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»Radio Archives in European Community Media« this is the third readers of the international CAPTCHA-conference in Halle (Saale), Germany 5-6 june 2015, by RADIO CORAX. content: deutschsprachige Artikel zum ThemaTRANSCRIPT
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INHALTSEITE
5 Die Phänomene des Digitalen und die urheberrechtliche Regulierungsnot von Joachim Losehand
12 CBA – die Radiothek der Freien Radios Österreich von Ingo Leindecker
17 rescue – reproduce – replay. Zur Notwendigkeit frei zugänglicher online-Archive von Johannes Wilms
livingarchives.eu
R A D I O A R C H I V E S I N E U R O P E A N
C O M M U N IT Y M E D I A
C A P T C H A
Urheberrecht: Die Lösungen der Vergangenheit schufen die Probleme
der Gegenwart
Das moderne Urheberrecht zielt genauso wie die frühen Verleger- und
Druckprivilegien der frühen Neuzeit ab auf den legitimen Schutz
von Autoren und Verlagen, die in die Produktion von Büchern (und
später anderen Medien), viel Zeit und Geld investiert haben. Sein
Prinzip ist einfach und einleuchtend: Um zu verhindern, dass die
Früchte geistiger Arbeit und materieller Investitionen durch Dritte
mittels Schwarzdrucken von anderen geerntet werden, erhalten
Urheber oder Verlage in einem bestimmten Zeitraum und Territorium
das alleinige Recht, ein Werk zu veröffentlichen, zu vervielfältigen
und zu ver breiten. Durch ein solches zeitliches begrenztes Monopol-
recht soll verhindert werden, dass aufgewendete Zeit und einge-
brachte Investitionsmittel durch konkurrierende Angebote des
gleichen Werks nicht adäquat honoriert werden.
Im Laufe der letzten dreihundert Jahre, seit dem weltweit
ersten Urheberrechts-Gesetz aus Großbritannien, dem »Statute of
Anne« von 1710, haben sich nicht nur Werkarten
und die Verbreitungswege erweitert, auch der
für notwendig erachtete Schutz von Urhebern und
Produzenten beziehungsweise Investoren ist
ausgeweitet worden. Durch internationale Verträge
und Abkommen gelten Urheberrechte weitgehend
global und nicht mehr territorial, und durch
nationale und später europäische Gesetze wurde
der Schutz sowohl inhaltlich wie auch zeitlich
ausgeweitet – von ursprünglich 14 Jahren für jedes Werk mit einmali-
ger Verlängerungsmöglichkeit um weitere 14 Jahre, auf heute bis
zu 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers.
Dieses System funktioniert auch 2015 noch zur Abwehr
illegaler kommerzieller Ausbeutung von Werken der Kunst, Kultur
und Unterhaltung durch Dritte, stößt aber schnell an seine Grenzen
Das System des Urheberrechts stößt an seine Grenzen, wo private Nutzer oder auch öffentliche Einrichtungen nichtkommerzielle Interessen verfolgen
Die Phänomene des Digitalen und die urheberrechtliche Regulierungsnot von Joachim Losehand
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dort, wo private Nutzer oder auch öffentliche Einrichtungen nicht-
kommerzielle Interessen verfolgen. Denn mit der technischen Ent-
wicklung, der industriellen Massenproduktion und nicht zuletzt durch
die globalisierten Kommunikationsmittel und -netze lassen sich
von Laien ohne größeren materiellen Investitionsaufwand fast schon
professionelle Produktionsergebnisse erzielen und diese online auf
einem globalen Markt veröffentlichen und verbreiten. Die digitale
Technik macht es heute unmöglich, zwischen »Original« und »Kopie«
einer digitalen Datei zu unterscheiden, im ontologischen Sinn
gibt es letztlich kein digitales »Original« und keine digitale »Kopie«.
Das Analoge ins Digitale retten – das Scheitern am Paradigmen
wechsel
Die Menschen tun sich schwer, diesen grundlegenden Paradigmen-
wechsel in der Digitalen Informationsgesellschaft nicht nur angemes-
sen in Worte zu fassen (denken wir an den juristisch wie technisch
zweifelhaften Begriff der »Raubkopie«), sondern auch Bekanntes – wie
die Zustellung von wissenschaftlichen Aufsatzkopien – im Digitalen
grundsätzlich neu zu denken. Bei aller Wortgewalt mancher Interes-
senvertretungen ist die Sprachlosigkeit angesichts der nur schwer in
Analogien zu fassenden digitalen Technik und ihrer Nutzungsmög-
lichkeiten ebenso groß wie die Verunsicherung mancher Menschen
und Gruppen, die in ihrer Lebenszeit bis heute mehr technische
Umwälzungen miterleben durften oder mussten, als manche Völker
während deren gesamter Existenzdauer.
