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Das Werk von Josef Pieper
-Anna Kling-
Nachdem wir nun einiges über das Leben und den zeitgeschichtlichen Hintergrund von Josef
Pieper gehört haben, möchte ich Ihnen eine kurze Übersicht über sein Werk geben. Dabei
möchte ich Sie nicht mit lückenloser Vollständigkeit langweilen und sättigen, was in der
gebotenen Kürze der Zeit und angesichts des umfangreichen Werkes ohnehin nicht möglich
wäre, sondern vielmehr Ihren Appetit anregen, damit Sie – sozusagen als Nachspeise zu
dieser Tagung – Lust darauf bekommen, eines seiner Bücher zu verspeisen.
Zum Einstieg in das Werk von Josef Pieper sowie zum besseren Kennenlernen seiner Person
bieten sich seine autobiografischen Schriften an, die in drei Bänden vorliegen. Der erste Band
heißt „Noch wußte es niemand“ und befasst sich mit der Zeit von 1904 bis 1945. Im zweiten
Band mit dem Titel „Noch nicht aller Tage Abend“ geht es um den Zeitraum von 1945-1964
und im dritten Band, „Eine Geschichte wie ein Strahl“, beschreibt Pieper seine wichtigsten
Erlebnisse aus den Jahren 1964 bis 1984.
Pieper lässt uns teilhaben an seiner Kindheit, seinem Werdegang, der Entstehung seiner
Werke und seinen Begegnungen mit verschiedenen bedeutsamen Persönlichkeiten. Er
schildert kleine Begebenheiten oder persönliche Anekdoten auf eine lockere Art und Weise,
fast im Plauderton, aber auch das Fundament seiner philosophischen und theologischen
Schriften wird hier erkennbar.
Es ist mir ein Anliegen, Josef Pieper viel selbst „sprechen“ zu lassen, damit Sie auch einen
Eindruck seiner Sprache und Formulierungsweise bekommen. Pieper versteht es auf
besondere Weise, seine philosophischen Gedanken, die durchaus Tiefe und Aussagekraft
haben, in klare, einfach zugängliche Worte zu fassen; er bedient sich keiner verstaubten
Schulbegriffe, er verwendet nicht den sonst üblichen akademischen Fachjargon, er bildet
keine langen, verschachtelten Sätze, die vor Unverständlichkeit triefen.
Da wir schon einiges über Piepers Biografie gehört haben, möchte ich nun zu seinen anderen
Schriften kommen, angefangen mit seiner Dissertation, die er 1928 zur Ethik des Thomas von
Aquin verfasste. „Die ontische Grundlage des Sittlichen nach Thomas von Aquin“ – so der
genaue Titel, welcher davon zeugt, dass er sich schon zu Beginn seiner Laufbahn intensiv mit
der Tugendlehre des großen Philosophen und Theologen des Mittelalters auseinandersetzte,
welcher ihm fortan Zeit seines Lebens ein steter Begleiter bleiben sollte. Piepers Dissertation
erschien wenig später in einer zweiten, bearbeiteten Auflage mit dem Titel „Die Wirklichkeit
und das Gute nach Thomas von Aquin“ sowie 1935 in einer nochmals überarbeiteten Fassung
unter „Die Wirklichkeit und das Gute“ – wer die klare Ausdrucksweise Piepers kennt, wird
die zunehmende Vereinfachung des Titels nicht ohne Schmunzeln bemerkt haben.
In seiner Dissertation geht es erwartungsgemäß um die Wirklichkeit und das Gute, um das
Verhältnis von Sollen und Sein. In seinen autobiografischen Schriften fasst er die Grundlage
seiner Dissertation wie folgt zusammen:
Alles Sollen gründet im Sein; das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße. Wer das Gute
wissen und tun will, der muß seinen Blick richten auf die gegenständliche
Seinswelt, nicht auf die eigene Gesinnung, nicht auf das Gewissen, nicht auf die
Werte, nicht auf eigenmächtig gesetzte Ideale und Vorbilder. Er muß absehen von
seinem eigenen Akt und hinblicken auf die Wirklichkeit.
Pieper greift in seiner Dissertation beispielsweise auch bereits den Gedanken von Platon und
Thomas von Aquin auf, dass im Zusammenspiel der Tugenden die Tugend der Klugheit eine
Leitungsfunktion gegenüber den anderen Tugenden innehat. Mit den Tugenden werden wir
uns jedoch später noch ausführlicher beschäftigen.
Zunächst ist zu berichten, dass aus Piepers vierjähriger Tätigkeit als Assistent von Johann
Plenge am „Forschungsinstitut für Organisationslehre und Soziologie“, in dem er von 1928
bis 1932 tätig war, verschiedene soziologische Schriften hervorgingen. Doch auch nach seiner
Zeit als Forschungsassistent verfasste er diverse sozialpolitische, sozialtheoretische und
sozialethische Texte, die zwischenzeitlich unter dem Titel „Frühe soziologische Schriften“ in
einem Band veröffentlicht wurden. Nach Piepers eigenen Worten lässt sich sein Interesse an
Soziologie wie folgt begründen:
Ich war immer interessiert auch an diesem praktischen Bereich: Sozialpolitik,
Gesellschaftsphilosophie, Gesellschaftsethik, oder wie man es nennen will. Und
das war eigentlich mein Ziel: das Philosophische, Theoretische, Scholastische zu
verbinden mit dem, was heute in der sozialen Welt akut war.
