist natürlich die Verteidigungin einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage. Aberauch das ist beabsichtigt. Die Verteidigung ist nämlichdurch das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nurgeduldet und selbst darüber, ob aus der betreffendenGesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen wer-den soll, besteht Streit. Es gibt daher strenggenommengar keine vom Gericht anerkannten Advokaten, alle dievor diesem Gericht als Advokaten aureten, sind imGrunde nur Winkeladvokaten. Das wirkt natürlich aufden ganzen Stand sehr entwürdigend ein und wenn K.nächstens einmal in die Gerichtskanzleien gehen werde,könne er sich ja, um auch das einmal gesehn zu haben,das Advokatenzimmer ansehn. Er werde vor der Gesell-scha, die dort beisammen sei, vermutlich erschrecken.Schon die ihnen zugewiesene enge niedrige Kammer

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zeige die Verachtung, die das Gericht für diese Leute hat.Licht bekommt die Kammer nur durch eine kleine Luke,die so hoch gelegen ist, daß, wenn jemand hinausschauenwill, wo ihm übrigens der Rauch eines knapp davorgelegenen Kamins in die Nase fährt und das Gesichtschwärzt, er erst einen Kollegen suchen muß der ihn aufden Rücken nimmt. Im Fußboden dieser Kammer – umnur noch ein Beispiel für diese Zustände anzuführen – istnun schon seit mehr als einem Jahr ein Loch, nicht sogroß daß ein Mensch durchfallen könnte, aber großgenug, daß man mit einem Bein ganz einsinkt. DasAdvokatenzimmer liegt auf dem zweiten Dachboden,sinkt also einer ein, so hängt sein Bein in den erstenDachboden hinunter undzwar gerade in den Gang, wodie Parteien warten. Es ist nicht zu viel gesagt, wennman in Advokatenkreisen solche Verhältnisse schändlichnennt. Beschwerden an die Verwaltung haben nicht dengeringsten Erfolg, wohl aber ist es den Advokaten aufdas strengste verboten irgendetwas in dem Zimmer aufeigene Kosten ändern zu lassen. Aber auch diese Be-handlung der Advokaten hat ihre Begründung. Man willdie Verteidigung möglichst ausschalten, alles soll auf denAngeklagten selbst gestellt sein. Kein schlechter Stand-punkt im Grunde, nichts wäre aber verfehlter als darauszu folgern, daß bei diesem Gericht die Advokaten fürden Angeklagten unnötig sind. Im Gegenteil, bei keinemandern Gericht sind sie so notwendig wie bei diesem.

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Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen nicht nur vorder Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor dem Ange-klagten. Natürlich nur soweit dies möglich ist, es ist aberin sehr weitem Ausmaß möglich. Auch der Angeklagtehat nämlich keinen Einblick in die Gerichtsschrien undaus den Verhören auf die ihnen zugrunde liegendenSchrien zu schließen ist sehr schwierig, insbesondereaber für den Angeklagten der doch befangen ist und allemöglichen Sorgen hat, die ihn zerstreuen. Hier greinun die Verteidigung ein. Bei den Verhören dürfen imallgemeinen Verteidiger nicht anwesend sein, sie müssendaher nach den Verhören undzwar möglichst noch ander Tür des Untersuchungszimmers den Angeklagtenüber das Verhör ausforschen und diesen o schon sehrverwischten Berichten das für die Verteidigung tauglicheentnehmen. Aber das Wichtigste ist dies nicht, denn vielkann man auf diese Weise nicht erfahren, wenn natürlichauch hier wie überall ein tüchtiger Mann mehr erfährt alsandere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die persönli-chen Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt derHauptwert der Verteidigung. Nun habe ja wohl K.schon aus seinen eigenen Erlebnissen entnommen, daßdie allerunterste Organisation des Gerichtes nicht ganzvollkommen ist, pflichtvergessene und bestechliche An-gestellte aufweist, wodurch gewissermaßen die strengeAbschließung des Gerichtes Lücken bekommt. Hiernun drängt sich die Mehrzahl der Advokaten ein, hier

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wird bestochen und ausgehorcht, ja es kamen wenig-stens in früherer Zeit sogar Fälle von Aktendiebstahlenvor. Es ist nicht zu leugnen, daß auf diese Weise für denAugenblick einige sogar überraschende günstige Resul-tate für den Angeklagten sich erzielen lassen, damitstolzieren auch diese kleinen Advokaten herum undlocken neue Kundscha an, aber für den weitern Fort-gang des Processes bedeutet es entweder nichts odernichts Gutes. Wirklichen Wert aber haben nur ehrlichepersönliche Beziehungen undzwar mit höhern Beamten,womit natürlich nur höhere Beamte der untern Gradegemeint sind. Nur dadurch kann der Fortgang des Pro-cesses wenn auch zunächst nur unmerklich später aberimmer deutlicher beeinflußt werden. Das können natür-lich nur wenige Advokaten und hier sei die Wahl K.’ssehr günstig gewesen. Nur noch vielleicht ein oder zweiAdvokaten konnten sich mit ähnlichen Beziehungenausweisen wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdingsum die Gesellscha im Advokatenzimmer nicht undhaben auch nichts mit ihr zu tun. Umso enger sei aberdie Verbindung mit den Gerichtsbeamten. Es sei nichteinmal immer nötig, daß Dr. Huld zu Gericht gehe, inden Vorzimmern der Untersuchungsrichter auf ihr zu-fälliges Erscheinen warte und je nach ihrer Laune einenmeist nur scheinbaren Erfolg erziele oder auch nichteinmal diesen. Nein, K. habe es ja selbst gesehen, dieBeamten und darunter recht hohe kommen selbst, geben

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bereitwillig Auskun, offene oder wenigstens leichtdeutbare, besprechen den nächsten Fortgang der Pro-cesse, ja sie lassen sich sogar in einzelnen Fällen über-zeugen und nehmen die fremde Ansicht gern an. Aller-dings dürfe man ihnen gerade in dieser letztern Hinsichtnicht allzusehr vertrauen; so bestimmt sie ihre neue fürdie Verteidigung günstige Absicht auch aussprechen,gehen sie doch vielleicht geradewegs in ihre Kanzlei undgeben für den nächsten Tag einen Gerichtsbeschluß, dergerade das entgegengesetzte enthält und vielleicht fürden Angeklagten noch viel strenger ist, als ihre ersteAbsicht, von der sie gänzlich abgekommen zu seinbehaupteten. Dagegen könne man sich natürlich nichtwehren, denn das was sie zwischen vier Augen gesagthaben, ist eben auch nur zwischen vier Augen gesagtund lasse keine öffentliche Folgerung zu, selbst wenn dieVerteidigung nicht auch sonst bestrebt sein müßte sichdie Gunst der Herren zu erhalten. Andererseits sei esallerdings auch richtig, daß die Herren nicht etwa nuraus Menschenliebe oder aus freundschalichen Gefüh-len sich mit der Verteidigung, natürlich nur mit einersachverständigen Verteidigung in Verbindung setzen, siesind vielmehr in gewisser Hinsicht auch auf sie angewie-sen. Hier mache sich eben der Nachteil einer Gerichts-organisation geltend, die selbst in ihren Anfängen dasgeheime Gericht festsetzt. Den Beamten fehlt der Zu-sammenhang mit der Bevölkerung, für die gewöhnlichen

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mittleren Processe sind sie gut ausgerüstet, ein solcherProceß rollt fast von selbst auf seiner Bahn ab undbraucht nur hie und da einen Anstoß, gegenüber denganz einfachen Fällen aber wie auch gegenüber denbesonders schwierigen sind sie o ratlos, sie haben, weilsie fortwährend Tag und Nacht in ihr Gesetz einge-zwängt sind, nicht den richtigen Sinn für menschlicheBeziehungen und das entbehren sie in solchen Fällenschwer. Darin kommen sie zum Advokaten um Rat undhinter ihnen trägt ein Diener die Akten, die sonst sogeheim sind. An diesem Fenster hätte man mancheHerren, von denen man es am wenigsten erwartenwürde, antreffen können wie sie geradezu trostlos aufdie Gasse hinaussahen, während der Advokat an seinemTisch die Akten studierte, um ihnen einen guten Ratgeben zu können. Übrigens könne man gerade bei sol-chen Gelegenheiten sehn, wie ungemein ernst die Her-ren ihren Beruf nehmen und wie sie über Hindernisse,die sie ihrer Natur nach nicht bewältigen können, ingroße Verzweiflung geraten. Ihre Stellung sei auch sonstnicht leicht, man dürfe ihnen nicht Unrecht tun und ihreStellung für leicht ansehn. Die Rangordnung und Steige-rung des Gerichtes sei unendlich und selbst für denEingeweihten nicht absehbar. Das Verfahren vor denGerichtshöfen sei aber im allgemeinen auch für dieuntern Beamten geheim, sie können daher die Angele-genheiten, die sie bearbeiten in ihrem fernem Weitergang

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kaum jemals vollständig verfolgen, die Gerichtssacheerscheint also in ihrem Gesichtskreis, ohne daß sie owissen, woher sie kommt, und sie geht weiter, ohne daßsie erfahren, wohin. Die Belehrung also, die man ausdem Studium der einzelnen Proceßstadien, der schließli-chen Entscheidung und ihrer Gründe schöpfen kann,entgeht diesen Beamten. Sie dürfen sich nur mit jenemTeil des Processes befassen, der vom Gesetz für sieabgegrenzt ist und wissen von dem Weitern, also vonden Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit meist weniger alsdie Verteidigung, die doch in der Regel fast bis zumSchluß des Processes mit dem Angeklagten in Verbin-dung bleibt. Auch in dieser Richtung also können sievon der Verteidigung manches Wertvolle erfahren. Wun-dere sich K. noch, wenn er alles dieses im Auge behalteüber die Gereiztheit der Beamten, die sich manchmalden Parteien gegenüber in – jeder mache diese Erfahrung

– beleidigender Weise äußert. Alle Beamten seien gereizt,selbst wenn sie ruhig scheinen. Natürlich haben diekleinen Advokaten besonders viel darunter zu leiden.Man erzählt z. B. folgende Geschichte die sehr denAnschein der Wahrheit hat. Ein alter Beamter, ein guterstiller Herr, hatte eine schwierige Gerichtssache, welchebesonders durch die Eingaben des Advokaten verwickeltworden war, einen Tag und eine Nacht ununterbrochenstudiert – diese Beamten sind tatsächlich fleißig wieniemand sonst. Gegen Morgen nun, nach vierundzwan-

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zigstündiger wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeitgieng er zur Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhaltund warf jeden Advokaten, der eintreten wollte, dieTreppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich untenauf dem Treppenabsatz und berieten was sie tun sollten;einerseits haben sie keinen eigentlichen Anspruch daraufeingelassen zu werden, können daher rechtlich gegenden Beamten kaum etwas unternehmen und müssensich, wie schon erwähnt auch hüten, die Beamtenschagegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist jedernicht bei Gericht verbrachte Tag für sie verloren und eslag ihnen also viel daran einzudringen. Schließlich einig-ten sie sich darauf daß sie den alten Herrn ermüdenwollten. Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt,der die Treppe hinauf lief und sich dann unter möglich-stem allerdings passivem Widerstand hinunterwerfenließ, wo er dann von den Kollegen aufgefangen wurde.Das dauerte etwa eine Stunde, dann wurde der alte Herr,er war ja auch von der Nachtarbeit schon erschöp,wirklich müde und gieng in seine Kanzlei zurück. Dieunten wollten es zuerst gar nicht glauben und schicktenzuerst einen aus, der hinter der Tür nachsehn sollte, obdort wirklich leer war. Dann erst zogen sie ein undwagten wahrscheinlich nicht einmal zu murren. Dennden Advokaten – und selbst der kleinste kann doch dieVerhältnisse wenigstens zum Teil übersehn – liegt esvollständig ferne bei Gericht irgendwelche Verbesserun-

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gen einführen oder durchsetzen zu wollen, während –und dies ist sehr bezeichnend – fast jeder Angeklagte,selbst ganz einfältige Leute, gleich beim allerersten Ein-tritt in den Proceß an Verbesserungsvorschläge zu den-ken anfangen und damit o Zeit und Kra verschwen-den, die anders viel besser verwendet werden könnten.Das einzig Richtige sei es, sich mit den vorhandenenVerhältnissen abzufinden. Selbst wenn es möglich wäre,Einzelheiten zu verbessern – es ist aber ein unsinnigerAberglaube – hätte man bestenfalls für künige Fälleetwas erreicht, sich selbst aber unermeßlich dadurchgeschadet, daß man die besondere Aufmerksamkeit derimmer rachsüchtigen Beamtenscha erregt hat. Nurkeine Aufmerksamkeit erregen! Sich ruhig verhalten,selbst wenn es einem noch so sehr gegen den Sinn geht!Einzusehen versuchen, daß dieser große Gerichtsorga-nismus gewissermaßen ewig in Schwebe bleibt und daßman zwar, wenn man auf seinem Platz selbständig etwasändert, den Boden unter den Füßen sich wegnimmt undselbst abstürzen kann, während der große Organismussich selbst für die kleine Störung leicht an einer andernStelle – alles ist doch in Verbindung – Ersatz scha undunverändert bleibt, wenn er nicht etwa, was sogar wahr-scheinlich ist, noch geschlossener, noch aufmerksamer,noch strenger, noch böser wird. Man überlasse doch dieArbeit dem Advokaten, statt sie zu stören. Vorwürfenützen ja nicht viel, besonders wenn man ihre Ursache

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in ihrer ganzen Bedeutung nicht begreiflich machenkann, aber gesagt müsse es doch werden wieviel K.seiner Sache durch das Verhalten gegenüber dem Kanz-leidirektor geschadet habe. Dieser einflußreiche Mannsei aus der Liste jener, bei denen man für K. etwasunternehmen könne, schon fast zu streichen. Selbstflüchtige Erwähnungen des Processes überhöre er mitdeutlicher Absicht. In manchem seien ja die Beamtenwie Kinder. O können sie durch Harmlosigkeiten,unter die allerdings K.’s Verhalten leider nicht gehörte,derartig verletzt werden, daß sie selbst mit guten Freun-den zu reden auören, sich von ihnen abwenden, wennsie ihnen begegnen und ihnen in allem möglichen entge-genarbeiten. Dann aber einmal, überraschender Weiseohne besondern Grund lassen sie sich durch einen klei-nen Scherz, den man nur deshalb wagt, weil alles aus-sichtslos scheint, zum Lachen bringen und sind ver-söhnt. Es sei eben gleichzeitig schwer und leicht sich mitihnen zu verhalten, Grundsätze dafür gibt es kaum.Manchmal sei es zum Verwundern, daß ein einzigesDurchschnittsleben dafür hinreiche, um soviel zu erfas-sen, daß man hier mit einigem Erfolg arbeiten könne. Eskommen allerdings trübe Stunden, wie sie ja jeder hat,wo man glaubt, nicht das geringste erzielt zu haben, woes einem scheint, als hätten nur die von Anfang an füreinen guten Ausgang bestimmten Processe ein gutesEnde genommen, wie es auch ohne Mithilfe geschehen

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wäre, während alle andern verloren gegangen sind, trotzalles Nebenherlaufens, aller Mühe, aller kleinen schein-baren Erfolge, über die man solche Freude hatte. Dannscheint einem allerdings nichts mehr sicher und manwürde auf bestimmte Fragen hin nicht einmal zu leugnenwagen, daß man ihrem Wesen nach gut verlaufendeProcesse gerade durch die Mithilfe auf Abwege gebrachthat. Auch das ist ja eine Art Selbstvertrauen, aber es istdas einzige das dann übrig bleibt. Solchen Anfällen – essind natürlich nur Anfälle nichts weiter – sind Advoka-ten besonders dann ausgesetzt, wenn ihnen ein Proceß,den sie weit genug und zufriedenstellend geführt haben,plötzlich aus der Hand genommen wird. Das ist wohldas Ärgste, das einem Advokaten geschehen kann. Nichtetwa durch den Angeklagten wird ihnen der Proceßentzogen, das geschieht wohl niemals, ein Angeklagter,der einmal einen bestimmten Advokaten genommen hat,muß bei ihm bleiben geschehe was immer. Wie könnte ersich überhaupt, wenn er einmal Hilfe in Anspruch ge-nommen hat, allein noch erhalten. Das geschieht alsonicht, wohl aber geschieht es manchmal, daß der Proceßeine Richtung nimmt, wo der Advokat nicht mehr mit-kommen darf. Der Proceß und der Angeklagte und alleswird dem Advokaten einfach entzogen; dann könnenauch die besten Beziehungen zu den Beamten nichtmehr helfen, denn sie selbst wissen nichts. Der Proceßist eben in ein Stadium getreten, wo keine Hilfe mehr

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geleistet werden darf, wo ihn unzugängliche Gerichts-höfe bearbeiten, wo auch der Angeklagte für den Advo-katen nicht mehr erreichbar ist. Man kommt dann einesTages nachhause und findet auf seinem Tisch alle dievielen Eingaben, die man mit allem Fleiß und mit denschönsten Hoffnungen in dieser Sache gemacht hat, siesind zurückgestellt worden, da sie in das neue Proceß-stadium nicht übertragen werden dürfen, es sind wert-lose Fetzen. Dabei muß der Proceß noch nicht verlorensein, durchaus nicht, wenigstens liegt kein entscheiden-der Grund für diese Annahme vor, man weiß bloß nichtsmehr von dem Proceß und wird auch nichts mehr vonihm erfahren. Nun sind ja solche Fälle glücklicher WeiseAusnahmen und selbst wenn K.’s Proceß ein solcher Fallsein sollte, sei er doch vorläufig noch weit von einemsolchen Stadium entfernt. Hier sei also noch reichlicheGelegenheit für Advokatenarbeit gegeben und daß sieausgenützt werde, dessen dürfe K. sicher sein. Die Ein-gabe sei wie erwähnt noch nicht überreicht, das eile aberauch nicht, viel wichtiger seien die einleitenden Bespre-chungen mit maßgebenden Beamten und die hättenschon stattgefunden. Mit verschiedenem Erfolg, wie of-fen zugestanden werden soll. Es sei viel besser vorläufigEinzelheiten nicht zu verraten, durch die K. nur ungün-stig beeinflußt und allzu hoffnungsfreudig oder allzuängstlich gemacht werden könnte, nur soviel sei gesagt,daß sich einzelne sehr günstig ausgesprochen und sich

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auch sehr bereitwillig gezeigt haben, während anderesich weniger günstig geäußert aber doch ihre Mithilfekeineswegs verweigert haben. Das Ergebnis sei also imGanzen sehr erfreulich, nur dürfe man daraus keinebesondern Schlüsse ziehn, da alle Vorverhandlungenähnlich beginnen und durchaus erst die weitere Ent-wicklung den Wert dieser Vorverhandlungen zeigt. Je-denfalls sei noch nichts verloren und wenn es nochgelingen sollte, den Kanzleidirektor trotz allem zu ge-winnen – es sei schon verschiedenes zu diesem Zweckeeingeleitet – dann sei das Ganze, wie die Chirurgensagen, eine reine Wunde und man könne getrost dasFolgende erwarten. In solchen und ähnlichen Reden war der Advokatunerschöpflich. Sie wiederholten sich bei jedem Besuch.Immer gab es Fortschritte, niemals aber konnte die Artdieser Fortschritte mitgeteilt werden. Immerfort wurdean der ersten Eingabe gearbeitet, aber sie wurde nichtfertig, was sich meistens beim nächsten Besuch als gro-ßer Vorteil herausstellte, da die letzte Zeit, was mannicht hatte voraussehen können, für ihre Übergabe sehrungünstig gewesen wäre. Bemerkte K. manchmal, ganzermattet von den Reden, daß es doch selbst unter Be-rücksichtigung aller Schwierigkeiten, sehr langsam vor-wärtsgehe, wurde ihm entgegnet, es gehe gar nicht lang-sam vorwärts, wohl aber wäre man schon viel weiter,wenn K. sich rechtzeitig an den Advokaten gewendet

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hätte. Das hatte er aber leider versäumt und diesesVersäumnis werde auch noch weitere Nachteile bringen,nicht nur zeitliche. Die einzige wohltätige Unterbrechung dieser Besuchewar Leni, die es immer so einzurichten wußte, daß siedem Advokaten in Anwesenheit K.’s den Tee brachte.Dann stand sie hinter K., sah scheinbar zu, wie derAdvokat mit einer Art Gier tief zur Tasse herabgebeugtden Tee eingoß und trank, und ließ im Geheimen ihreHand von K. erfassen. Es herrschte völliges Schweigen.Der Advokat trank, K. drückte Lenis Hand und Leniwagte es manchmal K.’s Haare san zu streicheln. „Dubist noch hier?“ fragte der Advokat, nachdem er fertigwar. „Ich wollte das Geschirr wegnehmen“, sagte Leni,es gab noch einen letzten Händedruck, der Advokatwischte sich den Mund und begann mit neuer Kra aufK. einzureden. War es Trost oder Verzweiflung, was der Advokaterreichen wollte? K. wußte es nicht, wohl aber hielt er esbald für feststehend, daß seine Verteidigung nicht inguten Händen war. Es mochte ja alles richtig sein, wasder Advokat erzählte, wenn es auch durchsichtig war,daß er sich möglichst in den Vordergrund stellen wollteund wahrscheinlich noch niemals einen so großen Pro-ceß geführt hatte, wie es K.’s Proceß seiner Meinungnach war. Verdächtig aber blieben die unauörlich her-vorgehobenen persönlichen Beziehungen zu den Beam-

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ten. Mußten sie denn ausschließlich zu K.’s Nutzenausgebeutet werden? Der Advokat vergaß nie zu bemer-ken, daß es sich nur um niedrige Beamte handelte, alsoum Beamte in sehr abhängiger Stellung, für deren Fort-kommen gewisse Wendungen der Processe wahrschein-lich von Bedeutung sein konnten. Benützten sie viel-leicht den Advokaten dazu, um solche für den Ange-klagten natürlich immer ungünstige Wendungen zu er-zielen? Vielleicht taten sie das nicht in jedem Proceß,gewiß, das war nicht wahrscheinlich, es gab dann wohlwieder Processe, in deren Verlauf sie dem Advokaten fürseine Dienste Vorteile einräumten, denn es mußte ihnenja auch daran gelegen sein, seinen Ruf ungeschädigt zuerhalten. Verhielt es sich aber wirklich so, in welcherWeise würden sie bei K.’s Proceß eingreifen, der wie derAdvokat erklärte ein sehr schwieriger also wichtigerProceß war und gleich anfangs bei Gericht große Auf-merksamkeit erregt hatte? Es konnte nicht sehr zweifel-ha sein, was sie tun würden. Anzeichen dessen konnteman ja schon darin sehn, daß die erste Eingabe nochimmer nicht überreicht war, trotzdem der Proceß schonMonate dauerte und daß sich alles den Angaben desAdvokaten nach in den Anfängen befand, was natürlichsehr geeignet war, den Angeklagten einzuschläfern undhilflos zu erhalten, um ihn dann plötzlich mit der Ent-scheidung zu überfallen oder wenigstens mit der Be-kanntmachung daß die zu seinen Ungunsten abgeschlos-

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sene Untersuchung an die höhern Behörden weitergege-ben werde. Es war unbedingt nötig, daß K. selbst eingriff. Geradein Zuständen großer Müdigkeit, wie an diesem Winter-vormittag, wo ihm alles willenlos durch den Kopf zog,war diese Überzeugung unabweisbar. Die Verachtungdie er früher für den Proceß gehabt hatte galt nicht mehr.Wäre er allein in der Welt gewesen, hätte er den Proceßleicht mißachten können, wenn es allerdings auch sicherwar, daß dann der Proceß überhaupt nicht entstandenwäre. Jetzt aber hatte ihn der Onkel schon zum Advoka-ten gezogen, Familienrücksichten sprachen mit; seineStellung war nicht mehr vollständig unabhängig vondem Verlauf des Processes, er selbst hatte unvorsichtigerWeise mit einer gewissen unerklärlichen Genugtuungvor Bekannten den Proceß erwähnt, andere hatten aufunbekannte Weise davon erfahren, das Verhältnis zuFräulein Bürstner schien entsprechend dem Proceß zuschwanken – kurz, er hatte kaum mehr die Wahl denProceß anzunehmen oder abzulehnen, er stand mittendarin und mußte sich wehren. War er müde dann war esschlimm. Zu übertriebener Sorge war allerdings vorläufig keinGrund. Er hatte es verstanden, sich in der Bank inverhältnismäßig kurzer Zeit zu seiner hohen Stellungemporzuarbeiten und sich von allen anerkannt in dieserStellung zu erhalten, er mußte jetzt nur diese Fähigkei-

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ten, die ihm das ermöglicht hatten, ein wenig demProceß zuwenden und es war kein Zweifel, daß es gutausgehn mußte. Vor allem war es, wenn etwas erreichtwerden sollte, notwendig jeden Gedanken an eine mög-liche Schuld von vornherein abzulehnen. Es gab keineSchuld. Der Proceß war nichts anderes, als ein großesGeschä, wie er es schon o mit Vorteil für die Bankabgeschlossen hatte, ein Geschä, innerhalb dessen, wiedies die Regel war, verschiedene Gefahren lauerten, dieeben abgewehrt werden mußten. Zu diesem Zweckedure man allerdings nicht mit Gedanken an irgendeineSchuld spielen, sondern den Gedanken an den eigenenVorteil möglichst festhalten. Von diesem Gesichtspunktaus war es auch unvermeidlich, dem Advokaten dieVertretung sehr bald, am besten noch an diesem Abendzu entziehn. Es war zwar nach seinen Erzählungenetwas unerhörtes und wahrscheinlich sehr beleidigendes,aber K. konnte nicht dulden, daß seinen Anstrengungenin dem Proceß Hindernisse begegneten, die vielleichtvon seinem eigenen Advokaten veranlaßt waren. Waraber einmal der Advokat abgeschüttelt, dann mußte dieEingabe sofort überreicht und womöglich jeden Tagdarauf gedrängt werden, daß man sie berücksichtige. Zudiesem Zwecke würde es natürlich nicht genügen, daßK. wie die andern im Gang saß und den Hut unter dieBank stellte. Er selbst oder die Frauen oder andere Botenmußten Tag für Tag die Beamten überlaufen und sie

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zwingen, statt durch das Gitter auf den Gang zuschauen, sich zu ihrem Tisch zu setzen und K.’s Eingabezu studieren. Von diesen Anstrengungen düre mannicht ablassen, alles müßte organisiert und überwachtwerden, das Gericht sollte einmal auf einen Angeklagtenstoßen, der sein Recht zu wahren verstand. Wenn sich aber auch K. dies alles durchzuführengetraute, die Schwierigkeit der Abfassung der Eingabewar überwältigend. Früher, etwa noch vor einer Wochehatte er nur mit einem Gefühl der Scham daran denkenkönnen, daß er einmal genötigt sein könnte, eine solcheEingabe selbst zu machen, daß dies auch schwierig seinkonnte, daran hatte er gar nicht gedacht. Er erinnertesich, wie er einmal an einem Vormittag, als er gerade mitArbeit überhäu war, plötzlich alles zur Seite geschobenund den Schreibblock vorgenommen hatte, um ver-suchsweise den Gedankengang einer derartigen Eingabezu entwerfen und ihn vielleicht dem schwerfälligen Ad-vokaten zur Verfügung zu stellen, und wie gerade indiesem Augenblick, die Tür des Direktionszimmers sichöffnete und der Direktor-Stellvertreter mit großem Ge-lächter eintrat. Es war für K. damals sehr peinlich gewe-sen, trotzdem der Direktor-Stellvertreter natürlich nichtüber die Eingabe gelacht hatte, von der er nichts wußte,sondern über einen Börsenwitz, den er eben gehörthatte, einen Witz, der zum Verständnis eine Zeichnungerforderte, die nun der Direktor-Stellvertreter, über K.’s

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Tisch gebeugt mit K.’s Bleisti, den er ihm aus der Handnahm, auf dem Schreibblock ausführte, der für die Ein-gabe bestimmt gewesen war. Heute wußte K. nichts mehr von Scham, die Eingabemußte gemacht werden. Wenn er im Bureau keine Zeitfür sie fand, was sehr wahrscheinlich war, dann mußte ersie zuhause in den Nächten machen. Würden auch dieNächte nicht genügen, dann mußte er einen Urlaubnehmen. Nur nicht auf halbem Wege stehn bleiben, daswar nicht nur in Geschäen sondern immer und überalldas Unsinnigste. Die Eingabe bedeutete freilich eine fastendlose Arbeit. Man mußte keinen sehr ängstlichenCharakter haben und konnte doch leicht zu dem Glau-ben kommen, daß es unmöglich war die Eingabe jemalsfertigzustellen. Nicht aus Faulheit oder Hinterlist, dieden Advokaten allein an der Fertigstellung hindernkonnten, sondern weil in Unkenntnis der vorhandenenAnklage und gar ihrer möglichen Erweiterungen dasganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignis-sen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt undvon allen Seiten überprü werden mußte. Und wietraurig war eine solche Arbeit überdies. Sie war vielleichtgeeignet einmal nach der Pensionierung den kindischgewordenen Geist zu beschäigen und ihm zu helfen,die langen Tage hinzubringen. Aber jetzt, wo K. alleGedanken zu seiner Arbeit brauchte, wo jede Stunde, daer noch im Aufstieg war und schon für den Direktor-

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Stellvertreter eine Drohung bedeutete, mit größterSchnelligkeit vergieng und wo er die kurzen Abende undNächte als junger Mensch genießen wollte, jetzt sollte ermit der Verfassung dieser Eingabe beginnen. Wiedergieng sein Denken in Klagen aus. Fast unwillkürlich, nurum dem ein Ende zu machen, tastete er mit dem Fingernach dem Knopf der elektrischen Glocke, die ins Vor-zimmer führte. Während er ihn niederdrückte blickte erzur Uhr auf. Es war elf Uhr, zwei Stunden, eine langekostbare Zeit hatte er verträumt und war natürlich nochmatter als vorher. Immerhin war die Zeit nicht verloren,er hatte Entschlüsse gefaßt, die wertvoll sein konnten.Der Diener brachte außer verschiedener Post zwei Visit-karten von Herren, die schon längere Zeit auf K. warte-ten. Es waren gerade sehr wichtige Kundschaen derBank, die man eigentlich auf keinen Fall hätte wartenlassen sollen. Warum kamen sie zu so ungelegener Zeitund warum, so schienen wieder die Herren hinter dergeschlossenen Tür zu fragen, verwendete der fleißige K.für Privatangelegenheiten die beste Geschäszeit. Müdevon dem Vorhergegangenen und müde das Folgendeerwartend stand K. auf, um den Ersten zu empfangen. Es war ein kleiner munterer Herr, ein Fabrikant, denK. gut kannte. Er bedauerte, K. in wichtiger Arbeitgestört zu haben und K. bedauerte seinerseits, daß erden Fabrikanten so lange hatte warten lassen. Schondieses Bedauern aber sprach er in derartig mechanischer

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Weise und mit fast falscher Betonung aus, daß derFabrikant, wenn er nicht ganz von der Geschässacheeingenommen gewesen wäre, es hätte bemerken müssen.Statt dessen zog er eilig Rechnungen und Tabellen ausallen Taschen, breitete sie vor K. aus, erklärte verschie-dene Posten, verbesserte einen kleinen Rechenfehler, derihm sogar bei diesem flüchtigen Überblick aufgefallenwar, erinnerte K. an ein ähnliches Geschä, das er mitihm vor etwa einem Jahr abgeschlossen hatte, erwähntenebenbei, daß sich diesmal eine andere Bank unter größ-ten Opfern um das Geschä bewerbe und verstummteschließlich, um nun K.’s Meinung zu erfahren. K. hatteauch tatsächlich im Anfang die Rede des Fabrikanten gutverfolgt, der Gedanke an das wichtige Geschä hattedann auch ihn ergriffen, nur leider nicht für die Dauer, erwar bald vom Zuhören abgekommen, hatte dann nochein Weilchen zu den lauteren Ausrufen des Fabrikantenmit dem Kopf genickt, hatte aber schließlich auch dasunterlassen und sich darauf eingeschränkt, den kahlenauf die Papiere hinabgebeugten Kopf anzusehn und sichzu fragen, wann der Fabrikant endlich erkennen werde,daß seine ganze Rede nutzlos sei. Als er nun ver-stummte, glaubte K. zuerst wirklich, es geschehe diesdeshalb, um ihm Gelegenheit zu dem Eingeständnis zugeben, daß er nicht fähig sei zuzuhören. Nur mit Bedau-ern bemerkte er aber an dem gespannten Blick desoffenbar auf alle Entgegnungen gefaßten Fabrikanten

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daß die geschäliche Besprechung fortgesetzt werdenmüsse. Er neigte also den Kopf wie vor einem Befehlund begann mit dem Bleisti langsam über den Papierenhin- und herzufahren, hie und da hielt er inne undstarrte eine Ziffer an. Der Fabrikant vermutete Ein-wände, vielleicht waren die Ziffern wirklich nicht fest-stehend, vielleicht waren sie nicht das Entscheidende,jedenfalls bedeckte der Fabrikant die Papiere mit derHand und begann von neuem, ganz nahe an K. heran-rückend, eine allgemeine Darstellung des Geschäes.

„Es ist schwierig“, sagte K., rümpe die Lippen undsank, da die Papiere, das einzig Faßbare, verdeckt waren,haltlos gegen die Seitenlehne. Er blickte sogar nurschwach auf, als sich die Tür des Direktionszimmersöffnete und dort nicht ganz deutlich, etwa wie hintereinem Gazeschleier der Direktor-Stellvertreter erschien.K. dachte nicht weiter darüber nach, sondern verfolgtenur die unmittelbare Wirkung, die für ihn sehr erfreulichwar. Denn sofort hüpe der Fabrikant vom Sessel aufund eilte dem Direktor-Stellvertreter entgegen, K. aberhätte ihn noch zehnmal flinker machen sollen, denn erfürchtete, der Direktor-Stellvertreter könnte wieder ver-schwinden. Es war unnütze Furcht, die Herren trafensich, reichten einander die Hände und giengen gemein-sam auf K.’s Schreibtisch zu. Der Fabrikant beklagtesich daß er beim Prokuristen so wenig Neigung für dasGeschä gefunden habe und zeigte auf K., der sich unter

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dem Blick des Direktor-Stellvertreters wieder über diePapiere beugte. Als dann die zwei sich an den Schreib-tisch lehnten und der Fabrikant sich daran machte, nunden Direktor-Stellvertreter für sich zu erobern, war esK. als werde über seinem Kopf von zwei Männern,deren Größe er sich übertrieben vorstellte, über ihnselbst verhandelt. Langsam suchte er mit vorsichtig auf-wärts gedrehten Augen zu erfahren, was sich oben ereig-nete, nahm vom Schreibtisch ohne hinzusehn eines derPapiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmäh-lich, während er selbst aufstand zu den Herren hinauf.Er dachte hiebei an nichts bestimmtes, sondern handeltenur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten mußte, wenner einmal die große Eingabe fertiggestellt hätte, die ihngänzlich entlasten sollte. Der Direktor-Stellvertreter, dersich an dem Gespräch mit aller Aufmerksamkeit betei-ligte, sah nur flüchtig auf das Papier, überlas gar nicht,was dort stand, denn was dem Prokuristen wichtig war,war ihm unwichtig, nahm es aus K.’s Hand, sagte:

„Danke, ich weiß schon alles“ und legte es ruhig wiederauf den Tisch zurück. K. sah ihn verbittert von der Seitean. Der Direktor-Stellvertreter aber merkte es gar nichtoder wurde, wenn er es merkte dadurch nur aufgemun-tert, lachte öers laut auf, brachte einmal durch eineschlagfertige Entgegnung den Fabrikanten in deutlicheVerlegenheit, aus der er ihn aber sofort riß, indem er sichselbst einen Einwand machte und lud ihn schließlich ein,

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in sein Bureau hinüber zu kommen, wo sie die Angele-genheit zu Ende führen könnten. „Es ist eine sehrwichtige Sache“, sagte er zum Fabrikanten, „ich sehe dasvollständig ein. Und dem Herrn Prokuristen“ – selbstbei dieser Bemerkung redete er eigentlich nur zum Fa-brikanten – „wird es gewiß lieb sein, wenn wir es ihmabnehmen. Die Sache verlangt ruhige Überlegung. Eraber scheint heute sehr überlastet zu sein, auch warten jaeinige Leute im Vorzimmer schon stundenlang auf ihn.“K. hatte gerade noch genügend Fassung sich vom Direk-tor-Stellvertreter wegzudrehn und sein freundliches aberstarres Lächeln nur dem Fabrikanten zuzuwenden, sonstgriff er gar nicht ein, stützte sich ein wenig vorgebeugtmit beiden Händen auf den Schreibtisch wie ein Kommishinter dem Pult und sah zu, wie die zwei Herren unterweiteren Reden die Papiere vom Tisch nahmen und imDirektionszimmer verschwanden. In der Tür drehte sichnoch der Fabrikant um, sagte, er verabschiede sich nochnicht, sondern werde natürlich dem Herrn Prokuristenüber den Erfolg der Besprechung berichten, auch habeer ihm noch eine andere kleine Mitteilung zu machen. Endlich war K. allein. Er dachte gar nicht daranirgendeine andere Partei vorzulassen und nur undeutlichkam ihm zu Bewußtsein, wie angenehm es sei, daß dieLeute draußen in dem Glauben waren, er verhandlenoch mit dem Fabrikanten und es könne aus diesemGrunde niemand, nicht einmal der Diener, bei ihm

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eintreten. Er gieng zum Fenster, setzte sich auf dieBrüstung, hielt sich mit einer Hand an der Klinke festund sah auf den Platz hinaus. Der Schnee fiel nochimmer, es hatte sich noch gar nicht aufgehellt. Lange saß er so, ohne zu wissen, was ihm eigentlichSorgen machte, nur von Zeit zu Zeit blickte er ein wenigerschreckt über die Schulter hinweg zur Vorzimmertür,wo er irrtümlicher Weise ein Geräusch zu hören ge-glaubt hatte. Da aber niemand kam, wurde er ruhiger,gieng zum Waschtisch, wusch sich mit kaltem Wasserund kehrte mit freierem Kopf zu seinem Fensterplatzzurück. Der Entschluß, seine Verteidigung selbst in dieHand zu nehmen, stellte sich ihm nun als schwerwiegen-der dar, als er ursprünglich angenommen hatte. Solangeer die Verteidigung auf den Advokaten überwälzt hatte,war er doch noch vom Proceß im Grunde wenig betrof-fen gewesen, er hatte ihn von der Ferne beobachtet undhatte unmittelbar von ihm kaum erreicht werden kön-nen, er hatte nachsehn können wann er wollte, wie seineSache stand, aber er hatte auch den Kopf wieder zurück-ziehn können, wann er wollte. Jetzt hingegen wenn erseine Verteidigung selbst führen würde, mußte er sichwenigstens für den Augenblick ganz und gar dem Ge-richt aussetzen, der Erfolg dessen sollte ja für späterseine vollständige und endgiltige Befreiung sein, aber umdiese zu erreichen, mußte er sich vorläufig jedenfalls inviel größere Gefahr begeben als bisher. Hätte er daran

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zweifeln wollen, so hätte ihn das heutige Beisammenseinmit dem Direktor-Stellvertreter und dem Fabrikantenhinreichend vom Gegenteil überzeugen können. Wiewar er doch dagesessen, schon vom bloßen Entschlußsich selbst zu verteidigen gänzlich benommen? Wiesollte es aber später werden? Was für Tage standen ihmbevor! Würde er den Weg finden, der durch alles hin-durch zum guten Ende führte? Bedeutete nicht einesorgfältige Verteidigung – und alles andere war sinnlos –bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung gleichzeitigdie Notwendigkeit sich von allem andern möglichstabzuschließen? Würde er das glücklich überstehn? Undwie sollte ihm die Durchführung dessen in der Bankgelingen? Es handelte sich ja nicht nur um die Einga-be, für die ein Urlaub vielleicht genügt hätte, trotzdemdie Bitte um einen Urlaub gerade jetzt ein großes Wag-nis gewesen wäre, es handelte sich doch um einen gan-zen Proceß, dessen Dauer unabsehbar war. Was für einHindernis war plötzlich in K.’s Lauahn geworfen wor-den! Und jetzt sollte er für die Bank arbeiten? – Er sah aufden Schreibtisch hin. – Jetzt sollte er Parteien vorlassenund mit ihnen verhandeln? Während sein Proceß weiter-rollte, während oben auf dem Dachboden die Gerichts-beamten über den Schrien dieses Processes saßen, sollteer die Geschäe der Bank besorgen? Sah es nicht aus,wie eine Folter, die vom Gericht anerkannt, mit dem

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Proceß zusammenhieng und ihn begleitete? Und würdeman etwa in der Bank bei der Beurteilung seiner Arbeitseine besondere Lage berücksichtigen? Niemand undniemals. Ganz unbekannt war ja sein Proceß nicht, wennes auch noch nicht ganz klar war, wer davon wußte undwieviel. Bis zum Direktor-Stellvertreter aber war dasGerücht hoffentlich noch nicht gedrungen, sonst hätteman schon deutlich sehen müssen, wie er es ohne jedeKollegialität und Menschlichkeit gegen K. ausnützenwürde. Und der Direktor? Gewiß er war K. gut gesinntund er hätte wahrscheinlich, sobald er vom Proceßerfahren hätte, soweit es an ihm lag, manche Erleichte-rungen für K. schaffen wollen, aber er wäre damit gewißnicht durchgedrungen, denn er unterlag jetzt, da dasGegengewicht das K. bisher gebildet hatte, schwächer zuwerden anfieng, immer mehr dem Einfluß des Direktor-Stellvertreters, der außerdem auch den leidenden Zu-stand des Direktors zur Stärkung der eigenen Machtausnützte. Was hatte also K. zu erhoffen? Vielleichtschwächte er durch solche Überlegungen seine Wider-standskra, aber es war doch auch notwendig, sichselbst nicht zu täuschen und alles so klar zu sehn, als esaugenblicklich möglich war. Ohne besondern Grund, nur um vorläufig noch nichtzum Schreibtisch zurückkehren zu müssen, öffnete erdas Fenster. Es ließ sich nur schwer öffnen, er mußte mitbeiden Händen die Klinke drehn. Dann zog durch das

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Fenster in dessen ganzer Breite und Höhe der mit Rauchvermischte Nebel in das Zimmer und füllte es mit einemleichten Brandgeruch. Auch einige Schneeflocken wur-den hereingeweht. „Ein häßlicher Herbst“, sagte hinterK. der Fabrikant, der vom Direktor-Stellvertreter kom-mend unbemerkt ins Zimmer getreten war. K. nickteund sah unruhig auf die Aktentasche des Fabrikanten,aus der dieser nun wohl die Papiere herausziehn würdeum K. das Ergebnis der Verhandlungen mit dem Direk-tor-Stellvertreter mitzuteilen. Der Fabrikant aber folgteK.’s Blick, klope auf seine Tasche und sagte ohne sie zuöffnen: „Sie wollen hören, wie es ausgefallen ist. Mittel-gut. Ich trage schon fast den Geschäsabschluß in derTasche. Ein reizender Mensch, Ihr Direktor-Stellvertre-ter, aber durchaus nicht ungefährlich.“ Er lachte, schüt-telte K.’s Hand und wollte auch ihn zum Lachen brin-gen. Aber K. schien es nun wieder verdächtig, daß ihmder Fabrikant die Papiere nicht zeigen wollte und er fandan der Bemerkung des Fabrikanten nichts zum Lachen.

