casimir_vdi-reifenfahrwerkfahrbahn-2005.pdf

23
Numerische Simulation von Sitz-Schwingungen in Oberklasse-Pkw: Einsatz des Finite-Elemente-Mensch-Modells CASIMIR Numerical Simulation of Seat Vibrations in Luxury-Class Automobiles: Application of the Finite-Element-Man-Model CASIMIR Dr.-Ing. Steffen Pankoke, M.Sc. Dipl.-Ing. Alexander Siefert, WÖLFEL Beratende Ingenieure GmbH u. Co. KG, Höchberg Dr.-Ing. Thorsten Breitfeld, DaimlerChrysler AG, Sindelfingen Zusammenfassung Die effektive Berücksichtigung des Sitz-Schwingungskomforts bereits in der digitalen Phase der Fahrzeugentwicklung erfordert den Einsatz eines mit dem Menschen belegten Sitzmodells in der NVH-Simulation. Dieses besteht einerseits aus einem durch Formpolster und Anbauteile ergänzten FE-Modell der Sitzstruktur sowie andererseits aus dem FE- Mensch-Modell CASIMIR und ermöglicht die frühzeitige Berechnung von Sitz- Übertragungsfunktionen und Schwingpegeln. Dies stellt die Grundlage für die digitale Erprobung und Optimierung von Pkw-Sitzen dar. Summary For an effective consideration of dynamic seating comfort in the digital phase of vehicle development, a dynamic NVH-model of the man-occupied passenger seat is needed. Such a model consists of a finite-element model of the seat structure, expanded by models of the foam cushions and attached components, as well as of the dynamic FE-man-model CASIMIR. An early-stage simulation of seat-transfer-functions and vibration levels is made possible, which is a prerequisite of digital testing and optimisation of car seats. 1 Einleitung Vor dem Hintergrund der aktuellen Geschäftsstrategie der Automobilhersteller, alle Segmente des sich zunehmend diversifizierenden Marktes mit hochwertigen Fahrzeugen zu bedienen, steigt der von den OEMs zu leistende Entwicklungsaufwand für Strukturdynamik und NVH dramatisch an. So bietet beispielsweise die Marke Mercedes-Benz weit über 120 Motor- und Karosserievarianten an [1]. Diese Tendenz wird begleitet von sich ständig verkürzenden Entwicklungsprozessen. In Summe steht also für massiv ansteigende Entwicklungsumfänge deutlich weniger Zeit zur Verfügung. Die Hersteller begegnen diesen Herausforderungen durch den konsequenten Einsatz der numerischen Simulation im Entwicklungsprozess. Hierbei wird eine hohe Prognosegüte der Schwingungssimulationen erforderlich, da die Anzahl der Hardwarezyklen, also die Anzahl

Upload: april-reynolds

Post on 07-Aug-2015

35 views

Category:

Documents


4 download

TRANSCRIPT

Page 1: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Numerische Simulation von Sitz-Schwingungen in Oberklasse-Pkw: Einsatz des Finite-Elemente-Mensch-Modells CASIMIR Numerical Simulation of Seat Vibrations in Luxury-Class Automobiles: Application of the Finite-Element-Man-Model CASIMIR Dr.-Ing. Steffen Pankoke, M.Sc. Dipl.-Ing. Alexander Siefert, WÖLFEL Beratende Ingenieure GmbH u. Co. KG, Höchberg Dr.-Ing. Thorsten Breitfeld, DaimlerChrysler AG, Sindelfingen Zusammenfassung Die effektive Berücksichtigung des Sitz-Schwingungskomforts bereits in der digitalen Phase der Fahrzeugentwicklung erfordert den Einsatz eines mit dem Menschen belegten Sitzmodells in der NVH-Simulation. Dieses besteht einerseits aus einem durch Formpolster und Anbauteile ergänzten FE-Modell der Sitzstruktur sowie andererseits aus dem FE-Mensch-Modell CASIMIR und ermöglicht die frühzeitige Berechnung von Sitz-Übertragungsfunktionen und Schwingpegeln. Dies stellt die Grundlage für die digitale Erprobung und Optimierung von Pkw-Sitzen dar.

Summary For an effective consideration of dynamic seating comfort in the digital phase of vehicle development, a dynamic NVH-model of the man-occupied passenger seat is needed. Such a model consists of a finite-element model of the seat structure, expanded by models of the foam cushions and attached components, as well as of the dynamic FE-man-model CASIMIR. An early-stage simulation of seat-transfer-functions and vibration levels is made possible, which is a prerequisite of digital testing and optimisation of car seats.

1 Einleitung

Vor dem Hintergrund der aktuellen Geschäftsstrategie der Automobilhersteller, alle

Segmente des sich zunehmend diversifizierenden Marktes mit hochwertigen Fahrzeugen zu

bedienen, steigt der von den OEMs zu leistende Entwicklungsaufwand für Strukturdynamik

und NVH dramatisch an. So bietet beispielsweise die Marke Mercedes-Benz weit über 120

Motor- und Karosserievarianten an [1]. Diese Tendenz wird begleitet von sich ständig

verkürzenden Entwicklungsprozessen. In Summe steht also für massiv ansteigende

Entwicklungsumfänge deutlich weniger Zeit zur Verfügung.

Die Hersteller begegnen diesen Herausforderungen durch den konsequenten Einsatz der

numerischen Simulation im Entwicklungsprozess. Hierbei wird eine hohe Prognosegüte der

Schwingungssimulationen erforderlich, da die Anzahl der Hardwarezyklen, also die Anzahl

Page 2: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

der je Bauteil gefertigten Muster, reduziert wird. Der Kern der Produktentwicklung verlagert

sich also zunehmend von experimentellen Erprobungen hin zu digitalen Prototypen.

Die Steigerung der Fähigkeiten moderner Simulationssoftware begleitet diesen Trend und

ermöglicht die Anwendung der Simulation auch in Gebieten, die sich wegen der hohen

Komplexität der strukturmechanischen Zusammenhänge, vorzugsweise bedingt durch

Nichtlinearitäten, bisher der Simulation verschlossen. Erfolgreiche Simulation insbesondere

in solchen Gebieten erfordert spezifisch-methodisches Simulations-Know-how, und dies

zieht für die OEMs die Notwendigkeit nach sich, mit entsprechend qualifizierten und

spezialisierten Engineering-Service-Providern zusammen zu arbeiten.

