biomechanische und biofunktionelle therapie, bewertet nach dem verhältnis von „form“ und...

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Biomechanische und biofunktioneile Therapie, bewertet nach dem Verhfiltnis von ,,Form" und ,,Funktion" H. G. Gerlach, Ravensburg Mit 12 Abbildungen Die Aufwertung der Orthodontie vergangener Tage zur neuzeitlichen Kieferortho- pfidie hat die traditionelle Richtung des therapeutischen Konzepts seit Angle nicht ver~tndert. Ihrem Inhalt nach ist eine anormale GebiBform mit Hilfe aktiv- mechanischer Kr~ifte zur Norm, sprich Okklusionsnorm, umzumanipulieren. Simon [19] bezeichnete diese Therapie 1933 als ,,biologisch-mechanisch", urn die seinerzeit nachdr~icklichst geforderte physiologisch maBvolle Dosierung der mechanischen Kr~tfte hervorzuheben. Weltweite Erfolge sprechen ft~r sie. DaB Erfolgen auch Mil3- erfolge gegenfiberstehen, ist unleugbar, denn die biologische Substanz, mit und an der gearbeitet wird, hat viele Untiefen. Obgleich erfolgreich, wird dieses Konzept yon den ,,Funktionalisten" als unphy- siologisch bezeichnet. Sie bem~ingeln den Vorrang der Mechanik, da die Erkenntnis- se vom pathogenetischen EinfluB der Funktion eine andere Art der Therapie erfor- dere. Ftir diese ,,biofunktionelle" Richtung erschlieBt sich der Ursachenkomplex ei- ner Gebiganomalie aus der ,,Ganzheitsbetrachtung" der Person, bezogen auf die Funktionsabl~tufe im stomatognathen Komplex. Funktionelles Fehlverhalten der Person oder fehlgesteuerte Funktionen provozieren Formanomalien. Auf physiolo- gischem Weg, teils durch Obung, teils unter Einsatz ,,passiver" Hilfsger~tte, sollen funktionelle Abweichungen so geregelt werden, dab das deformierte GebiB zur Selbstheilung f~ihig ist. Manche Ergebnisse der auf diese Weise durchgefiihrten Be- handlungen kOnnen iiberzeugen. Bahnt sich eine Wende in der Auffassung yon der Kieferorthop~idie an [21]? Bleibt das Formgefilge traditionsgem~B der Mittelpunkt der Diagnostik wie der Therapie oder sind funktionelle Unzul~inglichkeiten im engeren oder weiteren Be- reich des GebiBsystems einschliel31ich der Person hOher zu bewerten? Ist das Pro- gramm der ,,biofunktionellen" Richtung beweiskr~iftig gestiitzt und wird es der Praxis in dem Umfang gerecht, wie es die ,,biomechanische" Richtung doch seit vie- len Jahrzehnten unter Beweis gesteltt hat? Ohne ideologische Voreingenommenheit soll der biologische Sachverhalt zu- n~chst an der Bewertung der Begriffe ,,Form" (bevorzugt auf skelett~ire Strukturen bezogen) und ,,Funktion" analysiert werden. Wo angebracht, miissen die Schw~i- chen jeder Richtung aufgedeckt oder Erwartungen ged~impft werden, wenn sie als Vorstellungen in das Irrationale abgleiten. Gemessen an eigenen klinischen Erfah- rungen wird der praktische Effekt der biofunktionellen Therapie dargestellt. Soge- nannte ,,Erfolgsbehandlungen" kann jede Methode vorweisen, aber ~iber die Mi/3- erfolge darf nicht geschwiegen werden. Sie haben den gr6Beren Aussagewert und ge- ben die Indikation an. Dariiber ist bisher wenig zu lesen. 102 Fortschr. Kieferorthop. 44 (1983), t02--121 (Nr. 2)

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Biomechanische und biofunktioneile Therapie, bewertet nach dem Verhfiltnis von ,,Form" und ,,Funktion"

H. G. Gerlach, Ravensburg

Mit 12 Abbildungen

Die Aufwertung der Orthodontie vergangener Tage zur neuzeitlichen Kieferortho- pfidie hat die traditionelle Richtung des therapeutischen Konzepts seit Angle nicht ver~tndert. Ihrem Inhalt nach ist eine anormale GebiBform mit Hilfe aktiv- mechanischer Kr~ifte zur Norm, sprich Okklusionsnorm, umzumanipulieren. Simon [ 19] bezeichnete diese Therapie 193 3 als ,,biologisch-mechanisch", urn die seinerzeit nachdr~icklichst geforderte physiologisch maBvolle Dosierung der mechanischen Kr~tfte hervorzuheben. Weltweite Erfolge sprechen ft~r sie. DaB Erfolgen auch Mil3- erfolge gegenfiberstehen, ist unleugbar, denn die biologische Substanz, mit und an der gearbeitet wird, hat viele Untiefen.