„Herr Prokurist“, sagte der Fabrikant, „Sie leiden wohlunter dem Wetter. Sie sehn heute so bedrückt aus.“ „Ja“,sagte K. und griff mit der Hand an die Schläfe, „Kopf-schmerzen, Familiensorgen.“ „Sehr richtig“, sagte derFabrikant, der ein eiliger Mensch war und niemandenruhig anhören konnte, „jeder hat sein Kreuz zu tragen.“Unwillkürlich hatte K. einen Schritt gegen die Tür ge-macht, als wolle er den Fabrikanten hinausbegleiten,

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dieser aber sagte: „Ich hätte Herr Prokurist noch einekleine Mitteilung für Sie. Ich fürchte sehr, daß ich Siegerade heute damit vielleicht belästige, aber ich warschon zweimal in der letzten Zeit bei Ihnen und habejedesmal daran vergessen. Schiebe ich es aber noch wei-terhin auf, verliert es wahrscheinlich vollständig seinenZweck. Das wäre aber schade, denn im Grunde ist meineMitteilung vielleicht doch nicht wertlos.“ Ehe K. Zeithatte zu antworten, trat der Fabrikant nahe an ihn heran,klope mit dem Fingerknöchel leicht an seine Brust undsagte leise: „Sie haben einen Proceß nicht wahr?“ K. tratzurück und rief sofort: „Das hat Ihnen der Direktor-Stellvertreter gesagt.“ „Ach nein“, sagte der Fabrikant,

„woher sollte denn der Stellvertreter es wissen?“ „UndSie?“ fragte K. schon viel gefaßter. „Ich erfahre hie undda etwas von dem Gericht“, sagte der Fabrikant. „Dasbetri eben die Mitteilung, die ich Ihnen machenwollte.“ „So viele Leute sind mit dem Gericht in Verbin-dung!“ sagte K. mit gesenktem Kopf und führte denFabrikanten zum Schreibtisch. Sie setzten sich wiederwie früher und der Fabrikant sagte: „Es ist leider nichtsehr viel, was ich Ihnen mitteilen kann. Aber in solchenDingen soll man nicht das geringste vernachlässigen.Außerdem drängt es mich aber Ihnen irgendwie zuhelfen und sei meine Hilfe noch so bescheiden. Wirwaren doch bisher gute Geschäsfreunde, nicht? Nunalso.“ K. wollte sich wegen seines Verhaltens bei der

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heutigen Besprechung entschuldigen, aber der Fabrikantduldete keine Unterbrechung, schob die Aktentaschehoch unter die Achsel, um zu zeigen, daß er Eile habeund fuhr fort: „Von Ihrem Proceß weiß ich durch einengewissen Titorelli. Es ist ein Maler, Titorelli ist nur seinKünstlername, seinen wirklichen Namen kenne ich garnicht. Er kommt schon seit Jahren von Zeit zu Zeitin mein Bureau und bringt kleine Bilder mit, für die ichihm – er ist fast ein Bettler – immer eine Art Almosengebe. Es sind übrigens hübsche Bilder, Heidelandschaf-ten und dergleichen. Diese Verkäufe – wir hatten unsschon beide daran gewöhnt – giengen ganz glatt vor sich.Einmal aber wiederholten sich diese Besuche doch zuo, ich machte ihm Vorwürfe, wir kamen ins Gespräch,es interessierte mich, wie er sich allein durch Malenerhalten könne und ich erfuhr nun zu meinem Staunen,daß seine Haupteinnahmsquelle das Porträtmalen sei. Erarbeite für das Gericht, sagte er. Für welches Gerichtfragte ich. Und nun erzählte er mir von dem Gericht. Siewerden sich wohl am besten vorstellen können wieerstaunt ich über diese Erzählungen war. Seitdem höreich bei jedem seiner Besuche irgendwelche Neuigkeitenvom Gericht und bekomme so allmählich einen gewis-sen Einblick in die Sache. Allerdings ist Titorelli ge-schwätzig und ich muß ihn o abwehren, nicht nur weiler gewiß auch lügt, sondern vor allem weil ein Ge-schäsmann wie ich, der unter den eigenen Geschäs-

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sorgen fast zusammenbricht, sich nicht noch viel umfremde Dinge kümmern kann. Aber das nur nebenbei.Vielleicht – so dachte ich jetzt – kann Ihnen Titorelli einwenig behilflich sein, er kennt viele Richter und wenn erselbst auch keinen großen Einfluß haben sollte, so kanner Ihnen doch Ratschläge geben, wie man verschiedeneneinflußreichen Leuten beikommen kann. Und wennauch diese Ratschläge an und für sich nicht entscheidendsein sollten, so werden sie doch meiner Meinung nach inIhrem Besitz von großer Bedeutung sein. Sie sind ja fastein Advokat. Ich pflege immer zu sagen: Prokurist K. istfast ein Advokat. Oh, ich habe keine Sorgen wegen IhresProcesses. Wollen Sie nun aber zu Titorelli gehen? Aufmeine Empfehlung hin wird er gewiß alles tun, was ihmmöglich ist. Ich denke wirklich Sie sollten hingehn. Esmuß natürlich nicht heute sein, einmal, gelegentlich.Allerdings sind Sie – das will ich noch sagen – dadurch,daß gerade ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im gering-sten verpflichtet, auch wirklich zu Titorelli hinzugehn.Nein, wenn Sie Titorelli entbehren zu können glauben,ist es gewiß besser, ihn ganz beiseite zu lassen. Vielleichthaben Sie schon einen ganz genauen Plan und Titorellikönnte ihn stören. Nein, dann gehn Sie natürlich aufkeinen Fall hin. Es kostet gewiß auch Überwindung sichvon einem solchen Burschen Ratschläge geben zu lassen.Nun wie Sie wollen. Hier ist das Empfehlungsschreibenund hier die Adresse.“

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Enttäuscht nahm K. den Brief und steckte ihn in dieTasche. Selbst im günstigsten Falle war der Vorteil, denihm die Empfehlung bringen konnte, unverhältnismäßigkleiner als der Schaden, der darin lag, daß der Fabrikantvon seinem Proceß wußte und daß der Maler die Nach-richt weiter verbreitete. Er konnte sich kaum dazu zwin-gen dem Fabrikanten, der schon auf dem Weg zur Türewar, mit ein paar Worten zu danken. „Ich werde hin-gehn“, sagte er, als er sich bei der Tür vom Fabrikantenverabschiedete, „oder ihm, da ich jetzt sehr beschäigtbin, schreiben, er möge einmal zu mir ins Bureau kom-men.“ „Ich wußte ja“, sagte der Fabrikant, „daß Sie denbesten Ausweg finden würden. Allerdings dachte ich,daß Sie es lieber vermeiden wollen, Leute wie diesenTitorelli in die Bank einzuladen, um mit ihm hier überden Proceß zu sprechen. Es ist auch nicht immer vorteil-ha Briefe an solche Leute aus der Hand zu geben. AberSie haben gewiß alles durchgedacht und wissen was Sietun dürfen.“ K. nickte und begleitete den Fabrikantennoch durch das Vorzimmer. Aber trotz äußerlicher Ruhewar er über sich sehr erschrocken. Daß er Titorellischreiben würde, hatte er eigentlich nur gesagt, um demFabrikanten irgendwie zu zeigen, daß er die Empfehlungzu schätzen wisse und die Möglichkeiten mit Titorellizusammenzukommen sofort überlege, aber wenn er Ti-torellis Beistand für wertvoll angesehen hätte, hätte erauch nicht gezögert, ihm wirklich zu schreiben. Die Ge-

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fahren aber, die das zur Folge haben könnte, hatte er erstdurch die Bemerkung des Fabrikanten erkannt. Konnteer sich auf seinen eigenen Verstand tatsächlich schon sowenig verlassen? Wenn es möglich war, daß er einen frag-würdigen Menschen durch einen deutlichen Brief in dieBank einlud, um von ihm nur durch eine Tür vom Direk-tor-Stellvertreter getrennt Ratschläge wegen seines Pro-cesses zu erbitten, war es dann nicht möglich und sogarsehr wahrscheinlich, daß er auch andere Gefahren über-sah oder in sie hineinrannte? Nicht immer stand jemandneben ihm, um ihn zu warnen. Und gerade jetzt, wo ermit gesammelten Kräen aureten sollte, mußten derar-tige ihm bisher fremde Zweifel an seiner eigenen Wach-samkeit aureten. Sollten die Schwierigkeiten, die erbei Ausführung seiner Bureauarbeit fühlte, nun auch imProceß beginnen? Jetzt allerdings begriff er es gar nichtmehr wie es möglich gewesen war, daß er an Titorelli hat-te schreiben und ihn in die Bank einladen wollen. Er schüttelte noch den Kopf darüber, als der Dieneran seine Seite trat und ihn auf drei Herren aufmerksammachte, die hier im Vorzimmer auf einer Bank saßen. Siewarteten schon lange darauf, zu K. vorgelassen zu wer-den. Jetzt da der Diener mit K. sprach, waren sie aufge-standen und jeder wollte eine günstige Gelegenheit aus-nützen, um sich vor den andern an K. heranzumachen.Da man von Seiten der Bank so rücksichtslos war, siehier im Wartezimmer ihre Zeit verlieren zu lassen, woll-

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ten auch sie keine Rücksicht mehr üben. „Herr Proku-rist“, sagte schon der eine. Aber K. hatte sich vomDiener den Winterrock bringen lassen und sagte, wäh-rend er ihn mit Hilfe des Dieners anzog zu allen dreien:

„Verzeihen Sie meine Herren, ich habe augenblicklichleider keine Zeit, Sie zu empfangen. Ich bitte Sie sehr umVerzeihung, aber ich habe einen dringenden Geschäs-gang zu erledigen und muß sofort weggehn. Sie haben jaselbst gesehn, wie lange ich jetzt aufgehalten wurde.Wären Sie so freundlich, morgen oder wann immerwiederzukommen? Oder wollen wir die Sachen viel-leicht telephonisch besprechen? Oder wollen Sie mirvielleicht jetzt kurz sagen, um was es sich handelt undich gebe Ihnen dann eine ausführliche schriliche Ant-wort. Am besten wäre es allerdings Sie kämen näch-stens.“ Diese Vorschläge K.’s brachten die Herren, dienun vollständig nutzlos gewartet haben sollten, in sol-ches Staunen, daß sie einander stumm ansahen. „Wirsind also einig?“ fragte K. der sich nach dem Dienerumgewendet hatte, der ihm nun auch den Hut brachte.Durch die offene Tür von K.’s Zimmer sah man, wie sichdraußen der Schneefall sehr verstärkt hatte. K. schlugdaher den Mantelkragen in die Höhe und knöpe ihnhoch unter dem Halse zu. Da trat gerade aus dem Nebenzimmer der Direktor-Stellvertreter, sah lächelnd K. im Winterrock mit denHerren verhandeln und fragte: „Sie gehn jetzt weg Herr

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Prokurist?“ „Ja“, sagte K. und richtete sich auf, „ichhabe einen Geschäsgang zu machen.“ Aber der Direk-tor-Stellvertreter hatte sich schon den Herren zugewen-det. „Und die Herren?“ fragte er. „Ich glaube Sie wartenschon lange.“ „Wir haben uns schon geeinigt“, sagte K.Aber nun ließen sich die Herren nicht mehr halten,umringten K. und erklärten daß sie nicht stundenlanggewartet hätten, wenn ihre Angelegenheiten nicht wich-tig wären und nicht jetzt undzwar ausführlich unter vierAugen besprochen werden müßten. Der Direktor-Stell-vertreter hörte ihnen ein Weilchen zu, betrachtete auchK., der den Hut in der Hand hielt und ihn stellenweisevon Staub reinigte, und sagte dann: „Meine Herren esgibt ja einen sehr einfachen Ausweg. Wenn Sie mit mirvorlieb nehmen wollen, übernehme ich sehr gerne dieVerhandlungen statt des Herrn Prokuristen. Ihre Ange-legenheiten müssen natürlich sofort besprochen werden.Wir sind Geschäsleute wie Sie und wissen die Zeit vonGeschäsleuten richtig zu bewerten. Wollen Sie hiereintreten?“ Und er öffnete die Tür, die zu dem Vorzim-mer seines Bureaus führte. Wie sich doch der Direktor-Stellvertreter alles anzu-eignen verstand, was K. jetzt notgedrungen aufgebenmußte! Gab aber K. nicht mehr auf, als unbedingt nötigwar? Während er mit unbestimmten und wie er sicheingestehen mußte sehr geringen Hoffnungen zu einemunbekannten Maler lief, erlitt hier sein Ansehen eine

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unheilbare Schädigung. Es wäre wahrscheinlich viel bes-ser gewesen, den Winterrock wieder auszuziehn undwenigstens die zwei Herren, die ja nebenan doch nochwarten mußten, für sich zurückzugewinnen. K. hätte esvielleicht auch versucht, wenn er nicht jetzt in seinemZimmer den Direktor-Stellvertreter erblickt hätte, wieer im Bücherständer, als wäre es sein eigener, etwassuchte. Als K. sich erregt der Türe näherte, rief er: „Ah,Sie sind noch nicht weggegangen.“ Er wandte ihm seinGesicht zu, dessen viele straffe Falten nicht Alter son-dern Kra zu beweisen schienen, und fieng sofort wie-der zu suchen an. „Ich suche eine Vertragsabschri“,sagte er, „die sich wie der Vertreter der Firma behauptet,bei Ihnen befinden soll. Wollen Sie mir nicht suchenhelfen?“ K. machte einen Schritt, aber der Direktor-Stellvertreter sagte: „Danke ich habe es schon gefunden“und kehrte mit einem großen Paket Schrien, das nichtnur die Vertragsabschri, sondern gewiß noch vielesandere enthielt, wieder in sein Zimmer zurück. „Jetzt bin ich ihm nicht gewachsen“, sagte sich K.,

„wenn aber meine persönlichen Schwierigkeiten einmalbeseitigt sein werden, dann soll er wahrhaig der erstesein, der es zu fühlen bekommt undzwar möglichstbitter.“ Durch diesen Gedanken ein wenig beruhigt, gabK. dem Diener, der schon lange die Tür zum Korridorfür ihn offenhielt, den Aurag, dem Direktor gelegent-lich die Meldung zu machen daß er sich auf einem

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Geschäsgang befinde, und verließ fast glücklich dar-über sich eine Zeitlang vollständiger seiner Sache wid-men zu können die Bank. Er fuhr sofort zum Maler, der in einer Vorstadtwohnte, die jener in welcher sich die Gerichtskanzleienbefanden vollständig entgegengesetzt war. Es war einenoch ärmere Gegend; die Häuser noch dunkler, dieGassen voll Schmutz, der auf dem zerflossenen Schneelangsam umhertrieb. Im Hause in dem der Malerwohnte war nur ein Flügel des großen Tores geöffnet, inden andern aber war unten an der Mauer eine Lückegebrochen, aus der gerade als sich K. näherte eine wider-liche gelbe rauchende Flüssigkeit herausschoß, vor dersich eine Ratte in den nahen Kanal flüchtete. Unten ander Treppe lag ein kleines Kind bäuchlings auf der Erdeund weinte, aber man hörte es kaum infolge des allesübertönenden Lärms, der aus einer Klempfnerwerkstätteauf der andern Seite des Torganges kam. Die Tür derWerkstätte war offen, drei Gehilfen standen im Halb-kreis um irgendein Werkstück auf das sie mit den Häm-mern schlugen. Eine große Platte Weißblech, die an derWand hieng, warf ein bleiches Licht das zwischen zweiGehilfen eindrang und die Gesichter und Arbeitsschür-zen erhellte. K. hatte für alles nur einen flüchtigen Blick,er wollte möglichst rasch hier fertig werden, nur denMaler mit paar Worten ausforschen und sofort wieder indie Bank zurückgehn. Wenn er hier nur den kleinsten

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Erfolg hatte, sollte das auf seine heutige Arbeit in derBank noch eine gute Wirkung ausüben. Im drittenStockwerk mußte er seinen Schritt mäßigen, er war ganzaußer Atem, die Treppen ebenso wie die Stockwerkewaren übermäßig hoch und der Maler sollte ganz obenin einer Dachkammer wohnen. Auch war die Lu sehrdrückend, es gab keinen Treppenhof, die enge Treppewar auf beiden Seiten von Mauern eingeschlossen, indenen nur hie und da fast ganz oben kleine Fensterangebracht waren. Gerade als K. ein wenig stehen blieb,liefen paar kleine Mädchen aus einer Wohnung herausund eilten lachend die Treppe weiter hinauf. K. folgteihnen langsam, holte eines der Mädchen ein, das gestol-pert und hinter den andern zurückgeblieben war, undfragte es, während sie nebeneinander weiterstiegen:

„Wohnt hier ein Maler Titorelli?“ Das Mädchen, einkaum dreizehnjähriges etwas buckliges Mädchen, stießihn darauf mit dem Elbogen an und sah von der Seite zuihm auf. Weder ihre Jugend noch ihr Körperfehler hatteverhindern können, daß sie schon ganz verdorben war.Sie lächelte nicht einmal sondern sah K. ernst mit schar-fem aufforderndem Blicke an. K. tat als hätte er ihrBenehmen nicht bemerkt und fragte: „Kennst Du denMaler Titorelli?“ Sie nickte und fragte ihrerseits: „Waswollen Sie von ihm?“ K. schien es vorteilha sich nochschnell ein wenig über Titorelli zu unterrichten: „Ichwill mich von ihm malen lassen“, sagte er. „Malen

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lassen?“ fragte sie, öffnete übermäßig den Mund, schlugleicht mit der Hand gegen K., als hätte er etwas außeror-dentlich überraschendes oder ungeschicktes gesagt, hobmit beiden Händen ihr ohnedies sehr kurzes Röckchenund lief so schnell sie konnte hinter den andern Mäd-chen, deren Geschrei schon undeutlich in der Höhe sichverlor. Bei der nächsten Wendung der Treppe aber trafK. schon wieder alle Mädchen. Sie waren offenbar vonder Buckligen von K.’s Absicht verständigt worden underwarteten ihn. Sie standen zu beiden Seiten der Treppe,drückten sich an die Mauer, damit K. bequem zwischenihnen durchkomme und glätteten mit der Hand ihreSchürzen. Alle Gesichter wie auch diese Spalierbildungstellten eine Mischung von Kindlichkeit und Verworfen-heit dar. Oben an der Spitze der Mädchen, die sich jetzthinter K. lachend zusammenschlossen, war die Bucklige,welche die Führung übernahm. K. hatte es ihr zu ver-danken, daß er gleich den richtigen Weg fand. Er wolltenämlich geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm daßer eine Abzweigung der Treppe wählen müsse um zuTitorelli zu kommen. Die Treppe die zu ihm führte, warbesonders schmal, sehr lang, ohne Biegung, in ihrerganzen Länge zu übersehn und oben unmittelbar vonTitorellis Tür abgeschlossen. Diese Tür, die durch einkleines, schief über ihr eingesetztes Oberlichtfenster imGegensatz zur übrigen Treppe verhältnismäßig hell be-leuchtet wurde, war aus nicht übertünchten Balken zu-

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sammengesetzt, auf die der Name Titorelli mit roterFarbe in breiten Pinselstrichen gemalt war. K. war mitseinem Gefolge noch kaum in der Mitte der Treppe, alsoben, offenbar veranlaßt durch das Geräusch der vielenSchritte, die Tür ein wenig geöffnet wurde und einwahrscheinlich nur mit einem Nachthemd bekleideterMann in der Türspalte erschien. „Oh!“ rief er, als er dieMenge kommen sah und verschwand. Die Buckligeklatschte vor Freude in die Hände und die übrigenMädchen drängten hinter K., um ihn schneller vorwärts-zutreiben. Sie waren aber noch nicht einmal hinaufgekommen,als oben der Maler die Tür gänzlich aufriß und mit einertiefen Verbeugung K. einlud einzutreten. Die Mädchendagegen wehrte er ab, er wollte keine von ihnen einlas-sen, so sehr sie baten und so sehr sie versuchten, wennschon nicht mit seiner Erlaubnis so gegen seinen Willeneinzudringen. Nur der Buckligen gelang es unter seinemausgestreckten Arm durchzuschlüpfen, aber der Malerjagte hinter ihr her, packte sie bei den Röcken, wirbeltesie einmal um sich herum und setzte sie dann vor der Türbei den andern Mädchen ab, die es während der Malerseinen Posten verlassen hatte doch nicht gewagt hattendie Schwelle zu überschreiten. K. wußte nicht, wie erdas Ganze beurteilen sollte, es hatte nämlich den An-schein, als ob alles in freundschalichem Einvernehmengeschehe. Die Mädchen bei der Tür streckten eines

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hinter dem andern die Hälse in die Höhe, riefen demMaler verschiedene scherzha gemeinte Worte zu, dieK, nicht verstand und auch der Maler lachte, währenddie Bucklige in seiner Hand fast flog. Dann schloß er dieTür, verbeugte sich nochmals vor K., reichte ihm dieHand und sagte sich vorstellend: „Kunstmaler Tito-relli.“ K. zeigte auf die Tür, hinter der die Mädchenflüsterten, und sagte: „Sie scheinen im Hause sehr be-liebt zu sein.“ „Ach, die Fratzen!“ sagte der Maler undsuchte vergebens sein Nachthemd am Halse zuzuknöp-fen. Er war im übrigen bloßfüßig und nur noch mit einerbreiten gelblichen Leinenhose bekleidet, die mit einemRiemen festgemacht war, dessen langes Ende frei hin-und herschlug. „Diese Fratzen sind mir eine wahreLast“, fuhr er fort, während er vom Nachthemd dessenletzter Knopf gerade abgerissen war abließ, einen Sesselholte und K. zum Niedersetzen nötigte. „Ich habe einevon ihnen – sie ist heute nicht einmal dabei – einmalgemalt und seitdem verfolgen mich alle. Wenn ich selbsthier bin kommen sie nur herein, wenn ich es erlaube, binich aber einmal weg, dann ist immer zumindest eine da.Sie haben sich einen Schlüssel zu meiner Tür machenlassen, den sie untereinander verleihen. Man kann sichkaum vorstellen wie lästig das ist. Ich komme z. B. miteiner Dame die ich malen soll nachhause, öffne die Türmit meinem Schlüssel und finde etwa die Bucklige dortbeim Tischchen wie sie sich mit dem Pinsel die Lippen

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rot färbt, während ihre kleinen Geschwister, die sie zubeaufsichtigen hat, sich herumtreiben und das Zimmerin allen Ecken verunreinigen. Oder ich komme, wie esmir erst gestern geschehen ist, spät abends nachhause –entschuldigen Sie bitte mit Rücksicht darauf meinenZustand und die Unordnung im Zimmer – also ichkomme spät abends nachhause und will ins Bett steigen,da zwickt mich etwas ins Bein, ich schaue unter das Bettund ziehe wieder so ein Ding heraus. Warum sie sich sozu mir drängen weiß ich nicht, daß ich sie nicht zu mirzu locken suche, düren Sie eben bemerkt haben. Na-türlich bin ich dadurch auch in meiner Arbeit gestört.Wäre mir dieses Atelier nicht umsonst zur Verfügunggestellt, ich wäre schon längst ausgezogen.“ Gerade riefhinter der Tür ein Stimmchen, zart und ängstlich: „Tito-relli, dürfen wir schon kommen?“ „Nein“, antworteteder Maler. „Ich allein auch nicht?“ fragte es wieder.

„Auch nicht“, sagte der Maler, gieng zur Tür und sperrtesie ab. K. hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen, erwäre niemals selbst auf den Gedanken gekommen, daßman dieses elende kleine Zimmer ein Atelier nennenkönnte. Mehr als zwei lange Schritte konnte man derLänge und Quere nach kaum hier machen. Alles, Fuß-boden, Wände und Zimmerdecke war aus Holz, zwi-schen den Balken sah man schmale Ritzen. K. gegenüberstand an der Wand das Bett, das mit verschiedenfarbigem

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Bettzeug überladen war. In der Mitte des Zimmers warauf einer Staffelei ein Bild, das mit einem Hemd verhülltwar, dessen Ärmel bis zum Boden baumelten. Hinter K.war das Fenster, durch das man im Nebel nicht weitersehen konnte, als über das mit Schnee bedeckte Dach desNachbarhauses. Das Umdrehn des Schlüssels im Schloß erinnerte K.daran, daß er bald hatte weggehn wollen. Er zog daherden Brief des Fabrikanten aus der Tasche, reichte ihndem Maler und sagte: „Ich habe durch diesen HerrnIhren Bekannten von Ihnen erfahren und bin auf seinenRat hin gekommen.“ Der Maler las den Brief flüchtigdurch und warf ihn aufs Bett. Hätte der Fabrikant nichtauf das bestimmteste von Titorelli als von seinem Bekann-ten gesprochen, als von einem armen Menschen, der aufseine Almosen angewiesen war, so hätte man jetzt wirk-lich glauben können, Titorelli kenne den Fabrikantennicht oder wisse sich an ihn wenigstens nicht zu erin-nern. Überdies fragte nun der Maler: „Wollen Sie Bilderkaufen oder sich selbst malen lassen?“ K. sah den Malererstaunt an. Was stand denn eigentlich in dem Brief? K.hatte es als selbstverständlich angenommen, daß derFabrikant in dem Brief den Maler davon unterrichtethatte, daß K. nichts anderes wollte, als sich hier wegenseines Processes zu erkundigen. Er war doch gar zu eiligund unüberlegt hierhergelaufen! Aber er mußte jetztdem Maler irgendwie antworten und sagte mit einem

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Blick auf die Staffelei: „Sie arbeiten gerade an einemBild?“ „Ja“, sagte der Maler und warf das Hemd, dasüber der Staffelei hieng, dem Brief nach auf das Bett. „Esist ein Porträt. Eine gute Arbeit, aber noch nicht ganzfertig.“ Der Zufall war K. günstig, die Möglichkeit vomGericht zu reden, wurde ihm förmlich dargeboten, dennes war offenbar das Porträt eines Richters. Es war übri-gens dem Bild im Arbeitszimmer des Advokaten auffal-lend ähnlich. Es handelte sich hier zwar um einen ganzandern Richter, einen dicken Mann mit schwarzem bu-schigen Vollbart, der seitlich weit die Wangen hinaufreich-te, auch war jenes Bild ein Ölbild, dieses aber mit Pastell-farben schwach und undeutlich angesetzt. Aber allesübrige war ähnlich, denn auch hier wollte sich geradeder Richter von seinem Tronsessel, dessen Seitenlehnener festhielt, drohend erheben. „Das ist ja ein Richter“,hatte K. gleich sagen wollen, hielt sich dann aber vor-läufig noch zurück und näherte sich dem Bild als wolleer es in den Einzelheiten studieren. Eine große Figur diein der Mitte über der Rückenlehne des Tronsesselsstand konnte er sich nicht erklären und fragte den Malernach ihr. „Sie muß noch ein wenig ausgearbeitet wer-den“, antwortete der Maler, holte von einem Tischcheneinen Pastellsti und strichelte mit ihm ein wenig an denRändern der Figur, ohne sie aber dadurch für K. deutli-cher zu machen. „Es ist die Gerechtigkeit“, sagte derMaler schließlich. „Jetzt erkenne ich sie schon“, sagte K.,

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„hier ist die Binde um die Augen und hier die Wage.Aber sind nicht an den Fersen Flügel und befindet siesich nicht im Lauf?“ „Ja“, sagte der Maler, „ich mußte esüber Aurag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeitund die Siegesgöttin in einem.“ „Das ist keine guteVerbindung“, sagte K. lächelnd, „die Gerechtigkeit mußruhen, sonst schwankt die Wage und es ist kein gerechtesUrteil möglich.“ „Ich füge mich darin meinem Aurag-geber“, sagte der Maler. „Ja gewiß“, sagte K., der mitseiner Bemerkung niemanden hatte kränken wollen. „Siehaben die Figur so gemalt, wie sie auf dem Tronsesselwirklich steht.“ „Nein“, sagte der Maler, „ich habeweder die Figur noch den Tronsessel gesehn, das alles istErfindung, aber es wurde mir angegeben, was ich zumalen habe.“ „Wie?“ fragte K., er tat absichtlich, alsverstehe er den Maler nicht völlig, „es ist doch einRichter, der auf dem Richterstuhl sitzt.“ „Ja“, sagte derMaler, „aber es ist kein hoher Richter und er ist niemalsauf einem solchen Tronsessel gesessen.“ „Und läßt sichdoch in so feierlicher Haltung malen? Er sitzt ja da wieein Gerichtspräsident.“ „Ja, eitel sind die Herren“, sagteder Maler. „Aber sie haben die höhere Erlaubnis sich somalen zu lassen. Jedem ist genau vorgeschrieben, wie ersich malen lassen darf. Nur kann man leider gerade nachdiesem Bild die Einzelheiten der Tracht und des Sitzesnicht beurteilen, die Pastellfarben sind für solche Dar-stellungen nicht geeignet.“ „Ja“, sagte K., „es ist sonder-

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bar, daß es in Pastellfarben gemalt ist.“ „Der Richterwünschte es so“, sagte der Maler, „es ist für eine Damebestimmt.“ Der Anblick des Bildes schien ihm Lust zurArbeit gemacht zu haben, er krempelte die Hemdärmelaufwärts, nahm einige Stie in die Hand und K. sah zu,wie unter den zitternden Spitzen der Stie anschließendan den Kopf des Richters ein rötlicher Schatten sichbildete, der strahlenförmig gegen den Rand des Bildesvergieng. Allmählich umgab dieses Spiel des Schattensden Kopf wie ein Schmuck oder eine hohe Auszeich-nung. Um die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es bisauf eine unmerkliche Tönung hell, in dieser Helligkeitschien die Figur besonders vorzudringen, sie erinnertekaum mehr an die Göttin der Gerechtigkeit, aber auchnicht an die des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkom-men wie die Göttin der Jagd aus. Die Arbeit des Malerszog K. mehr an als er wollte; schließlich aber machte ersich doch Vorwürfe, daß er solange schon hier war undim Grunde noch nichts für seine eigene Sache unternom-men hatte. „Wie heißt dieser Richter?“ fragte er plötz-lich. „Das darf ich nicht sagen“, antwortete der Maler, erwar tief zum Bild hinabgebeugt und vernachlässigtedeutlich seinen Gast, den er doch zuerst so rücksichts-voll empfangen hatte. K. hielt das für eine Laune undärgerte sich darüber weil er dadurch Zeit verlor. „Siesind wohl ein Vertrauensmann des Gerichtes?“ fragte er.Sofort legte der Maler die Stie beiseite, richtete sich

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auf, rieb die Hände an einander und sah K. lächelnd an.„Nur immer gleich mit der Wahrheit heraus“, sagte er,„Sie wollen etwas über das Gericht erfahren, wie es jaauch in Ihrem Empfehlungsschreiben steht, und habenzunächst über meine Bilder gesprochen um mich zugewinnen. Aber ich nehme das nicht übel, Sie konnten janicht wissen, daß das bei mir unangebracht ist. Ohbitte!“ sagte er scharf abwehrend, als K. etwas einwen-den wollte. Und fuhr dann fort: „Im übrigen haben Siemit Ihrer Bemerkung vollständig recht, ich bin ein Ver-trauensmann des Gerichtes.“ Er machte eine Pause, alswolle er K. Zeit lassen, sich mit dieser Tatsache abzufin-den. Man hörte jetzt wieder hinter der Tür die Mädchen.Sie drängten sich wahrscheinlich um das Schlüsselloch,vielleicht konnte man auch durch die Ritzen ins Zimmerhereinsehn. K. unterließ es sich irgendwie zu entschul-digen denn er wollte den Maler nicht ablenken, wohlaber wollte er nicht, daß der Maler sich allzu überhebeund sich auf diese Weise gewissermaßen unerreichbarmache, er fragte deshalb: „Ist das eine öffentlich aner-kannte Stellung?“ „Nein“, sagte der Maler kurz, als seiihm dadurch die weitere Rede verschlagen. K. wollte ihnaber nicht verstummen lassen und sagte: „Nun, o sindderartige nicht anerkannte Stellungen einflußreicher alsdie anerkannten.“ „Das ist eben bei mir der Fall“, sagteder Maler und nickte mit zusammengezogener Stirn.