Unbelegte Sitze

Typisch für ein solches Anwendungsgebiet, auf dem besonderes Know-how erforderlich ist,

ist die Simulation von Pkw-Sitzen, insbesondere in Verbindung mit der Simulation des

Insassen. Derartige Simulationen zielen darauf ab, den vom Insassen empfundenen

Schwingungskomfort des Sitzes, also desjenigen Bauteils mit der größten physikalischen

Nähe zum Insassen und als solches unmittelbar verkaufsrelevant, zu optimieren. Die

fachlichen Herausforderungen bei der Simulation des Sitzes als solches, also zunächst noch

ohne Insassen („unbelegt“), sind dabei schon groß, sie bestehen insbesondere in folgenden

Punkten:

• Sitzstruktur: Nichtlineares Verhalten der Sitzstruktur in Gelenken,

Verstellmechanismen, Dämpfung, etc.;

• Anbauteile und Ausstattung: Verstellmotoren, Airbagmodule, Entertainment-

Systeme, Komfortsysteme (z.B. fahrdynamischer Sitz, Massagefunktionen), etc.;

• Schaumstoff-Formpolster: Nichtlineare, frequenzabhängige und viskoelastische

Materialeigenschaften;

Belegte Sitze

Selbst bei einer bestmöglichen Modellabbildung aller Sitzkomponenten, die dadurch

gekennzeichnet ist, dass alle per Modell vorausgesagten Sitzeigenschaften (z.B. lokale

Steifigkeiten, Eigenfrequenzen und -formen) nach Fertigung des entsprechenden

Baumusters bestätigt würden, ist die Aussagekraft eines solchen Modells des unbelegten

Sitzes stark eingeschränkt, da die Eigenschaften des Sitzes durch den Insassen dominant

beeinflusst werden. So können beispielsweise die mit unbelegtem Sitz berechneten

vertikalen Schwingungen auf der Sitzfläche überhaupt nicht verwendet werden, die

Längsschwingungen der Lehne sind mit größeren Unsicherheiten behaftet, da das sich

Page 3: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

anlehnende dynamische System „Mensch“ auf die Lehne rückwirkt. Einzig die

Querschwingungen der Lehne sind vergleichsweise stabil, da die zugehörige Schwingform

im Allgemeinen weniger stark vom Menschen beeinflusst wird.

Die große Bedeutung des Insassen für das Schwingungsverhalten des Sitzes wird allein

durch eine Betrachtung der beteiligten Massen deutlich: Ein typischer Fahrzeugsitz wiegt je

nach Ausstattung etwa 25 kg, der durchschnittliche männliche Insasse bringt das dreifache,

also 75 kg auf die Waage und stellt zudem ein schwingungsfähiges System mit

Eigenfrequenzen im sitzkomfortrelevanten Frequenzbereich (bis ca. 30 Hz) dar. Eine vom

Insassen entkoppelte Simulation der Sitzschwingungen kann somit keinesfalls zielführend

sein.

Demzufolge ist für eine erfolgversprechende Simulation von komfortrelevanten

Sitzschwingungen ein dynamisches Finite-Elemente-Modell des Menschen erforderlich. Ein

solches Modell, das den für diese Applikation zu stellenden Anforderungen genügt, ist das

Finite-Elemente-Mensch-Modell CASIMIR. Sein Einsatz für die NVH-Simulationen von Pkw-

Sitzen bei DaimlerChrysler ist in den nachfolgenden Abschnitten beschrieben.

2 Modellabbildung des Fahrzeugsitzes

2.1 Sitzstruktur

Ausgangspunkt der Arbeiten ist stets eine FE-Modellabbildung der Sitzstruktur, hier am

Beispiel des Sitzes einer Oberklasse-Limousine. Das Strukturmodell wurde im Rahmen des

üblichen Entwicklungsprozesses erstellt und validiert. Das reine Strukturmodell, d.h. das

Modell des Sitzes ohne Bepolsterung (siehe Bild 1), lässt sich in folgende Teile gliedern:

• Tragende Bauteile der Sitzstruktur;

• Kopplungselemente zwischen Strukturteilen (z.B. Gelenke);

• Bedienungselemente und Anbauteile (z.B. Verstellmotoren);

• Interfaces zur Bepolsterung (Hinter-, Unterfederung und Lordosenstütze);

Die tragenden Bauteile sowie die Ergänzungen wurden auf Basis von CAD-Daten mit

Schalenelementen modelliert.

Die Ankopplung der Anbauteile sowie die Gelenke zwischen tragenden Bauteilen wurden

über kinematische Kopplungen definiert, hier spielt die korrekte Wiedergabe der Kinematik

eine wichtige Rolle. In Abgleich mit den per Experimenteller Modalanalyse (EMA)

identifizierten Eigenfrequenzen und –formen wurden freie Modellparameter, insbesondere

die Formulierung von kinematischen Kopplungen, abgestimmt. In einer abschließenden

Eigenfrequenzberechnung waren die Frequenzabweichungen zwischen Modell und EMA-

Resultaten für gleichwertige Eigenformen geringer als 1 %.

Page 4: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Bild 1: Modell der Sitzstruktur

Fig. 1: Model of the seat structure

Interface zu Bepolsterung:

Hinterfederung Lehne

Kopplungselement:

Gelenk Lehnenneigung

Anbauteil:

Motor Höhenverstellung

2.2 Modellabbildung der Formpolster

Die Modellierung der Schaumstoff-Formpolster erfolgte anhand der CAD-Geometrie der

werkzeugfallenden Teile. Für die Formpolster ist mit Volumenelementen zu arbeiten.

Untersuchungen bzgl. des Einflusses des Elementtyps ergaben, dass eine halbautomatische

und damit sehr aufwändige und kostenintensive Vernetzung mit Hexaeder-Elementen erster

Ordnung nicht unbedingt erforderlich ist. Vielmehr ist eine vollautomatisierte und damit

preiswerte Vernetzung mit Tetraeder-Elementen (Bild 2) möglich, sofern die Diskretisierung

angemessen gewählt wird und Elemente zweiter Ordnung gewählt werden. Hier ist jedoch

darauf zu achten, dass in denjenigen Bereichen der Formpolster, die im Laufe der

Berechnung an Kontaktformulierungen teilnehmen, mit einem speziell für Kontaktprobleme

modifizierten Elementansatz gearbeitet wird, um durchgängig vorzeichenrichtige

Kontaktknotenkräfte zu gewährleisten.