Der gern zitierte »clash of cultures« geht quer durch unsere
Kultur, Befürworter des Internets werden als Gegner des Urheber-
rechts abgestempelt, Befürworter des Urheberrechts als rückständig
und gestrig abgetan – und beide Seiten empfehlen einander den
»Realitäts-Check« angesichts eines drohenden »Realitäts-Schocks«.
Zwischen den Fronten stehen dabei Archive, Bibliotheken, Mediathe-
ken und Museen, die weder individuelle noch kommerzielle Interes-
sen im Blick haben, sondern die zeitgemäße und zukunftsorientierte
Bewahrung und Zugänglichmachung unseres kulturellen Erbes, das
aus Information, Wissen, Technik und Kunst besteht. Beispielsweise
hat die österreichische »IG Autorinnen Autoren« das laufende Projekt
der Österreichischen Nationalbibliothek kritisiert, die seltsam
flüchtige und gleichzeitig erinnerungsstarke digitale Öffentlichkeit –
das »Web« – auch für die Zukunft zu archivieren1: »Eher« von einer
»Beschlagnahmung« urheberrechtlich geschützter Werke ist in einer
Presseaussendung der IG vom Jänner 2012 die Rede, wobei hier nicht
die verwendete Metapher relevant ist, sondern die grundsätzlich
unterschiedliche Bewertung der Bedeutung von »digital« und
»analog« im 21. Jahrhundert und dass das erneut exemplarische
Spannungsverhältnis von privaten und öffentlich-gesellschaftlichen
Interessen selbst bei so anscheinend marginalen Themen eine
gewichtige Rolle spielt.
Während das erwähnte »Statute of Anne« auf rund fünf Druck-
seiten paßte und »the Encouragement of Learning« zum ausdrück-
lichen Ziel hatte, sind die heutigen Bestimmungen des Urheberrechts
und des hinzugekommenen Leistungsschutzrechts oftmals gänzlich
anderen Zielen unterworfen und zudem kaum noch klar und intuitiv
verständlich. Gerade im Ton- und Musikbereich (vom Film erst gar
nicht zu reden) ist durch die Verknüpfung von Urheberrechten und
Leistungsschutzrechten ein Geflecht an unterschiedlichen Rechten
und Rechtehierarchien entstanden, die für Außenstehende und auch
Experten oft kaum zu entwirren, geschweige denn allgemein zu
regeln sind. Alle an einer Tonaufnahme (also Musik, gesprochenes
Wort oder jede andere Art von Geräusch) Beteiligten haben eigene
schutzwürdige Interessen, die es zu achten und – für die Nutzer
– zu lizenzieren gilt. Zudem sind viele Lizenzgeber, also in der Regel
Verwertungsgesellschaften für den grenzüberschreitenden Online-
Bereich noch schlecht aufgestellt, wovon Anbieter von Podcasts,
Webcasts und natürlich Online-Archiven regelmäßig ein trauriges
Lied singen können. Die durch frühere EU-Richtlinien ermöglichte
1 www.wiener zeitung.at/ themen_channel/ wissen/ geschichte / 490436_Digitale- Archivierung-empoert- Autoren.html
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Fragmentierung des Musikrechte-Markts tut ein übriges, um den
Zugang zu Kunst und Kultur im Digitalen EU-Binnenmarkt fast zu
verunmöglichen oder in jedem Fall mit hohen Hürden zu versehen.
Die bis 2016 von den Mitgliedsstaaten umzusetzende Richtlinie
hinsichtlich des online-Musikmarkts (2014/26/EC) wird hier hoffent-
lich eine Verbesserung bringen.