Auf Piepers Arbeit am Forschungsinstitut folgte eine achtjährige Tätigkeit als freier
Schriftsteller von 1932 bis 1940, in der zahlreiche Artikel und Rezensionen in diversen
Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt wurden.
Etliche Veröffentlichungen von Pieper erschienen in der Zeit von 1934 bis 1971 regelmäßig
in der katholischen Monatszeitschrift „Hochland“, die 1903 von Carl Muth „zur Hebung des
Bildungsstandards der deutschen Katholiken“ gegründet worden war. In „Hochland“ fanden
sich auch Veröffentlichungen von Zeitgenossen oder Weggefährten wie Romano Guardini,
Theodor Haecker, Werner Bergengruen, Max Scheler oder Gertrud von le Fort. Bei der
„Erneuerung“ des christlichen Menschenbildes, welche sich die Zeitschrift zum Ziel gesetzt
hatte, kam Josef Pieper eine wichtige Rolle zu, wie Willi Fischges in einem Artikel in der
Tagespost schreibt: „In diesen dunklen Jahren, da in den Nationalsozialismus-
Schulungslagern der neue Menschentyp des tausendjährigen Reiches gezüchtet wurde,
sehnten sich die Menschen guten Willens nach positiven Anregungen für eine christliche
Lebenshaltun. Das ‚Hochland’ konnte sich für diese Aufgabe, das christliche Menschenbild
zu interpretieren, keinen besseren und berufeneren Schriftsteller wünschen als Josef Pieper.“
Während seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller kehrt Pieper auch zu seinem „Meister“
Thomas von Aquin zurück und fertigt sogar verschiedene Übersetzungen seiner Schriften, wie
„Das Wort“, „Das Herrenmahl“ und „Über den Lohn der Könige“. Mit seiner Rückkehr zu
Thomas beschäftigt er sich natürlich auch wieder intensiv mit seiner Tugendlehre und damit
beginnt eine großartige Reihe von Schriften über die Tugenden. Interessanterweise ist es
zunächst die Tugend der Tapferkeit, der er sich in einem Traktat „Vom Sinn der Tapferkeit“
1934 widmet. Doch weshalb fängt Pieper ausgerechnet mit dieser Kardinaltugend an, der
Tapferkeit – lateinisch fortitudo? Hier ist – wie bei vielen seiner Werke – der historische
Hintergrund und Zusammenhang von Bedeutung für die Entstehung, die Pieper selbst wie
folgt beschreibt:
Die unendlichen, von Pathos triefenden Reden über das „Heroische“, die durch
jene Jahre dröhnten, brachten mich auf den Gedanken, wieder einmal die
„Summa“ des Thomas von Aquin, des mir etwas außer Sicht geratenen Magisters
meiner frühen Zeit, hervorzuholen und darin den Traktat von der Kardinaltugend
der Tapferkeit nachzulesen. Wieder war ich sogleich fasziniert, wie am ersten
Tag. Und natürlich hatte, was ich dort fand, rein gar nichts zu tun mit jenem
„Helden“-Ideal, das die Propaganda ausschrie und zur Schau stellte. Aber wo
war ein Gegenbild? Es gab einfach keines; jedenfalls war es nicht formuliert. Die
abendländische Idee der Tapferkeit, „deren Lob von der Gerechtigkeit abhängt“,
war auch den Christen unvertraut geworden.
Ein solches „Gegenbild“ hat Pieper in dieser schwierigen Zeit sicherlich geschaffen, da es
ihm gelang, sich auf die wesentlichen Grundlagen von Wahrheit und Wirklichkeit zu
konzentrieren, ohne dabei konkret auf die Missstände der Zeit einzugehen. Hätte er weniger
abstrakt und allgemein über die Tapferkeit geschrieben, wäre sein Buch über die Tapferkeit
sicherlich schon früh auf die „Listen“ geraten und hätte viele nicht mehr erreicht, denen das
Buch so zumindest einen gewissen inneren Halt geben konnte.