Page 5: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Bild 2: Tetraeder-Modell der Formpolster für Kissen (links) und Lehne (rechts)

Fig. 2: Tetmesh-models of seat cushion (left) and backrest cushion (right)

Der Steifigkeits-Einfluss des Bezuges selbst sowie die Einflüsse des Bespannungsvorgangs

wurden bei der Simulation vernachlässigt, da begleitende Messungen die Zulässigkeit dieser

Vereinfachung bestätigten. Die Modellierung des Bezugstoffes erfolgte daher nur über eine

zusätzliche Massenbelegung an der Formpolsteroberfläche.

2.3 Materialeigenschaften und Materialgesetze der Formpolster

Üblicherweise kommen in einem modernen Pkw-Sitz mehrere verschiedene

Schaumstoffmaterialien zum Einsatz. So wird im Bereich der Kissen- und Lehnenwangen

gerne eine härtere Mischung eingesetzt, um höheren Seitenhalt bei Kurvenfahrt

sicherzustellen. Im vorliegenden Beispiel sind folgende Zonen zu unterscheiden:

• Kissenspiegel, PU-Schaum Härtegrad 1;

• Kissenwange, PU-Schaum Härtegrad 2;

• Lehne, geschichtetes Mischmaterial aus Gummihaar und Schaumkaschierung;

Da eine genaue Modellierung des Lehnenmaterials mit dem unterschiedlichen

Schichtaufbau zu aufwändig wäre, wurde für diesen Bereich ein homogener Ansatz über die

gesamte Materialstärke verwendet.

Die Ermittlung der statischen Materialeigenschaften unter der im realen Belastungsfall

dominierenden Druckbelastung erfolgte in Anlehnung an die einschlägige Prüfnorm [8]. Die

Versuche wurden als uniaxiale Kompressionsversuche auf einer hydraulischen Prüfanlage

Page 6: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

durchgeführt. Gemessen wurde die Zylinderkraft über dem Verformungsweg (Hub). Um den

Einfluss von Serienstreuungen abschätzen zu können, wurden jeweils drei Einzelproben

untersucht. In Bild 3 ist der Versuchsaufbau dargestellt.

Bild 3: Uniaxialer Kompressionsversuch

Fig. 3: Uniaxial compression test

Als Materialansatz für die Beschreibung von Schaumstoffen wird unter dem verwendeten

FE-Solver Abaqus ein hyperelastisches Materialgesetz gewählt. Dabei wird die

Materialelastizität über die Potentialfunktion der Verzerrungsenergie beschrieben. Die

verwendete Potentialfunktion für Schäume (Formel 1) ist eine Abwandlung des Ansatzes

nach Ogden, welche die nahezu vollständige Kompressibilität von PU-Schäumen

berücksichtigt. Die zu bestimmenden freien Materialparameter sind innerhalb einer iterativen

Identifikation an die Messdaten anzupassen.

( )( )∑=

βα−ααα⎥⎦

⎤⎢⎣

⎡−

β+−λ+λ+λ

αμ

=N

1i

el

i3212

i

i 1J13ˆˆˆ2U iiiii Formel 1

Die folgende Abbildung zeigt eine Gegenüberstellung der Resultate aus Versuchen und

entsprechender Simulation im Spannungs-Dehnungs-Diagramm. Es konnte bei allen

Materialien eine sehr gute Übereinstimmung erzielt werden.

Die dynamischen Kennwerte der Materialien werden durch deren komplexe Steifigkeiten

wiedergegeben. Diese sind in Abhängigkeit von Belastungsfrequenz und statischer

Vordeformation zu definieren. Die dazu durchgeführten dynamischen Versuche wurden

somit auf unterschiedlichem statischem Vordehnungsniveau unter harmonischer Erregung

im Bereich von 1 bis 30 Hz durchgeführt.

Page 7: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Bild 4: Statisches Materialgesetz Schaumstoff: Messung, Identifikation, Simulation

Fig. 4: Static material properties of foam: measured data, identified data, simulation results

Die Definition des dynamischen Verhaltens der Schäume bei der Linearisierung um den

jeweiligen Arbeitspunkt (statische Vordehnung) erfolgt für die Berechnungen im

Frequenzbereich durch Angabe frequenzabhängiger Terme für Speicher- und Verlustmodul.

Bei der Überprüfung der Simulationsresultate für die dynamische Steifigkeit konnte eine sehr

gute Übereinstimmung zu den durchgeführten Versuchen erzielt werden.

2.4 Anbindung der Formpolster an die Struktur

Nach der Erstellung des Volumenmodells der Formpolster sowie der Definition

entsprechender Materialgesetze erfolgt nun die Ankopplung an das Strukturmodell. Hier

besteht zunächst die Schwierigkeit, dass Formpolster und Strukturteile unterschiedliche

Netzfeinheiten aufweisen, was aus Gründen von Modellgröße einerseits (Formpolster) und

Simulationsgüte andererseits (Struktur) unvermeidbar ist. Es liegen also keine sog. matched

meshes vor, die es ermöglichen würden, eine Verbindung zweier Bauteilmodelle einfach

über gemeinsame Knoten darzustellen.

Page 8: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Unter Ausnutzung der Kontaktfunktionalitäten der Simulationssoftware ABAQUS gelingt die

Ankopplung jedoch höchst einfach durch den oberflächenbasierten Aufbau folgender

Interaktionspaare:

• Sitzkissen unten (3D) - Unterfederung Sitzspiegel (1D);

• Sitzkissen unten (3D) - Bodenwanne (2D);

• Lehnenkissen hinten (3D) - Hinterfederung (1D);

• Lehnenkissen hinten (3D) - Lordosenstütze (2D);

• Lehnenkissen hinten (3D) - Struktur (2D);

Da nun davon ausgegangen werden kann, dass keine großen Relativverschiebungen

zwischen den jeweiligen Interaktionspartnern auftreten, wurde der Kontakt als sog. tied

contact definiert. Bei dieser Formulierung werden die Kontaktbedingungen beim

Preprocessing in kinematische Kopplungen aufgelöst, die während allen nachfolgenden

Simulationsschritten aufrechterhalten werden. Gegenüber einer herkömmlichen „echten“

Kontaktformulierung hat dies den Vorteil, dass die Kontaktbedingungen im Rahmen der

Berechnungsiterationen nicht ausgewertet werden müssen, was die Berechnung vereinfacht

und die Berechnungszeit vermindert.