Auch beim »Geistigen Eigentum« gilt die Sozialbindung des Eigentums
Das Menschenrecht auf Schutz von Urheber-Rechten und auf Schutz
der kulturellen Teilhabe ist formuliert in den beiden Absätzen des
Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom
10. Dezember 1948. Hier werden beide Pole berechtigter Interessen
vereint: Das Recht der Urheber auf Schutz ihrer geistigen und materi-
ellen Interessen (Abs 2), und das Recht aller Menschen auf freier
Teilhabe und Teilnahme am kulturellen und geistigen Leben sowie am
Wissensfortschritt der Gesellschaft (Abs 1). Auch wenn die Reihung
der Rechte – aufsteigend oder absteigend? – für manche eine Gewich-
tung vermuten lässt, ist doch nur die Berücksichtigung beider
Interessen zum Nutzen der Gesellschaft, in der immer wieder aufs
Neue individuelle Freiheitsrechte und gemeinschaftliche Ansprüche
ausgehandelt, ab-gewogen und in einen gerechten und angemesse-
nen Ausgleich gebracht werden müssen. Exemplarisch für diese
gesellschaftlich relevante Aushandlung von gegensätzlichen Interes-
sen ist das »Google Books Projekt«, das von Anfang an von scharfer
Kritik und juristischen Auseinandersetzungen durch Rechteinhaber
begleitet wurde.
»Google Books« ist unter gesellschaftlichen Aspekten insofern
problematisch, als ein auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen in
privater Hand für die Bevölkerung Dienstleistungen erbringt, die für
die Nutzer (aktuell) kostenlos sind, für Google jedoch nicht zuletzt
unter materiellen Gesichtspunkten gewinnbringend sind. Google und
die vom Unternehmen bereitgestellten privatwirtschaftlichen
Dienstleistungen treten damit an die Stelle öffentlicher Institutionen
wie Archive, Bibliotheken und oligopolisieren oder monopolisieren
damit sogar den Zugang zum medialen kulturellen Erbe von Gesell-
schaften. Die grundsätzliche Kritik an der Privatisierung von öffentli-
chen Aufgaben (Infrastruktur, Wasser- und Energieversorgung usw.)
trifft hier besonders zu, weil aufgrund der – beispielsweise in der
Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten geltenden – Rechts-
lage und budgetären Ausstattung eine öffent-
lich-rechtliche europäische Alternative zu dem
US-amerikanischen Angebot aktuell unrealistisch
ist. Das als solche Alternative initiierte Projekt
»Europeana« kann heute, nicht nur gemessen an
den Hoffnungen, mit denen es gegründet wurde, als
vorläufig gescheitert angesehen werden, da die
geltende Gesetzeslage es bislang nicht ermöglicht,
in großem Stil Werke der Kunst und Kultur für
gesellschaftliche Zwecke begünstigt der Öffentlich-
keit zugänglich zu machen. Hier wäre eine euro-
päische gesetzliche Lösung wie das sog. »Extended
Collective Licensing« eine notwendige Initiative.
Es muss für die Gesellschaft und die von ihr
beauftragten und geförderten Institutionen
Anliegen und Aufgabe sein, das kulturelle Erbe des
20. und 21. Jahrhunderts selbst technologieneutral zu bewahren
und gleichzeitig in jeweils zeitgemäßer adäquater Form der Öffent-
lichkeit zugänglich zu machen. Dieses Anliegen überstützt dabei
weder überschießende Vorstellungen kleiner technikaffiner Gruppen,
die das Urheberrecht ersatzlos »abschaffen« wollen, noch die sich
ausweitenden Ansprüche und das Beharren von Urhebern und
Rechteinhabern mit Hinweis auf Schutz ihrer kommerziellen Interes-
sen. Das wohlgemeinte Interesse am gegenwärtigen materiellen
Schutz der Künstler und Kulturschaffenden darf nicht dazu führen,
dass der berechtigte Wunsch, ihr Werk werde einmal Teil des »Welt-
Es muss für die Gesellschaft Anliegen und Aufgabe sein, das kulturelle Erbe des 20. und 21. Jahrhunderts selbst technologieneutral zu bewahren und gleichzeitig in jeweils zeitgemäßer adä quater Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
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kulturerbes«,durch eine Hintanstellung öffentlicher Interessen ver-
unmöglicht wird, weil der zeitgemäße Zugang und damit die Rezeption
dieser Werke durch die fehlende Präsenz im kulturellen Gedächtnis
verhindert wird.
Die Abwägung von Individual- und Gemeinschaftsinteressen für
zwingend zu erachten, heißt nicht, dass Individuum und Gemeinschaft
a priori gegensätzliche Interessen hätten oder dass die Stärkung
des Gemeinschaftsinteresses eine Schwächung von Individualinter-
essen zwingend zur Folge hätte.