Auf die weitere Entwicklung von Piepers Schriften über die Tugenden möchte ich jedoch erst
später eingehen. Zunächst möchte ich noch über die Entstehung eines interessantes Werks
berichten: der Christenfibel, in der die allgemeinen „Grundlagen“ des Christentums
zusammengefasst sind. Diese Christenfibel war eine Veröffentlichung des Instituts für
neuzeitliche Volksbildungsarbeit in Dortmund und wurde 1935 von Josef Pieper gemeinsam
mit seinem Institutskollegen Heinrich Raskop erarbeitet. Zur Entstehungsgeschichte schreibt
Pieper selbst:
Bei meiner Rückkehr von Leipzig im Sommer 1935 wartete schon zu Hause eine
ungewöhnliche Aufgabe. Zuerst hätten wir am liebsten rundheraus nein gesagt;
aber dann gefiel sie uns immer mehr. In den neuen deutschen Streitkräften sollte
es die Einrichtung der „Wehrmachtseelsorge“ geben. Offenbar lag den
Nationalsozialisten daran, sich in diesem Punkte demonstrativ an das
„Reichskonkordat“ zu halten. Das aber bedeutete unter anderem, daß in der
Dienstordnung der Wehrmacht eine regelmäßige religiöse Unterweisung der
Soldaten vorzusehen war. Hierfür hinwiederum brauchte man natürlich eine Art
Lehr- und Lernbuch; und so etwas existierte nicht. Eben das war die Aufgabe, die
man unserem „Institut“ zugedacht hat. War dies aber nicht, so fragten wir uns
dann, geradezu ein Musterfall von „volkstümlicher Erwachsenenbildung“? Und
bot sich hier nicht unverhofft eine wunderbare Möglichkeit, genau das zu
realisieren, was wir uns zum Ziel gesetzt hatten: dem Einzelnen geistig Stand zu
geben und Widerstand zu ermöglichen – und nun gar unter dem Schutz einer
offiziellen Institution? Wir sagten also zu. Und es entstand der Plan eines Buches,
das seinen Leser, den jungen Erwachsenen, ohne ihn allzu sehr an Sprache und
Stil der Schul-Katechismen zu erinnern, mit dem Totum der christlichen Wahrheit
konfrontieren sollte, sowohl, in einer knapen Erläuterung des Apostolischen
Glaubensbekenntnisses, mit der Glaubenslehre wie auch mit der Lebenslehre, und
dies in Gestalt einer Darlegung der sieben Grundtugenden. […] Eines Tages
konnten wir das fertige Manuskript an unseren Auftraggeber schicken. Gespannt
gingen wir kurze Zeit danach zu der Besprechung, für die ein Beauftragter des
Militärbischofs eigens nach Dortmund gereist war. […] Nach zehn Minuten
schon gab es keine Unklarheiten mehr. Unsere Arbeit war abgelehnt; man hatte
sich etwas völlig anderes vorgestellt. Vonnöten sei, so wurde uns
auseinandergesetzt, eine Art Nachschlagebuch, worin der Soldat, falls etwa in der
Putz- und Flickstunde gerade über das Ablaßwesen (beispielshalber) gelästert
werde, sich rasch auf einem gewissen Örtchen orientieren könne, um dann
sogleich Rede und Antwort zu stehen. Wir erklärten uns nicht bereit, ein solches
Buch zu schreiben, und verabschiedeten uns. […]
Das Manuskript ging dann, so wie es war, an den ohnehin vorgesehenen Verlag;
ohne daß zunächst die Namen der Autoren genannt wurden, erschien es im Herbst
1935 unter dem Titel „Christenfibel“. Niemals hat eine
„Institutsveröffentlichung“ einen solchen Erfolg gehabt. […] Die ersten
Hunderttausend waren schnell erreicht. Offenbar spürte man wiederum die
Absage an den „Geist der Zeit“, obwohl sie kaum wortwörtlich zu greifen war.
Irgendein Unbekannter hat es in den bald folgenden Kriegsjahren sogar zuwege
gebracht, die „Christenfibel“ auf die Liste derjenigen Schriften zu schmuggeln,
die das Goebbels-Ministerium ausdrücklich zum portofreien Massenversand an
die Soldaten freigegeben hatte.
Auf der Suche nach einem Exemplar einer frühen Ausgabe dieser Christenfibel stieß ich
übrigens bei einem Antiquariat auf den Hinweis: „zeitbedingt leicht gebräunt“.
Damit Sie sich davon überzeugen können, dass es sich bei dieser Beschreibung lediglich um
den Zustand, nicht aber den geistigen Inhalt des Buches handelt, möchte ich Ihnen den
Anfang der Christenfibel von 1936 kurz vortragen, und zwar den Anfang von Kapitel I –
Glaube und Leben:
Das Kennzeichen des Christen ist der christliche Glaube und das christliche
Leben. Beide, Glaube und Leben, gehören wie Wissen und Wirken zueinander.
Der christliche Glaube ist die Voraussetzung des christlichen Lebens, und das
christliche Leben ist die Frucht und Vollendung des Glaubens. Christliches Leben
ohne christlichen Glauben ist unmöglich, und christlicher Glaube ohne
christliches Leben ist unfruchtbar.
Über die Tugenden: Die vier Grundtugenden sind zunächst natürliche
Vollkommenheiten und Tauglichkeiten des Menschen. Aber als Tugenden des
Christen sind sie eingewurzelt in dem übernatürlichen Fruchtboden von Glaube,
Hoffnung und Liebe. Die Klugheit, die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, Zucht und
Maß des Christen empfangen aus dieser Verwurzelung einen neuen und höheren
Sinn; ihre natürliche Kraft und ihr natürlicher Adel vollenden sich zur Heiligkeit
eines aus Gott und in Gott geführten Lebens.
Auch hier zeigt sich wieder die Tugendlehre des Thomas von Aquin, und in seinem Buch
„Über das christliche Menschenbild“ (1936) geht Pieper noch konkreter darauf ein. Im
Abschnitt „Das christliche Menschenbild und die Tugendlehre von Thomas von Aquin“ heißt
es:
Thomas von Aquin, der große Magister der abendländischen Christenheit, hat
sich dafür entschieden, das christliche Menschenbild in sieben Thesen
auszusprechen, die man etwa folgendermaßen wiedergeben kann:
Erstens: der Christ ist ein Mensch, der – im Glauben – der Wirklichkeit des
dreieinigen Gottes inne wird. Zweitens: der Christ spannt sich – in der Hoffnung
– auf die endgültige Erfüllung seines Wesens im Ewigen Leben. Drittens: der
Christ richtet sich – in der göttlichen Tugend der Liebe – mit einer alle natürliche
Liebeskraft übersteigenden Bejahung auf Gott und den Mitmenschen. Viertens:
der Christ ist klug, das heißt, er läßt sich den Blick für die Wirklichkeit nicht
trüben durch das Ja oder Nein des Willens, sondern er macht das Ja oder Nein
des Willens abhängig von der Wahrheit der wirklichen Dinge. Fünftens: der
Christ ist gerecht, das heißt, er vermag in Wahrheit „mit dem andern“ zu leben;
er weiß sich als Glied unter Gliedern in der Kirche, im Volk und in aller
Gemeinschaft. Sechstens: der Christ ist tapfer, das heißt, er ist bereit, für die
Wahrheit und für die Verwirklichung der Gerechtigkeit Verwundungen und, wenn
es sein muß, den Tod hinzunehmen. Siebentens: der Christ hält Maß, das heißt, er
läßt es nicht zu, daß sein Habenwollen und sein Genießenwollen zerstörerisch
und wesenswidrig wird.