3 Das Mensch-Modell CASIMIR

3.1 Anforderungen an Menschmodelle

Der Einsatz von Menschmodellen in der virtuellen Phase der Pkw-Entwicklung ist heute

üblich. Einen Überblick über die Bandbreite der verschiedenen Einsatzszenarien gibt [2]. Am

häufigsten werden CAD-Menschmodelle wie z.B. RAMSIS oder UGS Classical Jack

verwendet, um das Innenraum-Package auszulegen. Solche Menschmodelle beinhalten

keine Beschreibungen strukturmechanischer Eigenschaften des Menschen und sind daher

zur Simulation von statischem Sitzkomfort kaum und zur Beurteilung von dynamischem

Sitzkomfort überhaupt nicht geeignet.

Benötigt für Komfortsimulationen werden also Modelle, die das mechanische Verhalten des

Menschen wiedergeben. Innerhalb dieser Gruppe von Modellen ist zu unterscheiden

zwischen phänomenologischen und anatomischen Modellen. Phänomenologische Modelle

haben die Aufgabe, eine einzelne, genau beschriebene Eigenschaft (ein „Phänomen“) des

Menschen wiederzugeben. Sie sind aufgrund ihrer Konzeption nicht dafür geeignet,

Eigenschaften jenseits dieses Phänomens zu simulieren und sind als beschreibende oder

deskriptive Modelle zu betrachten. Eine Übersicht über phänomenologische Modelle findet

sich in [3]. Anatomische Modelle hingegen beschreiben den Menschen auf Basis von

Page 9: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

dessen physiologischen Eigenschaften. Bei geeigneter Modellabbildung und Validierung

besitzen diese Modelle eine prädiktive Kraft, d.h. sie sind in der Lage, physikalische Größen

zu simulieren, die nicht als Information bei der Modellerstellung eingeflossen sind.

Anatomische Modelle eröffnen völlig neue Möglichkeiten bei der Komfortbeurteilung, da sie

direkten Zugriff auf vom Menschen sensierbare und in das Subjektivurteil einfließende

Schwingungsgrößen eröffnen (z.B. Kräfte in der Lendenwirbelsäule, Beschleunigungen des

Magens und des Gleichgewichtsorgans, etc.).

Zur numerischen Komfortbewertung sind demnach anatomische Menschmodelle

heranzuziehen, die zudem folgende Eigenschaften aufweisen müssen:

• Modellgeometrie abgeleitet aus der menschlichen Anatomie;

• Massen, Steifigkeiten und Dämpfungseigenschaften abgeleitet aus physiologischen

Daten des Menschen;

• Detailliertes Teilmodell der Lendenwirbelsäule, da diese eine zentrale Rolle für die

Ganzkörperschwingungen des Menschen spielt;

• Berücksichtigung der statischen Muskelwirkung: Einstellung des statischen

Gleichgewichts des Oberkörpers unter Wirkung von Gravitation und Muskelkräften;

• Berücksichtigung der dynamischen Muskelwirkung: Wiedergabe der aktivierungs-

und frequenzabhängigen Steifigkeits- und Dämpfungseigenschaften der Muskulatur;

Bei geeigneter Modellabbildung werden sich sodann dynamische Eigenschaften des Modells

einstellen, die eine Validierung an Probandenmessungen erlauben. Die wichtigsten Größen,

an denen Menschmodelle validiert sein müssen, sind:

• Dynamische Masse bei der Anregung des sitzenden Menschen am Gesäß;

• Übertragungsfunktionen von der Anregung am Gesäß zum Kopf;

• Übertragungsfunktionen von der Anregung am Gesäß zu weiteren Körperteilen,

insbesondere zu Messstellen an der Schulter und an der Lendenwirbelsäule;

3.2 Eigenschaften von CASIMIR

CASIMIR ist ein dynamisches, anatomisches Finite-Elemente-Modell des sitzenden

Menschen. Es liegt gegenwärtig für die FE-Solver ABAQUS und NASTRAN vor.

Hauptbestandteile der jüngsten Entwicklungsstufe sind:

• Dynamisches Detailmodell der Lendenwirbelsäule (LWS), unter Berücksichtigung der

frequenzabhängigen Dämpfungseigenschaften der Bandscheiben;

• Detailliertes Modell der relevanten Rückenmuskulatur;

• Dynamisches Modell des Bauchraums;

Page 10: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

• Dynamisches Teilmodell des oberen Torsos und der Arme;

• Geometrisch detailliertes Modell der Skelettstrukturen von Becken und Beinen;

• Statisches und dynamisches Modell des Körpergewebes in den potentiellen

Kontaktbereichen zum Sitz, d.h. Gesäß, Beine und Rücken;

Einzelheiten zu Modellerstellung und Validierung finden sich in [4] und [5]. Die

nachfolgenden Abbildungen zeigen CASIMIR als Gesamtmodell und einige Detailansichten.

Bild 5: CASIMIR, Gesamtansicht

Fig. 5: CASIMIR, general perspective view

Bild 6: CASIMIR, LWS und Rückenmuskeln

Fig. 6: CASIMIR, lumbar spine and muscles

Page 11: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Bild 7: CASIMIR, Becken und Beine

Fig. 7: CASIMIR, pelvis and legs

3.3 Adaptierbarkeit bzgl. Perzentil und Haltung

Aus umfangreichen experimentellen Untersuchungen an Probanden ist bekannt, dass das

dynamische Ganzkörperschwingungs-Verhalten des Menschen maßgeblich von seiner

Sitzhaltung beeinflusst wird. Weiterhin haben Körpergröße und Körpermasse, statistisch

ausgedrückt durch das sog. Perzentil, bedeutenden Einfluss [6], [7].