Vielmehr muss hier in den Kategorien von »Balance« und »Aus-
gleich« gedacht werden, die die naturgemäß kurzfristigen, auf wenige
Lebensjahrzehnte abgestimmten Interessen von Individuen und die
langfristigen, in Generationen denkenden gesellschaftlichen Interes-
sen gleichermaßen berücksichtigt.
Joachim Losehand (Dr. phil., M.A.), Univ.-Lektor, ist Kulturhistoriker und seit 2013 tätig für den Verband der Freien Radios Österreich, Lead Science Commons bei creative commons Austria, als Archivar im Zentrum QWIEN dort zuständig für Digitalisierung, Koordinator Urheberrecht und Konsumentenschutz bei VIBE.
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Bereits seit den 1990ern nutzen die österreichischen freien Radios
digitale Verbreitungswege, um im gemeinnützigen Interesse eine
Vielfalt an Beiträgen zum kulturellen, gesellschaftlichen und politi-
schen Geschehen Österreichs bereitzustellen. Im 1999 gegründeten
»Cultural Broadcasting Archive« stehen unter http://cba.fro.at mehr
als 50.000 Beiträge frei zugänglich zum Nachhören zur Verfügung.
Die von den Mitgliedern des Verbands Freier Radios
getragene Plattform ist damit heute die größte,
offene Online-Radiothek Österreichs. Auch für den
Programmaustausch zwischen den Stationen bildet
das CBA nunmehr seit 15 Jahren die technische
und organisatorische Grundlage und ist daher aus
dem Alltag der Radios nicht mehr wegzudenken.
Eine Vielzahl der Beiträge thematisiert
lokale oder regionale Themen, darunter vorwie-
gend medial wenig beachtete Diskurse. Sie reichen
von Programmen ethnischer Minderheiten über
Frauen-, Medien- und Migrationspolitik, Globalisie-
rungskritik bis hin zu Kunst, Literatur, autonomer Kulturarbeit,
Philosophie und vielem mehr. So dokumentiert der Bestand einen
wesentlichen Teil des zivilgesellschaftlichen Engagements Öster-
reichs und gibt marginalisierten Anliegen und Positionen entgegen
der Flüchtigkeit des Mediums Radio auch einen dauerhaften Ort.
Auf diese Weise steht das Medienarchiv auch als zeitgeschichtliches
Dokument frei zur Verfügung, in dem recherchiert und geforscht
werden kann.
Der Offenheit und Unabhängigkeit verpflichtet
Das Cultural Broadcasting Archive wurde von Beginn als offenes
Archiv betrieben. Als eines der ersten Projekte in Österreich hat
es den Großteil seiner Inhalte unter eine Creative Commons Lizenz
gestellt. Durch den Einsatz ausschließlich offener Software und
CBA – die Radiothek der Freien Radios Österreich
von Ingo Leindecker
Standards wird eine langfristige Aufbewahrung und Nutzung sicher-
gestellt. Um den möglichst freien Zugang zu dieser Vielzahl an
Inhalten zu gewährleisten, betreiben die Radios die komplette Server-
infrastruktur selbst. Durch die klare Non-Profit Ausrichtung und
die Werbefreiheit wird zudem gesichert, dass keine ökonomischen
Verwertungsinteressen an den Inhalten und NutzerInnendaten
entstehen, die eine freie Weiterverwendung behindern.
Denn die Nutzung kommerzieller Online-Plattformen wie
Youtube, Soundcloud, etc. führt zu einem Verlust der rechtlichen Kon-
trolle über eigene Inhalte und oftmals zu einer Einschränkung der
Nutzungsmöglichkeiten. Die kommerzielle Verwertung kreativer Leis-
tung auf Kosten der UrheberInnen ist in diesem Kontext bereits
gängige Praxis. Die zunehmende Einengung des Internets auf wenige
große Monopole medialer Öffentlichkeit zwingt zudem die Menschen
in Abhängigkeit und verhindert damit nicht nur inhaltliche Vielfalt,
sondern gefährdet auf Dauer auch den freien Zugang zu Information.
Vielfach ist nicht absehbar, ob der Zugang zu solchen Plattformen
auch in Zukunft kostenlos sein wird. Dies alles behindert die Idee
einer freien Wissensgesellschaft, in der der offene Zugang zu histori-
schen sowie zeitgenössischen Wissens- und Medienproduktionen
gewährleistet ist. Um Unabhängigkeit, Meinungsfreiheit und -vielfalt
auch in der digitalen Sphäre dauerhaft zu sichern wird es deshalb
immer wichtiger, auch im Netz gemeinnützige, werbefreie Plattformen
zu fördern, so wie es auch im analogen Rundfunk der Idee der freien
Medien entspricht.