„Ich sprach gestern mit dem Fabrikanten über Ihren

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Fall, er fragte mich ob ich Ihnen nicht helfen wollte, ichantwortete: ,Der Mann kann ja einmal zu mir kommen‘und nun freue ich mich, Sie so bald hier zu sehn. DieSache scheint Ihnen ja sehr nahe zu gehn, worüber ichmich natürlich gar nicht wundere. Wollen Sie vielleichtzunächst Ihren Rock ablegen?“ Trotzdem K. beabsich-tigte nur ganz kurze Zeit hier zu bleiben, war ihm dieseAufforderung des Malers doch sehr willkommen. DieLu im Zimmer war ihm allmählich drückend gewor-den, öers hatte er schon verwundert auf einen kleinenzweifellos nicht geheizten Eisenofen in der Ecke hinge-sehn, die Schwüle im Zimmer war unerklärlich. Wäh-rend er den Winterrock ablegte und auch noch den Rockaunöpe, sagte der Maler sich entschuldigend: „Ichmuß Wärme haben. Es ist hier doch sehr behaglich,nicht? Das Zimmer ist in dieser Hinsicht sehr gut gele-gen.“ K. sagte dazu nichts, aber es war nicht eigentlichdie Wärme, die ihm Unbehagen machte, es war vielmehrdie dumpfe das Atmen fast behindernde Lu, das Zim-mer war wohl schon lange nicht gelüet. Diese Unan-nehmlichkeit wurde für K. dadurch noch verstärkt, daßihn der Maler bat sich auf das Bett zu setzen, während erselbst sich auf den einzigen Stuhl des Zimmers vor derStaffelei niedersetzte. Außerdem schien es der Malermißzuverstehn, warum K. nur am Bettrand blieb, er batvielmehr, K. möchte es sich bequem machen und gieng,da K. zögerte, selbst hin und drängte ihn tief in die

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Betten und Polster hinein. Dann kehrte er wieder zuseinem Sessel zurück und stellte endlich die erste sachli-che Frage, die K. alles andere vergessen ließ. „Sind Sieunschuldig?“ fragte er. „Ja“, sagte K. Die Beantwortungdieser Frage machte ihm geradezu Freude, besonders dasie gegenüber einem Privatmann, also ohne jede Verant-wortung erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offengefragt. Um diese Freude auszukosten, fügte er nochhinzu: „Ich bin vollständig unschuldig.“ „So“, sagte derMaler, senkte den Kopf und schien nachzudenken.Plötzlich hob er wieder den Kopf und sagte: „Wenn Sieunschuldig sind, dann ist ja die Sache sehr einfach.“ K.’sBlick trübte sich, dieser angebliche Vertrauensmann desGerichtes redete wie ein unwissendes Kind. „MeineUnschuld vereinfacht die Sache nicht“, sagte K. Ermußte trotz allem lächeln und schüttelte langsam denKopf. „Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sichdas Gericht verliert. Zum Schluß aber zieht es vonirgendwoher wo ursprünglich gar nichts gewesen ist,eine große Schuld hervor.“ „Ja, ja gewiß“, sagte derMaler, als störe K. unnötiger Weise seinen Gedanken-gang. „Sie sind aber doch unschuldig?“ „Nun ja“, sagteK. „Das ist die Hauptsache“, sagte der Maler. Er wardurch Gegengründe nicht zu beeinflussen, nur war estrotz seiner Entschiedenheit nicht klar, ob er aus Über-zeugung oder nur aus Gleichgültigkeit so redete. K.wollte das zunächst feststellen und sagte deshalb: „Sie

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kennen ja gewiß das Gericht viel besser als ich, ich weißnicht viel mehr als was ich darüber, allerdings von ganzverschiedenen Leuten gehört habe. Darin stimmten aberalle überein, daß leichtsinnige Anklagen nicht erhobenwerden und daß das Gericht, wenn es einmal anklagt,fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist undvon dieser Überzeugung nur schwer abgebracht werdenkann.“ „Schwer?“ fragte der Maler und warf eine Handin die Höhe. „Niemals ist das Gericht davon abzubrin-gen. Wenn ich hier alle Richter neben einander auf eineLeinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwandverteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vordem wirklichen Gericht.“ „Ja“, sagte K. für sich undvergaß, daß er den Maler nur hatte ausforschen wollen. Wieder begann ein Mädchen hinter der Tür zu fragen:

„Titorelli, wird er denn nicht schon bald weggehn.“„Schweigt“, rief der Maler zur Tür hin, „seht Ihr dennnicht, daß ich mit dem Herrn eine Besprechung habe.“Aber das Mädchen gab sich damit nicht zufrieden son-dern fragte: „Du wirst ihn malen?“ Und als der Malernicht antwortete sagte sie noch: „Bitte mal’ ihn nicht,einen so häßlichen Menschen.“ Ein Durcheinander un-verständlicher zustimmender Zurufe folgte. Der Malermachte einen Sprung zur Tür, öffnete sie bis zu einemSpalt – man sah die bittend vorgestreckten gefaltetenHände der Mädchen – und sagte: „Wenn Ihr nicht stillseid, werfe ich Euch alle die Treppe hinunter. Setzt Euch

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hier auf die Stufen und verhaltet Euch ruhig.“ Wahr-scheinlich folgten sie nicht gleich, so daß er kommandie-ren mußte. „Nieder auf die Stufen!“ Erst dann wurde esstill. „Verzeihen Sie“, sagte der Maler als er zu K. wiederzurückkehrte. K. hatte sich kaum zur Tür hingewendet,er hatte es vollständig dem Maler überlassen, ob und wieer ihn in Schutz nehmen wollte. Er machte auch jetztkaum eine Bewegung, als sich der Maler zu ihm nieder-beugte und ihm, um draußen nicht gehört zu werden insOhr flüsterte: „Auch diese Mädchen gehören zum Ge-richt.“ „Wie?“ fragte K., wich mit dem Kopf zur Seiteund sah den Maler an. Dieser aber setzte sich wieder aufseinen Sessel und sagte halb im Scherz halb zur Erklä-rung: „Es gehört ja alles zum Gericht.“ „Das habe ichnoch nicht bemerkt“, sagte K. kurz, die allgemeineBemerkung des Malers nahm dem Hinweis auf die Mäd-chen alles Beunruhigende. Trotzdem sah K. ein Weilchenlang zur Tür hin, hinter der die Mädchen jetzt still aufden Stufen saßen. Nur eines hatte einen Strohhalmdurch eine Ritze zwischen den Balken gesteckt undführte ihn langsam auf und ab. „Sie scheinen noch keinen Überblick über das Gerichtzu haben“, sagte der Maler, er hatte die Beine weitauseinander gestreckt und klatschte mit den Fußspitzenauf den Boden. „Da Sie aber unschuldig sind, werden Sieihn auch nicht benötigen. Ich allein hole Sie heraus.“

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„Wie wollen Sie das tun?“ fragte K. „Da Sie doch vorkurzem selbst gesagt haben, daß das Gericht für Beweis-gründe vollständig unzugänglich ist.“ „Unzugänglichnur für Beweisgründe, die man vor dem Gericht vor-bringt“, sagte der Maler und hob den Zeigefinger, alshabe K. eine feine Unterscheidung nicht bemerkt. „An-ders verhält es sich aber damit, was man in dieserHinsicht hinter dem öffentlichen Gericht versucht, alsoin den Beratungszimmern, in den Korridoren oder z. B.auch hier im Atelier.“ Was der Maler jetzt sagte schien K.nicht mehr so unglaubwürdig, es zeigte vielmehr einegroße Übereinstimmung mit dem, was K. auch vonandern Leuten gehört hatte. Ja, es war sogar sehr hoff-nungsvoll. Waren die Richter durch persönliche Bezie-hungen wirklich so leicht zu lenken, wie es der Advokatdargestellt hatte, dann waren die Beziehungen des Ma-lers zu den eitlen Richtern besonders wichtig und jeden-falls keineswegs zu unterschätzen. Dann fügte sich derMaler sehr gut in den Kreis von Helfern, die K. allmäh-lich um sich versammelte. Man hatte einmal in der Banksein Organisationstalent gerühmt, hier, wo er ganz alleinauf sich gestellt war, zeigte sich eine gute Gelegenheit esauf das Äußerste zu erproben. Der Maler beobachtetedie Wirkung, die seine Erklärung auf K. gemacht hatteund sagte dann mit einer gewissen Ängstlichkeit: „Fälltes Ihnen nicht auf daß ich fast wie ein Jurist spreche? Esist der ununterbrochene Verkehr mit den Herren vom

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Gericht, der mich so beeinflußt. Ich habe natürlich vielGewinn davon, aber der künstlerische Schwung gehtzum großen Teil verloren.“ „Wie sind Sie denn zumerstenmal mit den Richtern in Verbindung gekommen?“fragte K., er wollte zuerst das Vertrauen des Malersgewinnen, bevor er ihn geradezu in seine Dienste nahm.

„Das war sehr einfach“, sagte der Maler, „ich habe dieseVerbindung geerbt. Schon mein Vater war Gerichtsma-ler. Es ist das eine Stellung die sich immer vererbt. Mankann dafür neue Leute nicht brauchen. Es sind nämlichfür das Malen der verschiedenen Beamtengrade so ver-schiedene vielfache und vor allem geheime Regeln aufge-stellt, daß sie überhaupt nicht außerhalb bestimmterFamilien bekannt werden. Dort in der Schublade z. B.habe ich die Aufzeichnungen meines Vaters, die ichniemandem zeige. Aber nur wer sie kennt ist zum Malenvon Richtern befähigt. Jedoch selbst wenn ich sie verlie-ren würde, blieben mir noch so viele Regeln, die ichallein in meinem Kopfe trage, daß mir niemand meineStellung streitig machen könnte. Es will doch jederRichter so gemalt werden wie die alten großen Richtergemalt worden sind und das kann nur ich.“ „Das istbeneidenswert“, sagte K., der an seine Stellung in derBank dachte, „Ihre Stellung ist also unerschütterlich?“

„Ja unerschütterlich“, sagte der Maler und hob stolz dieAchseln. „Deshalb kann ich es auch wagen hie und daeinem armen Mann, der einen Proceß hat, zu helfen.“

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„Und wie tun Sie das?“ fragte K., als sei es nicht er, dender Maler soeben einen armen Mann genannt hatte. DerMaler aber ließ sich nicht ablenken, sondern sagte: „InIhrem Fall z. B. werde ich, da Sie vollständig unschuldigsind, Folgendes unternehmen.“ Die wiederholte Erwäh-nung seiner Unschuld wurde K. schon lästig. Ihm schienes manchmal als mache der Maler durch solche Bemer-kungen einen günstigen Ausgang des Processes zur Vor-aussetzung seiner Hilfe, die dadurch natürlich in sichselbst zusammenfiel. Trotz dieser Zweifel bezwang sichaber K. und unterbrach den Maler nicht. Verzichtenwollte er auf die Hilfe des Malers nicht, dazu war erentschlossen, auch schien ihm diese Hilfe durchaus nichtfragwürdiger als die des Advokaten zu sein. K. zog siejener sogar beiweitem vor, weil sie harmloser und offe-ner dargeboten wurde. Der Maler hatte seinen Sessel näher zum Bett gezogenund fuhr mit gedämper Stimme fort: „Ich habe verges-sen Sie zunächst zu fragen, welche Art der Befreiung Siewünschen. Es gibt drei Möglichkeiten, nämlich diewirkliche Freisprechung, die scheinbare Freisprechungund die Verschleppung. Die wirkliche Freisprechung istnatürlich das Beste, nur habe ich nicht den geringstenEinfluß auf diese Art der Lösung. Es gibt meiner Mei-nung nach überhaupt keine einzelne Person, die auf diewirkliche Freisprechung Einfluß hätte. Hier entscheidetwahrscheinlich nur die Unschuld des Angeklagten. Da

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Sie unschuldig sind, wäre es wirklich möglich, daß Siesich allein auf Ihre Unschuld verlassen. Dann brauchenSie aber weder mich noch irgendeine andere Hilfe.“ Diese geordnete Darstellung verblüe K. anfangs,dann aber sagte er ebenso leise wie der Maler: „Ichglaube Sie widersprechen sich.“ „Wie denn?“ fragte derMaler geduldig und lehnte sich lächelnd zurück. DiesesLächeln erweckte in K. das Gefühl, als ob er jetzt darangehe, nicht in den Worten des Malers sondern in demGerichtsverfahren selbst Widersprüche zu entdecken.Trotzdem wich er aber nicht zurück und sagte: „Siehaben früher die Bemerkung gemacht, daß das Gerichtfür Beweisgründe unzugänglich ist, später haben Sie diesauf das öffentliche Gericht eingeschränkt und jetzt sagenSie sogar, daß der Unschuldige vor dem Gericht keineHilfe braucht. Darin liegt schon ein Widerspruch. Au-ßerdem aber haben Sie früher gesagt, daß man die Rich-ter persönlich beeinflussen kann, stellen aber jetzt inAbrede, daß die wirkliche Freisprechung, wie Sie sienennen, jemals durch persönliche Beeinflussung zu er-reichen ist. Darin liegt der zweite Widerspruch.“ „DieseWidersprüche sind leicht aufzuklären“, sagte der Maler.„Es ist hier von zwei verschiedenen Dingen die Rede,von dem was im Gesetz steht und von dem was ichpersönlich erfahren habe, das dürfen Sie nicht verwech-seln. Im Gesetz, ich habe es allerdings nicht gelesen,steht natürlich einerseits daß der Unschuldige freige-

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sprochen wird, andererseits steht dort aber nicht, daßdie Richter beeinflußt werden können. Nun habe aberich gerade das Gegenteil dessen erfahren. Ich weiß vonkeiner wirklichen Freisprechung, wohl aber von vielenBeeinflussungen. Es ist natürlich möglich daß in allenmir bekannten Fällen keine Unschuld vorhanden war.Aber ist das nicht unwahrscheinlich? In so vielen Fällenkeine einzige Unschuld? Schon als Kind hörte ich demVater genau zu, wenn er zuhause von Processen erzählte,auch die Richter, die in sein Atelier kamen, erzähltenvom Gericht, man spricht in unsern Kreisen überhauptvon nichts anderem, kaum bekam ich die Möglichkeitselbst zu Gericht zu gehn, nützte ich sie immer aus,unzählbare Processe habe ich in wichtigen Stadien ange-hört und soweit sie sichtbar sind verfolgt, und – ich mußes zugeben – nicht einen einzigen wirklichen Freisprucherlebt.“ „Keinen einzigen Freispruch also“, sagte K. alsrede er zu sich selbst und zu seinen Hoffnungen. „Dasbestätigt aber die Meinung die ich von dem Gerichtschon habe. Es ist also auch von dieser Seite zwecklos.Ein einziger Henker könnte das ganze Gericht erset-zen.“ „Sie dürfen nicht verallgemeinern“, sagte der Ma-ler unzufrieden, „ich habe ja nur von meinen Erfahrun-gen gesprochen.“ „Das genügt doch“, sagte K., „oderhaben Sie von Freisprüchen aus früherer Zeit gehört?“

„Solche Freisprüche“, antwortete der Maler, „soll esallerdings gegeben haben. Nur ist es sehr schwer das

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festzustellen. Die abschließenden Entscheidungen desGerichtes werden nicht veröffentlicht, sie sind nichteinmal den Richtern zugänglich, infolgedessen habensich über alte Gerichtsfälle nur Legenden erhalten. Dieseenthalten allerdings sogar in der Mehrzahl wirklicheFreisprechungen, man kann sie glauben, nachweisbarsind sie aber nicht. Trotzdem muß man sie nicht ganzvernachlässigen, eine gewisse Wahrheit enthalten siewohl gewiß, auch sind sie sehr schön, ich selbst habeeinige Bilder gemalt, die solche Legenden zum Inhalthaben.“ „Bloße Legenden ändern meine Meinungnicht“, sagte K., „man kann sich wohl auch vor Gerichtauf diese Legenden nicht berufen?“ Der Maler lachte.

„Nein, das kann man nicht“, sagte er. „Dann ist esnutzlos darüber zu reden“, sagte K., er wollte vorläufigalle Meinungen des Malers hinnehmen, selbst wenn ersie für unwahrscheinlich hielt und sie andern Berichtenwidersprachen. Er hatte jetzt nicht die Zeit alles was derMaler sagte auf die Wahrheit hin zu überprüfen oder garzu widerlegen, es war schon das Äußerste erreicht, wenner den Maler dazu bewog, ihm in irgendeiner, sei es auchin einer nicht entscheidenden Weise zu helfen. Darumsagte er: „Sehn wir also von der wirklichen Freispre-chung ab, Sie erwähnten aber noch zwei andere Mög-lichkeiten.“ „Die scheinbare Freisprechung und die Ver-schleppung. Um die allein kann es sich handeln“, sagteder Maler. „Wollen Sie aber nicht, ehe wir davon reden,

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den Rock ausziehn. Es ist Ihnen wohl heiß.“ „Ja“, sagteK., der bisher auf nichts als auf die Erklärungen desMalers geachtet hatte, dem aber jetzt, da er an die Hitzeerinnert worden war, starker Schweiß auf der Stirnausbrach. „Es ist fast unerträglich.“ Der Maler nickte,als verstehe er K.’s Unbehagen sehr gut. „Könnte mannicht das Fenster öffnen?“ fragte K. „Nein“, sagte derMaler. „Es ist bloß eine fest eingesetzte Glasscheibe,man kann es nicht öffnen.“ Jetzt erkannte K., daß er dieganze Zeit über darauf geho hatte, plötzlich werde derMaler oder er zum Fenster gehn und es aufreißen. Erwar darauf vorbereitet, selbst den Nebel mit offenemMund einzuatmen. Das Gefühl hier von der Lu voll-ständig abgesperrt zu sein verursachte ihm Schwindel.Er schlug leicht mit der Hand auf das Federbett nebensich und sagte mit schwacher Stimme: „Das ist ja unbe-quem und ungesund.“ „Oh nein“, sagte der Maler zurVerteidigung seines Fensters. „Dadurch daß es nicht auf-gemacht werden kann, wird, trotzdem es nur eine einfa-che Scheibe ist, die Wärme hier besser festgehalten alsdurch ein Doppelfenster. Will ich aber lüen, was nichtsehr notwendig ist, da durch die Balkenritzen überallLu eindringt, kann ich eine meiner Türen oder sogarbeide öffnen.“ K. durch diese Erklärung ein wenig ge-tröstet blickte herum, um die zweite Tür zu finden. DerMaler bemerkte das und sagte: „Sie ist hinter Ihnen, ichmußte sie durch das Bett verstellen.“ Jetzt erst sah K. die

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kleine Türe in der Wand. „Es ist eben hier alles viel zuklein für ein Atelier“, sagte der Maler, als wolle er einemTadel K.’s zuvorkommen. „Ich mußte mich einrichtenso gut es gieng. Das Bett vor der Tür steht natürlich aneinem sehr schlechten Platz. Der Richter z. B. den ichjetzt male, kommt immer durch die Tür beim Bett undich habe ihm auch einen Schlüssel von dieser Tür gege-ben, damit er auch wenn ich nicht zuhause bin, hier imAtelier auf mich warten kann. Nun kommt er abergewöhnlich früh am Morgen während ich noch schlafe.Es reißt mich natürlich immer aus dem tiefsten Schlafwenn sich neben dem Bett die Türe öffnet. Sie würdenjede Ehrfurcht vor den Richtern verlieren, wenn Sie dieFlüche hören würden, mit denen ich ihn empfange,wenn früh er über mein Bett steigt. Ich könnte ihmallerdings den Schlüssel wegnehmen, aber es würde da-durch nur ärger werden. Man kann hier alle Türen mitder geringsten Anstrengung aus den Angeln brechen.“Während dieser ganzen Rede überlegte K. ob er denRock ausziehn sollte, er sah aber schließlich ein, daß erwenn er es nicht tat unfähig war, hier noch länger zubleiben, er zog daher den Rock aus, legte ihn aber überdie Knie, um ihn falls die Besprechung zuende wäre, so-fort wieder anziehn zu können. Kaum hatte er den Rockausgezogen, rief eines der Mädchen: „Er hat schon denRock ausgezogen“ und man hörte wie sich alle zu denRitzen drängten, um das Schauspiel selbst zu sehn. „Die

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Mädchen glauben nämlich“, sagte der Maler, „daß ich Siemalen werde und daß Sie sich deshalb ausziehn.“ „So“,sagte K. nur wenig belustigt, denn er fühlte sich nichtviel besser als früher trotzdem er jetzt in Hemdärmelndasaß. Fast mürrisch fragte er: „Wie nannten Sie die zweiandern Möglichkeiten?“ Er hatte die Ausdrücke schonwieder vergessen. „Die scheinbare Freisprechung unddie Verschleppung“, sagte der Maler. „Es liegt an Ihnen,was Sie davon wählen. Beides ist durch meine Hilfeerreichbar, natürlich nicht ohne Mühe, der Unterschiedin dieser Hinsicht ist der, daß die scheinbare Freispre-chung eine gesammelte zeitweilige, die Verschleppungeine viel geringere aber dauernde Anstrengung verlangt.Zunächst also die scheinbare Freisprechung. Wenn Siediese wünschen sollten, schreibe ich auf einem BogenPapier eine Bestätigung Ihrer Unschuld auf. Der Text füreine solche Bestätigung ist mir von meinem Vater über-liefert und ganz unangreiar. Mit dieser Bestätigungmache ich nun einen Rundgang bei den mir bekanntenRichtern. Ich fange also etwa damit an, daß ich demRichter, den ich jetzt male, heute abend wenn er zurSitzung kommt, die Bestätigung vorlege. Ich lege ihmdie Bestätigung vor, erkläre ihm daß Sie unschuldig sindund verbürge mich für Ihre Unschuld. Das ist aber keinebloß äußerliche, sondern eine wirkliche bindende Bürg-scha.“ In den Blicken des Malers lag es wie ein Vor-wurf, daß K. ihm die Last einer solchen Bürgscha

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auferlegen wolle. „Das wäre ja sehr freundlich“, sagte K.„Und der Richter würde Ihnen glauben und mich trotz-dem nicht wirklich freisprechen?“ „Wie ich schonsagte“, antwortete der Maler. „Übrigens ist es durchausnicht sicher, daß jeder mir glauben würde, mancherRichter wird z. B. verlangen, daß ich Sie selbst zu ihmhinführe. Dann müßten Sie also einmal mitkommen.Allerdings ist in einem solchen Fall die Sache schon halbgewonnen, besonders da ich Sie natürlich vorher genaudarüber unterrichten würde, wie Sie sich bei dem betref-fenden Richter zu verhalten haben. Schlimmer ist es beiden Richtern, die mich – auch das wird vorkommen –von vornherein abweisen. Auf diese müssen wir, wennich es auch an mehrfachen Versuchen gewiß nicht fehlenlassen werde, verzichten, wir dürfen das aber auch, denneinzelne Richter können hier nicht den Ausschlag geben.Wenn ich nun auf dieser Bestätigung eine genügendeAnzahl von Unterschrien der Richter habe, gehe ichmit dieser Bestätigung zu dem Richter, der Ihren Proceßgerade führt. Möglicherweise habe ich auch seine Unter-schri, dann entwickelt sich alles noch ein wenigrascher, als sonst. Im allgemeinen gibt es dann aberüberhaupt nicht mehr viel Hindernisse, es ist dann fürden Angeklagten die Zeit der höchsten Zuversicht. Es istmerkwürdig aber wahr, die Leute sind in dieser Zeitzuversichtlicher als nach dem Freispruch. Es bedarf jetztkeiner besondern Mühe mehr. Der Richter besitzt in

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der Bestätigung die Bürgscha einer Anzahl von Rich-tern, kann Sie unbesorgt freisprechen und wird es aller-dings nach Durchführung verschiedener Formalitätenmir und andern Bekannten zu Gefallen zweifellos tun.Sie aber treten aus dem Gericht und sind frei.“ „Dannbin ich also frei“, sagte K. zögernd. „Ja“, sagte derMaler, „aber nur scheinbar frei oder besser ausgedrücktzeitweilig frei. Die untersten Richter nämlich, zu denenmeine Bekannten gehören, haben nicht das Recht end-giltig freizusprechen, dieses Recht hat nur das oberste,für Sie, für mich und für uns alle ganz unerreichbareGericht. Wie es dort aussieht wissen wir nicht undwollen wir nebenbei gesagt auch nicht wissen. Das großeRecht, von der Anklage zu befreien haben also unsereRichter nicht, wohl aber haben sie das Recht von derAnklage loszulösen. Das heißt, wenn Sie auf diese Weisefreigesprochen werden, sind Sie für den Augenblick derAnklage entzogen, aber sie schwebt auch weiterhin überIhnen und kann, sobald nur der höhere Befehl kommt,sofort in Wirkung treten. Da ich mit dem Gericht in soguter Verbindung stehe kann ich Ihnen auch sagen wiesich in den Vorschrien für die Gerichtskanzleien derUnterschied zwischen der wirklichen und der scheinba-ren Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei einer wirkli-chen Freisprechung sollen die Proceßakten vollständigabgelegt werden, sie verschwinden gänzlich aus demVerfahren, nicht nur die Anklage, auch der Proceß und

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sogar der Freispruch sind vernichtet, alles ist vernichtet.Anders beim scheinbaren Freispruch. Mit dem Akten istkeine weitere Veränderung vor sich gegangen, als daß erum die Bestätigung der Unschuld, um den Freispruchund um die Begründung des Freispruchs bereichert wor-den ist. Im übrigen aber bleibt er im Verfahren, er wirdwie es der ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanz-leien erfordert, zu den höhern Gerichten weitergeleitet,kommt zu den niedrigem zurück und pendelt so mitgrößern und kleinern Schwingungen, mit größern undkleinern Stockungen auf und ab. Diese Wege sind unbe-rechenbar. Von außen gesehn kann es manchmal denAnschein bekommen, daß alles längst vergessen, der Aktverloren und der Freispruch ein vollkommener ist. EinEingeweihter wird das nicht glauben. Es geht kein Aktverloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines Tages

– niemand erwartet es – nimmt irgendein Richter denAkt aufmerksamer in die Hand, erkennt daß in diesemFall die Anklage noch lebendig ist und ordnet die sofor-tige Verhaung an. Ich habe hier angenommen, daßzwischen dem scheinbaren Freispruch und der neuenVerhaung eine lange Zeit vergeht, das ist möglich undich weiß von solchen Fällen, es ist aber ebensogut mög-lich, daß der Freigesprochene vom Gericht nachhausekommt und dort schon Beauragte warten, um ihnwieder zu verhaen. Dann ist natürlich das freie Lebenzuende.“ „Und der Proceß beginnt von neuem?“ fragte

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K. fast ungläubig. „Allerdings“, sagte der Maler, „derProceß beginnt von neuem, es besteht aber wieder dieMöglichkeit ebenso wie früher, einen scheinbaren Frei-spruch zu erwirken. Man muß wieder alle Kräe zusam-mennehmen und darf sich nicht ergeben.“ Das Letzteresagte der Maler vielleicht unter dem Eindruck, den K.,der ein wenig zusammengesunken war, auf ihn machte.

„Ist aber“, fragte K. als wolle er jetzt irgendwelchenEnthüllungen des Malers zuvorkommen, „die Erwir-kung eines zweiten Freispruches nicht schwieriger alsdie des ersten?“ „Man kann“, antwortete der Maler, „indieser Hinsicht nichts Bestimmtes sagen. Sie meinenwohl daß die Richter durch die zweite Verhaung inihrem Urteil zu Ungunsten des Angeklagten beeinflußtwerden? Das ist nicht der Fall. Die Richter haben jaschon beim Freispruch diese Verhaung vorhergesehn.Dieser Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber kannaus zahllosen sonstigen Gründen die Stimmung derRichter sowie ihre rechtliche Beurteilung des Falles eineandere geworden sein und die Bemühungen um denzweiten Freispruch müssen daher den veränderten Um-ständen angepaßt werden und im allgemeinen ebensokräig sein wie die vor dem ersten Freispruch.“ „Aberdieser zweite Freispruch ist doch wieder nicht endgil-tig“, sagte K. und drehte abweisend den Kopf. „Natür-lich nicht“, sagte der Maler, „dem zweiten Freispruchfolgt die dritte Verhaung, dem dritten Freispruch die

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vierte Verhaung und so fort. Das liegt schon im Begriffdes scheinbaren Freispruchs.“ K. schwieg. „Der schein-bare Freispruch scheint Ihnen offenbar nicht vorteilhazu sein“, sagte der Maler, „vielleicht entspricht Ihnen dieVerschleppung besser. Soll ich Ihnen das Wesen derVerschleppung erklären?“ K. nickte. Der Maler hattesich breit in seinem Sessel zurückgelehnt, das Nacht-hemd war weit offen, er hatte eine Hand daruntergeschoben, mit der er über die Brust und die Seitenstrich. „Die Verschleppung“, sagte der Maler und saheinen Augenblick vor sich hin, als suche er eine vollstän-dig zutreffende Erklärung, „die Verschleppung bestehtdarin, daß der Proceß dauernd im niedrigsten Proceßsta-dium erhalten wird. Um dies zu erreichen ist es nötig,daß der Angeklagte und der Helfer, insbesondere aberder Helfer in ununterbrochener persönlicher Fühlungmit dem Gerichte bleibt. Ich wiederhole, es ist hiefürkein solcher Kraaufwand nötig wie bei der Erreichungeines scheinbaren Freispruchs, wohl aber ist eine vielgrößere Aufmerksamkeit nötig. Man darf den Proceßnicht aus dem Auge verlieren, man muß zu dem betref-fenden Richter in regelmäßigen Zwischenräumen undaußerdem bei besondern Gelegenheiten gehn und ihnauf jede Weise sich freundlich zu erhalten suchen; istman mit dem Richter nicht persönlich bekannt, so mußman durch bekannte Richter ihn beeinflussen lassen,ohne daß man etwa deshalb die unmittelbaren Bespre-

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chungen aufgeben düre. Versäumt man in dieser Hin-sicht nichts, so kann man mit genügender Bestimmtheitannehmen, daß der Proceß über sein erstes Stadiumnicht hinauskommt. Der Proceß hört zwar nicht auf,aber der Angeklagte ist vor einer Verurteilung fastebenso gesichert, wie wenn er frei wäre. Gegenüber demscheinbaren Freispruch hat die Verschleppung den Vor-teil, daß die Zukun des Angeklagten weniger unbe-stimmt ist, er bleibt vor dem Schrecken der plötzlichenVerhaungen bewahrt und muß nicht fürchten, etwagerade zu Zeiten, wo seine sonstigen Umstände dafüram wenigsten günstig sind, die Anstrengungen und Auf-regungen auf sich nehmen zu müssen, welche mit derErreichung des scheinbaren Freispruchs verbunden sind.Allerdings hat auch die Verschleppung für den Ange-klagten gewisse Nachteile die man nicht unterschätzendarf. Ich denke hiebei nicht daran, daß hier der Ange-klagte niemals frei ist, das ist er ja auch bei der scheinba-ren Freisprechung im eigentlichen Sinne nicht. Es ist einanderer Nachteil. Der Proceß kann nicht stillstehn, ohnedaß wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Esmuß deshalb im Proceß nach außen hin etwas geschehn.Es müssen also von Zeit zu Zeit verschiedene Anord-nungen getroffen werden, der Angeklagte muß verhörtwerden, Untersuchungen müssen stattfinden u. s. w. DerProceß muß eben immerfort in dem kleinen Kreis, aufden er künstlich eingeschränkt worden ist, gedreht wer-

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den. Das bringt natürlich gewisse Unannehmlichkeitenfür den Angeklagten mit sich, die Sie sich aber wiederumnicht zu schlimm vorstellen dürfen. Es ist ja alles nuräußerlich, die Verhöre beispielsweise sind also nur ganzkurz, wenn man einmal keine Zeit oder keine Lust hathinzugehn, darf man sich entschuldigen, man kann sogarbei gewissen Richtern die Anordnungen für eine langeZeit im voraus gemeinsam festsetzen, es handelt sich imWesen nur darum, daß man, da man Angeklagter ist, vonZeit zu Zeit bei seinem Richter sich meldet.“ Schonwährend der letzten Worte hatte K. den Rock über denArm gelegt und war aufgestanden. „Er steht schon auf“,rief es sofort draußen vor der Tür. „Sie wollen schonfortgehn?“ fragte der Maler, der auch aufgestanden war.

„Es ist gewiß die Lu, die Sie von hier vertreibt. Es istmir sehr peinlich. Ich hätte Ihnen auch noch manches zusagen. Ich mußte mich ganz kurz fassen. Ich hoffe aberverständlich gewesen zu sein.“ „Oja“, sagte K., dem vonder Anstrengung mit der er sich zum Zuhören gezwun-gen hatte der Kopf schmerzte. Trotz dieser Bestätigungsagte der Maler alles nocheinmal zusammenfassend, alswolle er K. auf den Heimweg einen Trost mitgeben:

„Beide Metoden haben das Gemeinsame, daß sie eineVerurteilung des Angeklagten verhindern.“ „Sie verhin-dern aber auch die wirkliche Freisprechung“, sagte K.leise, als schäme er sich das erkannt zu haben. „Sie habenden Kern der Sache erfaßt“, sagte der Maler schnell. K.

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legte die Hand auf seinen Winterrock, konnte sich abernicht einmal entschließen, den Rock anzuziehn. Amliebsten hätte er alles zusammengepackt und wäre damitan die frische Lu gelaufen. Auch die Mädchen konntenihn nicht dazu bewegen sich anzuziehn, trotzdem sieverfrüht schon einander zuriefen, daß er sich anziehe.Dem Maler lag daran K.’s Stimmung irgendwie zu deu-ten, er sagte deshalb: „Sie haben sich wohl hinsichtlichmeiner Vorschläge noch nicht entschieden. Ich billigedas. Ich hätte Ihnen sogar davon abgeraten sich sofort zuentscheiden. Die Vorteile und Nachteile sind haarfein.Man muß alles genau abschätzen. Allerdings darf manauch nicht zuviel Zeit verlieren.“ „Ich werde bald wie-derkommen“, sagte K., der in einem plötzlichen Ent-schluß den Rock anzog, den Mantel über die Schulterwarf und zur Tür eilte, hinter der jetzt die Mädchen zuschreien anfiengen. K. glaubte die schreienden Mädchendurch die Tür zu sehn. „Sie müssen aber Wort halten“,sagte der Maler, der ihm nicht gefolgt war, „sonstkomme ich in die Bank, um selbst nachzufragen.“ „Sper-ren Sie doch die Tür auf“, sagte K. und riß an der Klinke,die die Mädchen, wie er an dem Gegendruck merkte,draußen festhielten. „Wollen Sie von den Mädchen belä-stigt werden?“ fragte der Maler. „Benützen Sie dochlieber diesen Ausgang“, und er zeigte auf die Tür hinterdem Bett. K. war damit einverstanden und sprang zumBett zurück. Aber statt die Tür dort zu öffnen, kroch der

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Maler unter das Bett und fragte von unten: „Nur nocheinen Augenblick. Wollen Sie nicht noch ein Bild sehn,das ich Ihnen verkaufen könnte?“ K. wollte nicht unhöf-lich sein, der Maler hatte sich wirklich seiner angenom-men und versprochen ihm weiterhin zu helfen, auch warinfolge der Vergeßlichkeit K.’s über die Entlohnung fürdie Hilfe noch gar nicht gesprochen worden, deshalbkonnte ihn K. jetzt nicht abweisen und ließ sich das Bildzeigen, wenn er auch vor Ungeduld zitterte, aus demAtelier wegzukommen. Der Maler zog unter dem Betteinen Haufen ungerahmter Bilder hervor, die so mitStaub bedeckt waren, daß dieser, als ihn der Maler vomobersten Bild wegzublasen suchte, längere Zeit atemrau-bend K. vor den Augen wirbelte. „Eine Heideland-scha“, sagte der Maler und reichte K. das Bild. Esstellte zwei schwache Bäume dar, die weit von einanderentfernt im dunklen Gras standen. Im Hintergrund warein vielfarbiger Sonnenuntergang. „Schön“, sagte K.,

„ich kaufe es.“ K. hatte unbedacht sich so kurz geäußert,er war daher froh, als der Maler statt dies übel zunehmen, ein zweites Bild vom Boden auob. „Hier istein Gegenstück zu diesem Bild“, sagte der Maler. Esmochte als Gegenstück beabsichtigt sein, es war abernicht der geringste Unterschied gegenüber dem erstenBild zu merken, hier waren die Bäume, hier das. Grasund dort der Sonnenuntergang. Aber K. lag wenigdaran. „Es sind schöne Landschaen“, sagte er, „ich

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kaufe beide und werde sie in meinem Bureau auän-gen.“ „Das Motiv scheint Ihnen zu gefallen“, sagte derMaler und holte ein drittes Bild herauf, „es tri sichgut, daß ich noch ein ähnliches Bild hier habe.“ Es waraber nicht ähnlich, es war vielmehr die völlig gleiche alteHeidelandscha. Der Maler nützte diese Gelegenheitalte Bilder zu verkaufen, gut aus. „Ich nehme auch diesesnoch“, sagte K. „Wieviel kosten die drei Bilder?“ „Dar-über werden wir nächstens sprechen“, sagte der Maler,

„Sie haben jetzt Eile und wir bleiben doch in Verbin-dung. Im übrigen freut es mich, daß Ihnen die Bildergefallen, ich werde Ihnen alle Bilder mitgeben, die ichhier unten habe. Es sind lauter Heidelandschaen, ichhabe schon viele Heidelandschaen gemalt. MancheLeute weisen solche Bilder ab, weil sie zu düster sind,andere aber, und Sie gehören zu ihnen, lieben gerade dasDüstere.“ Aber K. hatte jetzt keinen Sinn für die berufli-chen Erfahrungen des Bettelmalers. „Packen Sie alleBilder ein“, rief er, dem Maler in die Rede fallend,

„morgen kommt mein Diener und wird sie holen.“ „Esist nicht nötig“, sagte der Maler. „Ich hoffe ich werdeIhnen einen Träger verschaffen können, der gleich mitIhnen gehn wird.“ Und er beugte sich endlich über dasBett und sperrte die Tür auf. „Steigen Sie ohne Scheu aufdas Bett“, sagte der Maler, „das tut jeder der hier herein-kommt.“ K. hätte auch ohne diese Aufforderung keineRücksicht genommen, er hatte sogar schon einen Fuß

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mitten auf das Federbett gesetzt, da sah er durch dieoffene Tür hinaus und zog den Fuß wieder zurück. „Wasist das?“ fragte er den Maler. „Worüber staunen Sie?“fragte dieser, seinerseits staunend. „Es sind die Gerichts-kanzleien. Wußten Sie nicht, daß hier Gerichtskanzleiensind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dach-boden, warum sollten sie gerade hier fehlen? Auch meinAtelier gehört eigentlich zu den Gerichtskanzleien, dasGericht hat es mir aber zur Verfügung gestellt.“ K. er-schrak nicht so sehr darüber, daß er auch hier Gerichts-kanzleien gefunden hatte, er erschrak hauptsächlichüber sich, über seine Unwissenheit in Gerichtssachen.Als eine Grundregel für das Verhalten eines Angeklagtenerschien es ihm, immer vorbereitet zu sein, sich niemalsüberraschen zu lassen, nicht ahnungslos nach rechts zuschauen, wenn links der Richter neben ihm stand – undgerade gegen diese Grundregel verstieß er immer wieder.Vor ihm dehnte sich ein langer Gang, aus dem eine Luwehte, mit der verglichen die Lu im Atelier erfrischendwar. Bänke waren zu beiden Seiten des Ganges aufge-stellt, genau so wie im Wartezimmer der Kanzlei, die fürK. zuständig war. Es schienen genaue Vorschrien fürdie Einrichtung von Kanzleien zu bestehn. Augenblick-lich war der Parteienverkehr hier nicht sehr groß. EinMann saß dort halb liegend, das Gesicht hatte er auf derBank in seine Arme vergraben und schien zu schlafen;ein anderer stand im Halbdunkel am Ende des Ganges.

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K. stieg nun über das Bett, der Maler folgte ihm mit denBildern. Sie trafen bald einen Gerichtsdiener – K. er-kannte jetzt schon alle Gerichtsdiener an dem Gold-knopf, den diese an ihrem Civilanzug unter den ge-wöhnlichen Knöpfen hatten – und der Maler gab ihm denAurag, K. mit den Bildern zu begleiten. K. wanktemehr als er gieng, das Taschentuch hielt er an den Mundgedrückt. Sie waren schon nahe dem Ausgang, da stürm-ten ihnen die Mädchen entgegen, die also K. auch nichterspart geblieben waren. Sie hatten offenbar gesehn,daß die zweite Tür des Ateliers geöffnet worden war undhatten den Umweg gemacht, um von dieser Seite einzu-dringen. „Ich kann Sie nicht mehr begleiten“, rief derMaler lachend unter dem Andrang der Mädchen. „AufWiedersehn! Und überlegen Sie nicht zu lange!“ K. sahsich nicht einmal nach ihm um. Auf der Gasse nahm erden ersten Wagen, der ihm in den Weg kam. Es lag ihmviel daran, den Diener loszuwerden, dessen Goldknopfihm unauörlich in die Augen stach, wenn er auch sonstwahrscheinlich niemandem auffiel. In seiner Dienstfer-tigkeit wollte sich der Diener noch auf den Kutschbocksetzen, K. jagte ihn aber herunter. Mittag war schonlängst vorüber, als K. vor der Bank ankam. Er hätte gerndie Bilder im Wagen gelassen, fürchtete aber, bei irgend-einer Gelegenheit genötigt zu werden, sich dem Malergegenüber mit ihnen auszuweisen. Er ließ sie daher insein Bureau schaffen und versperrte sie in die unterste

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Lade seines Tisches, um sie wenigstens für die allernäch-sten Tage vor den Blicken des Direktor-Stellvertreters inSicherheit zu bringen.