Für Schwingungskomfortanalysen von Pkw ist angesichts der Klientel selbstverständlich die

gesamte Perzentilbandbreite, beginnend bei der 5-%-Frau (Perzentil f05) über den 50-%-

Mann (m50) bis hin zum 95-%-Mann (m95), von Bedeutung. Gemäß dieser Anforderung ist

CASIMIR über einen Individualisierungs-Algorithmus, der in [5] beschrieben ist und 7

anthropometrische Werte gemäß Tabelle 1 umfasst, an die Wertekombinationen von

Perzentilen oder sogar Individuen adaptierbar.

Nr. Anthropometrische Kenngröße

1 Körperhöhe im Stehen

2 Körpersitzhöhe

3 Brustkorbbreite

4 Brustkorbtiefe

5 Beckenbreite

6 Taillenumfang

7 Körpermasse

Tabelle 1: Anthropometrische Kenngrößen CASIMIR

Page 12: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Die Anwendung des Individualisierungsalgorithmus’ auf die Wertekombinationen für f05,

m50 und m95 erzeugt eine CASIMIR-Modellfamilie für die entsprechenden Perzentile, die in

Bild 8 dargestellt ist.

Bild 8: CASIMIR: Modellfamilie f05 (links), m50 (Mitte), m95 (rechts)

Fig. 8: CASIMIR: model family f05 (left), m50 (centre), m95 (right)

Die Adaption der Haltung geschieht über die Definition von relativen Gelenkwinkeln und eine

zugehörige Anpassung der Modellparameter [5]. Somit lassen sich Haltungen erzeugen, die

für die Anwendung in Pkw das Spektrum vom Roadster bis zum SUV abdecken.

4 Gekoppelte Simulation: Insasse CASIMIR und Sitz

4.1 Zur Bedeutung der Sitz-Übertragungsfunktion

Die Bewertung des Schwingungskomforts von Pkw-Sitzen findet heute neben subjektiven

Beurteilungen überwiegend durch die Analyse der Sitz-Übertragungsfunktion statt. Die Sitz-

Übertragungsfunktion gibt dabei die Schwingungsantwort auf der Sitzoberfläche bezogen

auf die Schwingungsanregung an der Sitzschiene an und ist somit eine frequenzabhängige,

komplexe Größe, d.h. sie hat Betrag und Phase. Je nach betrachteter Anregungs- und

Antwortrichtung unterscheidet man Sitz-Übertragungsfunktion (z) und Lehnen-

Übertragungsfunktionen (x und y), vgl. Bild 9.

Page 13: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Bild 9: Sitz-Übertragungsfunktion: Anregung und Antworten

Fig. 9: Seat-transfer-function: Excitation and response

Nun ist die Sitz-Übertragungsfunktion an sich nicht zur direkten Komfortbeurteilung geeignet,

da der Insasse über keinerlei Sensor verfügt, mit dem er die Sitz-Übertragungsfunktion

empfinden könnte. Ihre Werthaltigkeit für die Komfortbeurteilung entsteht erst in Verbindung

mit beim OEM aufgebauten Erfahrungswissen darüber, wie die Übertragungsfunktion eines

Sitzes für ein bestimmtes Fahrzeug auszusehen hat, damit dieser Sitz subjektiv als

komfortabel bewertet wird. Neben Erfahrungswerten mit vorangegangenen Baureihen kann

ferner das Ergebnis einer Benchmark-Analyse Quelle für die Zielvorgabe der Sitz-

Übertragungsfunktion im Lastenheft sein.

Vor diesem Hintergrund muss es auch das Ziel der numerischen Simulation von

Sitzschwingungen sein, die Sitz-Übertragungsfunktion zu errechnen, um frühzeitig

Vergleiche zu den Zielvorgaben ziehen zu können.

Page 14: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

4.2 Kontakt zwischen Mensch und Sitz

Für eine realistische Wiedergabe des statischen Einsitzens unter Gravitation ist die

realitätsgetreue Modellierung der mechanischen Interaktion zwischen Sitz und Mensch

Voraussetzung. Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung eines reibungsbehafteten

Kontaktproblems zwischen Mensch und Sitz unerlässlich. Im Rahmen der nachfolgend

erörterten Simulationen wurde zunächst ein Kontaktproblem aufgebaut, das mit einer als

starr angenäherten, geeignet konturierten menschlichen Körperoberfläche arbeitet. Dies

stellt eine Vereinfachung gegenüber der in Kap. 3 beschriebenen nachgiebigen

Körperoberfläche dar.

Die Geometrie der starren Kontaktoberflächen an Gesäß und Rücken entsprechen den

verformten Körperoberflächen eines mittleren Menschen auf einem durchschnittlichen Pkw-

Sitz [9]. Die Nachgiebigkeiten der menschlichen Körperoberfläche sind bei dieser Art der

Modellabbildung in Feder- und Dämpfereigenschaften an Gesäß und Rücken

zusammengeführt.

Polsterseitig wurde aus den potentiell am Kontakt beteiligten Elementen eine Oberfläche

definiert. Die Kontakte zwischen Lehne und Rücken einerseits und Kissen und Gesäß

andererseits wurden in zwei voneinander unabhängigen Kontaktpaaren definiert. Bezüglich

der Interaktionsparameter wurde für die Kontakteigenschaften normal zur Oberfläche ein

sog. „harter“ Kontakt gewählt, was bedeutet, dass der Verlauf der intern erzeugten

Kontaktvariable, des Lagrangeschen Multiplikators, an jedem Knoten beim Übergang von

offenem zu geschlossenem Zustand diskontinuierlich ist. Die Kontakteigenschaft in

Oberflächenrichtung wurde als reibungsbehaftet mit einem Reibbeiwert von 0,3 angesetzt.

Die Positionierung von CASIMIR vor Beginn der Berechnung, also im Präprozessor, erfolgt

zweistufig: Zunächst wird die Haltung von CASIMIR auf die Sitzeinstellung abgestimmt,

welche durch den Öffnungswinkel zwischen Lehnen- und Sitzkissen definiert ist

(Zusammenhang Kissenwinkel / Lehnenneigungswinkel). Der zweite Schritt positioniert das

CASIMIR-Modell schwebend über dem Sitz mit verschwindenden Abständen zu Kissen bzw.

Lehne, allerdings ohne Anfangsdurchdringungen. Diese Position ist in Bild 10 dargestellt.