Neue Herausforderungen
Unter dieser Perspektive stellt das CBA für die Radios auch ein wesent-
liches politisches Instrument in einer zusehends digitalen Medien-
landschaft dar, in der sowohl die Alleinstellungsmerkmale als auch
die politischen Ansprüche der »alten« Leitmedien in einem konver-
genten Netzmedium – und dadurch auch in einem neuen medien-
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politischen Umfeld – aufgehen. Denn zentrale Konzepte Freier
Medien, wie der Offene Zugang, richten sich an die demokratischen
Defizite eines analogen Mediensektors und bedürfen zunehmend
einer zeitgemäßen Übersetzung in die Onlinesphäre. So sind neue
medien- und netzpolitische Anstrengungen nötig, um Meinungs-
freiheit und -vielfalt unter veränderten Rahmenbedingungen dauer-
haft zu gewährleisten. Vor allem rechtliche Einschränkungen
behindern vielfach den offenen und ortsungebundenen Zugang zu
digitalen Inhalten, selbst wenn sie im gemeinnützigen Interesse
produziert und im Falle der freien Radios sogar durch die öffentliche
Hand mitfinanziert wurden.
Aber auch in den eigenen Communities gibt es vielfach Hand-
lungsbedarf, was die Bewusstseinsbildung und Debatte über ein
sich veränderndes Selbstverständnis im digitalen Umfeld betrifft.
Immer noch fehlt in vielen Radios eine strukturelle Verankerung von
Online-Publishing, Distribution und Aufbewahrung, ganz zu
schweigen von einer gemeinsamen »digitalen Strategie«, die auf neue
Zugangshürden einerseits abzielt, wie auf veränderte Produktions-
praxen und Mediennutzung andererseits Rücksicht nimmt. Nur so ist
es möglich, die gesellschaftspolitische Relevanz des eigenen media-
len Konzepts zu erhalten. Das CBA bildet in diesem Zusammenhang
ein wesentliches Vehikel und den zentralen Knotenpunkt, der das
lose Radionetzwerk digital zusammenschweißt und in dem wichtige
Erfahrungen auf Basis einer gemeinsamen Plattform gemacht werden,
die so auch in den Produktionsalltag der Radios vordringen. Abgele-
sen werden kann das am kollaborativen Charakter des Projekts: seit
seinem Bestehen haben mehr als 2.000 Einzelpersonen aktiv an
der Erschaffung dieses einmaligen Datenbestandes mitgewirkt. Diese
Form der Kollaboration ist in Zeiten medialer Fragmentierungs- und
Individualisierungstendenzen keine Selbstverständlichkeit und zeigt
die politische Bedeutung und den hohen Anspruch der NutzerInnen
an eine unabhängige Infrastruktur. Dieser Umstand sollte als Poten-
tial und Chance zugleich aufgefasst werden.
Mit der zunehmenden Relevanz der Plattform kommt in den Freien
Radios sukzessive auch ein Thema auf die Tagesordnung, das
zahlreiche neue (politsche) Betätigungsfelder berührt: die Geschicht-
lichkeit des eigenen Mediums selbst, die zeithistorische Bedeutung
des eigenen Bestands und wie damit umgegangen
werden soll. So stehen auch die Betreiber des CBA
zusehends vor der Herausforderung, mit welchen
Strategien – abseits der rechtlichen Problematik
– diese riesigen, schnell wachsenden Datenmengen
einer Öffentlichkeit wieder vernünftig zugäng-
lich gemacht werden können. Denn auf Dauer reicht
es nicht aus, nur den technischen Zugang zu
gewährleisten, sondern auch die Nutzbarkeit zu sichern, die Voraus-
setzung für die Formen der kulturellen Produktion des 21. Jahr-
hunderts sind und darüber hinaus wissenschaftliche oder künstleri-
sche Forschung erst ermöglichen. Die Notwendigkeit einer redak-
tionellen Betreuung, die Hebung und Kontextualisierung bestimmter
Inhaltesammlungen, die Narration von Themen, Fragen von sprach-
licher und visueller Aufbereitung, von Design, u.v.m. kommen hier
ins Spiel. Als erster Schritt neben den gemeinsamen politischen und
rechtlichen Anstrengungen für den freien Zugang zu gemeinnützi-
gen Medienarchiven ist im Rahmen von CAPTCHA deshalb das Open
Source Visualisierungswerkzeug »UVisualize!« (http://cba.fro.at/
uvisualize) entstanden, das erstmals die technische Voraussetzung
für zeitgemäße Formen der visuellen Darstellung und Präsentation
von digitalen Medienproduktionen bietet. Es soll helfen, die beste-
hende archivarische Praxis im Freien Medium durch die wesentliche
Komponente der Vermittlung zu erweitern. Möge es eine Stütze
in die nächste Ära der digitalen Verbreitung im Freien Medium sein.