Obgleich erfolgreich, wird dieses Konzept yon den ,,Funktionalisten" als unphy- siologisch bezeichnet. Sie bem~ingeln den Vorrang der Mechanik, da die Erkenntnis- se vom pathogenetischen EinfluB der Funktion eine andere Art der Therapie erfor- dere. Ftir diese ,,biofunktionelle" Richtung erschlieBt sich der Ursachenkomplex ei- ner Gebiganomalie aus der ,,Ganzheitsbetrachtung" der Person, bezogen auf die Funktionsabl~tufe im stomatognathen Komplex. Funktionelles Fehlverhalten der Person oder fehlgesteuerte Funktionen provozieren Formanomalien. Auf physiolo- gischem Weg, teils durch Obung, teils unter Einsatz ,,passiver" Hilfsger~tte, sollen funktionelle Abweichungen so geregelt werden, dab das deformierte GebiB zur Selbstheilung f~ihig ist. Manche Ergebnisse der auf diese Weise durchgefiihrten Be- handlungen kOnnen iiberzeugen.

Bahnt sich eine Wende in der Auffassung yon der Kieferorthop~idie an [21]? Bleibt das Formgefilge traditionsgem~B der Mittelpunkt der Diagnostik wie der Therapie oder sind funktionelle Unzul~inglichkeiten im engeren oder weiteren Be- reich des GebiBsystems einschliel31ich der Person hOher zu bewerten? Ist das Pro- gramm der ,,biofunktionellen" Richtung beweiskr~iftig gestiitzt und wird es der Praxis in dem Umfang gerecht, wie es die ,,biomechanische" Richtung doch seit vie- len Jahrzehnten unter Beweis gesteltt hat?

Ohne ideologische Voreingenommenheit soll der biologische Sachverhalt zu- n~chst an der Bewertung der Begriffe ,,Form" (bevorzugt auf skelett~ire Strukturen bezogen) und ,,Funktion" analysiert werden. Wo angebracht, miissen die Schw~i- chen jeder Richtung aufgedeckt oder Erwartungen ged~impft werden, wenn sie als Vorstellungen in das Irrationale abgleiten. Gemessen an eigenen klinischen Erfah- rungen wird der praktische Effekt der biofunktionellen Therapie dargestellt. Soge- nannte ,,Erfolgsbehandlungen" kann jede Methode vorweisen, aber ~iber die Mi/3- erfolge darf nicht geschwiegen werden. Sie haben den gr6Beren Aussagewert und ge- ben die Indikation an. Dariiber ist bisher wenig zu lesen.

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Biomechanische und biofunktionelle Therapie

Abb. 1. Dysfunktion durch Zungenpressen (Glossoma- nie). 8j~ihr. M~dchen. Rachi- tisch oftener BiB. Extraktion der zerst0rten 16, 26, 36, 46. ,,Protektor" mit Zungen- schutzbiigel. Danach nattirli- ches vertikales Wachstum oh- ne Rezidiv.

Das Verh~iltnis von Form und Funktion in biologischer und stomatologischer Sicht

,,Ira Anfang war die Fo rm" . Diese Behauptung stt~tzt sicht auf die SchOpfungsge- schichte. Nachdem der Mensch in seiner Urform erschaffen war, wurde ihm der Atem des Lebens, seine Funktion, gegeben (Genesis). Das irdische Leben bietet eine unerschOpfliche Menge verschiedenartigster Formen. Nicht viel weniger nuanciert sind, mindestens im Detail, die Funktionen, welche das Leben bedingen.

Doch was ist eigentlich , ,Funkt ion"? Sp~testens seit sich die Funktions-Kiefer- Orthop~idie [1] als alternative Therapie (1936) zwischen die g~tngigen Behandlungs- verfahren mit Plattenger~iten und Band-Bogenger~ten stellte, ist das Wort ,,Funk- t ion" viel gebraucht, oft einseitig interpretiert, sogar h~ufig mif3braucht worden. Ft~r sich allein betrachtet ist , ,Funkt ion" ein Abstraktum. , ,Form" hingegen ist konkret kOrperlich, wirklich fal3bar. Wenn auch stumm, so ist die Form nicht nur leicht meBbar, sondern sie zeugt von dem genetischen Potential, dem sie Ihre Exi- stenz verdankt. Dieses genetische Potential ist unendlich, soweit es die Eigenarten der Formen, den kOrperlichen Habitus anbetrifft . Das besondere Interesse gilt dabei den Formen im stomatognathen Komplex und deren Beziehung zur Funktion.