Page 15: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Bild 10: CASIMIR mit starren Kontaktflächen, vor Berechnung optimal zum Sitz positioniert

Fig. 10: CASIMIR with rigid contact surfaces, pre-analysis positioning

4.3 Statischer Einsitzvorgang

Die statische Berechnung des Einsitzvorgangs erfolgt geometrisch nichtlinear unter

Belastung durch die Gravitation in negativer z-Richtung. Die Randbedingungen bestehen

einerseits aus den Lagerpunkten des Menschmodells sowie aus den Aufspannpunkten der

Sitzstruktur. Durch die Lagerpunkte des Menschmodells werden Bewegungsmöglichkeiten

von Füßen und Händen wiedergegeben, d.h. eine Translation der Füße in x-Richtung

(Bewegungen Fußraum) sowie eine Drehung der Hände um die y-Achse (Lenkradhaltung)

sind möglich. Die Simulation liefert u.a. folgende Ergebnisgrößen, die eine

Plausibilitätsprüfung zulassen:

• Verschiebung in z-Richtung auf dem Sitzkissen;

• Verschiebung in x-Richtung auf der Lehne;

• H-Punkt-Lage;

• Kontaktdruck auf dem Sitzkissen;

• Kontaktdruck auf der Lehne;

Page 16: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Es konnte bei allen Größen eine gute Übereinstimmung zu Erfahrungswerten aus

Messungen erzielt werden. Besonders ist für den errechneten Kontaktdruck zu erwähnen,

dass neben den Maximalwerten auch eine Überstimmung in den typischen Charakteristika

der Druckverteilung erzielt wurde, siehe hierzu Bild 11. So konnte z.B. im Sitzkissen bei der

Quernaht ein erhöhter Druck festgestellt werden, der die fehlende Möglichkeit zur

Kraftumlagerung in diesem Bereich wiedergibt.

Bild 11: Kontaktdruckverteilung nach statischem Einsitzen

Fig. 11: Seat pressure distribution of static seating

4.4 Dynamische Anregungen über die Karosserie

Die Schwingungssimulation schließt an den statischen Einsitzvorgang an. Dieser ist als

vorgeschalteter Rechenlauf unbedingt erforderlich, da sowohl Sitz als auch Mensch

nichtlinear sind und somit der sich einstellende Arbeitspunkt von entscheidender Bedeutung

ist. Als Rechenverfahren für die Schwingungssimulation wird die direkte Lösung im

Frequenzbereich verwendet. Die zu lösende Matrixgleichung lautet

( ) ( )[ ] FQDiMK 2 =ΩΩ+Ω−Ω Formel 2

Dieses Rechenverfahren ist linear, es wird also um den sich per Einsitzvorgang

einstellenden Arbeitspunkt linearisiert. Dies ist zulässig, da sich unter Schwingungsanregung

nur vergleichsweise kleine Amplituden ergeben, die einen Ersatz der nichtlinearen

Eigenschaften durch eine geeignete Linearisierung zulassen. Gegenüber modalen

Berechnungsverfahren bietet die direkte Lösung hier den Vorteil, dass zum einen

Page 17: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

frequenzabhängiges Verhalten und zum anderen diskrete Dämpferelemente berücksichtigt

werden können, was für die Modellierung von Schaum und Mensch bedeutsam ist.

Da das dynamische Verhalten des Schaums von seiner statischen Vordehnung abhängig ist,

wird bei der durchzuführenden Auswahl des Materialansatzes der Dehnungszustand der

Elemente nach dem Einsitzen berücksichtigt. Weil eine einzelne oder partielle Zuweisung

des Materialgesetzes für unterschiedlich vorgedehnte Bereiche innerhalb der Berechnung

nicht möglich ist, erfolgt ein gemittelter Ansatz. Bei diesem werden die stark gedehnten

Bereiche stärker gewichtet, da höher belastete Bereiche für die dynamische Berechnung

einen größeren Beitrag zum Modellverhalten leisten als gering belastete Bereiche.

Die Erregung wird als Fußpunkterregung über inhomogene Randbedingungen an den 4

Montagepunkten der Sitzschiene an der Karosserie aufgebracht. Zunächst wird nur vertikale

Anregung untersucht. Der berücksichtigte Frequenzbereich reicht von 1 bis 30 Hz.

Bilder 12 und 13 zeigen die Simulationsergebnisse für die Sitz-Übertragungsfunktion z-z,

d.h. z-Anregung an der Sitzschiene und z-Antwort auf der Kissenpolster-Oberfläche sowie

die Sitz-Übertragungsfunktion x-z, d.h. z-Anregung an der Sitzschiene und x-Antwort auf der

Lehnenpolster-Oberfläche, die das Koppelverhalten wiedergibt. Gegenübergestellt sind

entsprechende Messergebnisse für einen individuellen Testfahrer sowie weiter für den

physikalischen Schwingungsdummy MEMOSIK®.

Bild 12: Sitz-Übertragungsfunktion z-z, Vergleich Simulation mit Messungen

Fig. 12: Seat-transfer-function z-z, simulation vs. measured data

Page 18: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

Bild 13: Sitz-Übertragungsfunktion x-z, Vergleich Simulation mit Messung

Fig. 13: Seat-transfer-function x-z, simulation vs. measured data

Der Schwingungsdummy MEMOSIK® ist in seiner dynamischen Masse bis 20 Hz identisch

zum CASIMIR: Beide geben das Perzentil m50 wieder. Entsprechend gut sind die

Übereinstimmungen bis 20 Hz. Bzgl. des individuellen Testfahrers ist anzumerken, dass

dieser insbesondere im Bereich der ersten Hauptresonanz ein von der in CASIMIR m50

realisierten dynamischen Masse abweichendes Verhalten hat, weshalb die Ergebnisse hier

bzgl. der Amplitudenhöhe Abweichungen zeigen.

Generell werden die Charakteristika der Übertragungsfunktionen sehr gut wiedergegeben,

insbesondere was die Frequenzlagen auftretender Resonanzerscheinungen angeht. Dies ist

Voraussetzung für eine zielführende Interpretation der Simulationsergebnisse.

Untersuchungen bzgl. horizontaler Anregungsrichtungen und der zugehörigen

Übertragungsfunktionen sind zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels noch in

Bearbeitung.