Ingo Leindecker ist Bildender Künstler, Kulturarbeiter und seit 2013 selbstständiger Webdeveloper an der Schnittstelle zwischen Kultur, Technologie und Wissenschaft.
Ein neues Thema Freier Radios: die Geschichtlichkeit des eigenen Mediums selbst, die zeithistorische Bedeutung des eigenen Bestands …
»sich mitzuteilen ist Natur« J.W. Goethe
«Ja?« Alexander Kluge
Epoche eines Wir, das nicht wir sein wollte
Was wir – »wir« im Sinne einer technisch, einer medial organisierten
Menschheit – gerade erleben, erscheint wie die neuere Geschichte im
Zeitraffer. Wie im fastforward einer Bandmaschine rasen die letz-
ten 500 Jahre des Kapitalismus, die Hauptkonflikte und Widersprüche
von 500 Jahren Kapitalakkumulation und -zirkulation vorbei. Sei
es beim Thema »geistiges Eigentum«, beim Thema Banken, sei es im
Hinblick auf Lizenzierung und Nutzung von Monopolen, von Schürf-
rechten und Inselstreitigkeiten, von Neokolonialismus und falscher
Emanzipation, von Zentralisierung und Macht, Zensur – eine Wieder-
holung auf speed, gegeben als ein in Medien gekleidetes Kostümfest
des Weltgeists – Sie wissen schon: Geschichte wiederholt sich nicht,
und wenn dann nur als Farce, wie Hegel vergessen hatte, irgendwo zu
bemerken; nun Marx’ »der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«
bleibt ein erstaunlich aktueller Text …
»la proprierite c’est le vol«
In den entwickelten Ländern tauchen dabei zur Zeit zwei Konflikt-
felder auf, die in den Tigerstaaten wiederum nicht oder nur wenig
vorkommen: einmal die wahlweise als Staatsverschuldung oder als
Schuldenkrise drapierte Umverteilung gesellschaftlichen Reich-
tums und zum anderen die in ›Urheberrechtsdebatten‹ verdampften
Verwertungsinteressen der Inhaber_innen von intellectual property
– Wer jetzt den guten Proudhon aus dem Keller seiner / ihrer versan-
rescue - reproduce – replay. Zur Notwendigkeit frei zugänglicher online-Archive
von Johannes Wilms
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deten Bibliothek hervorholt, und akzentuiert: »la proprierite intellec-
tuelle c’est le vol intellectuelle« [»Geistiges Eigentum ist geistiger
Diebstahl«, Anm.d.R.] sagt, bekommt bis zum Ende
des Artikels lesefrei.
Urheberrecht, ursprüngliche Akkumulation und
virtueller Reichtum
Ansonsten ist die Erfindung eines ›geistigen Eigentums‹ im 19. und
20. Jahrhundert wahrscheinlich so originell wie es im 15. und 16. die
Erfindung von Monopolbriefen und im 17. und 18. Jahrhundert die
des Papiergelds gewesen war – über das Marx im Kapital schreibt:
»Um dieselbe Zeit, wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen,
fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen« 1. Nun gibt es
heute eine unheimliche Allianz aus Corporate Media, verwirrten Ver-
leger_innen und einer unbelehrbaren Schar von Autor/inn/en, die alle
zusammen sogenannte Raubkopierer vielleicht nicht gleich hängen
würden, die in sogenannten Urheberrechtsverletzungen aber ähnliche
Verbrechen sehen, wie ihre Vorgänger und Ahnen im 17. und 18.
Jahrhundert im Nachahmen des physikalischen Trägers von virtuel-
lem Reichtum: Papiergeld.