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Kaufmann Block Kündigung des Advokaten

Endlich hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokatenseine Vertretung zu entziehn. Zweifel daran, ob es rich-tig war, so zu handeln, waren zwar nicht auszurotten,aber die Überzeugung von der Notwendigkeit dessenüberwog. Die Entschließung hatte K. an dem Tage andem er zum Advokaten gehen wollte, viel Arbeitskraentzogen, er arbeitete besonders langsam, er mußte sehrlange im Bureau bleiben und es war schon zehn Uhrvorüber, als er endlich vor der Tür des Advokaten stand.Noch ehe er läutete überlegte er, ob es nicht besser wäre,dem Advokaten telephonisch oder brieflich zu kündi-gen, die persönliche Unterredung würde gewiß sehrpeinlich werden. Trotzdem wollte K. schließlich auf sienicht verzichten, bei jeder andern Art der Kündigungwürde diese stillschweigend oder mit ein paar förmli-chen Worten angenommen werden und K. würde, wennnicht etwa Leni einiges erforschen könnte, niemals er-fahren, wie der Advokat die Kündigung aufgenommenhatte und was für Folgen für K. diese Kündigung nachder nicht unwichtigen Meinung des Advokaten habenkönnte. Saß aber der Advokat K. gegenüber und wurde

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er von der Kündigung überrascht, so würde K., selbstwenn der Advokat sich nicht viel entlocken ließ, ausseinem Gesicht und seinem Benehmen alles was erwollte, leicht entnehmen können. Es war sogar nichtausgeschlossen, daß er überzeugt wurde, daß es doch gutwäre, dem Advokaten die Verteidigung zu überlassenund daß er dann seine Kündigung zurückzog. Das erste Läuten an der Tür des Advokaten war, wiegewöhnlich, zwecklos. „Leni könnte flinker sein“,dachte K. Aber es war schon ein Vorteil, wenn sich nichtdie andere Partei einmischte, wie sie es gewöhnlich tat,sei es daß der Mann im Schlafrock oder sonst jemand zubelästigen anfieng. Während K. zum zweitenmal denKnopf drückte, sah er nach der andern Tür zurück,diesmal aber blieb auch sie geschlossen. Endlich erschie-nen an dem Guckfenster der Tür des Advokaten zweiAugen, es waren aber nicht Leni’s Augen. Jemandschloß die Tür auf, stemmte sich aber noch vorläufiggegen sie, rief in die Wohnung zurück „Er ist es“, undöffnete erst dann vollständig. K. hatte gegen die Türgedrängt, denn schon hörte er wie hinter ihm in der Türder andern Wohnung der Schlüssel hastig im Schloßgedreht wurde. Als sich daher die Tür vor ihm endlichöffnete, stürmte er geradezu ins Vorzimmer und sahnoch, wie durch den Gang, der zwischen den Zimmernhindurchführte, Leni, welcher der Warnungsruf des Tür-öffners gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte

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ihr ein Weilchen nach und sah sich dann nach demTüröffner um. Es war ein kleiner dürrer Mann mitVollbart, er hielt eine Kerze in der Hand. „Sie sind hierangestellt?“ fragte K. „Nein“, antwortete der Mann,

„ich bin hier fremd, der Advokat ist nur mein Vertreter,ich bin hier wegen einer Rechtsangelegenheit.“ „OhneRock?“ fragte K. und zeigte mit einer Handbewegungauf die mangelhae Bekleidung des Mannes. „Ach ver-zeihen Sie“, sagte der Mann und beleuchtete sich selbstmit der Kerze, als sähe er selbst zum ersten Mal seinenZustand. „Leni ist Ihre Geliebte?“ fragte K. kurz. Erhatte die Beine ein wenig gespreizt, die Hände in denener den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon durch denBesitz eines starken Überrocks fühlte er sich dem ma-gern Kleinen sehr überlegen. „Oh Gott“, sagte der undhob die eine Hand in erschrockener Abwehr vor dasGesicht, „nein, nein, was denken Sie denn?“ „Sie sehnglaubwürdig aus“, sagte K. lächelnd, „trotzdem – kom-men Sie.“ Er winkte ihm mit dem Hut und ließ ihn vorsich gehn. „Wie heißen Sie denn?“ fragte K. auf demWeg. „Block, Kaufmann Block“, sagte der Kleine unddrehte sich bei dieser Vorstellung nach K. um, stehenbleiben ließ ihn aber K. nicht. „Ist das Ihr wirklicherName?“ fragte K. „Gewiß“, war die Antwort, „warumhaben Sie denn Zweifel?“ „Ich dachte Sie könntenGrund haben Ihren Namen zu verschweigen“, sagte K.Er fühlte sich so frei, wie man es sonst nur ist, wenn man

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in der Fremde mit niedrigen Leuten spricht, alles waseinen selbst betri, bei sich behält, nur gleichmütig vonden Interessen der andern redet, sie dadurch vor sichselbst erhöht aber auch nach Belieben fallen lassen kann.Bei der Tür des Arbeitszimmers des Advokaten blieb K.stehn, öffnete sie und rief dem Kaufmann, der folgsamweiter gegangen war, zu: „Nicht so eilig! Leuchten Siehier.“ K. dachte, Leni könnte sich hier versteckt haben,er ließ den Kaufmann alle Winkel absuchen, aber dasZimmer war leer. Vor dem Bild des Richters hielt K. denKaufmann hinten an den Hosenträgern zurück. „Ken-nen Sie den“, fragte er und zeigte mit dem Zeigefinger indie Höhe. Der Kaufmann hob die Kerze, sah blinzelndhinauf und sagte: „Es ist ein Richter.“ „Ein hoher Rich-ter?“ fragte K. und stellte sich seitlich vor den Kauf-mann, um den Eindruck, den das Bild auf ihn machte, zubeobachten. Der Kaufmann sah bewundernd aufwärts.

„Es ist ein hoher Richter“, sagte er. „Sie haben keinengroßen Einblick“, sagte K. „Unter den niedrigen Unter-suchungsrichtern ist er der niedrigste.“ „Nun erinnereich mich“, sagte der Kaufmann und senkte die Kerze,

„ich habe es auch schon gehört.“ „Aber natürlich“, riefK., „ich vergaß ja, natürlich müssen Sie es schon gehörthaben.“ „Aber warum denn, warum denn?“ fragte derKaufmann, während er sich von K. mit den Händenangetrieben zur Tür fortbewegte. Draußen auf demGang sagte K.: „Sie wissen doch, wo sich Leni versteckt

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hat?“ „Versteckt?“ sagte der Kaufmann, „nein, sie düreaber in der Küche sein und dem Advokaten eine Suppekochen.“ „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“fragte K. „Ich wollte Sie ja hinführen, Sie haben michaber wieder zurückgerufen“, antwortete der Kaufmann,wie verwirrt durch die widersprechenden Befehle. „Sieglauben wohl sehr schlau zu sein“, sagte K., „führen Siemich also!“ In der Küche war K. noch nie gewesen, siewar überraschend groß und reich ausgestattet. Allein derHerd war dreimal so groß wie gewöhnliche Herde, vondem übrigen sah man keine Einzelheiten, denn die Kü-che wurde jetzt nur von einer kleinen Lampe beleuchtet,die beim Eingang hieng. Am Herd stand Leni in weißerSchürze wie immer und leerte Eier in einen Topf aus, derauf einem Spiritusfeuer stand. „Guten Abend Josef“,sagte sie mit einem Seitenblick. „Guten Abend“, sagteK. und zeigte mit einer Hand auf einen abseits stehendenSessel, auf den sich der Kaufmann setzen sollte, wasdieser auch tat. K. aber gieng ganz nahe hinter Leni,beugte sich über ihre Schulter und fragte: „Wer ist derMann?“ Leni umfaßte K. mit einer Hand, die anderequirlte die Suppe, zog ihn nach vorn zu sich und sagte:

„Es ist ein bedauernswerter Mensch, ein armer Kauf-mann, ein gewisser Block. Sieh ihn nur an.“ Sie blicktenbeide zurück. Der Kaufmann saß auf dem Sessel, auf denihn K. gewiesen hatte, er hatte die Kerze, deren Lichtjetzt unnötig war ausgepustet und drückte mit den

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Fingern den Docht, um den Rauch zu verhindern. „Duwarst im Hemd“, sagte K. und wendete ihren Kopf mitder Hand wieder dem Herd zu. Sie schwieg. „Er ist DeinGeliebter?“ fragte K. Sie wollte nach dem Suppentopfgreifen, aber K. nahm ihre beiden Hände und sagte:

„Nun antworte!“ Sie sagte: „Komm ins Arbeitszimmer,ich werde Dir alles erklären.“ „Nein“, sagte K., „ich willdaß Du es hier erklärst.“ Sie hieng sich an ihn und wollteihn küssen, K. wehrte sie aber ab und sagte: „Ich willnicht, daß Du mich jetzt küßt.“ „Josef“, sagte Leni undsah K. bittend und doch offen in die Augen, „Du wirstdoch nicht auf Herrn Block eifersüchtig sein.“ „Rudi“,sagte sie dann sich an den Kaufmann wendend, „so hilfmir doch, Du siehst ich werde verdächtigt, laß dieKerze.“ Man hätte denken können, er hätte nicht acht-gegeben, aber er war vollständig eingeweiht. „Ich wüßteauch nicht, warum Sie eifersüchtig sein sollten“, sagte erwenig schlagfertig. „Ich weiß es eigentlich auch nicht“,sagte K. und sah den Kaufmann lächelnd an. Leni lachtelaut, benützte die Unaufmerksamkeit K.’s, um sich inseinen Arm einzuhängen und flüsterte: „Laß ihn jetzt,Du siehst ja was für ein Mensch er ist. Ich habe michseiner ein wenig angenommen, weil er eine große Kund-scha des Advokaten ist, aus keinem andern Grund.Und Du? Willst Du noch heute mit dem Advokatensprechen? Er ist heute sehr krank, aber wenn Du willst,melde ich Dich doch an. Über Nacht bleibst Du aber bei

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mir, ganz gewiß. Du warst auch schon solange nicht beiuns, selbst der Advokat hat nach Dir gefragt. Vernach-lässige den Proceß nicht! Auch ich habe Dir verschiede-nes mitzuteilen, was ich erfahren habe. Nun aber ziehfürs erste Deinen Mantel aus!“ Sie half ihm ihn ausziehn,nahm ihm den Hut ab, lief mit den Sachen ins Vorzim-mer sie anzuhängen, lief dann wieder zurück und sahnach der Suppe. „Soll ich zuerst Dich anmelden oderihm zuerst die Suppe bringen?“ „Melde mich zuerst an“,sagte K. Er war ärgerlich, er hatte ursprünglich beab-sichtigt, mit Leni seine Angelegenheit insbesondere diefragliche Kündigung genau zu besprechen, die Anwe-senheit des Kaufmanns hatte ihm aber die Lust dazugenommen. Jetzt aber hielt er seine Sache doch für zuwichtig, als daß dieser kleine Kaufmann vielleicht ent-scheidend eingreifen sollte und so rief er Lern, die schonauf dem Gang war, wieder zurück. „Bring ihm dochzuerst die Suppe“, sagte er, „er soll sich für die Unter-redung mit mir stärken, er wird es nötig haben.“ „Siesind auch ein Klient des Advokaten“, sagte wie zur Fest-stellung der Kaufmann leise aus seiner Ecke. Es wurdeaber nicht gut aufgenommen. „Was kümmert Sie denndas?“ sagte K. und Leni sagte: „Wirst Du still sein.“

„Dann bringe ich ihm also zuerst die Suppe“, sagte Lenizu K. und goß die Suppe auf einen Teller. „Es ist dannnur zu befürchten, daß er bald einschlä, nach demEssen schlä er bald ein.“ „Das was ich ihm sagen

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werde, wird ihn wacherhalten“, sagte K., er wollte im-merfort durchblicken lassen, daß er etwas Wichtiges mitdem Advokaten zu verhandeln beabsichtige, er wolltevon Leni gefragt werden, was es sei, und dann erst sieum Rat fragen. Aber sie erfüllte pünktlich bloß dieausgesprochenen Befehle. Als sie mit der Tasse an ihmvorübergieng, stieß sie absichtlich san an ihn undflüsterte: „Bis er die Suppe gegessen hat, melde ich Dichgleich an, damit ich Dich möglichst bald wieder be-komme.“ „Geh nur“, sagte K., „geh nur.“ „Sei dochfreundlicher“, sagte sie und drehte sich in der Tür mitder Tasse nochmals ganz um. K. sah ihr nach; nun war es endgiltig beschlossen, daßder Advokat entlassen würde, es war wohl auch besser,daß er vorher mit Leni nicht mehr darüber sprechenkonnte; sie hatte kaum den genügenden Überblick überdas Ganze, hätte gewiß abgeraten, hätte möglicherweiseK. auch wirklich von der Kündigung diesmal abgehal-ten, er wäre weiterhin in Zweifel und Unruhe gebliebenund schließlich hätte er nach einiger Zeit seinen Ent-schluß doch ausgeführt, denn dieser Entschluß war allzuzwingend. Je früher er aber ausgeführt wurde, destomehr Schaden wurde abgehalten. Vielleicht wußte übri-gens der Kaufmann etwas darüber zu sagen. K. wandte sich um, kaum bemerkte das der Kaufmannals er sofort aufstehen wollte. „Bleiben Sie sitzen“, sagteK. und zog einen Sessel neben ihn. „Sind Sie schon ein

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alter Klient des Advokaten?“ fragte K. „Ja“, sagte derKaufmann, „ein sehr alter Klient.“ „Wie viel Jahre ver-tritt er Sie denn schon?“ fragte K. „Ich weiß nicht, wieSie es meinen“, sagte der Kaufmann, „in geschälichenRechtsangelegenheiten – ich habe ein Getreidegeschä –vertritt mich der Advokat schon seitdem ich das Ge-schä übernommen habe, also etwa seit zwanzig Jahren,in meinem eigenen Proceß, auf den Sie wahrscheinlichanspielen, vertritt er mich auch seit Beginn, es ist schonlanger als fünf Jahre.“ „Ja, weit über fünf Jahre“, fügte erdann hinzu und zog eine alte Brieasche hervor, „hierhabe ich alles aufgeschrieben, wenn Sie wollen sage ichIhnen die genauen Daten. Es ist schwer alles zu behal-ten. Mein Proceß dauert wahrscheinlich schon viel län-ger, er begann kurz nach dem Tod meiner Frau und dasist schon länger als fünfeinhalb Jahre.“ K. rückte näherzu ihm. „Der Advokat übernimmt also auch gewöhn-liche Rechtssachen?“ fragte er. Diese Verbindung derGerichte und Rechtswissenschaen schien K. ungemeinberuhigend. „Gewiß“, sagte der Kaufmann und flüstertedann K. zu: „Man sagt sogar daß er in diesen Rechtssa-chen tüchtiger ist als in den andern.“ Aber dann schiener das Gesagte zu bereuen, er legte K. eine Hand auf dieSchulter und sagte: „Ich bitte Sie sehr, verraten Sie michnicht.“ K. klope ihm zur Beruhigung auf den Schenkelund sagte: „Nein, ich bin kein Verräter.“ „Er ist nämlichrachsüchtig“, sagte der Kaufmann. „Gegen einen so

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treuen Klienten wird er gewiß nichts tun“, sagte K. „Ohdoch“, sagte der Kaufmann, „wenn er aufgeregt istkennt er keine Unterschiede, übrigens bin ich ihm nichteigentlich treu.“ „Wieso denn nicht?“ fragte K. „Soll iches Ihnen anvertrauen“, fragte der Kaufmann zweifelnd.

„Ich denke, Sie dürfen es“, sagte K. „Nun“, sagte derKaufmann, „ich werde es Ihnen zum Teil anvertrauen,Sie müssen mir aber auch ein Geheimnis sagen, damitwir uns gegenüber dem Advokaten gegenseitig festhal-ten.“ „Sie sind sehr vorsichtig“, sagte K., „aber ichwerde Ihnen ein Geheimnis sagen, das Sie vollständigberuhigen wird. Worin besteht also Ihre Untreue gegen-über dem Advokaten?“ „Ich habe“, sagte der Kaufmannzögernd und in einem Ton, als gestehe er etwas Uneh-renhaes ein, „ich habe außer ihm noch andere Advoka-ten.“ „Das ist doch nichts so schlimmes“, sagte K. einwenig enttäuscht. „Hier ja“, sagte der Kaufmann, dernoch seit seinem Geständnis schwer atmete, infolge K.’sBemerkung aber mehr Vertrauen faßte. „Es ist nichterlaubt. Und am allerwenigsten ist es erlaubt, nebeneinem sogenannten Advokaten auch noch Winkeladvo-katen zu nehmen. Und gerade das habe ich getan, ichhabe außer ihm noch fünf Winkeladvokaten.“ „Fünf!“rief K., erst die Zahl setzte ihn in Erstaunen, „fünfAdvokaten außer diesem?“ Der Kaufmann nickte: „Ichverhandle gerade noch mit einem sechsten.“ „Aber wozubrauchen Sie denn soviel Advokaten“, fragte K. „Ich

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brauche alle“, sagte der Kaufmann. „Wollen Sie mir dasnicht erklären?“ fragte K. „Gern“, sagte der Kaufmann.

„Vor allem will ich doch meinen Proceß nicht verlieren,das ist doch selbstverständlich. Infolgedessen darf ichnichts, was mir nützen könnte, außer acht lassen; selbstwenn die Hoffnung auf Nutzen in einem bestimmtenFall nur ganz gering ist, darf ich sie auch nicht verwer-fen. Ich habe deshalb alles was ich besitze auf denProceß verwendet. So habe ich z. B. alles Geld meinemGeschä entzogen, früher füllten die Bureauräume mei-nes Geschäes fast ein Stockwerk, heute genügt einekleine Kammer im Hinterhaus, wo ich mit einem Lehr-jungen arbeite. Diesen Rückgang hat natürlich nicht nurdie Entziehung des Geldes verschuldet, sondern mehrnoch die Entziehung meiner Arbeitskra. Wenn man fürseinen Proceß etwas tun will, kann man sich mit ande-rem nur wenig befassen.“ „Sie arbeiten also auch selbstbei Gericht?“ fragte K. „Gerade darüber möchte ichgern etwas erfahren.“ „Darüber kann ich nur wenigberichten“, sagte der Kaufmann, „anfangs habe ich eswohl auch versucht, aber ich habe bald wieder davonabgelassen. Es ist zu erschöpfend und bringt nicht vielErfolg. Selbst dort zu arbeiten und zu unterhandeln, hatsich wenigstens für mich als ganz unmöglich erwiesen.Es ist ja dort schon das bloße Sitzen und Warten einegroße Anstrengung. Sie kennen ja selbst die schwereLu in den Kanzleien.“ „Wieso wissen Sie denn, daß ich

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dort war?“ fragte K. „Ich war gerade im Wartezimmer,als Sie durchgiengen.“ „Was für ein Zufall das ist!“ rief K.ganz hingenommen und ganz an die frühere Lächerlich-keit des Kaufmanns vergessend, „Sie haben mich alsogesehn! Sie waren im Wartezimmer, als ich durchgieng.Ja ich bin dort einmal durchgegangen.“ „Es ist kein sogroßer Zufall“, sagte der Kaufmann, „ich bin dort fastjeden Tag.“ „Ich werde nun wahrscheinlich auch öershingehn müssen“, sagte K., „nur werde ich wohl kaummehr so ehrenvoll aufgenommen werden wie damals.Alle standen auf. Man dachte wohl, ich sei ein Richter.“„Nein“, sagte der Kaufmann, „wir grüßten damals denGerichtsdiener. Daß Sie ein Angeklagter sind, das wuß-ten wir. Solche Nachrichten verbreiten sich sehr rasch.“

„Das wußten Sie also schon“, sagte K., „dann erschienIhnen aber mein Benehmen vielleicht hochmütig. Sprachman sich nicht darüber aus?“ „Nein“, sagte der Kauf-mann, „im Gegenteil. Aber das sind Dummheiten.“

„Was für Dummheiten denn?“ fragte K. „Warum fragenSie danach?“ sagte der Kaufmann ärgerlich, „Sie schei-nen die Leute dort noch nicht zu kennen und werden esvielleicht unrichtig auffassen. Sie müssen bedenken, daßin diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Spra-che kommen, für die der Verstand nicht mehr ausreicht,man ist einfach zu müde und abgelenkt für vieles undzum Ersatz verlegt man sich auf den Aberglauben. Ichrede von den andern, bin aber selbst gar nicht besser. Ein

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solcher Aberglaube ist es z. B. daß viele aus dem Gesichtdes Angeklagten, insbesondere aus der Zeichnung derLippen den Ausgang des Processes erkennen wollen.Diese Leute also haben behauptet, Sie würden nachIhren Lippen zu schließen, gewiß und bald verurteiltwerden. Ich wiederhole, es ist ein lächerlicher Aber-glaube und in den meisten Fällen durch die Tatsachenauch vollständig widerlegt, aber wenn man in jenerGesellscha lebt, ist es schwer sich solchen Meinungenzu entziehn. Denken Sie nur, wie stark dieser Aber-glaube wirken kann. Sie haben doch einen dort ange-sprochen, nicht? Er konnte Ihnen aber kaum antworten.Es gibt natürlich viele Gründe um dort verwirrt zu sein,aber einer davon war auch der Anblick Ihrer Lippen. Erhat später erzählt, er hätte auf Ihren Lippen auch dasZeichen seiner eigenen Verurteilung zu sehen geglaubt.“

„Meine Lippen?“ fragte K., zog einen Taschenspiegelhervor und sah sich an. „Ich kann an meinen Lippennichts besonderes erkennen. Und Sie?“ „Ich auch nicht“,sagte der Kaufmann, „ganz und gar nicht.“ „Wie aber-gläubisch diese Leute sind“, rief K. aus. „Sagte ich esnicht?“ fragte der Kaufmann. „Verkehren sie denn sovieluntereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus?“sagte K. „Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten.“

„Im allgemeinen verkehren sie nicht miteinander“, sagteder Kaufmann, „das wäre nicht möglich, es sind ja soviele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn

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manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsa-mes Interesse auaucht, so erweist er sich bald als einIrrtum. Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichtsdurchsetzen. Jeder Fall wird für sich untersucht, es ist jadas sorgfältigste Gericht. Gemeinsam kann man alsonichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmaletwas im Geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren esdie andern; keiner weiß wie es geschehen ist. Es gibt alsokeine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da inden Wartezimmern zusammen, aber dort wird wenigbesprochen. Die abergläubischen Meinungen bestehenschon seit altersher und vermehren sich förmlich vonselbst.“ „Ich sah die Herren dort im Wartezimmer“,sagte K., „ihr Warten kam mir so nutzlos vor.“ „DasWarten ist nicht nutzlos“, sagte der Kaufmann, „nutzlosist nur das selbstständige Eingreifen. Ich sagte schon,daß ich jetzt außer diesem noch fünf Advokaten habe.Man sollte doch glauben – ich selbst glaubte es zuerst –jetzt könnte ich ihnen die Sache vollständig überlassen.Das wäre aber ganz falsch. Ich kann sie ihnen wenigerüberlassen, als wenn ich nur einen hätte. Sie verstehn daswohl nicht?“ „Nein“, sagte K. und legte, um den Kauf-mann an seinem allzu schnellen Reden zu hindern, dieHand beruhigend auf seine Hand, „ich möchte Sie nurbitten, ein wenig langsamer zu reden, es sind doch lauterfür mich sehr wichtige Dinge und ich kann Ihnen nichtrecht folgen.“ „Gut daß Sie mich daran erinnern“, sagte

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der Kaufmann, „Sie sind ja ein Neuer, ein Junger. IhrProceß ist ein halbes Jahr alt, nicht wahr? Ja ich habedavon gehört. Ein so junger Proceß! Ich aber habe dieseDinge schon unzähligemal durchgedacht, sie sind mirdas Selbstverständlichste auf der Welt.“ „Sie sind wohlfroh, daß Ihr Proceß schon so weit fortgeschritten ist?“fragte K., er wollte nicht geradezu fragen, wie die Ange-legenheiten des Kaufmanns stünden. Er bekam aberauch keine deutliche Antwort. „Ja, ich habe meinenProceß fünf Jahre lang fortgewälzt“, sagte der Kaufmannund senkte den Kopf, „es ist keine kleine Leistung.“Dann schwieg er ein Weilchen. K. horchte, ob Leni nichtschon komme. Einerseits wollte er nicht daß sie komme,denn er hatte noch vieles zu fragen und wollte auch nichtvon Leni in diesem vertraulichen Gespräch mit demKaufmann angetroffen werden, andererseits aber ärgerteer sich darüber, daß sie trotz seiner Anwesenheit solangebeim Advokaten blieb, viel länger als zum Reichen derSuppe nötig war. „Ich erinnere mich noch genau an dieZeit“, begann der Kaufmann wieder und K. war gleichvoll Aufmerksamkeit, „als mein Proceß etwa so alt warwie jetzt Ihr Proceß. Ich hatte damals nur diesen Advo-katen, war aber nicht sehr mit ihm zufrieden.“ „Hiererfahre ich ja alles“, dachte K. und nickte lebha mitdem Kopf als könne er dadurch den Kaufmann aufmun-tern, alles Wissenswerte zu sagen. „Mein Proceß“, fuhrder Kaufmann fort, „kam nicht vorwärts, es fanden zwar

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Untersuchungen statt, ich kam auch zu jeder, sammelteMaterial, erlegte alle meine Geschäsbücher bei Gericht,was wie ich später erfuhr nicht einmal nötig war, ich liefimmer wieder zum Advokaten, er brachte auch verschie-dene Eingaben ein – “ „Verschiedene Eingaben?“ fragteK. „Ja, gewiß“, sagte der Kaufmann. „Das ist mir sehrwichtig“, sagte K., „in meinem Fall arbeitet er nochimmer an der ersten Eingabe. Er hat noch nichts getan.Ich sehe jetzt, er vernachlässigt mich schändlich.“ „Daßdie Eingabe noch nicht fertig ist, kann verschiedeneberechtigte Gründe haben“, sagte der Kaufmann. „Übri-gens hat es sich bei meinen Eingaben später gezeigt, daßsie ganz wertlos waren. Ich habe sogar eine durch dasEntgegenkommen eines Gerichtsbeamten selbst gelesen.Sie war zwar gelehrt, aber eigentlich inhaltslos. Vorallem sehr viel Latein, das ich nicht verstehe, dannseitenlange allgemeine Anrufungen des Gerichtes, dannSchmeicheleien für einzelne bestimmte Beamte, die zwarnicht genannt waren, die aber ein Eingeweihter jeden-falls erraten mußte, dann Selbstlob des Advokaten, wo-bei er sich auf geradezu hündische Weise vor dem Ge-richt demütigte, und endlich Untersuchungen vonRechtsfällen aus alter Zeit, die ähnlich dem meinigensein sollten. Diese Untersuchungen waren allerdings,soweit ich ihnen folgen konnte, sehr sorgfältig gemacht,Ich will auch mit diesem allen kein Urteil über dieArbeit des Advokaten abgeben, auch war die Eingabe,

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die ich gelesen habe, nur eine unter mehreren, jedenfallsaber, und davon will ich jetzt sprechen, konnte ichdamals in meinem Proceß keinen Fortschritt sehn.“ „Wasfür einen Fortschritt wollten Sie denn sehn?“ fragte K.

„Sie fragen ganz vernünig“, sagte der Kaufmann lä-chelnd, „man kann in diesem Verfahren nur selten Fort-schritte sehn. Aber damals wußte ich das nicht. Ich binKaufmann und war es damals noch viel mehr als heute,ich wollte greiare Fortschritte haben, das Ganze solltesich zum Ende neigen oder wenigstens den regelrechtenAufstieg nehmen. Statt dessen gab es nur Einvernahmen,die meist den gleichen Inhalt hatten; die Antwortenhatte ich schon bereit wie eine Litanei; mehrmals in derWoche kamen Gerichtsboten in mein Geschä, in meineWohnung oder wo sie mich sonst antreffen konnten, daswar natürlich störend (heute ist es wenigstens in dieserHinsicht viel besser, der telephonische Anruf stört vielweniger), auch unter meinen Geschäsfreunden insbe-sondere aber unter meinen Verwandten fingen Gerüchtevon meinem Proceß sich zu verbreiten an, Schädigungengab es also von allen Seiten, aber nicht das geringsteAnzeichen sprach dafür, daß auch nur die erste Gerichts-verhandlung in der nächsten Zeit stattfinden würde. Ichging also zum Advokaten und beklagte mich. Er gab mirzwar lange Erklärungen, lehnte es aber entschieden ab,etwas in meinem Sinne zu tun, niemand habe Einfluß aufdie Festsetzung der Verhandlung, in einer Eingabe dar-

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auf zu dringen – wie ich es verlangte – sei einfachunerhört und würde mich und ihn verderben. Ichdachte: Was dieser Advokat nicht will oder kann, wirdein anderer wollen und können. Ich sah mich also nachandern Advokaten um. Ich will es gleich vorwegneh-men: Keiner hat die Festsetzung der Hauptverhandlungverlangt oder durchgesetzt, es ist, allerdings mit einemVorbehalt, von dem ich noch sprechen werde, wirklichunmöglich, hinsichtlich dieses Punktes hat mich alsodieser Advokat nicht getäuscht; im übrigen aber hatteich es nicht zu bedauern, mich noch an andere Advoka-ten gewendet zu haben. Sie düren wohl von Dr. Huldauch schon manches über die Winkeladvokaten gehörthaben, er hat sie Ihnen wahrscheinlich als sehr verächt-lich dargestellt und das sind sie wirklich. Allerdingsunterläu ihm immer, wenn er von ihnen spricht undsich und seine Kollegen zu ihnen in Vergleich setzt, einkleiner Fehler, auf den ich Sie ganz nebenbei auch auf-merksam machen will. Er nennt dann immer die Advo-katen seines Kreises zur Unterscheidung die ,großenAdvokaten‘. Das ist falsch, es kann sich natürlich jeder,groß‘ nennen, wenn es ihm beliebt, in diesem Fall aberentscheidet doch nur der Gerichtsgebrauch. Nach die-sem gibt es nämlich außer den Winkeladvokaten nochkleine und große Advokaten. Dieser Advokat und seineKollegen sind jedoch nur die kleinen Advokaten, diegroßen Advokaten aber, von denen ich nur gehört und

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die ich nie gesehn habe, stehen im Rang unvergleichlichhöher über den kleinen Advokaten, als diese über denverachteten Winkeladvokaten.“ „Die großen Advoka-ten?“ fragte K. „Wer sind denn die? Wie kommt man zuihnen?“ „Sie haben also noch nie von ihnen gehört“,sagte der Kaufmann. „Es gibt kaum einen Angeklagten,der nicht nachdem er von ihnen erfahren hat eine Zeit-lang von ihnen träumen würde. Lassen Sie sich liebernicht dazu verführen. Wer die großen Advokaten sindweiß ich nicht und zu ihnen kommen, kann man wohlgar nicht. Ich kenne keinen Fall, von dem sich mitBestimmtheit sagen ließe, daß sie eingegriffen hätten.Manchen verteidigen sie, aber durch eigenen Willenkann man das nicht erreichen, sie verteidigen nur den,den sie verteidigen wollen. Die Sache deren sie sichannehmen muß aber wohl über das niedrige Gerichtschon hinausgekommen sein. Im übrigen ist es bessernicht an sie zu denken, denn sonst kommen einem dieBesprechungen mit den andern Advokaten, derenRatschläge und deren Hilfeleistungen so widerlich undnutzlos vor, ich habe es selbst erfahren, daß man amliebsten alles wegwerfen, sich zuhause ins Bett legen undvon nichts mehr hören wollte. Das wäre aber natürlichwieder das Dümmste, auch hätte man im Bett nichtlange Ruhe.“ „Sie dachten damals also nicht an diegroßen Advokaten?“ fragte K. „Nicht lange“, sagte derKaufmann und lächelte wieder, „vollständig vergessen

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kann man leider an sie nicht, besonders die Nacht istsolchen Gedanken günstig. Aber damals wollte ich jasofortige Erfolge, ich gieng daher zu den Winkeladvoka-ten.“ „Wie Ihr hier beieinander sitzt“, rief Leni, die mit derTasse zurückgekommen war und in der Tür stehen blieb.Sie saßen wirklich eng beisammen, bei der kleinstenWendung mußten sie mit den Köpfen aneinanderstoßen,der Kaufmann, der abgesehen von seiner Kleinheit auchnoch den Rücken gekrümmt hielt, hatte K. gezwungen,sich auch tief zu bücken, wenn er alles hören wollte.

„Noch ein Weilchen“, rief K. Leni abwehrend zu undzuckte ungeduldig mit der Hand, die er noch immer aufdes Kaufmanns Hand liegen hatte. „Er wollte, daß ichihm von meinem Proceß erzähle“, sagte der Kaufmannzu Leni. „Erzähle nur, erzähle“, sagte diese. Sie sprachmit dem Kaufmann liebevoll, aber doch auch herablas-send, K. gefiel das nicht; wie er jetzt erkannt hatte, hatteder Mann doch einen gewissen Wert, zumindest hatte erErfahrungen, die er gut mitzuteilen verstand. Leni beur-teilte ihn wahrscheinlich unrichtig. Er sah ärgerlich zu,als Leni jetzt dem Kaufmann die Kerze, die er die ganzeZeit über festgehalten hatte, abnahm, ihm die Hand mitihrer Schürze abwischte und dann neben ihm nieder-kniete, um etwas Wachs wegzukratzen, das von derKerze auf seine Hose getrop war. „Sie wollten mir vonden Winkeladvokaten erzählen“, sagte K. und schob

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ohne eine weitere Bemerkung Leni’s Hand weg. „Waswillst Du denn?“ fragte Leni, schlug leicht nach K. undsetzte ihre Arbeit fort. „Ja, von den Winkeladvokaten“,sagte der Kaufmann und fuhr sich über die Stirn, alsdenke er nach. K, wollte ihm nachhelfen und sagte: „Siewollten sofortige Erfolge haben und giengen deshalb zuden Winkeladvokaten.“ „Ganz richtig“, sagte der Kauf-mann, setzte aber nicht fort. „Er will vielleicht vor Leninicht davon sprechen“, dachte K., bezwang seine Unge-duld das Weitere gleich jetzt zu hören und drang nunnicht mehr weiter in ihn. „Hast Du mich angemeldet?“ fragte er Leni. „Natür-lich“, sagte diese, „er wartet auf Dich. Laß jetzt Block,mit Block kannst Du auch später reden, er bleibt dochhier.“ K. zögerte noch. „Sie bleiben hier?“ fragte er denKaufmann, er wollte dessen eigene Antwort, er wolltenicht, daß Leni vom Kaufmann wie von einem Abwe-senden spreche, er war heute gegen Leni voll geheimenÄrgers. Und wieder antwortete nur Leni: „Er schlähier öers.“ „Schlä hier?“ rief K., er hatte gedacht, derKaufmann werde hier nur auf ihn warten, während erdie Unterredung mit dem Advokaten rasch erledigenwürde, dann aber würden sie gemeinsam fortgehn undalles gründlich und ungestört besprechen. „Ja“, sagteLeni, „nicht jeder wird wie Du, Josef, zu beliebigerStunde beim Advokaten vorgelassen. Du scheinst Dichja gar nicht darüber zu wundern, daß Dich der Advokat

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trotz seiner Krankheit noch um elf Uhr nachts emp-fängt. Du nimmst das, was Deine Freunde für Dich tun,doch als gar zu selbstverständlich an. Nun DeineFreunde oder zumindest ich tun es gerne. Ich will keinenandern Dank und brauche auch keinen andern, als daßDu mich lieb hast.“ „Dich lieb haben?“ dachte K. imersten Augenblick, erst dann gieng es ihm durch denKopf: „Nun ja, ich habe sie lieb.“ Trotzdem sagte er,alles andere vernachlässigend: „Er empfängt mich, weilich sein Klient bin. Wenn auch dafür noch fremde Hilfenötig wäre, müßte man bei jedem Schritt immer gleich-zeitig betteln und danken.“ „Wie schlimm er heute ist,nicht?“ fragte Leni den Kaufmann. „Jetzt bin ich derAbwesende“, dachte K. und wurde fast sogar auf denKaufmann böse, als dieser die Unhöflichkeit Leni’s über-nehmend sagte: „Der Advokat empfängt ihn auch nochaus andern Gründen. Sein Fall ist nämlich interessan-ter als der meine. Außerdem aber ist sein Proceß in denAnfängen, also wahrscheinlich noch nicht sehr verfah-ren, da beschäigt sich der Advokat noch gern mit ihm.Später wird das anders werden.“ „Ja, ja“, sagte Leni undsah den Kaufmann lachend an, „wie er schwatzt! Ihmdarfst Du nämlich“, hiebei wandte sie sich an K., „garnichts glauben. So lieb er ist, so geschwätzig ist er.Vielleicht mag ihn der Advokat auch deshalb nicht lei-den. Jedenfalls empfängt er ihn nur, wenn er in Launeist. Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, das zu

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ändern, aber es ist unmöglich. Denke nur, manchmalmelde ich Block an, er empfängt ihn aber erst am drittenTag nachher. Ist Block aber zu der Zeit wenn er vorgeru-fen wird, nicht zur Stelle, so ist alles verloren und ermuß von neuem angemeldet werden. Deshalb habe ichBlock erlaubt hier zu schlafen, es ist ja schon vorgekom-men, daß er in der Nacht um ihn geläutet hat. Jetzt istalso Block auch in der Nacht bereit. Allerdings geschiehtes jetzt wieder, daß der Advokat, wenn sich zeigt, daßBlock da ist, seinen Aurag ihn vorzulassen, manchmalwiderru.“ K. sah fragend zum Kaufmann hin. Diesernickte und sagte so offen wie er früher mit K. gespro-chen hatte, vielleicht war er zerstreut vor Beschämung:

„Ja, man wird später sehr abhängig von seinem Advoka-ten.“ „Er klagt ja nur zum Schein“, sagte Leni. „Erschlä ja hier sehr gern, wie er mir schon o gestandenhat.“ Sie gieng zu einer kleinen Tür und stieß sie auf.

„Willst Du sein Schlafzimmer sehn?“ fragte sie. K. gienghin und sah von der Schwelle aus in den niedrigenfensterlosen Raum, der von einem schmalen Bett voll-ständig ausgefüllt war. In dieses Bett mußte man überden Bettpfosten steigen. Am Kopfende des Bettes wareine Vertiefung in der Mauer, dort standen peinlichgeordnet eine Kerze, Tintenfaß und Feder, sowie einBündel Papiere, wahrscheinlich Proceßschrien. „Sieschlafen im Dienstmädchenzimmer?“ fragte K. undwendete sich zum Kaufmann zurück. „Leni hat es mir

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eingeräumt“, antwortete der Kaufmann, „es ist sehrvorteilha.“ K. sah ihn lange an; der erste Eindruck, dener von dem Kaufmann erhalten hatte, war vielleicht dochder richtige gewesen; Erfahrungen hatte er, denn seinProceß dauerte schon lange, aber er hatte diese Erfah-rungen teuer bezahlt. Plötzlich ertrug K. den Anblickdes Kaufmanns nicht mehr. „Bring ihn doch ins Bett“,rief er Leni zu, die ihn gar nicht zu verstehen schien. Erselbst aber wollte zum Advokaten gehn und durch dieKündigung sich nicht nur vom Advokaten sondern auchvon Leni und dem Kaufmann befrein. Aber noch ehe erzur Tür gekommen war, sprach ihn der Kaufmann mitleiser Stimme an: „Herr Prokurist.“ K. wandte sich mitbösem Gesichte um. „Sie haben an Ihr Versprechenvergessen“, sagte der Kaufmann und streckte sich vonseinem Sitz aus bittend K. entgegen, „Sie wollten mirnoch ein Geheimnis sagen.“ „Wahrhaig“, sagte K. undstreie auch Leni, die ihn aufmerksam ansah, mit einemBlick, „also hören Sie: es ist allerdings fast kein Geheim-nis mehr. Ich gehe jetzt zum Advokaten um ihn zuentlassen.“ „Er entläßt ihn“, rief der Kaufmann, sprangvom Sessel und lief mit erhobenen Armen in der Kücheumher. Immer wieder rief er: „Er entläßt den Advoka-ten.“ Leni wollte gleich auf K. losfahren, aber der Kauf-mann kam ihr in den Weg, wofür sie ihm mit denFäusten einen Hieb gab. Noch mit den zu Fäustengeballten Händen lief sie dann hinter K., der aber einen

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großen Vorsprung hatte. Er war schon in das Zimmerdes Advokaten eingetreten als ihn Leni einholte. Die Türhatte er hinter sich fast geschlossen, aber Leni, die mitdem Fuß den Türflügel offenhielt, faßte ihn beim Armund wollte ihn zurückziehen. Aber er drückte ihr Hand-gelenk so stark, daß sie unter einem Seufzer ihn loslassenmußte. Ins Zimmer einzutreten wagte sie nicht gleich,K. aber versperrte die Tür mit dem Schlüssel. „Ich warte schon sehr lange auf Sie“, sagte der Advo-kat vom Bett aus, legte ein Schristück, das er beimLicht einer Kerze gelesen hatte, auf das Nachttischchen,und setzte sich eine Brille auf, mit der er K. scharf ansah.Statt sich zu entschuldigen, sagte K.: „Ich gehe baldwieder weg.“ Der Advokat hatte K.’s Bemerkung, weilsie keine Entschuldigung war, unbeachtet gelassen undsagte: „Ich werde Sie nächstens zu dieser späten Stundenicht mehr vorlassen.“ „Das kommt meinem Anliegenentgegen“, sagte K. Der Advokat sah ihn fragend an.