5 Einbindung der Simulationsmethode in den Entwicklungsprozess

Zur Absicherung der Komforteigenschaften (Schwingungen / NVH) sind im Pkw-

Entwicklungsprozess in der Regel zwei relevante Prototypen-Phasen vorgesehen. Werden

erst in diesen Phasen Probleme im Schwingungssystem Mensch-Sitz-Fahrzeug durch

Messungen identifiziert, sind Änderungen am Fahrzeug und / oder am Sitz schwierig

Page 19: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

umsetzbar und ausgesprochen kostenintensiv. Daher muss das gekoppelte

Schwingungssystem Mensch-Sitz-Fahrzeug bereits in der digitalen Entwicklungsphase

analysiert und optimiert werden, wobei unter Optimierung hier das sorgfältige Abstimmen

der beteiligten Systeme Fahrzeug und Sitz unter Berücksichtigung des Menschen zu

verstehen ist.

Die im Rahmen der digitalen Entwicklung zu beantwortenden Fragestellungen können zu

einem gewissen Teil bereits mit der Analyse eines Modells des belegten Sitzes ohne

Beteiligung des Gesamtfahrzeugs, also von diesem entkoppelt, bearbeitet werden. Ab einem

bestimmten Zeitpunkt ist jedoch auch die Interaktion des vom Menschen belegten Sitzes,

der dann eine Teilmasse in der Größenordnung von 100 kg darstellt, mit dem

Schwingungsverhalten des Gesamtfahrzeugs zu untersuchen.

5.1 Vom Gesamtfahrzeug entkoppelte Simulation des belegten Sitzes

Der Aufbau eines Berechnungsmodells für die Simulation des mit dem Menschen belegten

Sitzes erfolgt gemäß der in den vorangegangenen Abschnitten beschriebenen

Vorgehensweise. Die nachstehende Tabelle gibt hierzu einen zusammenfassenden

Überblick, benennt die für die Modellierung benötigten Daten und weist auf

Validierungsmöglichkeiten hin.

Nr. Modellierungsaufgabe Benötige Daten Verifikationsmöglichkeit (bei vorh. Hardware)

1 Strukturmodell erstellen 3D-CAD Sitzstruktur, Materialdaten, Massen

per EMA an Struktur ohne Ausstattung

2 Modelle für Anbauteile und Ausstattung erstellen und einbinden

3D-CAD Anbauteile, Materialdaten, Massen

per EMA an Struktur mit Ausstattung und Anbau-teilen

3 Formpolstermodell erstellen und an Strukturmodell koppeln

3D-CAD Formpolster, Materialdaten (hyper-elastisch, viskoelastisch)

per EMA an aufgepolstertem Sitz

4 Sitzbezug per Massenbelegung modellieren

Masse

5 Menschmodell CASIMIR in Designhaltung bereitstellen

Torsowinkel und Kissenwinkel in Designhaltung

6 CASIMIR durch Definition des Kontaktproblems an Sitzmodell koppeln

Vergleich gemessener und berechneter Sitz-Übertragungsfunktionen

Tabelle 2: Vorgehen zur Modellierung des aufgepolsterten, belegten Sitzes

Mit dem derart aufgebauten Simulationsmodell ist es nun möglich, sowohl Eigenfrequenzen

und –formen des belegten Sitzes zu bestimmen als auch erzwungene Schwingungen, d.h.

Page 20: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

hier Übertragungsfunktionen, zu berechnen. Mit den Simulationsergebnissen lassen sich u.a

folgende Fragen beantworten:

1. Passt der (belegte) Sitz in seinen Resonanzen zu den erwarteten

Anregungsspektren, die vom Gesamtfahrzeug (d.h. aufsatzfertige Karosserie mit

Triebstrang und Achsen) kommen oder gibt es ungewollte Überdeckungen von

Anregungen und Resonanzen?

2. Welche Verstimmungs- oder Tuningmaßnahmen sind sitzseitig vorzuhalten, um den

Sitz ggf. in seinen Grundresonanzen abzustimmen?

3. Wie verhalten sich die berechneten Schwingungspegel zu gemessenen und

berechneten Vorgänger- und Bench-Fahrzeugen?

5.2 Berücksichtigung des belegten Sitzes im Ganzfahrzeugmodell

Anschließend an die vom Gesamtfahrzeug entkoppelte Analyse erfolgt die Berücksichtigung

des belegten Sitzes im Gesamtfahrzeug. Hier ist das Ziel, aufbauend auf einem sehr großen

und auf allen Ebenen hochdetaillierten Gesamtmodell des Fahrzeuges die

Schwingungsausbreitung von der Fahrbahn über Reifen, Fahrwerk und Karosserie in den

Sitz und damit letztlich in den Menschen zu berechnen. Die Aussagefähigkeit des

Gesamtfahrzeugmodells (d.h. hier das Modell der aufsatzfertigen Karosserie mit Triebstrang

und Achsen) ist durch ein geeignetes Ersatzmodell des belegten Sitzes, der ja ein ca. 100

kg schweres Schwingungssystem mit ausgeprägter dynamischer Charakteristik im fraglichen

Frequenzbereich darstellt, zu erweitern.

Hier können nun zwei Ansätze verfolgt werden:

• Linearisierung des Modells Mensch / Sitz und direkte Einbindung in das lineare

Gesamtfahrzeugmodell oder

• Kondensation des Modells Mensch / Sitz und Einbindung in das

Gesamtfahrzeugmodell als kondensiertes Modell.

Die Kondensation hat den Vorteil, dass das Gesamtfahrzeugmodell nicht mit einer großen

Anzahl zusätzlicher Freiheitsgrade belastet wird, zusätzlich ist das kondensierte Modell

leichter zu pflegen. Nachteil ist eine fehlende Visualisierung der Schwingformen des

Ersatzmodells.

Für die Kondensation hält die Strukturdynamik bewährte Methoden bereit, bei denen die zu

kondensierende Struktur, die üblicherweise eine hohe Anzahl von Freiheitsgraden aufweist,

Page 21: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

durch Matrizen weit geringerer Dimension ersetzt wird. Bekannte Verfahren sind die

statische, die modale und die gemischt statisch-modale Kondensation [10].