Klassik durch Kopie
Das alles zu einer Zeit, daran sei erinnert, da Kopieren und drucken
»in« war: allein zwischen 1760 und 1780 entstanden im deutsch-
sprachigen Raum ca. 300 Logen und noch einmal ca. 300 Lesegesell-
schaften; in dieser Zeit kamen massenhaft Bücher auf die Märkte,
die in Mantel- ja sogar Jackentaschen passten; und obwohl oder
gerade weil die meisten Bücher, die damals zirkulierten, nach heuti-
gen Maßstäben ›Raubkopien‹ waren – waren sie Ausdruck einer
Blüte des Buchdrucks und Buchhandels, der seinerseits maßgeblich
zur Literarisierung beträchtlicher Teile der Bevölkerung beitrug.
1 Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, S. 783; zur Figur der Hexe im frühen Kapitalismus s. Silvia Federici: Caliban und die Hexe, Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akku-mulation; Wien 2012
2 s. hierzu: das Interview mit Eckhard Höffner, www.heise.de/tp/artikel/33/ 33092/1.html,Datum des Zugriffs: 26.05.2015.
3 Über den Zusammenhang von copyright, filesharing und den Global War on Piracy siehe die zahlreichen, leider noch immer aktuellen Beträge auf http://piratecinema.org/.
»la proprierite intellectuelle c’est le vol intellectuelle«
Mit Bücherwaren (Aufklärung und Unterhaltung) war gut Geld machen,
vor der Einführung der Titulargewalt ›geistiges Eigentum‹ 2, und wahr-
scheinlich hätte es weder die Leser_innen noch die Autor_innen der
Weimarer Klassik gegeben ohne die Raubdrucke des 18. Jahrhunderts.
Universalgeschichte und Universalmaschine
Ist es nun Ironie oder Dialektik geschichtlicher Prozesse, dass ausge-
rechnet die Piraterie, die heutzutage verachtete und nur vereinzelt in
Kinderzimmern hochverehrte Piraterie 3 an der Wiege des modernen
Bildungsbürgertums stand? Fakt ist wohl: Die Zahl derer, die auch nur
rudimentär mit einem Computer, einer playstation oder wenigstens
mit einem Mobiltelefon irgendwie umgehen können, dürfte inzwischen
so gross sein, wie die Zahl derer, die überhaupt lesen und schreiben
können. Dennoch gibt es allerorten, in allen Schichten, Klassen und
Altersgruppen einen Grad von Beschränktheit, der die Nutzung
der Univeralmaschinen computer begleitet und die sich, bestenfalls,
im Begriff »USER« widerspiegelt, dass die Forderung nach einer
emanzipatorischen Medien-aneignung nicht hoch genug gestellt wer-
den kann.
Wem gehört die Welt (immer noch)?
»Aneignung« allerdings kommt beispielshalber in den gängigen
medienpädagogischen Diskursen nur da vor, wo es um »Informatio-
nen« oder »Fertigkeiten« geht.4 D.h. der Diskurs bleibt beim kog-
nitiven Prozess stecken, ohne je nach den materiellen Bedingungen
und damit den Eigentumsverhältnissen und der mit diesen verbun-
denen gesellschaftlich organisierten Verfügungsgewalt gefragt zu
haben.5 Die Macht der Medienkonzerne besteht nicht nur darin, dass
sie auf den »Endgeräten« fast aller »Mediennutzer_innen« eine
fast alleinige Präsenz zeigen 6 – sie treten auf als die Eigentümer.
4 Vgl. Fred Schell: www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Fred%20Schell.pdf, Datum des Zugriffs: 26.05.2015.
5 s.a.: Brüggen, Niels; Schemmerling, Mareike (2014): Das Social Web und die Aneignung von Sozialräumen. In: sozialraum.de (6) Ausgabe 1/2014. www.sozialraum.de/das-social-web-und-die-aneignung-von-sozialraeumen.php, Datum des Zugriffs: 11.04.2015; Hier wird etwa lediglich eine »Asymmetrie« von »Nutzenden« und »Dienst« festgestellt.
6 Bei Jugendlichen aus den Milieus sozialer Brennpunkte in bundesdeutschen Großstädten, also für die Ghettokids: RTL (mithin Bertelsmann, denen, über Random House übrigens auch der Hörverlag gehört), deren Joint-Venture Partnern SONY, iPhone, (apple corp.), whatsapp, X-Box (microsoft), facebook, Samsung, denen bekanntlich halb Süd- korea gehört – und so- weiter im Karussell der Monopole).