Diese sieben Thesen bedeuten, daß die Ethik der klassischen Theologie als
Darlegung des Menschenbildes wesentlich Tugendlehre ist.
In einem Artikel in der Tagespost, der anlässlich des Todes von Josef Pieper erschien,
schreibt Willi Fischges, Pieper wollte mit seinem Buch „Über das christliche Menschenbild“
zeigen, dass
[…] die Morallehre zuerst Lehre vom Menschen ist, die darüber nachdenken
sollen, was sie sein sollen. Es geht ihm also um die richtige Meinung der
Menschen von sich selbst. [-und weiter-] Es kommt ihm darauf an, „in einer Zeit
der Versuchung zur Verzweiflung“, in der sich alle innerweltlichen Aussichten
auf ein ‚glückliches Ende’ verdüstern und dem „auf das Natürliche beschränkten
Menschen nichts anderes bleibt als die hoffnungslose Tapferkeit des ‚heroischen
Untergangs’“, deutlich zu machen, daß sich die Tapferkeit des Christen nährt aus
der „Hoffnung auf das Wirklichkeitsübermaß des Lebens, auf das Ewige Leben,
auf einen Neuen Himmel und eine Neue Erde.“
Bevor wir uns näher mit den einzelnen Traktaten von Josef Pieper über die Tugenden
beschäftigen, möchte ich die Tugenden nochmals zusammenfassen, einige Begrifflichkeiten
zuordnen und in Relation zueinander setzen, um auch auf die weiteren Vorträge und
Diskussionen vorzubereiten.
Seit der Antike besteht ein Viergespann von Tugenden, die uns heute als Kardinaltugenden
(von lat. cardo – Dreh- und Angelpunkt) oder auch weltliche Tugenden überliefert sind.
Hierbei handelt es sich um die Klugheit (prudentia), die Tapferkeit (fortitudo), die
Gerechtigkeit (iustitia) und die Mäßigung (temperantia). In der Kunst finden sich zahlreiche
Darstellungen der einzelnen Tugenden: die Waage für die Gerechtigkeit, der Löwe für die
Tapferkeit und so fort. Neben den Kardinaltugenden gibt es die sogenannten göttlichen (bzw.
theologischen) Tugenden: Glaube (fides), Liebe (caritas) und Hoffnung (spes). Hier ist die
Symbolik sicherlich jedem Christen geläufig: spätestens zur Kommunion lernt man im
Zusammenhang mit Glaube, Liebe und Hoffnung in einem Atemzug auch gleich Kreuz, Herz
und Anker kennen. Bei dem Begriff „göttliche Tugenden“ handelt es sich natürlich nicht um
Tugenden Gottes, sondern darum, dass diese Tugenden (des Menschen) auf Gott gerichtet
sind: Der Glaube AN Gott, die Liebe ZU Gott und die Hoffnung AUF Gott. Diese göttlichen
Tugenden finden sich bereits in der Bibel – so schreibt Paulus im ersten Brief an die
Korinther (13/13): „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist
die größte unter ihnen.“
Auf diese göttlichen Tugenden ging auch Thomas von Aquin in seinen Werken ausführlich
ein und Pieper nimmt immer wieder Bezug darauf. Auch für uns als Katholiken heute hat dies
natürlich seine Bedeutung und ich finde, Pieper vermittelt die Tugendlehre auf eine äußerst
direkte, einfach zugängliche Art.
Im katholischen Katechismus werden die christlichen Tugenden und die Kardinaltugenden
vereint – diesen sieben Tugenden werden die sieben Todsünden (Laster) gegenübergestellt,
nämlich Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Dies wird sehr
anschaulich in zahlreichen Gemälden oder Stichen dargestellt, insbesondere sei hier auf
Bruegel den Älteren (Die Tugenden/Die Todsünden) sowie Hieronymus Bosch (Die sieben
Todsünden) verwiesen.
In seinem Vorwort zu dem Buch „Über die Tugenden“, das 2004 im Kösel-Verlag erschien
und Piepers Traktate über die vier Kardinaltugenden enthält, schreibt der damalige
Bundespräsident Johannes Rau:
[…] wer die einzelnen Auslegungen der Tugenden liest, wer sich auseinandersetzt
mit „Klugheit“, mit „Gerechtigkeit“, mit „Tapferkeit“ und mit „Maß“, der wird
schnell sehen, wie sehr solche Tugenden nötig sind – im Leben jedes einzelnen
und in der Gesellschaft –, und er wird sich mit Josef Pieper darüber belehren
lassen, wie sehr diese vier Tugenden miteinander zusammenhängen, aufeinander
aufbauen und sich gegenseitig stützen. Er wird sehen, daß diese vier „Kardinal“-
Tugenden tatsächlich sind, was der lateinische Begriff zum Ausdruck bringt:
Dreh- und Angelpunkte menschlicher Existenz.