Generell bedeutet die Anwendung von Kondensationsverfahren eine Linearisierung der zu

kondensierenden Teilstruktur, hier also des belegten Sitzes. Daraus kann direkt die

Forderung abgeleitet werden, dass die Kondensation des belegten Sitzes erst nach der

Simulation des statischen Einsitzvorgangs stattfinden darf, da dieser bedeutenden Einfluss

auf den Arbeitspunkt hat, um den die Linearisierung stattfindet.

Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung treten im vorliegenden Fall dadurch auf,

dass sowohl Sitz als auch Mensch frequenzabhängige Eigenschaften aufweisen, eine

frequenzabhängige Einbindung kondensierter Matrizen in aktueller Simulationssoftware

jedoch nicht vorgesehen ist. Eine gute Möglichkeit, die praktischen Einschränkungen zu

umgehen, stellt die folgende Vorgehensweise dar:

Mathematisch exakt wäre es, das Modell des belegten Sitzes durch dessen auf die vier

Ankopplungspunkte des Sitzes an die Karosserie kondensierte dynamische

Steifigkeitsmatrix ( )ΩdynK gemäß Formel 3 zu ersetzen. Beschränkt man sich auf die

Berücksichtigung der 3 translatorischen Freiheitsgrade, so hätte diese Matrix die Dimension

12 x 12, ist also hoch kompakt. Die Auswahl weiterer Freiheitsgrade, an denen Ergebnisse

ausgewertet werden sollen, vergrößert die Matrix entsprechend.

( ) ( ) ( )ΩΩ+Ω−Ω=Ω DiMKK 2dyn Formel 3

Die Bestimmung der komplexen dynamischen Steifigkeitsmatrix ( )ΩdynK ist mit dem Modell

des belegten Sitzes ohne weiteres durch dynamische Einheitsverformungszustände an den

Koppelfreiheitsgraden möglich.

Die (reelle) statische Steifigkeitsmatrix Kst des belegten Sitzes, bezogen auf die

Koppelfreiheitsgrade, ist dabei der Wert von ( )ΩdynK bei der Frequenz Ω = 0, s. Formel 4.

( 0KKdynst =Ω= ) Formel 4

Dieser statische Anteil von ( )ΩdynK ist ohne weitere Schwierigkeiten in aktuelle

Simulationssoftware zu integrieren (z.B. NASTRAN: Elementtyp DMIG, ABAQUS:

Elementtyp USER), die Berücksichtigung des statischen Verhaltens auf diese Weise stellt

keine Näherung dar, sondern ist mathematisch exakt. Der zu ( )ΩdynK verbleibende Rest

stellt die Matrix ( )Ω∗,dynK dar, die sich gemäß Formel 5 bestimmt:

( ) ( ) ( )( ) ( )ΩΩ+Ω−−Ω=−Ω=Ω∗

DiMKKKKK 2ststdyn,dyn Formel 5

Page 22: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

( )Ω∗,dynK ist im Allgemeinen voll besetzt, ist jedoch für die Frequenz Ω = 0 identisch mit der

Nullmatrix. Sie beinhaltet Trägheitskräfte, (frequenzabhängige) Dämpfungskräfte und Kräfte

aus frequenzabhängigen Steifigkeiten, die über die statischen Steifigkeiten hinausgehen.

Vernachlässigt man nun die Terme dieser Matrix, die außerhalb ihrer Hauptdiagonale

stehen, so verbleiben 12 Hauptdiagonalterme mit frequenzabhängigen dynamischen

Steifigkeiten, deren statischer Wert Null beträgt. Derartige Terme können auf sehr einfache

Weise in dynamische Massen umgerechnet und ggf. mit Hilfe einer modalen Aufspaltung in

Form einfacher Einmassen-Schwinger direkt an den Koppelfreiheitsgraden in das

Gesamtfahrzeugmodell integriert werden.

5.3 Strategische Bedeutung der Simulation des belegten Sitzes

Eine konsequente Integration der Simulation des Schwingungssystems Mensch-Sitz-

Fahrzeug in den digitalen Entwicklungsprozess eröffnet insbesondere folgende Vorteile für

den entwickelnden OEM:

• Vermeidung kostspieliger später Änderungen an der Sitz- oder Fahrzeugstruktur;

• Eröffnung von Möglichkeiten einer Gewichtsoptimierung der Sitzstruktur und der

Sitzanbindung;

• Zielgerichtete Vorbereitung von Versuchsfahrten

• Deutliche Reduzierung des Versuchsaufwands beim Auftreten unerwünschter

Schwingungsphänomene, da die Versuche berechnungsseitig begleitet werden

können;

6 Literatur

[1] http://www.mercedes-benz.de

[2] Digital Human Modeling Conference - Digitale Mensch-Modellierung , VDI-Berichte

1675, VDI Verlag 2002

[3] Wölfel, Rützel, Mischke: Biodynamische Modelle des Menschen, Vortrag auf der VDI-

Tagung Humanschwingungen, Darmstadt, 17./18.4.2004

[4] Buck: Ein Modell für das Schwingungsverhalten des Menschen mit detaillierter

Abbildung der Wirbelsäule und Muskulatur im Lendenbereich, Shaker Verlag, Aachen

1997

[5] Pankoke: Numerische Simulation des räumlichen Ganzkörperschwingungsverhaltens

des sitzenden Menschen unter Berücksichtigung der individuellen Anthropometrie und

Haltung, Fortschritt-Berichte VDI, Nr. 522, VDI-Verlag, Düsseldorf 2003

Page 23: CASIMIR_VDI-ReifenFahrwerkFahrbahn-2005.pdf

[6] Seidel, Blüthner, Hinz, Schust: Belastung der Lendenwirbelsäule durch stoßhaltige

Ganzkörperschwingungen, Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und

Arbeitsmedizin, Berlin 1995

[7] Griffin: Handbook of human Vibration, Academic Press, 1990

[8] DIN EN ISO 3386-1: Bestimmung der Druckspannungs-Verformungs-Eigenschaften,

Teil 1: Materialien mit niedriger Dichte, 1998

[9] Pankoke: Determination of the Deflected Contact Surface between Human Body and

Seat under Realistic Individual Sitting Conditions – a mixed Experimental and

Numerical Approach, SAE Digital Human Modeling Conference, Montreal 2003

[10] Gasch, Knothe: Strukturdynamik, Band 2: Kontinua und ihre Diskretisierung, Springer

Verlag, Berlin 1989