„Setzen Sie sich“, sagte er. „Weil Sie es wünschen“, sagteK., zog einen Sessel zum Nachttischchen und setztesich. „Es schien mir, daß Sie die Tür abgesperrt haben“,sagte der Advokat. „Ja“, sagte K., „es war Leni’s we-gen.“ Er hatte nicht die Absicht irgendjemanden zuschonen. Aber der Advokat fragte: „War sie wiederzudringlich?“ „Zudringlich?“ fragte K. „Ja“, sagte derAdvokat, er lachte dabei, bekam einen Hustenanfall undbegann nachdem dieser vergangen war, wieder zu la-

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chen. „Sie haben doch wohl ihre Zudringlichkeit schonbemerkt?“ fragte er und klope K. auf die Hand, diedieser zerstreut auf das Nachttischchen gestützt hatteund die er jetzt rasch zurückzog. „Sie legen dem nichtviel Bedeutung bei“, sagte der Advokat, als K. schwieg,

„desto besser. Sonst hätte ich mich vielleicht bei Ihnenentschuldigen müssen. Es ist eine Sonderbarkeit Lenis,die ich ihr übrigens längst verziehen habe und von derich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht eben jetzt dieTür abgesperrt hätten. Diese Sonderbarkeit, Ihnen aller-dings müßte ich sie wohl am wenigsten erklären, aber Siesehen mich so bestürzt an und deshalb tue ich es, dieseSonderbarkeit besteht darin, daß Leni die meisten Ange-klagten schön findet. Sie hängt sich an alle, liebt alle,scheint allerdings auch von allen geliebt zu werden; ummich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn ich eserlaube, manchmal davon. Ich bin über das Ganze nichtso erstaunt wie Sie es zu sein scheinen. Wenn man denrichtigen Blick dafür hat, findet man die Angeklagtenwirklich o schön. Das allerdings ist eine merkwürdigegewissermaßen naturwissenschaliche Erscheinung. Estritt natürlich als Folge der Anklage nicht etwa einedeutliche, genau zu bestimmende Veränderung des Aus-sehns ein. Es ist doch nicht wie in andern Gerichtssa-chen, die meisten bleiben in ihrer gewöhnlichen Lebens-weise und werden, wenn sie einen guten Advokatenhaben, der für sie sorgt, durch den Proceß nicht sehr

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behindert. Trotzdem sind diejenigen, welche darin Er-fahrung haben, imstande aus der größten Menge dieAngeklagten Mann für Mann zu erkennen. Woran? wer-den Sie fragen. Meine Antwort wird Sie nicht befriedi-gen. Die Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kannnicht die Schuld sein, die sie schön macht, denn – somuß wenigstens ich als Advokat sprechen – es sind dochnicht alle schuldig, es kann auch nicht die künige Strafesein, die sie jetzt schon schön macht, denn es werdendoch nicht alle bestra, es kann also nur an dem gegensie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwieanhaet. Allerdings gibt es unter den Schönen auchbesonders schöne. Schön sind aber alle, selbst Block,dieser elende Wurm.“ K. war, als der Advokat geendet hatte, vollständiggefaßt, er hatte sogar zu den letzten Worten auffallendgenickt und sich so selbst die Bestätigung seiner altenAnsicht gegeben, nach welcher der Advokat ihn immerund so auch diesmal durch allgemeine Mitteilungen, dienicht zur Sache gehörten, zu zerstreuen und von derHauptfrage, was er an tatsächlicher Arbeit für K.’s Sachegetan hatte, abzulenken suchte. Der Advokat merktewohl, daß ihm K. diesmal mehr Widerstand leistete alssonst, denn er verstummte jetzt, um K. die Möglichkeitzu geben, selbst zu sprechen, und fragte dann, da K.stumm blieb: „Sind Sie heute mit einer bestimmtenAbsicht zu mir gekommen?“ „Ja“, sagte K. und blendete

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mit der Hand ein wenig die Kerze ab, um den Advoka-ten besser zu sehn, „ich wollte Ihnen sagen, daß ichIhnen mit dem heutigen Tage meine Vertretung ent-ziehe.“ „Verstehe ich Sie recht“, fragte der Advokat,erhob sich halb im Bett und stützte sich mit einer Handauf die Kissen. „Ich nehme es an“, sagte K., der straffaufgerichtet wie auf der Lauer dasaß. „Nun wir könnenja auch diesen Plan besprechen“, sagte der Advokat nacheinem Weilchen. „Es ist kein Plan mehr“, sagte K. „Magsein“, sagte der Advokat, „wir wollen aber trotzdemnichts übereilen.“ Er gebrauchte das Wort „wir“, alshabe er nicht die Absicht K. freizulassen und als wolleer, wenn er schon nicht sein Vertreter sein dürfe, wenig-stens sein Berater bleiben. „Es ist nichts übereilt“, sagteK., stand langsam auf und trat hinter seinen Sessel, „esist gut überlegt und vielleicht sogar zu lange. Der Ent-schluß ist endgiltig.“ „Dann erlauben Sie mir nur nocheinige Worte“, sagte der Advokat, hob das Federbettweg und setzte sich auf den Bettrand. Seine nacktenweißhaarigen Beine zitterten vor Kälte. Er bat K. ihmvom Kanapee eine Decke zu reichen. K. holte die Deckeund sagte: „Sie setzen sich ganz unnötig einer Verküh-lung aus.“ „Der Anlaß ist wichtig genug“, sagte derAdvokat, während er mit dem Federbett den Oberkör-per umhüllte und dann die Beine in die Decke einwik-kelte. „Ihr Onkel ist mein Freund und auch Sie sind mirim Laufe der Zeit lieb geworden. Ich gestehe das offen

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ein. Ich brauche mich dessen nicht zu schämen.“ Dieserührseligen Reden des alten Mannes waren K. sehrunwillkommen, denn sie zwangen ihn zu einer ausführ-licheren Erklärung, die er gern vermieden hätte, und siebeirrten ihn außerdem, wie er sich offen eingestand,wenn sie allerdings auch seinen Entschluß niemals rück-gängig machen konnten. „Ich danke Ihnen für Ihrefreundliche Gesinnung“, sagte er, „ich erkenne auch an,daß Sie sich meiner Sache so sehr angenommen haben,wie es Ihnen möglich ist und wie es Ihnen für michvorteilha scheint. Ich jedoch habe in der letzten Zeitdie Überzeugung gewonnen, daß das nicht genügend ist.Ich werde natürlich niemals versuchen, Sie, einen so vielaltern und erfahreneren Mann von meiner Ansicht über-zeugen zu wollen; wenn ich es manchmal unwillkürlichversucht habe so verzeihen Sie mir, die Sache aber ist,wie Sie sich selbst ausdrückten, wichtig genug, und es istmeiner Überzeugung nach notwendig viel kräiger inden Proceß einzugreifen, als es bisher geschehen ist.“

„Ich verstehe Sie“, sagte der Advokat, „Sie sind ungedul-dig.“ „Ich bin nicht ungeduldig“, sagte K. ein weniggereizt und achtete nicht mehr so viel auf seine Worte.

„Sie düren bei meinem ersten Besuch, als ich mitmeinem Onkel zu Ihnen kam, bemerkt haben, daß miran dem Proceß nicht viel lag; wenn man mich nichtgewissermaßen gewaltsam an ihn erinnerte, vergaß ichvollständig an ihn. Aber mein Onkel bestand darauf, daß

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ich Ihnen meine Vertretung übergebe, ich tat es, um ihmgefällig zu sein. Und nun hätte man doch erwartensollen, daß mir der Proceß noch leichter fallen würde alsbis dahin, denn man übergibt doch dem Advokaten dieVertretung, um die Last des Processes ein wenig von sichabzuwälzen. Es geschah aber das Gegenteil. Niemalsfrüher, hatte ich so große Sorgen wegen des Processes,wie seit der Zeit, seitdem Sie mich vertreten. Als ichallein war unternahm ich nichts in meiner Sache, aber ichfühlte es kaum, jetzt dagegen hatte ich einen Vertreter,alles war dafür eingerichtet, daß etwas geschehe, unauf-hörlich und immer gespannter erwartete ich Ihr Eingrei-fen, aber es blieb aus. Ich bekam von Ihnen allerdingsverschiedene Mitteilungen über das Gericht, die ich viel-leicht von niemandem sonst hätte bekommen können.Aber das kann mir nicht genügen, wenn mir jetzt derProceß, förmlich im Geheimen, immer näher an den Leibrückt.“ K. hatte den Sessel von sich gestoßen und stand,die Hände in den Rocktaschen aufrecht da. „Von einemgewissen Zeitpunkt der Praxis an“, sagte der Advokatleise und ruhig, „ereignet sich nichts wesentlich Neuesmehr. Wie viele Parteien sind in ähnlichen Stadien derProcesse ähnlich wie Sie vor mir gestanden und habenähnlich gesprochen.“ „Dann haben“, sagte K., „allediese ähnlichen Parteien ebenso recht gehabt wie ich.Das widerlegt mich gar nicht.“ „Ich wollte Sie damitnicht widerlegen“, sagte der Advokat, „ich wollte aber

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noch hinzufügen, daß ich bei Ihnen mehr Urteilskraerwartet hätte als bei andern, besonders da ich Ihnenmehr Einblick in das Gerichtswesen und in meine Tätig-keit gegeben habe, als ich es sonst Parteien gegenübertue. Und nun muß ich sehn, daß Sie trotz allem nichtgenügend Vertrauen zu mir haben. Sie machen es mirnicht leicht.“ Wie sich der Advokat vor K. demütigte!Ohne jede Rücksicht auf die Standesehre, die gewißgerade in diesem Punkte am empfindlichsten ist. Undwarum tat er das? Er war doch dem Anschein nach einvielbeschäigter Advokat und überdies ein reicherMann, es konnte ihm an und für sich weder an demVerdienstentgang noch an dem Verlust eines Klientenviel liegen. Außerdem war er kränklich und hätte selbstdarauf bedacht sein sollen, daß ihm Arbeit abgenommenwerde. Und trotzdem hielt er K. so fest. Warum? War espersönliche Anteilnahme für den Onkel oder sah er K.’sProceß wirklich für so außerordentlich an und hoesich darin auszuzeichnen entweder für K. oder – dieseMöglichkeit war eben niemals auszuschließen – für dieFreunde beim Gericht? An ihm selbst war nichts zuerkennen, so rücksichtslos prüfend ihn auch K. ansah.Man hätte fast annehmen können, er warte mit absicht-lich verschlossener Miene die Wirkung seiner Worte ab.Aber er deutete offenbar das Schweigen K.’s für sichallzu günstig, wenn er jetzt fortfuhr: „Sie werden be-merkt haben, daß ich zwar eine große Kanzlei habe aber

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keine Hilfskräe beschäige. Das war früher anders, esgab eine Zeit wo einige junge Juristen für mich arbeite-ten, heute arbeite ich allein. Es hängt dies zum Teil mitder Änderung meiner Praxis zusammen, indem ich michimmer mehr auf Rechtssachen von der Art der Ihrigenbeschränkte, zum Teil mit der immer tiefern Erkenntnis,die ich von diesen Rechtssachen erhielt. Ich fand, daß ichdiese Arbeit niemandem überlassen dürfe, wenn ichmich nicht an meinen Klienten und an der Aufgabe, dieich übernommen hatte, versündigen wollte. Der Ent-schluß aber alle Arbeit selbst zu leisten hatte die natürli-chen Folgen: ich mußte fast alle Ansuchen um Vertre-tungen abweisen und konnte nur denen nachgeben, diemir besonders nahegiengen – nun es gibt ja genug Krea-turen und sogar ganz in der Nähe, die sich auf jedenBrocken stürzen, den ich wegwerfe. Und außerdemwurde ich vor Überanstrengung krank. Aber trotzdembereue ich meinen Entschluß nicht, es ist möglich, daßich mehr Vertretungen hätte abweisen sollen, als ichgetan habe, daß ich aber den übernommenen Processenmich ganz hingegeben habe, hat sich als unbedingt not-wendig herausgestellt und durch die Erfolge belohnt.Ich habe einmal in einer Schri den Unterschied sehrschön ausgedrückt gefunden, der zwischen der Vertre-tung in gewöhnlichen Rechtssachen und der Vertretungin diesen Rechtssachen besteht. Es hieß dort: Der eineAdvokat führt seinen Klienten an einem Zwirnfaden bis

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zum Urteil, der andere aber hebt seinen Klienten gleichauf die Schultern und trägt ihn zum Urteil und ohne ihnabzusetzen noch darüber hinaus. So ist es. Aber es warnicht ganz richtig wenn ich sagte, daß ich diese großeArbeit niemals bereue. Wenn sie, wie in Ihrem Fall, sovollständig verkannt wird, dann, nun dann bereue ichfast.“ K. wurde durch diese Reden mehr ungeduldig alsüberzeugt. Er glaubte irgendwie aus dem Tonfall desAdvokaten herauszuhören, was ihn erwartete, wenn ernachgeben würde, wieder würden die Vertröstungenbeginnen, die Hinweise auf die fortschreitende Eingabe,auf die gebesserte Stimmung der Gerichtsbeamten, aberauch auf die großen Schwierigkeiten, die sich der Arbeitentgegenstellten, – kurz das alles bis zum ÜberdrußBekannte würde hervorgeholt werden, um K. wiedermit unbestimmten Hoffnungen zu täuschen und mitunbestimmten Drohungen zu quälen. Das mußte endgil-tig verhindert werden, er sagte deshalb: „Was wollen Siein meiner Sache unternehmen, wenn Sie die Vertretungbehalten.“ Der Advokat fügte sich sogar dieser beleidi-genden Frage und antwortete: „In dem, was ich für Siebereits unternommen habe, weiter fortfahren.“ „Ichwußte es ja“, sagte K., „nun ist aber jedes weitere Wortüberflüssig.“ „Ich werde noch einen Versuch machen“,sagte der Advokat, als geschehe, das was K. erregte,nicht K. sondern ihm. „Ich habe nämlich die Vermutung,daß Sie nicht nur zu der falschen Beurteilung meines

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Rechtsbeistandes, sondern auch zu Ihrem sonstigen Ver-halten dadurch verleitet werden, daß man Sie, trotzdemSie Angeklagter sind, zu gut behandelt oder richtigerausgedrückt nachlässig, scheinbar nachlässig behandelt.Auch dieses Letztere hat seinen Grund; es ist o besserin Ketten als frei zu sein. Aber ich möchte Ihnen dochzeigen, wie andere Angeklagte behandelt werden, viel-leicht gelingt es Ihnen, daraus eine Lehre zu nehmen. Ichwerde jetzt nämlich Block vorrufen, sperren Sie die Türauf und setzen Sie sich hier neben den Nachttisch.“

„Gerne“, sagte K. und tat was der Advokat verlangthatte; zu lernen war er immer bereit. Um sich aber fürjeden Fall zu sichern, fragte er noch: „Sie haben aber zurKenntnis genommen, daß ich Ihnen meine Vertretungentziehe?“ „Ja“, sagte der Advokat, „Sie können es aberheute noch rückgängig machen.“ Er legte sich wieder insBett zurück, zog das Federbett bis zum Kinn und drehtesich der Wand zu. Dann läutete er. Fast gleichzeitig mit dem Glockenzeichen erschienLeni, sie suchte durch rasche Blicke zu erfahren wasgeschehen war; daß K. ruhig beim Bett des Advokatensaß, schien ihr beruhigend. Sie nickte K., der sie starransah, lächelnd zu. „Hole Block“, sagte der Advokat.Statt ihn aber zu holen, trat sie nur vor die Tür, rief:

„Block! Zum Advokaten!“ und schlüpe dann, wahr-scheinlich weil der Advokat zur Wand abgekehrt bliebund sich um nichts kümmerte, hinter K.’s Sessel. Sie

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störte ihn von nun ab, indem sie sich über die Sessellehnevorbeugte oder mit den Händen allerdings sehr zart undvorsichtig, durch sein Haar fuhr und über seine Wangenstrich. Schließlich suchte K. sie daran zu hindern, indemer sie bei einer Hand erfaßte, die sie ihm nach einigemWiderstreben überließ. Block war auf den Anruf hin gleich gekommen, bliebaber vor der Tür stehn und schien zu überlegen ob ereintreten sollte. Er zog die Augenbrauen hoch undneigte den Kopf, als horche er ob sich der Befehl zumAdvokaten zu kommen, wiederholen würde. K. hätteihn zum Eintreten aufmuntern können, aber er hattesich vorgenommen nicht nur mit dem Advokaten son-dern mit allem was hier in der Wohnung war endgiltig zubrechen und verhielt sich deshalb regungslos. Auch Lenischwieg. Block merkte, daß ihn wenigstens niemandverjage, und trat auf den Fußspitzen ein, das Gesichtgespannt, die Hände auf dem Rücken verkramp. DieTür hatte er für einen möglichen Rückzug offengelassen.K. blickte er gar nicht an, sondern immer nur das hoheFederbett, unter dem der Advokat, da er sich ganz nahean die Wand geschoben hatte, nicht einmal zu sehen war.Da hörte man aber seine Stimme: „Block hier?“ fragte er.Diese Frage gab Block, der schon eine große Streckeweitergerückt war, förmlich einen Stoß in die Brust unddann einen in den Rücken, er taumelte, blieb tief gebücktstehn und sagte: „Zu dienen.“ „Was willst Du?“ fragte

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der Advokat, „Du kommst ungelegen.“ „Wurde ichnicht gerufen?“ fragte Block, mehr sich selbst, als denAdvokaten, hielt die Hände zum Schütze vor und warbereit wegzulaufen. „Du wurdest gerufen“, sagte derAdvokat, „trotzdem kommst Du ungelegen.“ Und nacheiner Pause fügte er hinzu: „Du kommst immer ungele-gen.“ Seitdem der Advokat sprach, sah Block nicht mehrauf das Bett hin, er starrte vielmehr irgendwo in eineEcke und lauschte nur, als sei der Anblick des Sprecherszu blendend, als daß er ihn ertragen konnte. Es war aberauch das Zuhören schwer, denn der Advokat sprachgegen die Wand undzwar leise und schnell. „Wollt Ihrdaß ich weggehe?“ fragte Block. „Nun bist Du einmalda“, sagte der Advokat. „Bleib!“ Man hätte glaubenkönnen, der Advokat habe nicht Blocks Wunsch erfüllt,sondern ihm etwa mit Prügeln gedroht, denn jetzt fiengBlock wirklich zu zittern an. „Ich war gestern“, sagteder Advokat, „beim dritten Richter, meinem Freund,und habe allmählich das Gespräch auf Dich gelenkt.Willst Du wissen, was er sagte?“ „Oh bitte“, sagteBlock. Da der Advokat nicht gleich antwortete, wieder-holte Block nochmals die Bitte und neigte sich als wolleer niederknien. Da fuhr ihn aber K. an: „Was tust Du?“rief er. Da ihn Leni an dem Ausruf hatte hindern wollen,faßte er auch ihre zweite Hand. Es war nicht der Druckder Liebe, mit dem er sie festhielt, sie seufzte auch öersund suchte ihm die Hände zu entwinden. Für K.’s

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Ausruf aber wurde Block gestra, denn der Advokatfragte ihn: „Wer ist denn Dein Advokat?“ „Ihr seid es“,sagte Block. „Und außer mir?“ fragte der Advokat.

„Niemand außer Euch“, sagte Block. „Dann folge auchniemandem sonst“, sagte der Advokat. Block erkanntedas vollständig an, er maß K. mit bösen Blicken undschüttelte heig gegen ihn den Kopf. Hätte man diesesBenehmen in Worte übersetzt so wären es grobe Be-schimpfungen gewesen. Mit diesem Menschen hatte K.freundschalich über seine eigene Sache reden wollen!

„Ich werde Dich nicht mehr stören“, sagte K. in denSessel zurückgelehnt, „Knie nieder oder krieche aufallen Vieren, tu was Du willst, ich werde mich nichtdarum kümmern.“ Aber Block hatte doch Ehrgefühl,wenigstens gegenüber K., denn er gieng mit den Fäustenfuchtelnd auf ihn zu, und rief so laut als er es nur in derNähe des Advokaten wagte: „Sie dürfen nicht so mit mirreden, das ist nicht erlaubt. Warum beleidigen Sie mich?Und überdies noch hier vor dem Herrn Advokaten, wowir beide, Sie und ich, nur aus Barmherzigkeit geduldetsind? Sie sind kein besserer Mensch als ich, denn Sie sindauch angeklagt und haben auch einen Proceß. Wenn Sieaber trotzdem noch ein Herr sind, dann bin ich einebensolcher Herr, wenn nicht gar ein noch größerer.Und ich will auch als ein solcher angesprochen werden,gerade von Ihnen. Wenn Sie sich aber dadurch fürbevorzugt halten, daß Sie hier ruhig sitzen und ruhig

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zuhören dürfen, während ich, wie Sie sich ausdrücken,auf allen Vieren krieche, dann erinnere ich Sie an denalten Rechtsspruch: Für den Verdächtigen ist Bewegungbesser als Ruhe, denn der welcher ruht kann immer,ohne es zu wissen auf einer Wagschale sein und mitseinen Sünden gewogen werden.“ K. sagte nichts, erstaunte nur mit unbeweglichen Augen diesen verwirrtenMenschen an. Was für Veränderungen waren mit ihmnur schon in der letzten Stunde vor sich gegangen! Wares der Proceß, der ihn so hin und her warf und ihn nichterkennen ließ, wo Freund und wo Feind war? Sah erdenn nicht, daß der Advokat ihn absichtlich demütigteund diesmal nichts anderes bezweckte, als sich vor K.mit seiner Macht zu brüsten und sich dadurch vielleichtauch K. zu unterwerfen? Wenn Block aber nicht fähigwar das zu erkennen, oder wenn er den Advokaten sosehr fürchtete, daß ihm jene Erkenntnis nichts helfenkonnte, wie kam es daß er doch wieder so schlau oder sokühn war, den Advokaten zu betrügen und ihm zuverschweigen, daß er außer ihm noch andere Advokatenfür sich arbeiten ließ. Und wieso wagte er es, K. anzu-greifen, da dieser doch gleich sein Geheimnis verratenkonnte. Aber er wagte noch mehr, er gieng zum Bett desAdvokaten und begann sich nun auch dort über K. zubeschweren: „Herr Advokat“, sagte er, „habt gehört,wie dieser Mann mit mir gesprochen hat. Man kannnoch die Stunden seines Processes zählen und schon will

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er mir, einem Mann, der fünf Jahre im Processe steht,gute Lehren geben. Er beschimp mich sogar. Weißnichts und beschimp mich, der ich, soweit meineschwachen Kräe reichen, genau studiert habe, wasAnstand, Pflicht und Gerichtsgebrauch verlangt.“„Kümmere Dich um niemanden“, sagte der Advokat,„und tue was Dir richtig scheint.“ „Gewiß“, sagteBlock, als spreche er sich selbst Mut zu, und kniete untereinem kurzen Seitenblick nun knapp beim Bett nieder.

„Ich knie schon, mein Advokat“, sagte er. Der Advokatschwieg aber. Block streichelte mit einer Hand vorsich-tig das Federbett. In der Stille, die jetzt herrschte, sagteLeni, indem sie sich von K.’s Händen befreite: „Dumachst mir Schmerzen. Laß mich. Ich gehe zu Block.“Sie ging hin und setzte sich auf den Bettrand. Block warüber ihr Kommen sehr erfreut, er bat sie gleich durchlebhae aber stumme Zeichen sich beim Advokaten fürihn einzusetzen. Er benötigte offenbar die Mitteilungendes Advokaten sehr dringend aber vielleicht nur zu demZweck, um sie durch seine übrigen Advokaten ausnüt-zen zu lassen. Leni wußte wahrscheinlich genau wie mandem Advokaten beikommen könne, sie zeigte auf dieHand des Advokaten und spitzte die Lippen wie zumKuß. Gleich führte denn Block den Handkuß aus undwiederholte ihn auf eine Aufforderung Lenis hin nochzweimal. Aber der Advokat schwieg noch immer. Dabeugte sich Leni über den Advokaten hin, der schöne

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Wuchs ihres Körpers wurde sichtbar als sie sich sostreckte, und strich tief zu seinem Gesicht geneigt übersein langes weißes Haar. Das zwang ihm nun doch eineAntwort ab. „Ich zögere es ihm mitzuteilen“, sagte derAdvokat und man sah, wie er den Kopf ein wenigschüttelte, vielleicht um des Drucks von Leni’s Handmehr teilhaig zu werden. Block horchte mit gesenktemKopf, als übertrete er durch dieses Horchen ein Gebot.

„Warum zögerst Du denn?“ fragte Leni. K. hatte dasGefühl, als höre er ein einstudiertes Gespräch, das sichschon o wiederholt hatte, das sich noch o wiederho-len würde und das nur für Block seine Neuheit nichtverlieren konnte. „Wie hat er sich heute verhalten?“fragte der Advokat statt zu antworten. Ehe sich Lenidarüber äußerte, sah sie zu Block hinunter und beobach-tete ein Weilchen, wie er die Hände ihr entgegenhob undbittend aneinander rieb. Schließlich nickte sie ernst,wandte sich zum Advokaten und sagte: „Er war ruhigund fleißig.“ Ein alter Kaufmann, ein Mann mit langemBart, flehte ein junges Mädchen um ein günstiges Zeug-nis an. Mochte er dabei auch Hintergedanken haben,nichts konnte ihn in den Augen eines Mitmenschenrechtfertigen. Er entwürdigte fast den Zuseher. K. be-griff nicht, wie der Advokat daran hatte denken können,durch diese Vorführung ihn zu gewinnen. Hätte er ihnnicht schon früher verjagt, er hätte es durch diese Szeneerreicht. So wirkte also die Methode des Advokaten,

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welcher K. glücklicher Weise nicht lange genug ausge-setzt gewesen war, daß der Klient schließlich an dieganze Welt vergaß und nur auf diesem Irrweg zum Endedes Processes sich fortzuschleppen hoe. Das war keinKlient mehr, das war der Hund des Advokaten. Hätteihm dieser befohlen, unter das Bett wie in eine Hunde-hütte zu kriechen und von dort aus zu bellen, er hätte esmit Lust getan. Als sei K. beauragt, alles was hiergesprochen wurde, genau in sich aufzunehmen, an einemhöhern Ort die Anzeige davon zu erstatten und einenBericht abzulegen, hörte er prüfend und überlegen zu.

„Was hat er während des ganzen Tags getan?“ fragte derAdvokat. „Ich habe ihn“, sagte Leni, „damit er mich beider Arbeit nicht störe, in dem Dienstmädchenzimmereingesperrt, wo er sich ja gewöhnlich auält. Durch dieLuke konnte ich von Zeit zu Zeit nachsehn, was ermachte. Er kniete immer auf dem Bett, hatte die Schrif-ten, die Du ihm geliehen hast, auf dem Fensterbrettaufgeschlagen und las in ihnen. Das hat einen gutenEindruck auf mich gemacht; das Fenster führt nämlichnur in einen Luschacht und gibt fast kein Licht. DaßBlock trotzdem las, zeigte mir, wie folgsam er ist.“ „Esfreut mich das zu hören“, sagte der Advokat. „Hat eraber auch mit Verständnis gelesen?“ Block bewegte wäh-rend dieses Gespräches unauörlich die Lippen, offen-bar formulierte er die Antworten, die er von Leni er-hoe. „Darauf kann ich natürlich“, sagte Leni, „nicht

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mit Bestimmtheit antworten. Jedenfalls habe ich gesehn,daß er gründlich las. Er hat den ganzen Tag über diegleiche Seite gelesen und beim Lesen den Finger dieZeilen entlanggeführt. Immer wenn ich zu ihm hinein-sah, hat er geseufzt, als mache ihm das Lesen viel Mühe.Die Schrien, die Du ihm geliehen hast, sind wahr-scheinlich schwer verständlich.“ „Ja“, sagte der Advo-kat, „das sind sie allerdings. Ich glaube auch nicht, daßer etwas von ihnen versteht. Sie sollen ihm nur eineAhnung davon geben, wie schwer der Kampf ist, den ichzu seiner Verteidigung führe. Und für wen führe ichdiesen schweren Kampf? Für – es ist fast lächerlich esauszusprechen – für Block. Auch was das bedeutet soller begreifen lernen. Hat er ununterbrochen studiert?“

„Fast ununterbrochen“, antwortete Leni, „nur einmalhat er mich um Wasser zum Trinken gebeten. Da habeich ihm ein Glas durch die Luke gereicht. Um acht Uhrhabe ich ihn dann herausgelassen und ihm etwas zuessen gegeben.“ Block streie K. mit einem Seitenblick,als werde hier Rühmendes von ihm erzählt und müsseauch auf K. Eindruck machen. Er schien jetzt guteHoffnungen zu haben, bewegte sich freier und rückteauf den Knien hin und her. Desto deutlicher war es, wieer unter den folgenden Worten des Advokaten erstarrte.

„Du lobst ihn“, sagte der Advokat. „Aber gerade dasmacht es mir schwer zu reden. Der Richter hat sichnämlich nicht günstig ausgesprochen, weder über Block

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selbst noch über seinen Proceß.“ „Nicht günstig?“ fragteLeni. „Wie ist das möglich?“ Block sah sie mit einem sogespannten Blick an, als traue er ihr die Fähigkeit zu,jetzt noch die längst ausgesprochenen Worte des Rich-ters zu seinen Gunsten zu wenden. „Nicht günstig“,sagte der Advokat. „Er war sogar unangenehm berührt,als ich von Block zu sprechen anfieng. ,Reden Sie nichtvon Block‘, sagte er. ,Er ist mein Klient‘, sagte ich. ,Sielassen sich mißbrauchen‘, sagte er. ,Ich halte seine Sachenicht für verloren‘, sagte ich. ,Sie lassen sich mißbrau-chen‘, wiederholte er. ,Ich glaube es nicht‘, sagte ich.,Block ist im Proceß fleißig und immer hinter seinerSache her. Er wohnt fast bei mir um immer auf demLaufenden zu sein. Solchen Eifer findet man nicht im-mer. Gewiß er ist persönlich nicht angenehm, hat häßli-che Umgangsformen und ist schmutzig, aber in prozes-sualer Hinsicht ist er untadelha.‘ Ich sagte untadelha,ich übertrieb absichtlich. Darauf sagte er: ,Block ist bloßschlau. Er hat viel Erfahrung angesammelt und verstehtes den Proceß zu verschleppen. Aber seine Unwissenheitist noch viel größer als seine Schlauheit. Was würde erwohl dazu sagen, wenn er erfahren würde, daß seinProceß noch gar nicht begonnen hat, wenn man ihmsagen würde, daß noch nicht einmal das Glockenzeichenzum Beginn des Processes gegeben ist.‘ Ruhig Block“,sagte der Advokat, denn Block begann sich gerade aufunsicheren Knien zu erheben und wollte offenbar um

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Aulärung bitten. Es war jetzt das erste Mal, daß sichder Advokat mit ausführlicheren Worten geradezu anBlock wendete. Mit müden Augen sah er halb ziellos,halb zu Block hinunter, der unter diesem Blick wiederlangsam in die Knie zurücksank. „Diese Äußerung desRichters hat für Dich gar keine Bedeutung“, sagte derAdvokat. „Erschrick doch nicht bei jedem Wort. Wennsich das wiederholt, werde ich Dir gar nichts mehrverraten. Man kann keinen Satz beginnen, ohne daß Dueinen anschaust, als ob jetzt Dein Endurteil käme.Schäme Dich hier vor meinem Klienten! Auch erschüt-terst Du das Vertrauen, das er in mich setzt. Was willstDu denn? Noch lebst Du, noch stehst Du unter meinemSchutz. Sinnlose Angst! Du hast irgendwo gelesen, daßdas Endurteil in manchen Fällen unversehens kommeaus beliebigem Munde zu beliebiger Zeit. Mit vielenVorbehalten ist das allerdings wahr, ebenso wahr aber istes, daß mich Deine Angst anwidert und daß ich darineinen Mangel des notwendigen Vertrauens sehe. Washabe ich denn gesagt? Ich habe die Äußerung einesRichters wiedergegeben. Du weißt, die verschiedenenAnsichten häufen sich um das Verfahren bis zur Un-durchdringlichkeit. Dieser Richter z. B. nimmt den An-fang des Verfahrens zu einem andern Zeitpunkt an alsich. Ein Meinungsunterschied, nichts weiter. In einemgewissen Stadium des Processes wird nach altem Brauchein Glockenzeichen gegeben. Nach der Ansicht dieses

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Richters beginnt damit der Proceß. Ich kann Dir jetztnicht alles sagen, was dagegen spricht, Du würdest esauch nicht verstehn, es genüge Dir, daß viel dagegenspricht.“ Verlegen fuhr Block unten mit den Fingerndurch das Fell des Bettvorlegers, die Angst wegen desAusspruches des Richters ließ ihn zeitweise die eigeneUntertänigkeit gegenüber dem Advokaten vergessen, erdachte dann nur an sich und drehte die Worte desRichters nach allen Seiten. „Block“, sagte Leni in war-nendem Ton und zog ihn am Rockkragen ein wenig indie Höhe. „Laß jetzt das Fell und höre dem Advokatenzu.“

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Im Dom

K. bekam den Aurag, einem italienischen Geschäs-freund der Bank, der für sie sehr wichtig war und sichzum ersten Mal in dieser Stadt auielt, einige Kunst-denkmäler zu zeigen. Es war ein Aurag, den er zuanderer Zeit gewiß für ehrend gehalten hätte, den er aberjetzt, da er nur mit großer Anstrengung sein Ansehen inder Bank noch wahren konnte, widerwillig übernahm.Jede Stunde, die er dem Bureau entzogen wurde machteihm Kummer; er konnte zwar die Bureauzeit beiweitemnicht mehr so ausnützen wie früher, er brachte mancheStunden nur unter dem notdürigsten Anschein wirkli-cher Arbeit hin, aber desto größer waren seine Sorgen,wenn er nicht im Bureau war. Er glaubte dann zu sehn,wie der Direktor-Stellvertreter, der ja immer auf derLauer gewesen war, von Zeit zu Zeit in sein Bureau kam,sich an seinen Schreibtisch setzte, seine Schristückedurchsuchte, Parteien, mit denen K. seit Jahren fastbefreundet gewesen war, empfieng und ihm abspenstigmachte, ja vielleicht sogar Fehler aufdeckte, von denensich K. während der Arbeit jetzt immer aus tausendRichtungen bedroht sah und die er nicht mehr vermei-

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den konnte. Wurde er daher einmal sei es in noch soauszeichnender Weise zu einem Geschäsweg oder garzu einer kleinen Reise beauragt – solche Aurägehatten sich in der letzten Zeit ganz zufällig gehäu –dann lag immerhin die Vermutung nahe, daß man ihn fürein Weilchen aus dem Bureau entfernen und seine Arbeitüberprüfen wolle oder wenigstens daß man ihn im Bu-reau für leicht entbehrlich halte. Die meisten dieserAuräge hätte er ohne Schwierigkeit ablehnen können,aber er wagte es nicht, denn, wenn seine Befürchtungauch nur im geringsten begründet war, bedeutete dieAblehnung des Aurags Geständnis seiner Angst. Ausdiesem Grunde nahm er solche Auräge scheinbargleichmütig hin und verschwieg sogar, als er eine an-strengende zweitägige Geschäsreise machen sollte, eineernstliche Verkühlung, um sich nur nicht der Gefahrauszusetzen, mit Berufung auf das gerade herrschenderegnerische Herbstwetter von der Reise abgehalten zuwerden. Als er von dieser Reise mit wütenden Kopf-schmerzen zurückkehrte, erfuhr er, daß er dazu be-stimmt sei, am nächsten Tag den italienischen Geschäs-freund zu begleiten. Die Verlockung, sich wenigstensdieses eine Mal zu weigern, war sehr groß, vor allem wardas was man ihm hier zugedacht hatte, keine unmittelbarmit dem Geschä zusammenhängende Arbeit, die Erfül-lung dieser gesellschalichen Pflicht gegenüber dem Ge-schäsfreund war an sich zweifellos wichtig genug, nur

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nicht für K., der wohl wußte, daß er sich nur durchArbeitserfolge erhalten könne und daß es, wenn ihm dasnicht gelingen würde, vollständig wertlos war, wenn erdiesen Italiener unerwarteter Weise sogar bezaubernsollte; er wollte nicht einmal für einen Tag aus demBereich der Arbeit geschoben werden, denn die Furchtnicht mehr zurückgelassen zu werden, war zu groß, eineFurcht, die er sehr genau als übertrieben erkannte, dieihn aber doch beengte. In diesem Fall allerdings war esfast unmöglich einen annehmbaren Einwand zu erfin-den, K.’s Kenntnis des Italienischen war zwar nicht sehrgroß, aber immerhin genügend; das Entscheidende aberwar, daß K. aus früherer Zeit einige kunsthistorischeKenntnisse besaß, was in äußerst übertriebener Weisedadurch in der Bank bekannt geworden war, daß K. eineZeitlang, übrigens auch nur aus geschälichen Gründen,Mitglied des Vereins zur Erhaltung der städtischenKunstdenkmäler gewesen war. Nun war aber der Italie-ner, wie man gerüchtweise erfahren hatte, ein Kunstlieb-haber und die Wahl K.’s zu seinem Begleiter war daherselbstverständlich. Es war ein sehr regnerischer stürmischer Morgen, alsK. voll Ärger über den Tag der ihm bevorstand schonum sieben Uhr ins Bureau kam, um wenigstens einigeArbeit noch fertigzubringen, ehe der Besuch ihn allementziehen würde. Er war sehr müde, denn er hatte diehalbe Nacht mit dem Studium einer italienischen Gram-

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matik verbracht, um sich ein wenig vorzubereiten, dasFenster an dem er in der letzten Zeit viel zu o zu sitzenpflegte, lockte ihn mehr als der Schreibtisch, aber erwiderstand und setzte sich zur Arbeit. Leider trat geradeder Diener ein und meldete, der Herr Direktor habeihn geschickt, um nachzusehn, ob der Herr Prokuristschon hier sei; sei er hier, dann möge er so freundlichsein und ins Empfangszimmer hinüberkommen, derHerr aus Italien sei schon da. „Ich komme schon“, sagteK., steckte ein kleines Wörterbuch in die Tasche, nahmein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten, das erfür den Fremden vorbereitet hatte unter den Arm, undgieng durch das Bureau des Direktor-Stellvertreters indas Direktionszimmer. Er war glücklich darüber, so frühins Bureau gekommen zu sein und sofort zur Verfügungstehn zu können, was wohl niemand ernstlich erwartethatte. Das Bureau des Direktor-Stellvertreters war na-türlich noch leer, wie in tiefer Nacht, wahrscheinlichhatte der Diener auch ihn ins Empfangszimmer berufensollen, es war aber erfolglos gewesen. Als K. ins Emp-fangszimmer eintrat erhoben sich die zwei Herren ausden tiefen Fauteuils. Der Direktor lächelte freundlich,offenbar war er sehr erfreut über K.’s Kommen, erbesorgte sofort die Vorstellung, der Italiener schüttelteK. kräig die Hand und nannte lachend irgendjemandeneinen Frühaufsteher, K. verstand nicht genau wen ermeinte, es war überdies ein sonderbares Wort, dessen