Über den Grund und Anlass für die Entstehung von Piepers erstem Traktat über die
Tugenden, „Vom Sinn der Tapferkeit“, hatte ich eingangs ja bereits mit Bezug auf den damals
propagierten „Heroismus“ berichtet. Über die Schwierigkeiten von der Fertigstellung des
Büchleins bis zu seiner Veröffentlichung berichtet Pieper in seinen autobiografischen
Schriften selbst wie folgt:
Ein Verleger allerdings war hierfür anscheinend nicht aufzutreiben. Ich begann
schon von meinem „Bumerang“ zu reden – so regelmäßig kehrte das in die Welt
hinausgeschickte opusculum in die Hand seines Autors zurück. (Schließlich wird
es von Jakob Hegner in Leipzig veröffentlicht – er fragte, „ob es denn nicht
sieben solcher Tugenden gebe; natürlich müsse ich auch über die anderen in
dieser Weise schreiben; seinetwegen könne ich ihm jedes Jahr zwei solcher
Manuskripte schicken.“) Damit nahm die Reihe über die Tugenden ihren Lauf.
In seinem Bericht zur Entstehung seines 1935 erschienenen Traktats „Über die Hoffnung“
beschreibt Pieper seine Arbeitsweise als nahezu asketisch:
Damals, im frühen Herbst 1934, ging ich, erfüllt von neuer Zuversicht, daran, das
kleine Buch „Über die Hoffnung“ zu schreiben, unter dem freilich nicht gerade
wolkenlos-heiteren biblischen Vorspruch: „Wenn Er mich auch tötet, ich werde
auf Ihn hoffen.“ (Hiob 13,13)
Ich glaube nicht, daß ich in so unabgelenkter Konzentration auf eine einzige
Sache jemals wieder habe arbeiten können. „Konzentration“ ist vielleicht gar
nicht das richtige Wort; ich war völlig hingenommen und fasziniert von meinem
Gegenstand. Zum Glück war ich ja ein freier Mann und hatte wirklich nichts
anderes zu tun. Einen ganzen Winter lang saß ich also Tag für Tag an diesem
Manuskript. Es gab für mich weder Theater noch Konzert; ich lebte wie außer der
Zeit. Und im Frühjahr 1935 erschien dann das Buch – genau zu unserem
Hochzeitstag.
Als nach seiner Heirat dann im Jahr 1937 sein „Traktat über die Klugheit“ erschien, wurde
dies bei einer Gastvorlesung einmal mit einem augenzwinkernden Kommentar quittiert – es
sei schon auffällig, dass er zuerst über die Tapferkeit und dann über die Hoffnung geschrieben
habe, um dann – kurz nach seiner Heirat – über die Klugheit zu sinnieren.
Im Zusammenhang mit seinem Traktat über die Klugheit möchte ich noch eine interessante
Begebenheit erwähnen, auf die Pieper in seinen autobiografischen Schriften eingeht. Er
schildert dort ein Gespräch mit einem konfuzianischem Philosophieprofessor, der bei Rudolf
Eucken studiert hatte und mit Hans Driesch als Dolmetscher durch China gereist war.
In meinem Traktat über die Klugheit hatte ich den großartigen, schon in meiner
Studentenzeit aus der Übersetzung von Viktor von Strauss notierten Spruch des
Lao-tse angeführt: „Wer sich ansieht, leuchtet nicht“; doch später bekam ich
dann Richard Wilhelms Übertragung zu Gesicht, worin sich der gleiche Satz so
liest: „Wer selber scheinen will, wird nicht erleuchtet“; und die ausgezeichent
kommentierte, aus dem Englischen des Lin Yutang übersetzte Ausgabe der
Fischer-Bücherei sagt: „Wer sich enthüllt, ist nicht leuchtend.“ So frage ich
also den Fachmann, der sich als durchaus zuständig erwies, in welcher
Übersetzung nun der Urtext wirklich getroffen sei. Und ich erhielt die
verwirrende Antwort, auch im Chinesischen gebe es die unterschiedlichsten
Lesarten, die dennoch allesamt „richtig“ sein könnten. Ratlos wandte ich mich
an die Tochter Diana; doch war ihre Auskunft erst recht rätselhaft: sie habe
zwar noch in China die höhere Schule absolviert, aber sie kenne noch bei
weitem nicht genug Schriftzeichen, um fähig zu sein, Lao-tse auch nur zu lesen,
geschweige denn zu verstehen.
Bemerkenswert finde ich hier Piepers Gespür für Sprache und das Streben nach Präzision im
Ausdruck – alles mit dem Ziel der Erkenntnis und der Wahrheit.
Im Jahr 1939 erscheint sein Traktat „Zucht und Maß“, in der nach Thomas von Aquin eine
Ruhe des Gemütes (der quies animi) gefragt ist, um in sich selber Ordnung zu verwirklichen.