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Zwerge, Masse, Eigentum
Zwar hat das sogenannte Web 2.0 zu einer Vermassung contributiver
Formen der kulturellen Produktion geführt, aber eben auch zu
einer ungeheuren Zentralisierung der Dienste und Marken (in alpha-
betischer Folge: amazon, facebook, instagram, google, twitter,
ustream, yahoo, youtube, whatsapp). Wobei zur Geschichte der politi-
schen Ökonomie des Internets auch die Zentralisierung der techni-
schen Infrastrukturen selbst gehört. (D.h. die Konzentration, wo nicht
Oligopolisierung der Internet Service Provider; ganz zu schweigen
vom sog. ›Mobilfunkmarkt‹, der nie nennenswert diversifiziert war).
It’s the economy, stupid. Und so wiederholte sich nach dem Zerplatzen
der ersten Dot-Com-Blase Ende der 90er Jahre, was dem Medium
Radio in den 20 Jahren des 20. Jahrhunderts widerfahren war: »die
Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel
in gesellschaftlich konzentrierte, […] des zwerghaften Eigentums
vieler in das massenhafte Eigentum weniger« (MEW 23: S. 689).
»Das Internet« als (negative) Utopie
Dabei läge doch nahe, zu fragen, wie es mit dem Wissen und den Küns-
ten aussieht, in Zeiten, in denen in einem bis vor kurzem unvorstell-
barem Maße, digitale Produktionsmittel in die Hände der Massenkultur
geraten sind, und in denen »geistiges Eigentum«, Urheberrecht,
creative commons und, deutlich seltener, auch die General Public
Licence ins allgemeine Bewusstsein rücken. Die negative Utopie
»des Internets« wäre allerdings die eines Internet, das keins mehr ist,
weil ein ähnlicher Grad von Zentralisation erreicht wäre, wie bei
anderen elektronischen one to many Medien auch, – wenn »das Inter-
net« ein raffiniertes Fernsehen on demand, wenn web 3.0 mit tv 2.0
identisch geworden wäre.7, 8 Solche negative Vergesellschaftung
erhellt, warum der Erhalt und der Ausbau dezentraler, unabhängiger
Infrastrukturen von Jahr zu Jahr exponentiell wichtiger wird.
7 Der aufhaltbare Fall des Günter Oettinger in seiner Rolle als EU-Kommis-sar ist hier groteskes Menetekel und Symp-tom zugleich.
8 Bereits 2004 forderte Eben Moglen, Co-Autor der General Public License, auf der Wizards of OS ›bandwith‹, also die Bandbreite zu sozialisieren, die ein starkes, freies, emanzipatorisches Internet braucht. http://ia802306.us.archive.org/ 19/items/3_do_t1_11h_3-Moglen _a/3_do_t1_11h_ 3-Moglen.mp3; Zugriffs: 26.05.2015 (Moglens Vortrag, in englischer Sprache, bietet übrigens zugleich einen her-vorragenden Einstieg in die Geschichte und Widersprüche der politischen Ökono-mie des Internet.)
Dezentralisierung, Redundanz und Quelloffenheit
Wenn in der herrschenden Tendenz die dezentrale Anlage von online-
Archiven schon nicht technisch geboten scheint, so doch wenigs-
tens die Redundanz der Datenspeicher. Redundanz ist das Mantra der
Ausfallsicherheit, quelloffene Formate (z.B.
oggvorbis oder, neuerdings, ietf ) das einer für
Archive unbedingt gebotenen Nachhaltigkeit:
Dezentralisierung, Redundanz und Quelloffenheit
sind also sozusagen die Troika einer demokrati-
schen und ökologischen Nutzung von Archiven im
Internet.
Der ›Kampf um’s Urheberrecht‹ (wetterfrosch,
in Datenschleuder 20, ccc.de ) bleibt hier ein
Kampf ›avant la lettre‹, denn es geht – wie Thomas
Diesenreiter vom CBA (Cultural Broadcasting
Archive cba.fro.at) anlässlich der ARCHIVI 12 (vgl. archivia.at) bloggte
– um nicht weniger als die Frage, »nach welchen Regeln wir unser
Wissen erzeugen, archivieren und wieder weitergeben.«9 – um die
humanistische Tradition überhaupt.
Johannes Wilms lebt in Berlin und ist Mitglied von bootlab.org sowie Mitinitiator verschiedener Radioprojekte, u.a. juniradio, radioriff auf reisen, mikro.fm und colaboradio.
Dezentralisierung, Redundanz und Quell offenheit sind sozusagen die Troika einer demokratischen und ökologischen Nutzung von Archiven im Internet
9 www. diesenreiter.at/ archivia2012