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Sinn K. erst nach einem Weilchen erriet. Er antwortetemit einigen glatten Sätzen, die der Italiener wieder la-chend hinnahm, wobei er mehrmals mit nervöser Handüber seinen graublauen buschigen Schnurrbart fuhr.Dieser Bart war offenbar parfümiert, man war fast ver-sucht, sich zu nähern und zu riechen. Als sich allegesetzt hatten und ein kleines einleitendes Gesprächbegann, bemerkte K. mit großem Unbehagen, daß erden Italiener nur bruchstückweise verstand. Wenn erganz ruhig sprach, verstand er ihn fast vollständig, daswaren aber nur seltene Ausnahmen, meistens quollförmlich ihm die Rede aus dem Mund, er schüttelte denKopf wie vor Lust darüber. Bei solchen Reden aberverwickelte er sich regelmäßig in irgendeinen Dialekt,der für K. nichts Italienisches mehr hatte, den aber derDirektor nicht nur verstand sondern auch sprach, wasK. allerdings hätte voraussehn können, denn der Italie-ner stammte aus Süditalien, wo auch der Direktor einigeJahre gewesen war. Jedenfalls erkannte K. daß ihm dieMöglichkeit sich mit dem Italiener zu verständigen, zumgrößten Teil genommen war, denn auch dessen Franzö-sisch war nur schwer verständlich, auch verdeckte derBart die Lippenbewegungen, deren Anblick vielleichtzum Verständnis geholfen hätte. K. begann viele Unan-nehmlichkeiten vorauszusehn, vorläufig gab er es auf,den Italiener verstehen zu wollen – in der Gegenwart desDirektors, der ihn so leicht verstand, wäre es unnötige

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Anstrengung gewesen – und er beschränkte sich darauf,ihn verdrießlich zu beobachten, wie er tief und dochleicht in dem Fauteuil ruhte, wie er öers an seinemkurzen, scharf geschnittenen Röckchen zupe und wieer einmal mit erhobenen Armen und lose in den Gelen-ken bewegten Händen irgendetwas darzustellen ver-suchte das K. nicht begreifen konnte, trotzdem er vorge-beugt die Hände nicht aus den Augen ließ. Schließlichmachte sich bei K., der sonst unbeschäigt nur mecha-nisch mit den Blicken dem Hin und Her der Redenfolgte, die frühere Müdigkeit geltend und er ertapptesich einmal zu seinem Schrecken, glücklicherweise nochrechtzeitig, darauf, daß er in der Zerstreutheit geradehatte aufstehen, sich umdrehn und weggehn wollen.Endlich sah der Italiener auf die Uhr und sprang auf.Nachdem er sich vom Direktor verabschiedet hatte,drängte er sich an K. undzwar so dicht, daß K. seinFauteuil zurückschieben mußte, um sich bewegen zukönnen. Der Direktor, der gewiß an K.’s Augen die Noterkannte, in der er sich gegenüber diesem Italienischbefand, mischte sich in das Gespräch undzwar so klugund so zart, daß es den Anschein hatte als füge er nurkleine Ratschläge bei, während er in Wirklichkeit alleswas der Italiener, unermüdlich ihm in die Rede fallendvorbrachte, in aller Kürze K. verständlich machte. K.erfuhr von ihm, daß der Italiener vorläufig noch einigeGeschäe zu besorgen habe, daß er leider auch im

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Ganzen nur wenig Zeit haben werde, daß er auch kei-nesfalls beabsichtige in Eile alle Sehenswürdigkeiten ab-zulaufen, daß er sich vielmehr – allerdings nur wenn K.zustimme, bei ihm allein liege die Entscheidung – ent-schlossen habe nur den Dom, diesen aber gründlich zubesichtigen. Er freue sich ungemein diese Besichtigungin Begleitung eines so gelehrten und liebenswürdigenMannes – damit war K. gemeint, der mit nichts anderembeschäigt war, als den Italiener zu überhören und dieWorte des Direktors schnell aufzufassen – vornehmenzu können und er bitte ihn, wenn ihm die Stundegelegen sei, in zwei Stunden etwa um zehn Uhr sich imDom einzufinden. Er selbst hoffe um diese Zeit schonbestimmt dort sein zu können. K. antwortete einigesEntsprechende, der Italiener drückte zuerst dem Direk-tor, dann K., dann nochmals dem Direktor die Handund gieng von beiden gefolgt, nur noch halb ihnenzugewendet, im Reden aber noch immer nicht ausset-zend, zur Tür. K. blieb dann noch ein Weilchen mit demDirektor beisammen, der heute besonders leidend aus-sah. Er glaubte sich bei K. irgendwie entschuldigen zumüssen und sagte – sie standen vertraulich nahe beisam-men – zuerst hätte er beabsichtigt, selbst mit dem Italie-ner zu gehn, dann aber – er gab keinen nähern Grund an

– habe er sich entschlossen, lieber K. zu schicken. Wenner den Italiener nicht gleich im Anfang verstehe, somüsse er sich dadurch nicht verblüffen lassen, das Ver-

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ständnis komme sehr rasch und wenn er auch viel über-haupt nicht verstehen sollte, so sei es auch nicht soschlimm, denn für den Italiener sei es nicht gar sowichtig verstanden zu werden. Übrigens sei K.’s Italie-nisch überraschend gut und er werde sich gewiß ausge-zeichnet mit der Sache abfinden. Damit war K. verab-schiedet. Die Zeit, die ihm noch freiblieb verbrachte erdamit seltene Vokabeln, die er zur Führung im Dombenötigte, aus dem Wörterbuch herauszuschreiben. Eswar eine äußerst lästige Arbeit, Diener brachten diePost, Beamte kamen mit verschiedenen Anfragen undblieben, da sie K. beschäigt sahen, bei der Tür stehn,rührten sich aber nicht weg, bis sie K. angehört hatte,der Direktor-Stellvertreter ließ es sich nicht entgehn K.zu stören, kam öers herein, nahm ihm das Wörterbuchaus der Hand und blätterte offenbar ganz sinnlos darin,selbst Parteien tauchten wenn sich die Türe öffnete imHalbdunkel des Vorzimmers auf und verbeugten sichzögernd, sie wollten auf sich aufmerksam machen, wa-ren aber dessen nicht sicher ob sie gesehen wurden – dasalles bewegte sich um K. als um seinen Mittelpunkt,während er selbst die Wörter die er brauchte, zusam-menstellte, dann im Wörterbuch suchte, dann heraus-schrieb, dann sich in ihrer Aussprache übte und schließ-lich auswendig zu lernen versuchte. Sein früheres gutesGedächtnis schien ihn aber ganz verlassen zu haben,manchmal wurde er auf den Italiener, der ihm diese

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Anstrengung verursachte, so wütend, daß er das Wörter-buch unter Papieren vergrub mit der festen Absicht sichnicht mehr vorzubereiten, dann aber sah er ein, daß erdoch nicht stumm mit dem Italiener vor den Kunstwer-ken im Dom auf und abgehn könne und er zog mit nochgrößerer Wut das Wörterbuch wieder hervor. Gerade um halb zehn als er weggehn wollte, erfolgteein telephonischer Anruf, Leni wünschte ihm gutenMorgen und fragte nach seinem Befinden, K. dankteeilig und bemerkte er könne sich jetzt unmöglich in einGespräch einlassen, denn er müsse in den Dom. „In denDom?“ fragte Leni. „Nun ja, in den Dom.“ „Warumdenn in den Dom?“ fragte Leni. K. suchte es ihr inKürze zu erklären, aber kaum hatte er damit angefangen,sagte Leni plötzlich: „Sie hetzen Dich.“ Bedauern, das ernicht herausgefordert und nicht erwartet hatte, vertrugK. nicht, er verabschiedete sich mit zwei Worten, sagteaber doch, während er den Hörer an seinen Platz hängte,halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen, das er nichtmehr hörte: „Ja, sie hetzen mich.“ Nun war es aber schon spät, es bestand schon fast dieGefahr, daß er nicht rechtzeitig ankam. Im Automobilfuhr er hin, im letzten Augenblick hatte er sich noch andas Album erinnert, das er früh zu übergeben keineGelegenheit gefunden hatte und das er deshalb jetztmitnahm. Er hielt es auf seinen Knien und trommeltedarauf unruhig während der ganzen Fahrt. Der Regen

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war schwächer geworden, aber es war feucht, kühl unddunkel, man würde im Dom wenig sehn, wohl aberwürde sich dort infolge des langen Stehns auf den kaltenFliesen K.’s Verkühlung sehr verschlimmern. Der Domplatz war ganz leer, K. erinnerte sich, daß esihm schon als kleinem Kind aufgefallen war, daß in denHäusern dieses engen Platzes immer fast alle Fenstervor-hänge herabgelassen waren. Bei dem heutigen Wetterwar es allerdings verständlicher als sonst. Auch im Domschien es leer zu sein, es fiel natürlich niemandem ein,jetzt hierherzukommen. K. durchlief beide Seitenschiffe,er traf nur ein altes Weib, das eingehüllt in ein warmesTuch vor einem Marienbild kniete und es anblickte. Vonweitem sah er dann noch einen hinkenden Diener ineiner Mauertür verschwinden. K. war pünktlich gekom-men, gerade bei seinem Eintritt hatte es elf geschlagen,der Italiener war aber noch nicht hier. K. gieng zumHaupteingang zurück, stand dort eine Zeitlang unent-schlossen und machte dann im Regen einen Rundgangum den Dom, um nachzusehn, ob der Italiener nichtvielleicht bei irgendeinem Seiteneingang warte. Er warnirgends zu finden. Sollte der Direktor etwa die Zeitan-gabe mißverstanden haben? Wie konnte man auch diesenMenschen richtig verstehn. Wie es aber auch seinmochte, jedenfalls mußte K. zumindest eine halbeStunde auf ihn warten. Da er müde war, wollte er sichsetzen, er gieng wieder in den Dorn, fand auf einer Stufe

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einen kleinen teppichartigen Fetzen, zog ihn mit derFußspitze vor eine nahe Bank, wickelte sich fester inseinen Mantel, schlug den Kragen in die Höhe undsetzte sich. Um sich zu zerstreuen schlug er das Albumauf, blätterte darin ein wenig, mußte aber bald auören,denn es wurde so dunkel, daß er, als er aulickte, in demnahen Seitenschiff kaum eine Einzelheit unterscheidenkonnte. In der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großesDreieck von Kerzenlichtern, K. hätte nicht mit Be-stimmtheit sagen können, ob er sie schon früher gesehenhatte. Vielleicht waren sie erst jetzt angezündet worden.Die Kirchendiener sind berufsmäßige Schleicher, manbemerkt sie nicht. Als sich K. zufällig umdrehte, sah ernicht weit hinter sich eine hohe starke an einer Säulebefestigte Kerze gleichfalls brennen. So schön das war,zur Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in derFinsternis der Seitenaltäre hiengen, war das gänzlichunzureichend, es vermehrte vielmehr die Finsternis. Eswar vom Italiener ebenso vernünig als unhöflich ge-handelt, daß er nicht gekommen war, es wäre nichts zusehn gewesen, man hätte sich damit begnügen müssenmit K.’s elektrischer Taschenlampe einige Bilder zoll-weise abzusuchen. Um zu versuchen, was man davonerwarten könnte, gieng K. zu einer nahen kleinen Seiten-kapelle, stieg paar Stufen bis zu einer niedrigen Marmor-brüstung und über sie vorgebeugt beleuchtete er mit der

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Lampe das Altarbild. Störend schwebte das ewige Lichtdavor. Das erste was K. sah und zum Teil erriet, war eingroßer gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande desBildes dargestellt war. Er stützte sich auf sein Schwert,das er in den kahlen Boden vor sich – nur einige Gras-halme kamen hie und da hervor – gestoßen hatte. Erschien aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, dersich vor ihm abspielte. Es war erstaunlich, daß er sostehen blieb und sich nicht näherte. Vielleicht war erdazu bestimmt, Wache zu stehn. K., der schon langekeine Bilder gesehen hatte, betrachtete den Ritter längereZeit, trotzdem er immerfort mit den Augen zwinkernmußte, da er das grüne Licht der Lampe nicht vertrug.Als er dann das Licht über den übrigen Teil des Bildesstreichen ließ, fand er eine Grablegung Christi in ge-wöhnlicher Auffassung, es war übrigens ein neueresBild. Er steckte die Lampe ein und kehrte wieder zuseinem Platz zurück. Es war nun schon wahrscheinlich unnötig auf denItaliener zu warten, draußen war aber gewiß strömenderRegen und da es hier nicht so kalt war, wie K. erwartethatte, beschloß er vorläufig hier zu bleiben. In seinerNachbarscha war die große Kanzel, auf ihrem kleinenrunden Dach waren halb liegend zwei leere goldeneKreuze angebracht, die sich mit ihrer äußersten Spitzeüberquerten. Die Außenwand der Brüstung und ihrÜbergang zur tragenden Säule war von grünem Laub-

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werk gebildet in das kleine Engel griffen, bald lebhabald ruhend. K. trat vor die Kanzel und untersuchte sievon allen Seiten, die Bearbeitung des Steines war überaussorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerkund hinter ihm schien wie eingefangen und festgehalten,K. legte seine Hand in eine solche Lücke und tastetedann den Stein vorsichtig ab, von dem Dasein dieserKanzel hatte er bisher gar nicht gewußt. Da bemerkte erzufällig hinter der nächsten Bankreihe einen Kirchendie-ner, der dort in einem hängenden faltigen schwarzenRock stand, in der linken Hand eine Schnupabakdosehielt und ihn betrachtete. „Was will denn der Mann?“dachte K. „Bin ich ihm verdächtig? Will er ein Trink-geld?“ Als sich aber nun der Kirchendiener von K.bemerkt sah, zeigte er mit dem Rechten, zwischen zweiFingern hielt er noch eine Prise Tabak, in irgendeinerunbestimmten Richtung. Sein Benehmen war fast unver-ständlich, K. wartete noch ein Weilchen, aber der Kir-chendiener hörte nicht auf mit der Hand etwas zu zeigenund bekräigte es noch durch Kopfnicken. „Was will erdenn?“ fragte K. leise, er wagte es nicht hier zu rufen;dann aber zog er die Geldtasche und drängte sich durchdie nächste Bank, um zu dem Mann zu kommen. Dochdieser machte sofort eine abwehrende Bewegung mit derHand, zuckte die Schultern und hinkte davon. Mit einerähnlichen Gangart wie es dieses eilige Hinken war, hatteK. als Kind das Reiten auf Pferden nachzuahmen ver-

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sucht. „Ein kindischer Alter“, dachte K., „sein Verstandreicht nur noch zum Kirchendienst aus. Wie er stehnbleibt wenn ich stehe und wie er lauert, ob ich weiterge-hen will.“ Lächelnd folgte K. dem Alten durch das ganzeSeitenschiff fast bis zur Höhe des Hauptaltars, der Altehörte nicht auf, etwas zu zeigen, aber K. drehte sichabsichtlich nicht um, das Zeigen hatte keinen andernZweck als ihn von der Spur des Alten abzubringen.Schließlich ließ er wirklich von ihm, er wollte ihn nichtzu sehr ängstigen, auch wollte er die Erscheinung, fürden Fall, daß der Italiener doch noch kommen sollte,nicht ganz verscheuchen. Als er in das Hauptschiff trat, um seinen Platz zusuchen, auf dem er das Album liegengelassen hatte,bemerkte er an einer Säule fast angrenzend an die Bänkedes Altarchors eine kleine Nebenkanzel, ganz einfachaus kahlem bleichem Stein. Sie war so klein, daß sie ausder Ferne wie eine noch leere Nische erschien, die für dieAufnahme einer Statue bestimmt war. Der Predigerkonnte gewiß keinen vollen Schritt von der Brüstungzurücktreten. Außerdem begann die steinerne Einwöl-bung der Kanzel ungewöhnlich tief und stieg zwar ohnejeden Schmuck aber derartig geschwei in die Höhe,daß ein mittelgroßer Mann dort nicht aufrecht stehnkonnte, sondern sich dauernd über die Brüstung vorbeu-gen mußte. Das Ganze war wie zur Qual des Predigersbestimmt, es war unverständlich wozu man diese Kanzel

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benötigte, da man doch die andere große und so kunst-voll geschmückte zur Verfügung hatte. K. wäre auch diese kleine Kanzel gewiß nicht aufgefal-len, wenn nicht oben eine Lampe befestigt gewesenwäre, wie man sie kurz vor einer Predigt bereitzustellenpflegt. Sollte jetzt etwa eine Predigt stattfinden? In derleeren Kirche? K. sah an der Treppe hinab, die an dieSäule sich anschmiegend zur Kanzel führte und soschmal war, als solle sie nicht für Menschen, sondern nurzum Schmuck der Säule dienen. Aber unten an derKanzel, K. lächelte vor Staunen, stand wirklich derGeistliche, hielt die Hand am Geländer, bereit aufzustei-gen und sah auf K. hin. Dann nickte er ganz leicht mitdem Kopf, worauf K. sich bekreuzigte und verbeugte,was er schon früher hätte tun sollen. Der Geistliche gabsich einen kleinen Aufschwung und stieg mit kurzen,schnellen Schritten die Kanzel hinauf. Sollte wirklicheine Predigt beginnen? War vielleicht der Kirchendienerdoch nicht so ganz vom Verstand verlassen und hatteK. dem Prediger zutreiben wollen, was allerdings inder leeren Kirche äußerst notwendig gewesen war. Übri-gens gab es ja noch irgendwo vor einem Marienbildein altes Weib, das auch hätte kommen sollen. Undwenn es schon eine Predigt sein sollte, warum wurdesie nicht von der Orgel eingeleitet. Aber die blieb stillund blinkte nur schwach aus der Finsternis ihrer großenHöhe.

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K. dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernensollte, wenn er es jetzt nicht tat, war keine Aussicht, daßer es während der Predigt tun könnte, er mußte dannbleiben, solange sie dauerte, im Bureau verlor er so vielZeit, auf den Italiener zu warten war er längst nichtmehr verpflichtet, er sah auf seine Uhr, es war elf. Aberkonnte denn wirklich gepredigt werden? Konnte K.allein die Gemeinde darstellen? Wie, wenn er ein Frem-der gewesen wäre, der nur die Kirche besichtigenwollte? Im Grunde war er auch nichts anderes. Es warunsinnig daran zu denken daß gepredigt werden sollte,jetzt um elf Uhr, an einem Werketag bei graulichstemWetter. Der Geistliche – ein Geistlicher war es zweifel-los, ein junger Mann mit glattem dunklem Gesicht –gieng offenbar nur hinauf um die Lampe zu löschen, dieirrtümlich angezündet worden war. Es war aber nicht so, der Geistliche prüe vielmehrdas Licht und schraubte es noch ein wenig auf, danndrehte er sich langsam der Brüstung zu, die er vorn ander kantigen Einfassung mit beiden Händen erfaßte. Sostand er eine Zeitlang und blickte ohne den Kopf zurühren umher. K. war ein großes Stück zurückgewichenund lehnte mit den Elbogen an der vordersten Kirchen-bank. Mit unsichern Augen sah er irgendwo, ohne denOrt genau zu bestimmen, den Kirchendiener mit krum-mem Rücken friedlich wie nach beendeter Aufgabe sichzusammenkauern. Was für eine Stille herrschte jetzt im

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Dom! Aber K. mußte sie stören, er hatte nicht dieAbsicht hierzubleiben; wenn es die Pflicht des Geistli-chen war zu einer bestimmten Stunde ohne Rücksichtauf die Umstände zu predigen, so mochte er es tun, eswürde auch ohne K.’s Beistand gelingen, ebenso wie dieAnwesenheit K.’s die Wirkung gewiß nicht steigernwürde. Langsam setzte sich also K. in Gang, tastete sichauf den Fußspitzen an der Bank hin, kam dann in denbreiten Hauptweg und gieng auch dort ganz ungestört,nur daß der steinerne Boden unter dem leisesten Schritterklang und die Wölbungen schwach aber ununterbro-chen, in vielfachem gesetzmäßigem Fortschreiten davonwiderhallten. K. fühlte sich ein wenig verlassen, als erdort vom Geistlichen vielleicht beobachtet zwischen denleeren Bänken allein hindurchgieng, auch schien ihm dieGröße des Doms gerade an der Grenze des für Men-schen noch Erträglichen zu liegen. Als er zu seinemfrühern Platz kam, haschte er förmlich ohne weiternAufenthalt nach dem dort liegen gelassenen Album undnahm es an sich. Fast hatte er schon das Gebiet derBänke verlassen und näherte sich dem freien Raum, derzwischen ihnen und dem Ausgang lag, als er zum erstenMal die Stimme des Geistlichen hörte. Eine mächtigegeübte Stimme. Wie durchdrang sie den zu ihrer Auf-nahme bereiten Dom! Es war aber nicht die Gemeinde,die der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig und esgab keine Ausflüchte, er rief: „Josef K.!“

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K. stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufigwar er noch frei, er konnte noch weitergehn und durcheine der drei kleinen dunklen Holztüren, die nicht weitvor ihm waren, sich davon machen. Es würde ebenbedeuten, daß er nicht verstanden hatte oder daß er zwarverstanden hatte, sich aber darum nicht kümmernwollte. Falls er sich aber umdrehte, war er festgehalten,denn dann hatte er das Geständnis gemacht, daß er gutverstanden hatte, daß er wirklich der Angerufene warund daß er auch folgen wollte. Hätte der Geistlichenochmals gerufen, wäre K. gewiß fortgegangen, aber daalles still blieb, solange K. auch wartete, drehte er dochein wenig den Kopf, denn er wollte sehn, was derGeistliche jetzt mache. Er stand ruhig auf der Kanzelwie früher, es war aber deutlich zu sehn, daß er K.’sKopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindlichesVersteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht voll-ständig umgedreht hätte. Er tat es und wurde vomGeistlichen durch ein Winken des Fingers näher gerufen.Da jetzt alles offen geschehen konnte, lief er – er tat esauch aus Neugierde und um die Angelegenheit abzukür-zen – mit langen fliegenden Schritten der Kanzel entge-gen. Bei den ersten Bänken machte er halt, aber demGeistlichen schien die Entfernung noch zu groß, erstreckte die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenk-ten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K.folgte auch darin, er mußte auf diesem Platz den Kopf

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schon weit zurückbeugen um den Geistlichen noch zusehn. „Du bist Josef K.“, sagte der Geistliche und erhobeine Hand auf der Brüstung in einer unbestimmtenBewegung. „Ja“, sagte K., er dachte daran wie offen erfrüher immer seinen Namen genannt hatte, seit einigerZeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinenNamen Leute, mit denen er zum ersten Mal zusammen-kam, wie schön war es sich zuerst vorzustellen und dannerst gekannt zu werden. „Du bist angeklagt“, sagte derGeistliche besonders leise. „Ja“, sagte K., „man hat michdavon verständigt.“ „Dann bist Du der, den ich suche“,sagte der Geistliche. „Ich bin der Gefängniskaplan.“

„Ach so“, sagte K. „Ich habe Dich hierherrufen lassen“,sagte der Geistliche, „um mit Dir zu sprechen.“ „Ichwußte es nicht“, sagte K. „Ich bin hierhergekommen,um einem Italiener den Dom zu zeigen.“ „Laß dasNebensächliche“, sagte der Geistliche. „Was hältst Du inder Hand? Ist es ein Gebetbuch?“ „Nein“, antworteteK., „es ist ein Album der städtischen Sehenswürdigkei-ten.“ „Leg es aus der Hand“, sagte der Geistliche. K.warf es so heig weg, daß es aulappte und mit zer-drückten Blättern ein Stück über den Boden schleie.

„Weißt Du, daß Dein Proceß schlecht steht?“ fragte derGeistliche. „Es scheint mir auch so“, sagte K. „Ich habemir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Aller-dings habe ich die Eingabe noch nicht fertig.“ „Wiestellst Du Dir das Ende vor“, fragte der Geistliche.

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„Früher dachte ich es müsse gut enden“, sagte K., „jetztzweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wiees enden wird. Weißt Du es?“ „Nein“, sagte der Geistli-che, „aber ich fürchte es wird schlecht enden. Man hältDich für schuldig. Dein Proceß wird vielleicht über einniedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hältwenigstens vorläufig Deine Schuld für erwiesen.“ „Ichbin aber nicht schuldig“, sagte K. „Es ist ein Irrtum. Wiekann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sindhier doch alle Menschen, einer wie der andere.“ „Das istrichtig“, sagte der Geistliche, „aber so pflegen die Schul-digen zu reden.“ „Hast auch Du ein Vorurteil gegenmich?“ fragte K. „Ich habe kein Vorurteil gegen Dich“,sagte der Geistliche. „Ich danke Dir“, sagte K. „Alleandern aber, die an dem Verfahren beteiligt sind habenein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch den Unbe-teiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger.“

„Du mißverstehst die Tatsachen“, sagte der Geistliche.„Das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahrengeht allmählich ins Urteil über.“ „So ist es also“, sagte K.und senkte den Kopf. „Was willst Du nächstens inDeiner Sache tun?“ fragte der Geistliche. „Ich will nochHilfe suchen“, sagte K. und hob den Kopf um zu sehnwie der Geistliche es beurteile. „Es gibt noch gewisseMöglichkeiten, die ich nicht ausgenützt habe.“ „Dusuchst zuviel fremde Hilfe“, sagte der Geistliche mißbil-ligend, „und besonders bei Frauen. Merkst Du denn

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nicht, daß es nicht die wahre Hilfe ist.“ „Manchmal undsogar o könnte ich Dir recht geben“, sagte K., „abernicht immer. Die Frauen haben eine große Macht. Wennich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen könnte,gemeinschalich für mich zu arbeiten, müßte ich durch-dringen. Besonders bei diesem Gericht, das fast nur ausFrauenjägern besteht. Zeig dem Untersuchungsrichtereine Frau aus der Ferne und er überrennt um nur recht-zeitig hinzukommen, den Gerichtstisch und den Ange-klagten.“ Der Geistliche neigte den Kopf zur Brüstung,jetzt erst schien die Überdachung der Kanzel ihn nieder-zudrücken. Was für ein Unwetter mochte draußen sein?Das war kein trüber Tag mehr, das war schon tiefeNacht. Keine Glasmalerei der großen Fenster war im-stande, die dunkle Wand auch nur mit einem Schimmerzu unterbrechen. Und gerade jetzt begann der Kirchen-diener die Kerzen auf dem Hauptaltar eine nach derandern auszulöschen. „Bist Du mir böse“, fragte K. denGeistlichen. „Du weißt vielleicht nicht, was für einemGericht Du dienst.“ Er bekam keine Antwort. „Es sinddoch nur meine Erfahrungen“, sagte K. Oben blieb esnoch immer still. „Ich wollte Dich nicht beleidigen“,sagte K. Da schrie der Geistliche zu K. hinunter: „SiehstDu denn nicht zwei Schritte weit?“ Es war im Zorngeschrien, aber gleichzeitig wie von einem, der jemandenfallen sieht und weil er selbst erschrocken ist, unvorsich-tig, ohne Willen schreit.

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Nun schwiegen beide lange. Gewiß konnte der Geist-liche in dem Dunkel das unten herrschte, K. nicht genauerkennen, während K. den Geistlichen im Licht derkleinen Lampe deutlich sah. Warum kam der Geistlichenicht herunter? Eine Predigt hatte er ja nicht gehalten,sondern K. nur einige Mitteilungen gemacht, die ihm,wenn er sie genau beachten würde, wahrscheinlich mehrschaden als nützen würden. Wohl aber schien K. die guteAbsicht des Geistlichen zweifellos zu sein, es war nichtunmöglich, daß er sich mit ihm, wenn er herunterkäme,einigen würde, es war nicht unmöglich, daß er von ihmeinen entscheidenden und annehmbaren Rat bekäme,der ihm z. B. zeigen würde, nicht etwa wie der Proceßzu beeinflussen war, sondern wie man aus dem Proceßausbrechen, wie man ihn umgehen, wie man außerhalbdes Processes leben könnte. Diese Möglichkeit mußtebestehn, K. hatte in der letzten Zeit öers an sie gedacht.Wußte aber der Geistliche eine solche Möglichkeit,würde er sie vielleicht, wenn man ihn darum bat, verra-ten, trotzdem er selbst zum Gericht gehörte und trotz-dem er, als K. das Gericht angegriffen hatte, sein sanesWesen unterdrückt und K. sogar angeschrien hatte. „Willst Du nicht hinunterkommen?“ sagte K. „Es istdoch keine Predigt zu halten. Komm zu mir hinunter.“

„Jetzt kann ich schon kommen“, sagte der Geistliche, erbereute vielleicht sein Schreien. Während er die Lampevon ihrem Haken löste, sagte er: „Ich mußte zuerst aus

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der Entfernung mit Dir sprechen. Ich lasse mich sonstzu leicht beeinflussen und vergesse meinen Dienst.“ K. erwartete ihn unten an der Treppe. Der Geistlichestreckte ihm schon von einer obern Stufe im Hinunter-gehn die Hand entgegen. „Hast Du ein wenig Zeit fürmich?“ fragte K. „Soviel Zeit als Du brauchst“, sagte derGeistliche und reichte K. die kleine Lampe damit er sietrage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse Feier-lichkeit aus seinem Wesen nicht. „Du bist sehr freund-lich zu mir“, sagte K. Sie giengen nebeneinander imdunklen Seitenschiff auf und ab. „Du bist eine Aus-nahme unter allen, die zum Gericht gehören. Ich habemehr Vertrauen zu Dir, als zu irgendjemanden vonihnen, soviele ich schon kenne. Mit Dir kann ich offenreden.“ „Täusche Dich nicht“, sagte der Geistliche. „Wo-rin sollte ich mich denn täuschen?“ fragte K. „In demGericht täuschst Du Dich“, sagte der Geistliche, „in deneinleitenden Schrien zum Gesetz heißt es von dieserTäuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zudiesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittetum Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß erihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mannüberlegt und fragt dann, ob er also später werde eintre-ten dürfen. ,Es ist möglich‘, sagt der Türhüter, ,jetzt abernicht.‘ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer undder Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, umdurch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter

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das merkt, lacht er und sagt: ,Wenn es Dich so lockt,versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn.Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur derunterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhütereiner mächtiger als der andere. Schon den Anblick desdritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.‘ SolcheSchwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwar-tet, das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglichsein denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinemPelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, denlangen dünnen schwarzen tartarischen Bart, entschließter sich doch lieber zu warten bis er die Erlaubnis zumEintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemelund läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versucheeingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durchseine Bitten. Der Türhüter stellt öers kleine Verhöremit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nachvielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen wie siegroße Herren stellen und zum Schlüsse sagt er ihmimmer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne.Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerü-stet hat, verwendet alles und sei es noch so wertvoll umden Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an,aber sagt dabei: ,Ich nehme es nur an, damit Du nichtglaubst, etwas versäumt zu haben.‘ Während der vielenJahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununter-

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brochen. Er vergißt die andern Türhüter und dieser erstescheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in dasGesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in denersten Jahren laut, später als er alt wird brummt er nurnoch vor sich hin. Er wird kindisch und da er in demjahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe inseinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöheihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließ-lich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht obes um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seineAugen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkeleinen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Geset-zes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinemTode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungender ganzen Zeit zu einer Frage die er bisher an denTürhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da erseinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann.Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denndie Größenunterschiede haben sich sehr zuungunstendes Mannes verändert. ,Was willst Du denn jetzt nochwissen‘, fragt der Türhüter, ,Du bist unersättlich.‘ ,Allestreben doch nach dem Gesetz‘, sagt der Mann, ,wie sokommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mirEinlaß verlangt hat.‘ Der Türhüter erkennt, daß derMann schon am Ende ist und um sein vergehendesGehör noch zu erreichen brüllt er ihn an: ,Hier konn-te niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang

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war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließeihn.‘“ „Der Türhüter hat also den Mann getäuscht“, sagte K.sofort, von der Geschichte sehr stark angezogen. „Seinicht übereilt“, sagte der Geistliche, „übernimm nichtdie fremde Meinung ungeprü. Ich habe Dir die Ge-schichte im Wortlaut der Schri erzählt. Von Täuschungsteht darin nichts.“ „Es ist aber klar“, sagte K., „undDeine erste Deutung war ganz richtig. Der Türhüter hatdie erlösende Mitteilung erst dann gemacht, als sie demManne nichts mehr helfen konnte.“ „Er wurde nichtfrüher gefragt“, sagte der Geistliche, „bedenke auch daßer nur Türhüter war und als solcher hat er seine Pflichterfüllt.“ „Warum glaubst Du daß er seine Pflicht erfüllthat?“ fragte K., „er hat sie nicht erfüllt. Seine Pflicht wares vielleicht alle Fremden abzuwehren, diesen Mannaber, für den der Eingang bestimmt war, hätte er einlas-sen müssen.“ „Du hast nicht genug Achtung vor derSchri und veränderst die Geschichte“, sagte der Geistli-che. „Die Geschichte enthält über den Einlaß ins Gesetzzwei wichtige Erklärungen des Türhüters, eine am An-fang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet: ,daß er ihmjetzt den Eintritt nicht gewähren könne‘ und die andere:,dieser Eingang war nur für Dich bestimmt.‘ Beständezwischen diesen Erklärungen ein Widerspruch dann hät-test Du recht und der Türhüter hätte den Mann ge-täuscht. Nun besteht aber kein Widerspruch. Im Gegen-

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teil die erste Erklärung deutet sogar auf die zweite hin.Man könnte fast sagen der Türhüter gieng über seinePflicht hinaus, indem er dem Mann eine zukünigeMöglichkeit des Einlasses in Aussicht stellte. Zu jenerZeit scheint es nur seine Pflicht gewesen zu sein, denMann abzuweisen. Und tatsächlich wundern sich vieleErklärer der Schri darüber, daß der Türhüter jeneAndeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint dieGenauigkeit zu lieben und wacht streng über sein Amt.Durch viele Jahre verläßt er seinen Posten nicht undschließt das Tor erst ganz zuletzt, er ist sich der Wichtig-keit seines Dienstes sehr bewußt, denn er sagt ,ich binmächtig‘, er hat Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, denn ersagt ,ich bin nur der unterste Türhüter‘, er ist wo es umPflichterfüllung geht weder zu rühren noch zu erbittern,denn es heißt von dem Mann ,er ermüdet den Türhüterdurch seine Bitten‘, er ist nicht geschwätzig, denn wäh-rend der vielen Jahre stellt er nur wie es heißt ,teilnahms-lose Fragen‘, er ist nicht bestechlich, denn er sagt überein Geschenk ,ich nehme es nur an, damit Du nichtglaubst etwas versäumt zu haben‘, schließlich deutetauch sein Äußeres auf einen pedantischen Charakter hin,die große Spitznase und der lange dünne schwarze tarta-rische Bart. Kann es einen pflichttreueren Türhüter ge-ben? Nun mischen sich aber in den Türhüter nochandere Wesenszüge ein, die für den, der Einlaß verlangt,sehr günstig sind und welche es immerhin begreiflich

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machen, daß er in jener Andeutung einer zukünigenMöglichkeit über seine Pflicht etwas hinausgehn konnte.Es ist nämlich nicht zu leugnen, daß er ein wenigeinfältig und im Zusammenhang damit ein wenig einge-bildet ist. Wenn auch seine Äußerungen über seineMacht und über die Macht der andern Türhüter undüber deren sogar für ihn unerträglichen Anblick – ichsage wenn auch alle diese Äußerungen an sich richtigsein mögen, so zeigt doch die Art wie er diese Äußerun-gen vorbringt, daß seine Auffassung durch Einfalt undÜberhebung getrübt ist. Die Erklärer sagen hiezu: Rich-tiges Auffassen einer Sache und Mißverstehn der glei-chen Sache schließen einander nicht vollständig aus.Jedenfalls aber muß man annehmen, daß jene Einfalt undÜberhebung, so geringfügig sie sich vielleicht auch äu-ßern, doch die Bewachung des Einganges schwächen, essind Lücken im Charakter des Türhüters. Hiezu kommtnoch daß der Türhüter seiner Naturanlage nach freund-lich zu sein scheint, er ist durchaus nicht immer Amts-person. Gleich in den ersten Augenblicken macht erden Spaß, daß er den Mann trotz des ausdrücklichaufrecht erhaltenen Verbotes zum Eintritt einladet, dannschickt er ihn nicht etwa fort, sondern gibt ihm wie esheißt einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Türsich niedersetzen. Die Geduld mit der er durch alle dieJahre die Bitten des Mannes erträgt, die kleinen Verhöre,die Annahme der Geschenke, die Vornehmheit, mit der

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er es zuläßt, daß der Mann neben ihm laut den unglück-lichen Zufall verflucht, der den Türhüter hier aufgestellthat – alles dieses läßt auf Regungen des Mitleids schlie-ßen. Nicht jeder Türhüter hätte so gehandelt. Undschließlich beugt er sich noch auf einen Wink hin tief zudem Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten Fragezu geben. Nur eine schwache Ungeduld – der Türhüterweiß ja daß alles zuende ist – spricht sich in den Wortenaus: ,Du bist unersättlich‘. Manche gehn sogar in dieserArt der Erklärung noch weiter und meinen, die Worte,Du bist unersättlich‘ drücken eine Art freundschali-cher Bewunderung aus, die allerdings von Herablassungnicht frei ist. Jedenfalls schließt sich so die Gestalt desTürhüters anders ab, als Du es glaubst.“ „Du kennst dieGeschichte genauer als ich und längere Zeit“, sagte K.Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte K.: „Du glaubstalso der Mann wurde nicht getäuscht?“ „Mißverstehemich nicht“, sagte der Geistliche, „ich zeige Dir nur dieMeinungen, die darüber bestehn. Du mußt nicht zuvielauf Meinungen achten. Die Schri ist unveränderlichund die Meinungen sind o nur ein Ausdruck derVerzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar eineMeinung nach welcher gerade der Türhüter der Ge-täuschte ist.“ „Das ist eine weitgehende Meinung“, sagteK. „Wie wird sie begründet?“ „Die Begründung“, ant-wortete der Geistliche, „geht von der Einfalt des Türhü-ters aus. Man sagt, daß er das Innere des Gesetzes nicht

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kennt, sondern nur den Weg, den er vor dem Eingangimmer wieder abgehn muß. Die Vorstellungen die er vondem Innern hat werden für kindlich gehalten und mannimmt an, daß er das wovor er dem Manne Furchtmachen will, selbst fürchtet. Ja er fürchtet es mehr alsder Mann, denn dieser will ja nichts anderes als eintre-ten, selbst als er von den schrecklichen Türhütern desInnern gehört hat, der Türhüter dagegen will nichteintreten, wenigstens erfährt man nichts darüber. An-dere sagen zwar, daß er bereits im Innern gewesen seinmuß, denn er ist doch einmal in den Dienst des Gesetzesaufgenommen worden und das könne nur im Innerngeschehen sein. Darauf ist zu antworten, daß er wohlauch durch einen Ruf aus dem Innern zum Türhüterbestellt worden sein könne und daß er zumindest tief imInnern nicht gewesen sein düre, da er doch schon denAnblick des dritten Türhüters nicht mehr ertragen kann.Außerdem aber wird auch nicht berichtet, daß er wäh-rend der vielen Jahre außer der Bemerkung über dieTürhüter irgendetwas von dem Innern erzählt hätte. Eskönnte ihm verboten sein, aber auch vom Verbot hat ernichts erzählt. Aus alledem schließt man, daß er über dasAussehn und die Bedeutung des Innern nichts weiß undsich darüber in Täuschung befindet. Aber auch über denMann vom Lande soll er sich in Täuschung befinden,denn er ist diesem Mann untergeordnet und weiß esnicht. Daß er den Mann als einen Untergeordneten

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behandelt, erkennt man an vielem, das Dir noch erinner-lich sein düre. Daß er ihm aber tatsächlich untergeord-net ist, soll nach dieser Meinung ebenso deutlich hervor-gehn. Vor allem ist der Freie dem Gebundenen überge-ordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kannhingehn wohin er will, nur der Eingang in das Gesetz istihm verboten und überdies nur von einem Einzelnen,vom Türhüter. Wenn er sich auf den Schemel seitwärtsvom Tor niedersetzt und dort sein Leben lang bleibt, sogeschieht dies freiwillig, die Geschichte erzählt von kei-nem Zwang. Der Türhüter dagegen ist durch sein Amtan seinen Posten gebunden, er darf sich nicht auswärtsentfernen, allem Anschein nach aber auch nicht in dasInnere gehn, selbst wenn er es wollte. Außerdem ist erzwar im Dienst des Gesetzes, dient aber nur für diesenEingang, also auch nur für diesen Mann für den dieserEingang allein bestimmt ist. Auch aus diesem Grunde ister ihm untergeordnet. Es ist anzunehmen, daß er durchviele Jahre, durch ein ganzes Mannesalter gewisserma-ßen nur leeren Dienst geleistet hat, denn es wird gesagt,daß ein Mann kommt, also jemand im Mannesalter, daßalso der Türhüter lange warten mußte ehe sich seinZweck erfüllte undzwar solange warten mußte, als esdem Mann beliebte, der doch freiwillig kam. Aber auchdas Ende des Dienstes wird durch das Lebensende desMannes bestimmt, bis zum Ende also bleibt er ihmuntergeordnet. Und immer wieder wird betont, daß von

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alledem der Türhüter nichts zu wissen scheint. Daranwird aber nichts auffälliges gesehn, denn nach dieserMeinung befindet sich der Türhüter noch in einer vielschwerern Täuschung, sie betri seinen Dienst. Zuletztspricht er nämlich vom Eingang und sagt ,Ich gehe jetztund schließe ihn‘, aber am Anfang heißt es, daß das Torzum Gesetz offensteht wie immer, steht es aber immeroffen, immer d. h. unabhängig von der Lebensdauer desMannes für den es bestimmt ist, dann wird es auch derTürhüter nicht schließen können. Darüber gehn dieMeinungen auseinander, ob der Türhüter mit der An-kündigung daß er das Tor schließen wird, nur eineAntwort geben oder seine Dienstpflicht betonen oderden Mann noch im letzten Augenblick in Reue undTrauer setzen will. Darin aber sind viele einig, daß er dasTor nicht wird schließen können. Sie glauben sogar, daßer wenigstens am Ende auch in seinem Wissen demManne untergeordnet ist, denn dieser sieht den Glanzder aus dem Eingang des Gesetzes bricht, während derTürhüter als solcher wohl mit dem Rücken zum Eingangsteht und auch durch keine Äußerung zeigt, daß er eineVeränderung bemerkt hätte.“ „Das ist gut begründet“,sagte K., der einzelne Stellen aus der Erklärung desGeistlichen halblaut für sich wiederholt hatte. „Es ist gutbegründet und ich glaube nun auch daß der Türhütergetäuscht ist. Dadurch bin ich aber von meiner frühernMeinung nicht abgekommen, denn beide decken sich

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teilweise. Es ist unentscheidend, ob der Türhüter klarsieht oder getäuscht wird. Ich sagte, der Mann wirdgetäuscht. Wenn der Türhüter klar sieht, könnte mandaran zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist,dann muß sich seine Täuschung notwendig auf denMann übertragen. Der Türhüter ist dann zwar keinBetrüger, aber so einfältig, daß er sofort aus dem Dienstgejagt werden müßte. Du mußt doch bedenken, daß dieTäuschung in der sich der Türhüter befindet ihm nichtsschadet, dem Mann aber tausendfach.“ „Hier stößt Duauf eine Gegenmeinung“, sagte der Geistliche. „Manchesagen nämlich, daß die Geschichte niemandem ein Rechtgibt über den Türhüter zu urteilen. Wie er uns aucherscheinen mag, so ist er doch ein Diener des Gesetzes,also zum Gesetz gehörig, also dem menschlichen Urteilentrückt. Man darf dann auch nicht glauben, daß derTürhüter dem Manne untergeordnet ist. Durch seinenDienst auch nur an den Eingang des Gesetzes gebundenzu sein ist unvergleichlich mehr als frei in der Welt zuleben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüterist schon dort. Er ist vom Gesetz zum Dienst bestellt, anseiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am Gesetze zwei-feln.“ „Mit dieser Meinung stimme ich nicht überein“,sagte K. kopfschüttelnd, „denn wenn man sich ihr an-schließt, muß man alles was der Türhüter sagt für wahrhalten. Daß das aber nicht möglich ist, hast Du ja selbstausführlich begründet.“ „Nein“, sagte der Geistliche,

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„man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nurfür notwendig halten.“ „Trübselige Meinung“, sagte K.

„Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“ K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war esnicht. Er war zu müde, um alle Folgerungen der Ge-schichte übersehn zu können, es waren auch unge-wohnte Gedankengänge in die sie ihn führte, unwirkli-che Dinge, besser geeignet zur Besprechung für dieGesellscha der Gerichtsbeamten als für ihn. Die einfa-che Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sievon sich abschütteln und der Geistliche, der jetzt eingroßes Zartgefühl bewies, duldete es und nahm K.’sBemerkung schweigend auf, trotzdem sie mit seinereigenen Meinung gewiß nicht übereinstimmte. Sie giengen eine Zeitlang schweigend weiter, K. hieltsich eng neben dem Geistlichen ohne in der Finsterniszu wissen, wo er sich befand. Die Lampe in seiner Handwar längst erloschen. Einmal blinkte gerade vor ihm dassilberne Standbild eines Heiligen nur mit dem Schein desSilbers und spielte gleich wieder ins Dunkel über. Umnicht vollständig auf den Geistlichen angewiesen zubleiben, fragte ihn K.: „Sind wir jetzt nicht in der Nähedes Haupteinganges?“ „Nein“, sagte der Geistliche, „wirsind weit von ihm entfernt. Willst Du schon fortgehn?“Trotzdem K. gerade jetzt nicht daran gedacht hatte,sagte er sofort: „Gewiß, ich muß fortgehn. Ich binProkurist einer Bank, man wartet auf mich, ich bin nur

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hergekommen, um einem ausländischen Geschäs-freund den Dom zu zeigen.“ „Nun“, sagte der Geistlicheund reichte K. die Hand, „dann geh.“ „Ich kann michaber im Dunkel allein nicht zurechtfinden“, sagte K.

„Geh links zur Wand“, sagte der Geistliche, „dannweiter die Wand entlang ohne sie zu verlassen und Duwirst einen Ausgang finden.“ Der Geistliche hatte sicherst paar Schritte entfernt aber K. rief schon sehr laut:

„Bitte, warte noch.“ „Ich warte“, sagte der Geistliche.„Willst Du nicht noch etwas von mir?“ fragte K. „Nein“,sagte der Geistliche. „Du warst früher so freundlich zumir“, sagte K., „und hast mir alles erklärt, jetzt aberentläßt Du mich, als läge Dir nichts an mir.“ „Du mußtdoch fortgehn“, sagte der Geistliche. „Nun ja“, sagte K.,

„sieh das doch ein.“ „Sieh Du zuerst ein, wer ich bin“,sagte der Geistliche. „Du bist der Gefängniskaplan“,sagte K. und gieng näher zum Geistlichen hin, seinesofortige Rückkehr in die Bank war nicht so notwendigwie er sie dargestellt hatte, er konnte recht gut noch hierbleiben. „Ich gehöre also zum Gericht“, sagte der Geist-liche. „Warum sollte ich also etwas von Dir wollen. DasGericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf wennDu kommst und es entläßt Dich wenn Du gehst.“

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Ende

Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages –es war gegen neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf denStraßen – kamen zwei Herren in K.’s Wohnung. InGehröcken, bleich und fett, mit scheinbar unverrückba-ren Cylinderhüten. Nach einer kleinen Förmlichkeit beider Wohnungstür wegen des ersten Eintretens wieder-holte sich die gleiche Förmlichkeit in größerem Um-fange vor K.’s Tür. Ohne daß ihm der Besuch angekün-digt gewesen wäre, saß K. gleichfalls schwarz angezogenin einem Sessel in der Nähe der Türe und zog langsamneue scharf sich über die Finger spannende Handschuhean, in der Haltung wie man Gäste erwartet. Er standgleich auf und sah die Herren neugierig an. „Sie sind alsofür mich bestimmt?“ fragte er. Die Herren nickten, einerzeigte mit dem Cylinderhut in der Hand auf den andern.K. gestand sich ein, daß er einen andern Besuch erwartethatte. Er gieng zum Fenster und sah noch einmal auf diedunkle Straße. Auch fast alle Fenster auf der andernStraßenseite waren noch dunkel, in vielen die Vorhängeherabgelassen. In einem beleuchteten Fenster des Stock-werkes spielten zwei kleine Kinder hinter einem Gitter

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mit einander und tasteten, noch unfähig sich von ihrenPlätzen fortzubewegen, mit den Händchen nach einan-der. „Alte untergeordnete Schauspieler schickt man ummich“, sagte sich K. und sah sich um, um sich nochmalsdavon zu überzeugen. „Man sucht auf billige Weise mitmir fertig zu werden.“ K. wendete sich plötzlich ihnenzu und fragte: „An welchem Teater spielen Sie.“ „Tea-ter?“ fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkelnden andern um Rat. Der andere geberdete sich wie einStummer, der mit dem widerspenstigen Organismuskämp. „Sie sind nicht darauf vorbereitet, gefragt zuwerden“, sagte sich K. und gieng seinen Hut holen. Schon auf der Treppe wollten sich die Herren in K.einhängen, aber K. sagte: „Erst auf der Gasse, ich binnicht krank.“ Gleich aber vor dem Tor hängten sie sichin ihn in einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einemMenschen gegangen war. Sie hielten die Schultern eng hin-ter den seinen, knickten die Arme nicht ein, sondern be-nützten sie, um K.’s Arme in ihrer ganzen Länge zu um-schlingen, unten erfaßten sie K.’s Hände mit einem schul-mäßigen, eingeübten, unwiderstehlichen Griff. K. giengstraff gestreckt zwischen ihnen, sie bildeten jetzt alle dreieine solche Einheit, daß wenn man einen von ihnen zer-schlagen hätte, alle zerschlagen gewesen waren. Es wareine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann. Unter den Laternen versuchte K. öers, so schwer esbei diesem engen Aneinander ausgeführt werden konn-

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te, seine Begleiter deutlicher zu sehn, als es in der Däm-merung seines Zimmers möglich gewesen war. Viel-leicht sind es Tenöre dachte er im Anblick ihres schwe-ren Doppelkinns. Er ekelte sich vor der Reinlichkeitihrer Gesichter. Man sah förmlich noch die säuberndeHand, die in ihre Augenwinkel gefahren, die ihreOberlippe gerieben, die die Falten am Kinn ausgekratzthatte. Als K. das bemerkte blieb er stehn, infolgedessenblieben auch die andern stehn; sie waren am Rand einesfreien menschenleeren mit Anlagen geschmückten Plat-zes. „Warum hat man gerade Sie geschickt!“ rief er mehrals er fragte. Die Herren wußten scheinbar keine Ant-wort, sie warteten mit dem hängenden freien Arm, wieKrankenwärter, wenn der Kranke sich ausruhn will.

„Ich gehe nicht weiter“, sagte K. versuchsweise. Daraufbrauchten die Herren nicht zu antworten, es genügtedaß sie den Griff nicht lockerten und K. von der Stellewegzuheben versuchten, aber K. widerstand. „Ich werdenicht mehr viel Kra brauchen, ich werde jetzt alleanwenden“, dachte er. Ihm fielen die Fliegen ein, die mitzerreißenden Beinchen von der Leimrute wegstreben.

„Die Herren werden schwere Arbeit haben.“ Da stieg vor ihnen aus einer tiefer gelegenen Gasse aufeiner kleinen Treppe Fräulein Bürstner zum Platz empor.Es war nicht ganz sicher, ob sie es war, die Ähnlichkeitwar freilich groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob es

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bestimmt Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeitseines Widerstandes kam ihm gleich zu Bewußtsein. Eswar nichts Heldenhaes wenn er widerstand, wenn erjetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetztin der Abwehr noch den letzten Schein des Lebens zugenießen versuchte. Er setzte sich in Gang und von derFreude, die er dadurch den Herren machte, gieng nochetwas auf ihn selbst über. Sie duldeten es jetzt, daß er dieWegrichtung bestimmte und er bestimmte sie nach demWeg, den das Fräulein vor ihnen nahm, nicht etwa weiler sie einholen, nicht etwa weil er sie möglichst langesehen wollte, sondern nur deshalb um die Mahnung, diesie für ihn bedeutete nicht zu vergessen. „Das einzigewas ich jetzt tun kann“, sagte er sich und das Gleichmaßseiner Schritte und der Schritte der drei andern bestätigteseine Gedanken, „das einzige was ich jetzt tun kann ist,bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten.Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welthineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigendenZweck. Das war unrichtig, soll ich nun zeigen, daß nichteinmal der einjährige Proceß mich belehren konnte? Sollich als ein begriffsstutziger Mensch abgehn? Soll manmir nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Processesihn beenden und jetzt an seinem Ende ihn wieder begin-nen will. Ich will nicht, daß man das sagt. Ich bindankbar dafür, daß man mir auf diesem Weg diese halb-stummen verständnislosen Herren mitgegeben hat und

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daß man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwen-dige zu sagen.“ Das Fräulein war inzwischen in eine Seitengasse ein-gebogen, aber K. konnte sie schon entbehren und über-ließ sich seinen Begleitern. Alle drei zogen nun in vollemEinverständnis über eine Brücke im Mondschein, jederkleinen Bewegung, die K. machte, gaben die Herrenjetzt bereitwillig nach, als er ein wenig zum Geländersich wendete, drehten auch sie sich in ganzer Frontdorthin. Das im Mondlicht glänzende und zitterndeWasser teilte sich um eine kleine Insel, auf der wiezusammengedrängt Laubmassen von Bäumen undSträuchern sich auäuen. Unter ihnen jetzt unsichtbarführten Kieswege mit bequemen Bänken, auf denen K.in manchem Sommer sich gestreckt und gedehnt hatte.

„Ich wollte ja gar nicht stehn bleiben“, sagte er zu seinenBegleitern, beschämt durch ihre Bereitwilligkeit. Dereine schien dem andern hinter K.’s Rücken einen sanenVorwurf wegen des mißverständlichen Stehenbleibenszu machen, dann giengen sie weiter. Sie kamen durch einige ansteigende Gassen, in denenhie und da Polizisten standen oder giengen, bald in derFerne, bald in nächster Nähe. Einer mit buschigemSchnurrbart, die Hand am Griff des Säbels trat wie mitAbsicht nahe an die nicht ganz unverdächtige Gruppe.Die Herren stockten, der Polizeimann schien schon denMund zu öffnen, da zog K. mit Macht die Herren

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vorwärts. Öers drehte er sich vorsichtig um, ob derPolizeimann nicht folge; als sie aber eine Ecke zwischensich und dem Polizeimann hatten fieng K. zu laufen an,die Herren mußten trotz großer Atemnot auch mitlau-fen. So kamen sie rasch aus der Stadt hinaus, die sich indieser Richtung fast ohne Übergang an die Felder an-schloß. Ein kleiner Steinbruch, verlassen und öde, lag inder Nähe eines noch ganz städtischen Hauses. Hiermachten die Herren halt, sei es daß dieser Ort von allemAnfang an ihr Ziel gewesen war, sei es daß sie zuerschöp waren, um noch weiter zu laufen. Jetzt ließensie K. los der stumm wartete, nahmen die Cylinderhüteab und wischten sich, während sie sich im Steinbruchumsahen, mit den Taschentüchern den Schweiß von derStirn. Überall lag der Mondschein mit seiner Natürlich-keit und Ruhe, die keinem andern Licht gegeben ist. Nach Austausch einiger Höflichkeiten hinsichtlichdessen wer die nächsten Aufgaben auszuführen habe, –die Herren schienen die Auräge ungeteilt bekommenzu haben – gieng der eine zu K. und zog ihm den Rock,die Weste und schließlich das Hemd aus. K. fröstelteunwillkürlich, worauf ihm der Herr einen leichten beru-higenden Schlag auf den Rücken gab. Dann legte er dieSachen sorgfältig zusammen, wie Dinge die man nochgebrauchen wird, wenn auch nicht in allernächster Zeit.Um K. nicht ohne Bewegung der immerhin kühlen

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Nachtlu auszusetzen, nahm er ihn unter den Arm undgieng mit ihm ein wenig auf und ab, während der andereHerr den Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelleabsuchte. Als er sie gefunden hatte winkte er und derandere Herr geleitete K. hin. Es war nahe der Bruch-wand, es lag dort ein losgebrochener Stein. Die Herrensetzten K. auf die Erde nieder, lehnten ihn an den Steinund betteten seinen Kopf obenauf. Trotz aller Anstren-gung, die sie sich gaben, und trotz alles Entgegenkom-mens, das ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehrgezwungene und unglaubwürdige. Der eine Herr batdaher den andern ihm für ein Weilchen das HinlegenK.’s allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde esnicht besser. Schließlich ließen sie K. in einer Lage, dienicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagenwar. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock undnahm aus einer Scheide, die an einem um die Westegespannten Gürtel hing, ein langes dünnes beiderseitiggeschäres Fleischermesser, hielt es hoch und prüe dieSchärfen im Licht. Wieder begannen die widerlichenHöflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messerdem andern, dieser reichte es wieder über K. zurück. K.wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, dasMesser, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte,selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat esnicht, sondern drehte den noch freien Hals und sahumher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle

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Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwor-tung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Restder dazu nötigen Kra versagt hatte. Seine Bücke fielenauf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch an-grenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhrendie Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, einMensch schwach und dünn in der Ferne und Höhebeugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte dieArme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Einguter Mensch? Einer der teilnahm? Einer der helfenwollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War nochHilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Ge-wiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich,aber einem Menschen der leben will, widersteht sienicht. Wo war der Richter den er nie gesehen hatte? Wowar das hohe Gericht bis zu dem er nie gekommen war?Er hob die Hände und spreizte alle Finger. Aber an K.’s Gurgel legten sich die Hände des einenHerrn, während der andere das Messer ihm ins Herzstieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augensah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die HerrenWange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidungbeobachteten. „Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als solltedie Scham ihn überleben.

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Fragmente

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B.’s Freundin

In der nächsten Zeit war es K. unmöglich mit FräuleinBürstner auch nur einige wenige Worte zu sprechen. Erversuchte auf die verschiedenste Weise an sie heranzu-kommen, sie aber wußte es immer zu verhindern. Erkam gleich nach dem Bureau nachhause, blieb in seinemZimmer ohne das Licht anzudrehn auf dem Kanapeesitzen und beschäigte sich mit nichts anderem als dasVorzimmer zu beobachten. Gieng etwa das Dienstmäd-chen vorbei und schloß die Tür des scheinbar leerenZimmers, so stand er nach einem Weilchen auf undöffnete sie wieder. Des Morgens stand er um eine Stundefrüher auf als sonst, um vielleicht Fräulein Bürstnerallein treffen zu können, wenn sie ins Bureau gieng.Aber keiner dieser Versuche gelang. Dann schrieb er ihreinen Brief sowohl ins Bureau als auch in die Wohnung,suchte darin nochmals sein Verhalten zu rechtfertigen,bot sich zu jeder Genugtuung an, versprach niemals dieGrenzen zu überschreiten, die sie ihm setzen würde undbat nur ihm die Möglichkeit zu geben, einmal mit ihr zusprechen, besonders da er auch bei Frau Grubach nichtsveranlassen könne, solange er sich nicht vorher mit ihr

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beraten habe, schließlich teilte er ihr mit, daß er dennächsten Sonntag während des ganzen Tages in seinemZimmer auf ein Zeichen von ihr warten werde, das ihmdie Erfüllung seiner Bitte in Aussicht stelle oder das ihmwenigstens erklären solle, warum sie die Bitte nichterfüllen könne, trotzdem er doch versprochen habe sichin allem ihr zu fügen. Die Briefe kamen nicht zurück,aber es erfolgte auch keine Antwort. Dagegen gab esSonntag ein Zeichen, dessen Deutlichkeit genügend war.Gleich früh bemerkte K. durch das Schlüsselloch einebesondere Bewegung im Vorzimmer, die sich bald auf-klärte. Eine Lehrerin des Französischen, sie war übri-gens eine Deutsche und hieß Montag, ein schwachesblasses, ein wenig hinkendes Mädchen, das bisher eineigenes Zimmer bewohnt hatte, übersiedelte in das Zim-mer des Fräulein Bürstner. Stundenlang sah man siedurch das Vorzimmer schlürfen. Immer war noch einWäschestück, oder ein Deckchen oder ein Buch verges-sen, das besonders geholt und in die neue Wohnunghinübergetragen werden mußte. Als Frau Grubach K. das Frühstück brachte – sieüberließ seitdem sie K. so erzürnt hatte, auch nicht diegeringste Bedienung dem Dienstmädchen – konnte sichK. nicht zurückhalten, sie zum erstenmal seit fünf Tagenanzusprechen. „Warum ist denn heute ein solcher Lärmim Vorzimmer?“ fragte er während er den Kaffee eingoß.

„Könnte das nicht eingestellt werden? Muß gerade am

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Sonntag aufgeräumt werden?“ Trotzdem K. nicht zuFrau Grubach aufsah, bemerkte er doch, daß sie wieerleichtert aufatmete. Selbst diese strengen Fragen K.’sfaßte sie als Verzeihung oder als Beginn der Verzeihungauf. „Es wird nicht aufgeräumt, Herr K.“ sagte sie,

„Fräulein Montag übersiedelt nur zu Fräulein Bürstnerund scha ihre Sachen hinüber.“ Sie sagte nichts weiter,sondern wartete wie K. es aufnehmen und ob er ihr ge-statten würde, weiter zu reden. K. stellte sie aber auf dieProbe, rührte nachdenklich den Kaffee mit dem Löffelund schwieg. Dann sah er zu ihr auf und sagte: „HabenSie schon Ihren frühern Verdacht wegen Fräulein Bürst-ner aufgegeben?“ „Herr K.“, rief Frau Grubach die nurauf diese Frage gewartet hatte und hielt K. ihre gefalte-ten Hände hin, „Sie haben eine gelegentliche Bemerkungletzthin so schwer genommen. Ich habe ja nicht im ent-ferntesten daran gedacht, Sie oder irgendjemand zu krän-ken. Sie kennen mich doch schon lange genug Herr K.,um davon überzeugt sein zu können. Sie wissen gar nichtwie ich die letzten Tage gelitten habe! Ich sollte meineMieter verleumden! Und Sie Herr K. glaubten es! Undsagten ich solle Ihnen kündigen! Ihnen kündigen!“ Derletzte Ausruf erstickte schon unter Tränen, sie hob dieSchürze zum Gesicht und schluchzte laut. „Weinen Sie doch nicht Frau Grubach“, sagte K. undsah zum Fenster hinaus, er dachte nur an Fräulein Bürst-ner und daran daß sie ein fremdes Mädchen in ihr

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Zimmer aufgenommen hatte. „Weinen Sie doch nicht“,sagte er nochmals als er sich ins Zimmer zurückwendeteund Frau Grubach noch immer weinte. „Es war jadamals auch von mir nicht so schlimm gemeint. Wirhaben eben einander gegenseitig mißverstanden. Daskann auch alten Freunden einmal geschehn.“ Frau Gru-bach rückte die Schürze unter die Augen, um zu sehn,ob K. wirklich versöhnt sei. „Nun ja, es ist so“, sagte K.und wagte nun, da nach dem Verhalten der Frau Gru-bach zu schließen, der Hauptmann nichts verraten hatte,noch hinzuzufügen: „Glauben Sie denn wirklich, daßich mich wegen eines fremden Mädchens mit Ihnenverfeinden könnte.“ „Das ist es ja eben Herr K.“, sagteFrau Grubach, es war ihr Unglück, daß sie sobald siesich nur irgendwie freier fühlte gleich etwas Unge-schicktes sagte, „ich fragte mich immerfort: Warumnimmt sich Herr K. so sehr des Fräulein Bürstner an?Warum zankt er ihretwegen mit mir, trotzdem er weiß,daß mir jedes böse Wort von ihm den Schlaf nimmt? Ichhabe ja über das Fräulein nichts anderes gesagt als wasich mit eigenen Augen gesehen habe.“ K. sagte dazunichts, er hätte sie mit dem ersten Wort aus dem Zimmerjagen müssen und das wollte er nicht. Er begnügte sichdamit den Kaffee zu trinken und Frau Grubach ihreÜberflüssigkeit fühlen zu lassen. Draußen hörte manwieder den schleppenden Schritt des Fräulein Montag,welche das ganze Vorzimmer durchquerte. „Hören Sie

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es?“ fragte K. und zeigte mit der Hand nach der Tür.„Ja“, sagte Frau Grubach und seufzte, „ich wollte ihrhelfen und auch vom Dienstmädchen helfen lassen, abersie ist eigensinnig, sie will alles selbst übersiedeln. Ichwundere mich über Fräulein Bürstner. Mir ist es olästig, daß ich Fräulein Montag in Miete habe, FräuleinBürstner aber nimmt sie sogar zu sich ins Zimmer.“

„Das muß Sie gar nicht kümmern“, sagte K. und zer-drückte die Zuckerreste in der Tasse. „Haben Sie denndadurch einen Schaden?“ „Nein“, sagte Frau Grubach,

„an und für sich ist es mir ganz willkommen, ich be-komme dadurch ein Zimmer frei und kann dort meinenNeffen den Hauptmann unterbringen. Ich fürchteteschon längst, daß er Sie in den letzten Tagen, währendderer ich ihn nebenan im Wohnzimmer wohnen lassenmußte, gestört haben könnte. Er nimmt nicht viel Rück-sicht.“ „Was für Einfälle!“ sagte K. und stand auf, „da-von ist ja keine Rede. Sie scheinen mich wohl fürüberempfindlich zu halten, weil ich diese Wanderungendes Fräulein Montag – jetzt geht sie wieder zurück –nicht vertragen kann.“ Frau Grubach kam sich rechtmachtlos vor. „Soll ich, Herr K., sagen, daß sie denrestlichen Teil der Übersiedlung aufschieben soll? WennSie wollen, tue ich es sofort.“ „Aber sie soll doch zuFräulein Bürstner übersiedeln!“ sagte K. „Ja“, sagte FrauGrubach, sie verstand nicht ganz, was K. meinte. „Nunalso“, sagte K., „dann muß sie doch ihre Sachen hin-

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übertragen.“ Frau Grubach nickte nur. Diese stummeHilflosigkeit, die äußerlich nicht anders aussah als Trotzreizte K. noch mehr. Er fieng an im Zimmer vom Fensterzur Tür auf- und abzugehn und nahm dadurch FrauGrubach die Möglichkeit sich zu entfernen, was siesonst wahrscheinlich getan hätte. Gerade war K. einmal wieder bis zur Tür gekommen,als es klope. Es war das Dienstmädchen, welches mel-dete, daß Fräulein Montag gern mit Herrn K. paar Wortesprechen möchte und daß sie ihn deshalb bitte ins Eß-zimmer zu kommen, wo sie ihn erwarte. K. hörte dasDienstmädchen nachdenklich an, dann wandte er sichmit einem fast höhnischen Blick nach der erschrockenenFrau Grubach um. Dieser Blick schien zu sagen, daß K.diese Einladung des Fräulein Montag schon längst vor-ausgesehen habe und daß sie auch sehr gut mit derQuälerei zusammenpasse, die er diesen Sonntagvormit-tag von den Mietern der Frau Grubach erfahren mußte.Er schickte das Dienstmädchen zurück mit der Antwortdaß er sofort komme, gieng dann zum Kleiderkasten,um den Rock zu wechseln und hatte als Antwort fürFrau Grubach, welche leise über die lästige Person jam-merte, nur die Bitte, sie möge das Frühstücksgeschirrschon forttragen. „Sie haben ja fast nichts angerührt“,sagte Frau Grubach. „Ach tragen Sie es doch weg“, riefK., es war ihm, als sei irgendwie allem Fräulein Montagbeigemischt und mache es widerwärtig.

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Als er durch das Vorzimmer gieng, sah er nach dergeschlossenen Tür von Fräulein Bürstners Zimmer. Aberer war nicht dorthin eingeladen, sondern in das Eßzim-mer, dessen Tür er aufriß ohne zu klopfen. Es war ein sehr langes aber schmales einfenstrigesZimmer. Es war dort nur soviel Platz vorhanden, daßman in den Ecken an der Türseite zwei Schränke schiefhatte aufstellen können, während der übrige Raum voll-ständig von dem langen Speisetisch eingenommen war,der in der Nähe der Tür begann und bis knapp zumgroßen Fenster reichte, welches dadurch fast unzugäng-lich geworden war. Der Tisch war bereits gedeckt und-zwar für viele Personen, da am Sonntag fast alle Mieterhier zu Mittag aßen. Als K. eintrat, kam Fräulein Montag vom Fenster heran der einen Seite des Tisches entlang K. entgegen. Siegrüßten einander stumm. Dann sagte Fräulein Montag,wie immer den Kopf ungewöhnlich aufgerichtet: „Ichweiß nicht, ob Sie mich kennen.“ K. sah sie mit zusam-mengezogenen Augen an. „Gewiß“, sagte er, „Sie woh-nen doch schon längere Zeit bei Frau Grubach.“ „Siekümmern sich aber, wie ich glaube, nicht viel um diePension“, sagte Fräulein Montag. „Nein“, sagte K.

„Wollen Sie sich nicht setzen“, sagte Fräulein Montag.Sie zogen beide schweigend zwei Sessel am äußerstenEnde des Tisches hervor und setzten sich einander ge-genüber. Aber Fräulein Montag stand gleich wieder auf,

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denn sie hatte ihr Handtäschchen auf dem Fensterbrettliegen gelassen und gieng es holen; sie schleie durchdas ganze Zimmer. Als sie, das Handtäschchen leichtschwenkend, wieder zurückkam, sagte sie: „Ich möchtenur im Aurag meiner Freundin ein paar Worte mitIhnen sprechen. Sie wollte selbst kommen, aber sie fühltsich heute ein wenig unwohl. Sie möchten sie entschul-digen und mich statt ihrer anhören. Sie hätte Ihnen auchnichts anderes sagen können, als ich Ihnen sagen werde.Im Gegenteil, ich glaube, ich kann Ihnen sogar mehrsagen, da ich wohl verhältnismäßig unbeteiligt bin.Glauben Sie nicht auch?“ „Was wäre denn zu sagen!“antwortete K., der dessen müde war, die Augen desFräulein Montag fortwährend auf seine Lippen gerichtetzu sehn. Sie maßte sich dadurch eine Herrscha schondarüber an, was er erst sagen wollte. „Fräulein Bürstnerwill mir offenbar die persönliche Aussprache um die ichsie gebeten habe, nicht bewilligen.“ „Das ist es“, sagteFräulein Montag, „oder vielmehr so ist es gar nicht, Siedrücken es sonderbar scharf aus. Im allgemeinen werdendoch Aussprachen weder bewilligt noch geschieht dasGegenteil. Aber es kann geschehn, daß man Ausspra-chen für unnötig hält und so ist es eben hier. Jetzt nachIhrer Bemerkung kann ich ja offen reden. Sie habenmeine Freundin schrilich oder mündlich um eine Un-terredung gebeten. Nun weiß aber meine Freundin, somuß ich wenigstens annehmen, was diese Unterredung

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betreffen soll, und ist deshalb aus Gründen die ich nichtkenne überzeugt, daß es niemandem Nutzen bringenwürde, wenn die Unterredung wirklich zustandekäme.Im übrigen erzählte sie mir erst gestern und nur ganzflüchtig davon, sie sagte hiebei daß auch Ihnen jedenfallsnicht viel an der Unterredung liegen könne, denn Siewären nur durch einen Zufall auf einen derartigen Ge-danken gekommen, und würden selbst auch ohne be-sondere Erklärung wenn nicht schon jetzt so doch sehrbald die Sinnlosigkeit des Ganzen erkennen. Ich antwor-tete darauf, daß das richtig sein mag, daß ich es aber zurvollständigen Klarstellung doch für vorteilha haltenwürde, Ihnen eine ausdrückliche Antwort zukommenzu lassen. Ich bot mich an, diese Aufgabe zu überneh-men, nach einigem Zögern gab meine Freundin mirnach. Ich hoffe nun aber auch in Ihrem Sinne gehandeltzu haben, denn selbst die kleinste Unsicherheit in dergeringfügigsten Sache ist doch immer quälend und wennman sie, wie in diesem Falle leicht beseitigen kann, sosoll es doch besser sofort geschehn.“ „Ich danke Ih-nen“, sagte K. sofort, stand langsam auf, sah FräuleinMontag an, dann über den Tisch hin, dann aus demFenster – das gegenüberliegende Haus stand in derSonne – und gieng zur Tür. Fräulein Montag folgte ihmpaar Schritte als vertraue sie ihm nicht ganz. Vor der Türmußten aber beide zurückweichen, denn sie öffnete sichund der Hauptmann Lanz trat ein. K. sah ihn zum

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erstenmal aus der Nahe. Es war ein großer etwa vierzig-jähriger Mann mit braungebranntem fleischigen Gesicht.Er machte eine leichte Verbeugung, die auch K. galt,gieng dann zu Fräulein Montag und küßte ihr ehrerbie-tig die Hand. Er war sehr gewandt in seinen Bewegun-gen. Seine Höflichkeit gegen Fräulein Montag stachauffallend von der Behandlung ab, die sie von K. erfah-ren hatte. Trotzdem schien Fräulein Montag K. nichtböse zu sein, denn sie wollte ihn sogar wie K. zubemerken glaubte, dem Hauptmann vorstellen. Aber K.wollte nicht vorgestellt werden, er wäre nicht imstandegewesen, weder dem Hauptmann noch Fräulein Montaggegenüber irgendwie freundlich zu sein, der Handkußhatte sie für ihn zu einer Gruppe verbunden, die ihnunter dem Anschein äußerster Harmlosigkeit und Unei-gennützigkeit von Fräulein Bürstner abhalten wollte. K.glaubte jedoch nicht nur das zu erkennen, er erkannteauch daß Fräulein Montag ein gutes, allerdings zwei-schneidiges Mittel gewählt hatte. Sie übertrieb die Be-deutung der Beziehung zwischen Fräulein Bürstner undK., sie übertrieb vor allem die Bedeutung der erbetenenAussprache und versuchte es gleichzeitig so zu wenden,als ob es K. sei, der alles übertreibe. Sie sollte sichtäuschen, K. wollte nichts übertreiben, er wußte, daßFräulein Bürstner ein kleines Schreibmaschinenfräuleinwar, das ihm nicht lange Widerstand leisten sollte. Hie-bei zog er absichtlich gar nicht in Berechnung, was er

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von Frau Grubach über Fräulein Bürstner erfahrenhatte. Das alles überlegte er, während er kaum grüßenddas Zimmer verließ. Er wollte gleich in sein Zimmergehn, aber ein kleines Lachen des Fräulein Montag, daser hinter sich aus dem Eßzimmer hörte, brachte ihn aufden Gedanken, daß er vielleicht beiden, dem Haupt-mann wie Fräulein Montag eine Überraschung bereitenkönnte. Er sah sich um und horchte, ob aus irgendeinemder umliegenden Zimmer eine Störung zu erwartenwäre, es war überall still, nur die Unterhaltung aus demEßzimmer war zu hören und aus dem Gang, der zurKüche führte, die Stimme der Frau Grubach. Die Gele-genheit schien günstig, K. gieng zur Tür von FräuleinBürstners Zimmer und klope leise. Da sich nichtsrührte, klope er nochmals, aber es erfolgte noch immerkeine Antwort. Schlief sie? Oder war sie wirklich un-wohl? Oder verleugnete sie sich nur deshalb, weil sieahnte, daß es nur K. sein konnte, der so leise klope? K,nahm an, daß sie sich verleugne und klope stärker,öffnete schließlich, da das Klopfen keinen Erfolg hatte,vorsichtig und nicht ohne das Gefühl, etwas unrechtesund überdies nutzloses zu tun, die Tür. Im Zimmer warniemand. Es erinnerte übrigens kaum mehr an das Zim-mer wie es K. gekannt hatte. An der Wand waren nunzwei Betten hintereinander aufgestellt, drei Sessel in derNähe der Tür waren mit Kleidern und Wäsche über-häu, ein Schrank stand offen. Fräulein Bürstner war

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wahrscheinlich fortgegangen, während Fräulein Montagim Eßzimmer auf K. eingeredet hatte. K. war davonnicht sehr bestürzt, er hatte kaum mehr erwartet Fräu-lein Bürstner so leicht zu treffen, er hatte diesen Versuchfast nur aus Trotz gegen Fräulein Montag gemacht.Umso peinlicher war es ihm aber, als er während er dieTür wieder schloß, in der offenen Tür des EßzimmersFräulein Montag und den Hauptmann sich unterhaltensah. Sie standen dort vielleicht schon seitdem K. die Türgeöffnet hatte, sie vermieden jeden Anschein als ob sieK. etwa beobachteten, sie unterhielten sich leise undverfolgten K.’s Bewegungen mit den Blicken nur so wieman während eines Gespräches zerstreut umherblickt.Aber auf K. lagen diese Blicke doch schwer, er beeiltesich an der Wand entlang in sein Zimmer zu kommen.

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Staatsanwalt

Trotz der Menschenkenntnis und Welterfahrung, welcheK. während seiner langen Dienstzeit in der Bank erwor-ben hatte, war ihm doch die Gesellscha seines Stamm-tisches immer als außerordentlich achtungswürdig er-schienen und er leugnete sich selbst gegenüber niemals,daß es für ihn eine große Ehre war einer solchen Gesell-scha anzugehören. Sie bestand fast ausschließlich ausRichtern, Staatsanwälten und Advokaten, auch einigeganz junge Beamte und Advokatursgehilfen waren zuge-lassen, sie saßen aber ganz unten am Tisch und durensich in die Debatten nur einmischen, wenn besondereFragen an sie gestellt wurden. Solche Fragestellungenaber hatten meist nur den Zweck die Gesellscha zubelustigen, besonders Staatsanwalt Hasterer der ge-wöhnlich K.’s Nachbar war liebte es auf diese Weise diejungen Herren zu beschämen. Wenn er die große starkbehaarte Hand mitten auf dem Tisch spreizte und sichzum untern Tischende wandte, horchte schon alles auf.Und wenn dann dort einer die Frage aufnahm aberentweder sie nicht einmal enträtseln konnte oder nach-denklich in sein Bier sah oder statt zu reden bloß mit den

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Kiefern schnappte oder gar – das war das Ärgste – inunaualtsamem Schwall eine falsche oder unbeglaubigteMeinung vertrat, dann drehten sich die altern Herrenlächelnd auf ihren Sitzen und es schien ihnen erst jetztbehaglich zu werden. Die wirklich ernsten fachgemäßenGespräche blieben nur ihnen vorbehalten. K. war in diese Gesellscha durch einen Advokaten,den Rechtsvertreter der Bank gebracht worden. Es hatteeine Zeit gegeben, da K. mit diesem Advokaten in derBank lange Besprechungen bis spät in den Abend hatteführen müssen und es hatte sich dann von selbst gefügt,daß er mit dem Advokaten an dessen Stammtisch ge-meinsam genachtmahlt und an der Gesellscha Gefallengefunden hatte. Er sah hier lauter gelehrte, angesehene,in gewissem Sinne mächtige Herren, deren Erholungdarin bestand, daß sie schwierige mit dem gewöhnlichenLeben nur entfernt zusammenhängende Fragen zu lösensuchten und hiebei sich abmühten. Wenn er selbst natür-lich nur wenig eingreifen konnte, so bekam er doch dieMöglichkeit vieles zu erfahren, was ihm früher oderspäter auch in der Bank Vorteil bringen konnte undaußerdem konnte er zum Gericht persönliche Beziehun-gen anknüpfen, die immer nützlich waren. Aber auchdie Gesellscha schien ihn gern zu dulden. Als geschä-licher Fachmann war er bald anerkannt und seine Mei-nung in solchen Dingen galt – wenn es dabei auch nichtganz ohne Ironie abgieng – als etwas Unumstößliches.