Pieper schreibt dort: „Zucht besagt: daß der Mensch sich selbst und seinen Zustand ins Auge
fasse, daß er Blick und Willen richte auf sich selbst.“
Sein Buch „Über die Gerechtigkeit“, das 1953 erschien, ist ein gutes Beispiel dafür, wie
Pieper sich – beispielsweise in der Frage nach der grundlegenden Voraussetzung für die
Gerechtigkeit, also weshalb dem Menschen überhaupt etwas zustehe – anhand zahlreicher
Zitate von Aristoteles über Augustinus und Thomas von Aquin bis hin zu Kant zu seiner
eigenen Argumentation durcharbeitet. Er schreibt:
Der Mensch hat deswegen unabdingbare Rechte, weil er durch göttliche, das
heißt, aller menschlichen Diskussion entrückte Setzung als Person geschaffen ist.
Dem Menschen steht letzten Grundes deswegen etwas unabdingbar zu, weil er
creatura ist. Und: als creatura hat der Mensch die unbedingte Verpflichtung, dem
Anderen das ihm Zustehende zu geben.
Auch in seinem 1962 erschienenen Buch „Über den Glauben. Ein philosophischer Traktat“
möchte Pieper seinen Lesern – insbesondere den Studenten der Theologie – eine gewisse
Orientierung geben. Er findet, die „am meisten Betrogenen“ seien die „ungewarnt
lernbegierigen Studenten, die leider oft genug erst, wenn es zu spät ist, bemerken, daß ihnen
ihr Glaube entwendet worden ist“. Pieper nimmt sich die Freiheit, sich an der Grenze
zwischen philosophischer und theologischer Erkenntnis zu bewegen – vielleicht ist es ihm
dadurch gelungen, trotz gegenläufiger Strömungen dennoch zahlreiche Anhänger zu finden
und für diesen Grenzbereich zu gewinnen.
Sein letztes Werk in der Tugendreihe erschien 1972 „Über die Liebe“. Er schreibt: „Liebe ist
das Ur-Geschenk. Alles, was uns sonst noch unverdient gegeben werden mag, wird erst durch
sie zum Geschenk.“ Und mit Verweis auf die Gerechtigkeit führt er weiter aus:
Was die Gerechtigkeit von der Liebe unterscheidet, ist gerade dies: daß in der
Situation der Gerechtigkeit die Menschen einander als getrennt „Andere“, fast
als Fremde gegenübertreten. […] Gerechtigkeit heißt: den Anderen als Anderen
gelten lassen; es heißt: da anerkennen, wo man nicht lieben kann. Gerechtigkeit
sagt: es gibt den Anderen, der nicht ist wie ich, und dem dennoch das Seinige
zusteht. Der Gerechte ist dadurch gerecht, daß er den Anderen in seinem
Anderssein bestätigt und ihm zu dem verhilft, was ihm zusteht.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die einzelnen Traktate sich erheblich in der
sprachlichen und gedanklichen Prägung unterscheiden. Die Verbindung zwischen Leben und
Werk ist bei Josef Pieper äußerst eng und vieles erschließt sich aus dem historischen und
biografischen Zusammenhang.
Zu den Traktaten über die Tugenden möchte ich abschließend noch Piepers Zeitgenossen
Reinhold Schneider zu Wort kommen lassen:
Um die Mitte der dreißiger Jahre begann sich das Wirken Josef Piepers
auszubreiten. Es waren vor allem die männlichen, klaren, eine untadelhafte
Haltung bezeugenden Schriften über die Tugenden, die Halt gaben und ein Ziel
wiesen. Vom Theologischen her wurde das Menschenbild des liberalen Zeitalters
angegriffen, überwunden. Diese Bücher hatten – und haben noch – eine
geschichtliche Aufgabe: sie bereiteten vor; sie halfen Menschen die innere Gestalt
geben, in der sie das Feuer bestehen konnten.
Diese geschichtliche Aufgabe hat Josef Pieper sicherlich erfüllt, denn auch heute noch haben
seine Schriften über die Tugenden ihre Bedeutung. Pieper griff damit viele Aspekte der
Philosophie des Thomas von Aquin auf und verlieh ihnen neuen Ausdruck. Laut Guido
Rodheut gelang ihm dabei – auch in seinen anderen Schriften zu Thomas von Aquin – der
schwierige Spagat zwischen Aufklärung und Offenbarung, da er seiner
erkenntnistheoretischen Sicht einer „negativen Philosophie“, die bei aller Erkenntnisfähigkeit
auch um deren Grenzen weiß, stets treu blieb.
Mit seiner „Hinführung zu Thomas von Aquin” gelang Pieper in Form von zwölf
Vorlesungen wohl eine der besten Einführungen in die Philosophie des großen
Kirchenlehrers. Die Deutsche Zeitung (Köln) verweist dabei insbesondere auf Piepers „[…]
Fähigkeit, verwickelte Probleme klar zur Erscheinung zu bringen, Zusammenhänge sichtbar
zu machen und zu deuten, so daß das Ferne nahe gerückt ist und das Zeitlos-Gültige sich
unmittelbar in unserer Zeit zu bewähren vermag. Wie es Pieper darum geht, die Fäden
sichtbar zu machen, die von Thomas zurück zu Aristoteles führen, so müht er sich auch zu
zeigen, wie von Thomas Verbindungslinien in unsere Gegenwart führen.“ Bis heute bieten
diese Vorlesungen einen leicht zugänglichen Einstieg für den an Philosophie und
Glaubensfragen interessierten Leser. Der Rheinische Merkur merkt hierzu an, es sei „ […]
erstaunlich, wieviel Wesentliches er in Kürze mitteilt. Hohe Formulierungskunst und eine
sprachliche Sorgfalt sind auf diese Einführungsvorlesungen verwendet worden.“
Bemerkenswert ist bei Pieper jedoch auch seine Vielseitigkeit und seine Fähigkeit, sich auch
in kurzen Überlegungen ebenso fundiert wie präzise auszudrücken. Eine Reihe von Aufsätzen
und Reden von Josef Pieper zu verschiedenen Themen sind beispielsweise unter dem Titel
„Tradition als Herausforderung“ erschienen. Der hohe inhaltliche Gehalt dieses
„Sammelbandes“ ist auf dem Umschlag äußerst treffend durch einen Kommentar der FAZ
wiedergegeben:
Josef Pieper gibt nicht Historie, sondern Weisheit; der Eros der Erkenntnis bricht
aus zweitausend Jahren abendländischer Metaphysik mit ungebrochener
Leidenschaft bei ihm auf: Geschichte wird Gegenwart, und Gegenwart wird
Entscheidung. Was Pieper in die Hand nimmt, wird auf seinen Herzschlag gefühlt
und wird ausgesagt, gleichgültig, wie es gerade in den Geist der Zeit paßt.
Im Urteil von Reinhold Schneider über den im Kösel-Verlag erschienenen Band „Weistum –
Dichtung – Sakrament; Aufsätze und Notizen“ wird auch deutlich, welchen Eindruck der
philosophierende Pieper seinen Zuhörern bzw. Lesern vermittelte:
Dieses Buch, eine Sammlung knapper philosophischer und theologischer Aufsätze
und Aphorismen, ruht auf einer Voraussetzung, deren Vollzug allein unsere Zeit
heilen könnte; daß wir Platon und allen wahrhaft großen Lehrern nicht über die
Schulter zu schauen uns anmaßen, sondern daß wir ihnen „zuhörend zu Füßen
sitzen“.
Piepers klare Argumentation und verständliche Ausdrucksweise führten in der Tat dazu, dass
ihm viele Menschen „zuhörend zu Füßen sitzen“. In seinen zahlreichen Vorlesungen und
Vorträgen gelang es ihm dabei offenbar immer wieder aufs Neue, für seine Zuhörer jeweils
das rechte Maß zwischen Unter- und Überforderung zu finden. Er selbst schreibt dazu:
Die Schwierigkeit, beides zu vermeiden, sowohl den fremdsprachlich-
terminologischen Jargon wie die unerlaubte Vereinfachung, hat mich selbst
immer gereizt. Und so habe ich mich mit einer gewissen Regelmäßigkeit der
Testfrage gestellt, ob ich mich in meinem Philosophieren auch dem schlichten,
fachlich nicht gebildeten Hörer und wenn möglich sogar „jedermann“
verständlich machen könne. Der dahinter steckende Ehrgeiz ist übrigens eine der
Früchte meines Umgangs mit amerikanischen Studenten, den ich schon manchem
wortmächtigen Fachkollegen gewünscht habe – wenngleich ich selbst nicht selten
bis an die Grenze der Verzweiflung getrieben worden bin durch die kindliche
Hartnäckigkeit der wiederkehrenden Frage: What does it mean?
Es war ihm also ein Bedürfnis, dass seine Philosophie, sein Philosophieren auch wirklich bei
seinen Zuhörern „ankam“ und verstanden wurde. Pieper war auch den neuen Medien
gegenüber aufgeschlossen und nahm sie als Chance wahr, die Menschen mit philosophischem
Gedankengut zu erreichen und zu versorgen. Unter seiner Mitwirkung bzw. auf seine
Initiative hin sind zahlreiche Medienproduktionen entstanden. Es gibt zahlreiche
aufgezeichnete Interviews – zunächst im Radio, dann auch im Fernsehen. Pieper hat auch
selbst eigene Schriften vorgelesen und auf Schallplatte aufnehmen lassen – wie beispielsweise
„Das Experiment mit der Blindheit“. Zu dieser Tonaufnahme meint der Wiener Kurier: „Josef
Pieper spricht so klar und zwingend, wie er schreibt, und so ist es in der Tat, als würde er
dieses moderne Gleichnis dem Hörer persönlich ins Ohr und Gewissen sagen.“ Aber damit
nicht genug, Pieper schrieb sogar ein mehrteiliges Fernsehspiel zu Platons Symposion,
worüber wir im Lauf der Tagung noch mehr erfahren werden.
Zu seinem berühmten Buch „Was heißt philosophieren“ hat T.S. Eliot ein Nachwort „Einsicht
und Weisheit in der Philosophie“ geschrieben. Als „Wurzel und Ursache für die
Wunderlichkeiten der modernen Philosophie“ sieht Eliot die Trennung der Philosophie von
der Theologie, um gleich dem Vorurteil zu begegnen, die Überwindung dieser Trennung
bedeute eine Einschränkung der Denkfreiheit des Philosophen:
Die Begründung eines rechten Verhältnisses zwischen Philosophie und Theologie,
das den Philosophen völlig autonom sein läßt in seinem eigenen Felde – das ist,
scheint mir, einer der wichtigsten Grundzüge der Untersuchungen von Josef
Pieper. Aufs Ganze gesehen, sollte sein Einfluß hinwirken auf die
Wiedereinsetzung der Philosophie in die Würde einer für jeden gebildeten und
denkenden Menschen wichtigen Sache – statt dass man sie einschränkt auf den
Bereich einer Art Geheimwissenschaft [...]. (www.kath-info.de)
Für eine solche Geheimwissenschaft stand Josef Pieper gewiss nicht.