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Es geschah nicht selten, daß zwei, die eine Rechtsfrageverschieden beurteilten, K. seine Ansicht über den Tat-bestand abverlangten und daß dann K.’s Name in allenReden und Gegenreden wiederkehrte und bis in dieabstraktesten Untersuchungen gezogen wurde, denen K.längst nicht mehr folgen konnte. Allerdings klärte sichihm allmählich vieles auf, besonders da er in StaatsanwaltHasterer einen guten Berater an seiner Seite hatte, derihm auch freundschalich nähertrat. K. begleitete ihnsogar öers in der Nacht nachhause. Er konnte sich aberlange nicht daran gewöhnen Arm in Arm neben demriesigen Mann zu gehn, der ihn in seinem Radmantelganz unauffällig hätte verbergen können. Im Laufe der Zeit aber fanden sie sich derartig zusam-men, daß alle Unterschiede der Bildung, des Berufes, desAlters sich verwischten. Sie verkehrten mit einander, alshätten sie seit jeher zu einander gehört und wenn inihrem Verhältnis äußerlich manchmal einer überlegenschien, so war es nicht Hasterer sondern K., denn seinepraktischen Erfahrungen behielten meistens Recht, dasie so unmittelbar gewonnen waren, wie es vom Ge-richtstisch aus niemals geschehen kann. Diese Freundscha wurde natürlich am Stammtischbald allgemein bekannt, es geriet halb in Vergessenheit,wer K. in die Gesellscha gebracht hatte, nun war esjedenfalls Hasterer der K. deckte; wenn K.’s Berechti-gung hier zu sitzen auf Zweifel stoßen würde, konnte er

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sich mit gutem Recht auf Hasterer berufen. Dadurchaber erlangte K. eine besonders bevorzugte Stellung,denn Hasterer war ebenso angesehn als gefürchtet. DieKra und Gewandtheit seines juristischen Denkens wa-ren zwar sehr bewundernswert, doch waren in dieserHinsicht viele Herren ihm zumindest ebenbürtig, keinerjedoch reichte an ihn heran in der Wildheit, mit welcherer seine Meinung verteidigte. K. hatte den Eindruck, daßHasterer, wenn er seinen Gegner nicht überzeugenkonnte, ihn doch wenigstens in Furcht setzte, schon vorseinem gestreckten Zeigefinger wichen viele zurück. Eswar dann als ob der Gegner vergessen würde, daß er inGesellscha von guten Bekannten und Kollegen war,daß es sich doch nur um teoretische Fragen handelte,daß ihm in Wirklichkeit keinesfalls etwas geschehenkonnte – aber er verstummte und Kopfschütteln warschon Mut. Ein fast peinlicher Anblick war es, wenn derGegner weit entfernt saß, Hasterer erkannte, daß aufdie Entfernung hin keine Einigung Zustandekommenkönnte, wenn er nun etwa den Teller mit dem Essenzurückschob und langsam aufstand, um den Mann selbstaufzusuchen. Die in der Nähe beugten dann die Köpfezurück, um sein Gesicht zu beobachten. Allerdings wa-ren das nur verhältnismäßig seltene Zwischenfälle, vorallem konnte er fast nur über juristische Fragen inErregung geraten, undzwar hauptsächlich über solche,welche Processe betrafen, die er selbst geführt hatte oder

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führte. Handelte es sich nicht um solche Fragen, dannwar er freundlich und ruhig, sein Lachen war liebens-würdig und seine Leidenscha gehörte dem Essen undTrinken. Es konnte sogar geschehn, daß er der allgemei-nen Unterhaltung gar nicht zuhörte, sich zu K. wandte,den Arm über dessen Sessellehne legte, ihn halblaut überdie Bank ausfragte, dann selbst über seine eigene Arbeitsprach oder auch von seinen Damenbekanntschaenerzählte, die ihm fast soviel zu schaffen machten wie dasGericht. Mit keinem andern in der Gesellscha sah manihn derartig reden und tatsächlich kam man o, wennman etwas von Hasterer erbitten wollte – meistens sollteeine Versöhnung mit einem Kollegen bewerkstelligtwerden – zunächst zu K. und bat ihn um seine Vermitt-lung, die er immer gerne und leicht durchführte. Er warüberhaupt, ohne etwa seine Beziehung zu Hasterer indieser Hinsicht auszunützen, allen gegenüber sehr höf-lich und bescheiden und er verstand es, was noch wichti-ger als Höflichkeit und Bescheidenheit war, zwischenden Rangabstufungen der Herren richtig zu unterschei-den und jeden seinem Range gemäß zu behandeln. Aller-dings belehrte ihn Hasterer darin immer wieder, eswaren dies die einzigen Vorschrien, die Hasterer selbstin der erregtesten Debatte nicht verletzte. Darum rich-tete er auch an die jungen Herren unten am Tisch, dienoch fast gar keinen Rang besaßen, immer nur allge-meine Ansprachen, als wären es nicht einzelne, sondern

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bloß ein zusammengeballter Klumpen. Gerade dieseHerren aber erwiesen ihm die größten Ehren und wenner gegen elf Uhr sich erhob, um nachhause zu gehn, wargleich einer da, der ihm beim Anziehn des schwerenMantels behilflich war und ein anderer der mit großerVerbeugung die Türe vor ihm öffnete und sie natürlichauch noch festhielt wenn K. hinter Hasterer das Zimmerverließ. Während in der ersten Zeit K. Hasterer oder auchdieser K. ein Stück Wegs begleitete, endeten später sol-che Abende in der Regel damit, daß Hasterer K. bat mitihm in seine Wohnung zu kommen und ein Weilchen beiihm zu bleiben. Sie saßen dann noch wohl eine Stundebei Schnaps und Zigarren. Diese Abende waren Hastererso lieb, daß er nicht einmal auf sie verzichten wollte, alser während einiger Wochen ein Frauenzimmer namensHelene bei sich wohnen hatte. Es war eine dicke ältlicheFrau mit gelblicher Haut und schwarzen Locken, diesich um ihre Stirn ringelten. K. sah sie zunächst nur imBett, sie lag dort gewöhnlich recht schamlos, pflegteeinen Lieferungsroman zu lesen und kümmerte sichnicht um das Gespräch der Herren. Erst wenn es spätwurde, streckte sie sich, gähnte und warf auch, wenn sieauf andere Weise die Aufmerksamkeit nicht auf sichlenken konnte, ein He ihres Romans nach Hasterer.Dieser stand dann lächelnd auf und K. verabschiedetesich. Später allerdings als Hasterer Helene’s müde zu

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werden anfieng, störte sie die Zusammenküne emp-findlich. Sie erwartete nun immer die Herren vollständigangekleidet undzwar gewöhnlich in einem Kleid, das siewahrscheinlich für sehr kostbar und kleidsam hielt, dasaber in Wirklichkeit ein altes überladenes Ballkleid warund besonders unangenehm durch einige Reihen langerFransen auffiel, mit denen es zum Schmuck behängt war.Das genaue Aussehn dieses Kleides kannte K. gar nicht,er weigerte sich gewissermaßen sie anzusehn und saßstundenlang mit halbgesenkten Augen da, während siesich wiegend durch das Zimmer gieng oder in seinerNähe saß und später als ihre Stellung immer unhaltbarerwurde, in ihrer Not sogar versuchte, durch Bevorzu-gung K.’s Hasterer eifersüchtig zu machen. Es war nurNot, nicht Bosheit, wenn sie sich mit dem entblößtenrundlichen fetten Rücken über den Tisch lehnte, ihrGesicht K. näherte und ihn so zwingen wollte, aufzu-blicken. Sie erreichte damit nur, daß K. sich nächstensweigerte zu Hasterer zu gehn, und als er nach einigerZeit doch wieder hinkam, war Helene endgiltig fortge-schickt; K. nahm das als selbstverständlich hin. Sieblieben an diesem Abend besonders lange beisammen,feierten auf Hasterers Anregung Bruderscha und K.war auf dem Nachhauseweg vom Rauchen und Trinkenfast ein wenig betäubt. Gerade am nächsten Morgen machte der Direktor inder Bank im Laufe eines geschälichen Gespräches die

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Bemerkung, er glaube gestern abend K. gesehen zuhaben. Wenn er sich nicht getäuscht habe, so sei K. Armin Arm mit dem Staatsanwalt Hasterer gegangen. DerDirektor schien das so merkwürdig zu finden, daß er –allerdings entsprach dies auch seiner sonstigen Genauig-keit – die Kirche nannte, an deren Längsseite in derNähe des Brunnens jene Begegnung stattgefunden habe.Hätte er eine Luspiegelung beschreiben wollen, erhätte sich nicht anders ausdrücken können. K. erklärteihm nun, daß der Staatsanwalt sein Freund sei und daßsie wirklich gestern abend an der Kirche vorübergegan-gen wären. Der Direktor lächelte erstaunt und forderteK. auf, sich zu setzen. Es war einer jener Augenblicke,wegen deren K. den Direktor so liebte, Augenblicke, indenen aus diesem schwachen kranken hüstelnden mitder verantwortungsvollsten Arbeit überlasteten Manneine gewisse Sorge um K.’s Wohl und um seine Zukunans Licht kam, eine Sorge, die man allerdings nach Artanderer Beamten, die beim Direktor ähnliches erlebthatten, kalt und äußerlich nennen konnte, die nichts warals ein gutes Mittel, wertvolle Beamte durch das Opfervon zwei Minuten für Jahre an sich zu fesseln – wie esauch sein mochte, K. unterlag dem Direktor in diesenAugenblicken. Vielleicht sprach auch der Direktor mitK. ein wenig anders als mit den andern, er vergaßnämlich nicht etwa seine übergeordnete Stellung, um aufdiese Weise mit K. gemein zu werden – dies tat er

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vielmehr regelmäßig im gewöhnlichen geschälichenVerkehr – hier aber schien er gerade K.’s Stellung verges-sen zu haben und sprach mit ihm wie mit einem Kindoder wie mit einem unwissenden jungen Menschen, dersich erst um eine Stellung bewirbt und aus irgendeinemunverständlichen Grunde das Wohlgefallen des Direk-tors erregt. K. hätte gewiß eine solche Redeweise wedervon einem andern noch vom Direktor selbst geduldet,wenn ihm nicht die Fürsorge des Direktors wahrhaigerschienen wäre oder wenn ihn nicht wenigstens dieMöglichkeit dieser Fürsorge, wie sie sich ihm in solchenAugenblicken zeigte, vollständig bezaubert hätte. K.erkannte seine Schwäche; vielleicht hatte sie ihrenGrund darin, daß in dieser Hinsicht wirklich noch etwasKindisches in ihm war, da er die Fürsorge des eigenenVaters, der sehr jung gestorben war, niemals erfahrenhatte, bald von Zuhause fortgekommen war und dieZärtlichkeit der Mutter, die halbblind noch draußen indem unveränderlichen Städtchen lebte und die er zuletztvor etwa zwei Jahren besucht hatte, immer eher abge-lehnt als hervorgelockt hatte. „Von dieser Freundscha wußte ich gar nichts“, sagteder Direktor und nur ein schwaches freundliches Lä-cheln milderte die Strenge dieser Worte.

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Zu Elsa

Eines Abends wurde K. knapp vor dem Weggehn tele-phonisch angerufen und aufgefordert sofort in die Ge-richtskanzlei zu kommen. Man warne ihn davor unge-horsam zu sein. Seine unerhörten Bemerkungen darüber,daß die Verhöre unnütz seien, kein Ergebnis haben undkeines haben können, daß er nicht mehr hinkommenwerde, daß er telephonische oder schriliche Einladun-gen nicht beachten und Boten aus der Türe werfenwerde – alle diese Bemerkungen seien protokolliert undhätten ihm schon viel geschadet. Warum wolle er sichdenn nicht fügen? Sei man nicht etwa ohne Rücksichtauf Zeit und Kosten bemüht in seine verwickelte SacheOrdnung zu bringen? Wolle er darin mutwillig störenund es zu Gewaltmaßregeln kommen lassen, mit denenman ihn bisher verschont habe? Die heutige Vorladungsei ein letzter Versuch. Er möge tun was er wolle, jedochbedenken, daß das hohe Gericht seiner nicht spottenlassen könne. Nun hatte K. für diesen Abend Elsa seinen Besuchangezeigt und konnte schon aus diesem Grunde nicht zuGericht kommen, er war froh darüber, sein Nichter-

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scheinen vor Gericht dadurch rechtfertigen zu können,wenn er auch natürlich niemals von dieser Rechtferti-gung Gebrauch machen würde und außerdem sehrwahrscheinlich auch dann nicht zu Gericht gegangenwäre, wenn er für diesen Abend nicht die geringstesonstige Verpflichtung gehabt hätte. Immerhin stellte erim Bewußtsein seines guten Rechtes durch das Telephondie Frage, was geschehen würde, wenn er nicht käme.

„Man wird Sie zu finden wissen“, war die Antwort.„Und werde ich dafür bestra werden, weil ich nichtfreiwillig gekommen bin“, fragte K. und lächelte inErwartung dessen, was er hören würde. „Nein“, war dieAntwort. „Vorzüglich“, sagte K., „was für einen Grundsollte ich dann aber haben, der heutigen Vorladung Folgezu leisten.“ „Man pflegt die Machtmittel des Gerichtesnicht auf sich zu hetzen“, sagte die schwächer werdendeund schließlich vergehende Stimme. „Es ist sehr unvor-sichtig, wenn man das nicht tut“, dachte K. im Weggehn,

„man soll doch versuchen die Machtmittel kennen zulernen.“ Ohne zu zögern fuhr er zu Elsa. Behaglich in dieWagenecke gelehnt, die Hände in den Taschen des Man-tels – es begann schon kühl zu werden – überblickte erdie lebhaen Straßen. Mit einer gewissen Zufriedenheitdachte er daran, daß er dem Gericht, falls es wirklich inTätigkeit war, nicht geringe Schwierigkeiten bereitete. Erhatte sich nicht deutlich ausgesprochen, ob er zu Gericht

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kommen würde oder nicht; der Richter wartete also,vielleicht wartete sogar die ganze Versammlung, nur K.würde zur besondern Enttäuschung der Gallerie nichterscheinen. Unbeirrt durch das Gericht fuhr er dorthinwohin er wollte. Einen Augenblick lang war er nichtsicher, ob er nicht aus Zerstreutheit dem Kutscher dieGerichtsadresse angegeben hatte, er rief ihm daher lautElsas Adresse zu; der Kutscher nickte, ihm war keineandere gesagt worden. Von da an vergaß K. allmählichan das Gericht und die Gedanken an die Bank begannenihn wieder wie in frühern Zeiten ganz zu erfüllen.

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Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter

Eines Morgens fühlte sich K. viel frischer und wider-standsfähiger als sonst. An das Gericht dachte er kaum;wenn es ihm aber einfiel, schien es ihm als könne dieseganz unübersichtlich große Organisation an irgend einerallerdings verborgenen im Dunkel erst zu ertastendenHandhabe leicht gefaßt, ausgerissen und zerschlagenwerden. Sein außergewöhnlicher Zustand verlockte K.sogar den Direktor-Stellvertreter einzuladen in sein Bu-reau zu kommen und eine geschäliche Angelegenheit,die schon seit einiger Zeit drängte, gemeinsam zu be-sprechen. Immer bei solchem Anlaß tat der Direktor-Stellvertreter so, als hätte sich sein Verhältnis zu K. inden letzten Monaten nicht im Geringsten geändert. Ru-hig kam er wie in den frühern Zeiten des ständigenWettbewerbes mit K., ruhig hörte er K.’s Ausführungenan, zeigte durch kleine vertrauliche ja kameradschali-che Bemerkungen seine Teilnahme und verwirrte K. nurdadurch, worin man aber keine Absicht sehen mußte,daß er sich durch nichts von der geschälichen Hauptsa-che ablenken ließ, förmlich bis in den Grund seinesWesens aufnahmsbereit für diese Sache war, während

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K.’s Gedanken vor diesem Muster von Pflichterfüllungsofort nach allen Seiten zu schwärmen anfiengen und ihnzwangen, die Sache selbst fast ohne Widerstand demDirektor-Stellvertreter zu überlassen. Einmal war es soschlimm, daß K. schließlich nur bemerkte, wie der Di-rektor-Stellvertreter plötzlich aufstand und stumm insein Bureau zurückkehrte. K. wußte nicht was gesche-hen war, es war möglich daß die Besprechung regelrechtabgeschlossen war, ebensomöglich aber war es, daß sieder Direktor-Stellvertreter abgebrochen hatte, weil ihnK. unwissentlich gekränkt oder weil er Unsinn gespro-chen hatte oder weil es dem Direktor-Stellvertreter un-zweifelha geworden war, daß K. nicht zuhörte und mitandern Dingen beschäigt war. Es war aber sogar mög-lich, daß K. eine lächerliche Entscheidung getroffen oderdaß der Direktor-Stellvertreter sie ihm entlockt hatteund daß er sich jetzt beeilte sie zum Schaden K.’s zuverwirklichen. Man kam übrigens auf diese Angelegen-heit nicht mehr zurück, K. wollte nicht an sie erinnernund der Direktor-Stellvertreter blieb verschlossen; esergaben sich allerdings vorläufig auch weiterhin keinesichtbaren Folgen. Jedenfalls war aber K. durch denVorfall nicht abgeschreckt worden, wenn sich nur einepassende Gelegenheit ergab und er nur ein wenig beiKräen war, stand er schon bei der Tür des Direktor-Stellvertreters um zu ihm zu gehn oder ihn zu sicheinzuladen. Es war keine Zeit mehr sich vor ihm zu

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verstecken, wie er es früher getan hatte. Er hoe nichtmehr auf einen baldigen entscheidenden Erfolg, der ihnmit einem Mal von allen Sorgen befreien und von selbstdas alte Verhältnis zum Direktor-Stellvertreter herstellenwürde. K. sah ein, daß er nicht ablassen dürfe, wich erzurück, so wie es vielleicht die Tatsachen forderten,dann bestand die Gefahr, daß er möglicherweise niemalsmehr vorwärts kam. Der Direktor-Stellvertreter durenicht im Glauben gelassen werden, daß K. abgetan sei, erdure mit diesem Glauben nicht ruhig in seinem Bureausitzen, er mußte beunruhigt werden, er mußte so o alsmöglich erfahren daß K. lebte und daß er wie alles waslebte, eines Tages mit neuen Fähigkeiten überraschenkonnte, so ungefährlich er auch heute schien. Manchmalsagte sich zwar K., daß er mit dieser Methode um nichtsanderes als um seine Ehre kämpfe, denn Nutzen konntees ihm eigentlich nicht bringen, wenn er sich in seinerSchwäche immer wieder dem Direktor-Stellvertreterentgegenstellte, sein Machtgefühl stärkte und ihm dieMöglichkeit gab Beobachtungen zu machen und seineMaßnahmen genau nach den augenblicklichen Verhält-nissen zu treffen. Aber K. hätte sein Verhalten gar nichtändern können, er unterlag Selbsttäuschungen, erglaubte manchmal mit Bestimmtheit er dürfe sich geradejetzt unbesorgt mit dem Direktor-Stellvertreter messen,die unglückseligsten Erfahrungen belehrten ihn nicht,was ihm bei zehn Versuchen nicht gelungen war, glaubte

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er mit dem elen durchsetzen zu können trotzdem allesimmer ganz einförmig zu seinen Ungunsten abgelaufenwar. Wenn er nach einer solchen Zusammenkun er-schöp, in Schweiß, mit leerem Kopf zurückblieb,wußte er nicht, ob es Hoffnung oder Verzweiflunggewesen war, die ihn an den Direktor-Stellvertreter ge-drängt hatte, ein nächstes Mal war es aber wieder voll-ständig eindeutig nur Hoffnung, mit der er zu der Türedes Direktor-Stellvertreters eilte. So war es auch heute. Der Direktor-Stellvertreter tratgleich ein, blieb dann nahe bei der Tür stehn, putzteeiner neu angenommenen Gewohnheit gemäß seinenZwicker und sah zuerst K. und dann, um sich nicht allzuauffallend mit K. zu beschäigen, auch das ganze Zim-mer genauer an. Es war als benütze er die Gelegenheit,um die Sehkra seiner Augen zu prüfen. K. widerstandden Blicken, lächelte sogar ein wenig und lud den Direk-tor-Stellvertreter ein sich zu setzen. Er selbst warf sichin seinen Lehnstuhl, rückte ihn möglichst nahe zumDirektor-Stellvertreter, nahm gleich die nötigen Papierevom Tisch und begann seinen Bericht. Der Direktor-Stellvertreter schien zunächst kaum zuzuhören. DiePlatte von K.’s Schreibtisch war von einer niedrigengeschnitzten Balustrade umgeben. Der ganze Schreib-tisch war vorzügliche Arbeit und auch die Balustradesaß fest im Holz. Aber der Direktor-Stellvertreter tat,als habe er gerade jetzt dort eine Lockerung bemerkt,

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und versuchte den Fehler dadurch zu beseitigen, daß ermit dem Zeigefinger auf die Balustrade loshieb. K.wollte darauin seinen Bericht unterbrechen, was aberder Direktor-Stellvertreter nicht duldete, da er wie ererklärte, alles genau höre und auffasse. Während ihmaber vorläufig K. keine sachliche Bemerkung abnötigenkonnte, schien die Balustrade besondere Maßregeln zuverlangen, denn der Direktor-Stellvertreter zog jetztsein Taschenmesser hervor, nahm als Gegenhebel K.’sLineal und versuchte die Balustrade hochzuheben,wahrscheinlich um sie dann leichter desto tiefer einsto-ßen zu können. K. hatte in seinen Bericht einen ganzneuartigen Vorschlag aufgenommen, von dem er sicheine besondere Wirkung auf den Direktor-Stellvertreterversprach und als er jetzt zu diesem Vorschlag gelangte,konnte er gar nicht innehalten, so sehr nahm ihn dieeigene Arbeit gefangen oder vielmehr so sehr freute ersich an dem immer seltener werdenden Bewußtsein, daßer hier in der Bank noch etwas zu bedeuten habe unddaß seine Gedanken die Kra hatten, ihn zu rechtferti-gen. Vielleicht war sogar diese Art sich zu verteidigennicht nur in der Bank sondern auch im Proceß die beste,viel besser vielleicht als jede andere Verteidigung, die erschon versucht hatte oder plante. In der Eile seiner Redehatte K. gar nicht Zeit, den Direktor-Stellvertreter aus-drücklich von seiner Arbeit an der Balustrade abzu-ziehn, nur zwei oder dreimal strich er während des

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Vorlesens mit der freien Hand wie beruhigend über dieBalustrade hin, um damit, fast ohne es selbst genau zuwissen, dem Direktor-Stellvertreter zu zeigen, daß dieBalustrade keinen Fehler habe und daß selbst wenn sicheiner vorfinden sollte, augenblicklich das Zuhören wich-tiger und auch anständiger sei als alle Verbesserungen.Aber den Direktor-Stellvertreter hatte, wie dies bei leb-haen nur geistig tätigen Menschen o geschieht, diesehandwerksmäßige Arbeit in Eifer gebracht, ein Stückder Balustrade war nun wirklich hochgezogen und eshandelte sich jetzt darum die Säulchen wieder in diezugehörigen Löcher hineinzubringen. Das war schwieri-ger als alles bisherige. Der Direktor-Stellvertreter mußteaufstehn und mit beiden Händen versuchen die Balu-strade in die Platte zu drücken. Es wollte aber trotz allesKraverbrauches nicht gelingen. K. hatte während desVorlesens – das er übrigens viel mit freier Rede unter-mischte – nur undeutlich wahrgenommen, daß der Di-rektor-Stellvertreter sich erhoben hatte. Trotzdem er dieNebenbeschäigung des Direktor-Stellvertreters kaumjemals ganz aus den Augen verlor, hatte er doch ange-nommen, daß die Bewegung des Direktor-Stellvertretersdoch auch mit seinem Vortrag irgendwie zusammen-hieng, auch er stand also auf und den Finger unter eineZahl gedrückt reichte er dem Direktor-Stellvertreter einPapier entgegen. Der Direktor-Stellvertreter aber hatteinzwischen eingesehn, daß der Druck der Hände nicht

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genügte, und so setzte er sich kurz entschlossen mitseinem ganzen Gewicht auf die Balustrade. Jetzt glücktees allerdings, die Säulchen fuhren knirschend in dieLöcher, aber ein Säulchen knickte in der Eile ein und aneiner Stelle brach die zarte obere Leiste entzwei.

„Schlechtes Holz“, sagte der Direktor-Stellvertreter är-gerlich, ließ vom Schreibtisch ab und setzte

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Das Haus

Ohne zunächst eine bestimmte Absicht damit zu verbin-den, hatte K. bei verschiedenen Gelegenheiten in Erfah-rung zu bringen gesucht, wo das Amt seinen Sitz habe,von welchem aus die erste Anzeige in seiner Sacheerfolgt war. Er erfuhr es ohne Schwierigkeiten, sowohlTitorelli als auch Wolart nannten ihm auf die ersteFrage hin die genaue Nummer des Hauses. Später ver-vollständigte Titorelli mit einem Lächeln, das er immerfür geheime ihm nicht zur Begutachtung vorgelegtePläne bereit hatte, die Auskun dadurch, daß er be-hauptete, gerade dieses Amt habe nicht die geringsteBedeutung, es spreche nur aus, was ihm aufgetragenwerde und sei nur das äußerste Organ der großen An-klagebehörde selbst, die allerdings für Parteien unzu-gänglich sei. Wenn man also etwas von der Anklagebe-hörde wünsche – es gäbe natürlich immer viele Wün-sche, aber es sei nicht immer klug, sie auszusprechen –dann müsse man sich allerdings an das genannte unterge-ordnete Amt wenden, doch werde man dadurch wederselbst zur eigentlichen Anklagebehörde dringen, nochseinen Wunsch jemals dorthin leiten.

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K. kannte schon das Wesen des Malers, er widersprachdeshalb nicht, erkundigte sich auch nicht weiter sondernnickte nur und nahm das Gesagte zur Kenntnis. Wiederschien ihm wie schon öers in der letzten Zeit, daßTitorelli soweit es auf Quälerei ankam, den Advokatenreichlich ersetzte. Der Unterschied bestand nur darin,daß K. Titorelli nicht so preisgegeben war und ihn, wannes ihm beliebte, ohne Umstände hätte abschütteln kön-nen, daß ferner Titorelli überaus mitteilsam, ja ge-schwätzig war wenn auch früher mehr als jetzt und daßschließlich K. sehr wohl auch seinerseits Titorelli quälenkonnte. Und das tat er auch in dieser Sache, sprach öers vonjenem Haus in einem Ton, als verschweige er Titorellietwas, als habe er Beziehungen mit jenem Amte ange-knüp, als seien sie aber noch nicht so weit gediehn, umohne Gefahr bekannt gemacht werden zu können,suchte ihn dann aber Titorelli zu nähern Angaben zudrängen, lenkte K. plötzlich ab und sprach lange nichtmehr davon. Er hatte Freude von solchen kleinen Erfol-gen, er glaubte dann, nun verstehe er schon viel besserdiese Leute aus der Umgebung des Gerichts, nun könneer schon mit ihnen spielen, rücke fast selbst unter sie ein,bekomme wenigstens für Augenblicke die bessere Über-sicht, welche ihnen gewissermaßen die erste Stufe desGerichtes ermöglichte, auf der sie standen. Was machtees, wenn er seine Stellung hier unten doch endlich

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verlieren sollte? Dort war auch dann noch eine Möglich-keit der Rettung, er mußte nur in die Reihen dieserLeute schlüpfen, hatten sie ihm infolge ihrer Niedrigkeitoder aus andern Gründen in seinem Processe nichthelfen können, so konnten sie ihn doch aufnehmen undverstecken, ja sie konnten sich, wenn er alles genügendüberlegt und geheim ausführte, gar nicht dagegen weh-ren, ihm auf diese Weise zu dienen, besonders Titorellinicht, dessen naher Bekannter und Wohltäter er dochjetzt geworden war. Von solchen und ähnlichen Hoffnungen nährte sichK. nicht etwa täglich, im allgemeinen unterschied ernoch genau und hütete sich irgendeine Schwierigkeit zuübersehn oder zu überspringen, aber manchmal – mei-stens waren es Zustände vollständiger Erschöpfung amAbend nach der Arbeit – nahm er Trost aus den gering-sten und überdies vieldeutigsten Vorfällen des Tages.Gewöhnlich lag er dann auf dem Kanapee seines Bu-reaus – er konnte sein Bureau nicht mehr verlassen, ohneeine Stunde lang auf dem Kanapee sich zu erholen – undfügte in Gedanken Beobachtung an Beobachtung. Erbeschränkte sich nicht peinlich auf die Leute, welche mitdem Gericht zusammenhingen, hier im Halbschlafmischten sich alle, er vergaß dann an die große Arbeitdes Gerichtes, ihm war als sei er der einzige Angeklagteund alle andern giengen durcheinander wie Beamte undJuristen auf den Gängen eines Gerichtsgebäudes, noch

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die stumpfsinnigsten hatten das Kinn zur Brust gesenkt,die Lippen aufgestülpt und den starren Blick verantwor-tungsvollen Nachdenkens. Immer traten dann als ge-schlossene Gruppe die Mieter der Frau Grubach auf, siestanden beisammen Kopf an Kopf mit offenen Mäulernwie ein anklagender Chor. Es waren viele Unbekannteunter ihnen, denn K. kümmerte sich schon seit langemum die Angelegenheiten der Pension nicht im Gering-sten. Infolge der vielen Unbekannten machte es ihm aberUnbehagen sich näher mit der Gruppe abzugeben, waser aber manchmal tun mußte, wenn er dort FräuleinBürstner suchte. Er überflog z. B. die Gruppe und plötz-lich glänzten ihm zwei gänzlich fremde Augen entgegenund hielten ihn auf. Er fand dann Fräulein Bürstnernicht, aber als er dann, um jeden Irrtum zu vermeidennochmals suchte, fand er sie gerade in der Mitte derGruppe, die Arme um zwei Herren gelegt, die ihr zurSeite standen. Es machte unendlich wenig Eindruck aufihn, besonders deshalb da dieser Anblick nichts neueswar, sondern nur die unauslöschliche Erinnerung an einePhotographie vom Badestrand, die er einmal in FräuleinBürstners Zimmer gesehen hatte. Immerhin trieb dieserAnblick K. von der Gruppe weg und wenn er auch nochöers hierher zurückkehrte so durcheilte er nun mitlangen Schritten das Gerichtsgebäude kreuz und quer.Er kannte sich immer sehr gut in allen Räumen aus,verlorene Gänge, die er nie gesehen haben konnte, er-

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schienen ihm vertraut, als wären sie seine Wohnung seitjeher, Einzelheiten drückten sich ihm mit schmerzlich-ster Deutlichkeit immer wieder ins Hirn, ein Ausländerz. B. spazierte in einem Vorsaal, er war gekleidet ähnlicheinem Stierfechter, die Taille war eingeschnitten wie mitMessern, sein ganz kurzes ihn steif umgebendes Röck-chen bestand aus gelblichen grobfädigen Spitzen unddieser Mann ließ sich, ohne sein Spazierengehn einenAugenblick einzustellen, unauörlich von K. bestau-nen. Gebückt umschlich ihn K. und staunte ihn mitangestrengt aufgerissenen Augen an. Er kannte alleZeichnungen der Spitzen, alle fehlerhaen Fransen, alleSchwingungen des Röckchens und hatte sich doch nichtsattgesehn. Oder vielmehr er hatte sich schon längstsattgesehn oder noch richtiger er hatte es niemals anse-hen wollen aber es ließ ihn nicht. „Was für Maskeradenbietet das Ausland!“ dachte er und riß die Augen nochstärker auf. Und im Gefolge dieses Mannes blieb er biser sich auf dem Kanapee herumwarf und das Gesicht insLeder drückte.

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Fahrt zur Mutter

Plötzlich beim Mittagessen fiel ihm ein er solle seineMutter besuchen. Nun war schon das Frühjahr fast zuEnde und damit das dritte Jahr seitdem er sie nichtgesehen hatte. Sie hatte ihn damals gebeten an seinemGeburtstag zu ihr zu kommen, er hatte auch trotzmancher Hindernisse dieser Bitte entsprochen und hatteihr sogar das Versprechen gegeben jeden Geburtstag beiihr zu verbringen, ein Versprechen, das er nun allerdingsschon zweimal nicht gehalten hatte. Dafür wollte er aberjetzt nicht erst bis zu seinem Geburtstag warten, obwohldieser schon in vierzehn Tagen war, sondern sofortfahren. Er sagte sich zwar, daß kein besonderer Grundvorlag gerade jetzt zu fahren, im Gegenteil, die Nach-richten, die er regelmäßig alle zwei Monate von einemVetter erhielt, der in jenem Städtchen ein Kaufmannsge-schä besaß und das Geld, welches K. für seine Mutterschickte, verwaltete, waren beruhigender als jemals frü-her. Das Augenlicht der Mutter war zwar am Erlöschen,aber das hatte K. nach den Aussagen der Ärzte schonseit Jahren erwartet, dagegen war ihr sonstiges Befindenein besseres geworden, verschiedene Beschwerden des

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Alters waren statt stärker zu werden zurückgegangen,wenigstens klagte sie weniger. Nach der Meinung desVetters hieng dies vielleicht damit zusammen, daß sie seitden letzten Jahren – K. hatte schon bei seinem Besuchleichte Anzeichen dessen fast mit Widerwillen bemerkt –unmäßig fromm geworden war. Der Vetter hatte ineinem Brief sehr anschaulich geschildert, wie die alteFrau, die sich früher nur mühselig fortgeschleppt hatte,jetzt an seinem Arm recht gut ausschritt, wenn er sieSonntags zur Kirche führte. Und dem Vetter dure K.glauben, denn er war gewöhnlich ängstlich und über-trieb in seinen Berichten eher das Schlechte als das Gute. Aber wie es auch sein mochte, K. hatte sich jetztentschlossen zu fahren; er hatte neuerdings unter ande-rem Unerfreulichem eine gewisse Wehleidigkeit an sichfestgestellt, ein fast haltloses Bestreben allen seinenWünschen nachzugeben – nun, in diesem Fall dientediese Untugend wenigstens einem guten Zweck. Er trat zum Fenster, um seine Gedanken ein wenig zusammeln, ließ dann gleich das Essen abtragen, schickteden Diener zu Frau Grubach um seine Abreise ihranzuzeigen und die Handtasche zu holen, in die FrauGrubach einpacken möge was ihr notwendig scheine,gab dann Herrn Kühne einige geschäliche Auräge fürdie Zeit seiner Abwesenheit, ärgerte sich diesmal kaumdarüber, daß Herr Kühne in einer Unart die schon zurGewohnheit geworden war, die Auräge mit seitwärts

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gewendetem Gesicht entgegennahm, als wisse er ganzgenau was er zu tun habe und erdulde diese Aurager-teilung nur als Ceremonie, und gieng schließlich zumDirektor. Als er diesen um einen zweitägigen Urlaubersuchte, da er zu seiner Mutter fahren müsse, fragte derDirektor natürlich, ob K.’s Mutter etwa krank sei.

„Nein“, sagte K. ohne weitere Erklärung. Er stand inder Mitte des Zimmers, die Hände hinten verschränkt.Mit zusammengezogener Stirn dachte er nach. Hatte ervielleicht die Vorbereitungen zur Abreise übereilt? Wares nicht besser hierzubleiben? Was wollte er dort? Wollteer etwa aus Rührseligkeit hinfahren? Und aus Rührselig-keit hier möglicherweise etwas Wichtiges versäumen,eine Gelegenheit zum Eingriff, die sich doch jetzt jedenTag jede Stunde ergeben konnte, nachdem der Proceßnun schon wochenlang scheinbar geruht hatte und kaumeine bestimmte Nachricht an ihn gedrungen war? Undwürde er überdies die alte Frau nicht erschrecken, was ernatürlich nicht beabsichtigte, was aber gegen seinenWillen sehr leicht geschehen konnte, da jetzt vieles gegenseinen Willen geschah. Und die Mutter verlangte garnicht nach ihm. Früher hatten sich in den Briefen desVetters die dringenden Einladungen der Mutter regelmä-ßig wiederholt, jetzt schon lange nicht. Der Mutterwegen fuhr er also nicht hin, das war klar. Fuhr er aberin irgendeiner Hoffnung seinetwegen hin, dann war erein vollkommener Narr und würde sich dort in der

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schließlichen Verzweiflung den Lohn seiner Narrheitholen. Aber als wären alle diese Zweifel nicht seineeigenen, sondern als suchten sie ihm fremde Leute bei-zubringen, verblieb er, förmlich erwachend, bei seinemEntschluß zu fahren. Der Direktor hatte sich indessenzufällig oder was wahrscheinlicher war aus besondererRücksichtnahme gegen K. über eine Zeitung gebeugt,jetzt hob auch er die Augen, reichte aufstehend K. dieHand und wünschte ihm, ohne eine weitere Frage zustellen, glückliche Reise. K. wartete dann noch, in seinem Bureau auf undabgehend, auf den Diener, wehrte fast schweigend denDirektor-Stellvertreter ab, der mehrere Male hereinkamum sich nach dem Grund von K.’s Abreise zu erkundi-gen, und eilte, als er die Handtasche endlich hatte, soforthinunter zu dem schon vorherbestellten Wagen. Er warschon auf der Treppe, da erschien oben im letzten Au-genblicke noch der Beamte Kullych, in der Hand einenangefangenen Brief, zu dem er offenbar von K. eineWeisung erbitten wollte. K. winkte ihm zwar mit derHand ab, aber begriffsstutzig, wie dieser blonde groß-köpfige Mensch war, mißverstand er das Zeichen undraste das Papier schwenkend in lebensgefährlichenSprüngen hinter K. her. Dieser war darüber so erbittert,daß er, als ihn Kullych auf der Freitreppe einholte, denBrief ihm aus der Hand nahm und zerriß. Als K. sichdann im Wagen umdrehte, stand Kullych, der seinen

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Fehler wahrscheinlich noch immer nicht eingesehenhatte, auf dem gleichen Platz und blickte dem davonfah-renden Wagen nach, während der Portier neben ihm tiefdie Mütze zog. K. war also doch noch einer der oberstenBeamten der Bank, wollte er es leugnen, würde ihn derPortier widerlegen. Und die Mutter hielt ihn sogar trotzaller Widerrede für den Direktor der Bank und diesschon seit Jahren. In ihrer Meinung würde er nichtsinken, wie auch sonst sein Ansehen Schaden gelittenhatte. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, daß er sichgerade vor der Abfahrt davon überzeugt hatte, daß ernoch immer einem Beamten, der sogar mit dem GerichtVerbindungen hatte, einen Brief wegnehmen und ohnejede Entschuldigung zerreißen dure. Das allerdingswas er am liebsten getan hätte, hatte er nicht tun dürfen,Kullych zwei laute Schläge auf seine bleichen rundenWangen zu geben.

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Inhalt

Verhaung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gespräch mit Frau Grubach / Dann Fräulein Bürstner . . . . . . . . . Erste Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im leeren Sitzungssaal / Der Student / Die Kanzleien . . . . . . . . . Der Prügler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Onkel / Leni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Advokat / Fabrikant / Maler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaufmann Block / Kündigung des Advokaten . . . . . . . . . . . . . . . Im Dom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Fragmente

B.̓ s Freundin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Elsa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fahrt zur Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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