Zum Abschluss möchte ich noch einen der heute wohl „prominentesten“ Verehrer und
Würdiger von Josef Pieper kurz zur Sprache kommen lassen mit einem Brief, der an die Josef
Pieper Arbeitsstelle zu ihrer Eröffnung gerichtet war.
Papst-Brief zur Josef Pieper Arbeitsstelle
Vatikanstadt, 4. 7. 2009
Exzellenz!
Verehrter und lieber Herr Erzbischof!
Mit großer Freude habe ich die Nachricht von der Errichtung einer Josef-Pieper-Arbeitsstelle
an der Theologischen Fakultät Paderborn zur Kenntnis genommen. Die Schriften von Josef
Pieper über die Kardinaltugenden waren eine meiner ersten philosophischen Lektüren, als
ich 1946 das Studium begann. Sie haben in mir die Lust zum philosophischen Denken
geweckt, die Freude an einer rationalen Suche nach den Antworten auf die großen Fragen
unseres Lebens. Ich habe dabei auch gelernt, daß die großen Denker vergangener Zeiten
durch ihr Ringen um die Wahrheit ganz gegenwärtig sind und daß Philosophie nicht veraltet,
wenn sie redlich und demütig auf dem Weg zur Wahrheit ist.
Von da an habe ich kein Pieper-Buch mehr ausgelassen und bin durch deren Lektüre immer
bereichert und erfrischt worden. In meinen Münsteraner Jahren (1963 – 1966) hatte ich dann
das Glück, die persönliche Freundschaft des Meisters zu finden, die mich bis zu seinem Tod
begleitet hat – eine Freundschaft, für die ich nur Dankbarkeit empfinden kann. Ich weiß, daß
es heute Stimmen gibt, die sagen, Pieper sei nicht Philosoph im eigentlichen Sinn gewesen,
sondern eher ein philosophischer Schriftsteller, der anderen eine erste Hinführung zur
Philosophie geben konnte. Meiner Überzeugung nach ist die Meinung ein großer Irrtum.
Wahr ist, daß Pieper keinen Wert darauf legte, Philosophie streng „wissenschaftlich“ im Sinn
der heutigen akademischen Disziplin Philosophie zu betreiben. In seinem großen Beitrag über
die Interpretation hat er im Anschluß an C.S. Lewis gezeigt, daß solche beflissene
Wissenschaftlichkeit eine Art Anästhesie gegen die Frage nach der Wahrheit wird: Die
„Wissenschaftlichkeit“ zwingt zur Bescheidung auf das Belegbare, verengt aber so den Blick
und schließt dann praktisch die Wahrheitsfrage aus, die nicht im bloß positiv Belegbaren
bleiben kann. Gewiß, Pieper wußte auch streng wissenschaftliche Arbeiten zu schreiben, wie
man leicht in der Sammlung seiner Opera omnia sehen kann. Aber er blieb auch
unnachgiebig dabei, daß Philosophie über alle regionalen Fragestellungen hinaus Suche
nach dem Ganzen ist, das nicht in den von den Naturwissenschaften geschaffenen
methodischen Kanon eingezwängt werden kann, sondern eine darüber hinausgehende
Offenheit und Weite der Vernunft verlangt. Josef Pieper ist für mich gerade deshalb ein
exemplarischer und höchst aktueller wahrer Philosoph, weil er sich durch die Größe der
Frage und die Gefahren des Weges nicht einschüchtern ließ, sondern darauf beharrte, daß es
die rationale Suche nach dem Ganzen, nach der Wahrheit selbst geben muß und daß erst dies
wahre Philosophie ist. Er wußte, daß wir diesen Fragen nur im Zuhören auf die Großen aller
Zeiten standhalten können und daß Philosophie bei der Größe ihres Auftrags immer auch
bereit sein muß, die Antworten zu hören und zu bedenken, die aus dem Glauben und seiner
besonderen Weise des Hörens kommen. Daß er seine Fragen und Antworten ohne die
Verkrampfung einer überanstrengten Gelehrtensprache auch sprachlich schön und
verständlich darzustellen wußte, ist für mich ein Zeichen mehr dafür, daß er ein echter
Philosoph war. Aus all diesen Gründen ist Pieper heute aktuell und wichtig. So wünsche ich
der neuen Arbeitsstelle Gottes Segen für die Aufgabe, die sie sich gestellt hat.
Ihnen, verehrter und lieber Herr Erzbischof, gelten meine herzlichen Grüße und
Segenswünsche
im Herrn Ihr
Benedictus XVI.
Der Brief stammt also von keinem Geringerem als von unserem Papst Benedikt XVI. Pieper
erwähnt in seinen autobiografischen Schriften, in seiner Jugend auch den damaligen „Josef
Ratzinger“ kennengelernt zu haben, und die beiden sind sich auch als Professoren an der
Universität Münster persönlich begegnet.
Abschließen möchte ich mit einem letzten Zitat von Pieper: „Nur der Schweigende hört.“ Ich
danke Ihnen herzlich für Ihr aufmerksames Schweigen und dafür, dass Sie mich sozusagen
„erhört“ haben.