Keines seiner Formteile hat eine so feste Bindung an die Sch~idelbasis wie das gnathobasale System (Unterkiefer und apikale Basis). Gestaltlich ist es genetisch festgelegt, genau so wie die GrOf~enentwicklung der KieferhOhlen, die zur Formbil- dung beitragen [23] (Abb. 1). An der Kieferbasis h~ngt das dentoalveol~re System,

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das plastisch formbare Gebil3. In diesem System kOnnen gtinstige wie weniger gtin- stige Elemente aufeinandertreffen. Eine anatomisch vollkommene Okklusion setzt u.a. folgendes voraus: Harmonische Gr6Benverh/~ltnisse zwischen dem dentoalveo- 1/aren und dem gnathobasalen System, h~ilftige Symmetrie in allen Ebenen, m~Bigen frontalen (]berbig und anpassungsf~ihiges Parodontium. Ungiinstige Konstellatio- nen ergeben sich bei dentobasaler Disproportion (sag. Engstand), bei Asymmetrie (Kreuzbil3, transversaler Engstand), bei Kopfbig und bei parodontaler Schw~iche, um einige Beispiele zu nennen.

Ein besonderer Umstand fiJgt es, dab dieses der plastischen Verformung f/ahige GebiBsystem durch zwei Muskelsysteme funktionsf/~hig wird. Das sind die intraoral- glossopharyngealen und die extraoral-fazialen Muskelgruppen. Bei gtinstigen gleichgewichtigen Verh~iltnissen polarisieren sich die Kr~ifte. Eine gute GebiBent- wicklung ist gegeben. Bei ungtinstiger Situation sind Anpassungsreaktionen am Ge- bib zu erwarten. In diesem Mechanismus scheint die Funktion f0hrend zu sein. Zum Beweis werden gerne die Arbeiten von Roux und Wolff zitiert. In der Tat wurde der EinfluB der Funktion auf die Architektur des knOchernen Skeletts durch die klassi- schen Arbeiten von Wolff [27] (1892) bedeutungsvoll. ,,Wir wissen jetzt", so schrieb Wolff damals, ,,dab es unter physiologischen und pathologischen Verh/~lt- nissen nut ein einziges formgestaltendes Prinzip gibt, n/imlich die Funktion oder, genauer gesagt, der trophische Reiz der Funktion. Wie unter normalen Verh~iltnis- sen das Streben der Natur, die Funktion zu erhalten, den Fortbestand oder das neue Entstehen diensttauglicher Formen bedingt, so ist unter pathologischen Verh/iltnis- sen das Streben der Natur, die Funktion wieder herzustellen, das allein formbilden- de Prinzip."

Wenn sich die biofunktionelle Richtung auf diese entwicklungsmechanisch bedeu- tungsvolle Wirkung der Funktion berufen sollte, so bedarf das einer Berichtigung: ,,Transformatorische Vorg~inge am Knochen", so betitelte Wolff [27] seine Untersu- chungen. Er bezog sich auf deren Anpassungsreaktion im histologisch-statischen Sinne (Wachstumsarchitektur). Im orthop/~dischen Milieu hingegen wird die Form- ver/inderung eines Organs oder eines dazu f/ahigen Systems im makroskopischen Be- reich dutch auBergew6hnliche Funktionseinfltisse bertihrt. Allein diese sind zu be- werten und auf ihr Verh~iltnis zur , ,Form" abzustimmen. Funktion ist ohne Form sinnlos und die Form ist ohne Funktion leblos. Formen haben sich durch biologi- sche Zweckmtigigkeiten entwickelt. Sie bilden das statische Geriist, w/ahrend die Funktion die kinetische Energie liefert. Unter den Sammelbegriff , ,Funktion" f/~llt vieles. So die empfindlichsten vitalen Verrichtungen der Zellen, willktirliche und un- willkOrliche Motorik, vegetative Abl/~ufe ebenso wie psychisch motivierte extraordi- n~re Verhaltensweisen. Gtinstige wie ungiinstige Umst/inde treffen den Organismus, teils zeitlich begrenzt, teils auch stereotypisch fest gebunden an die PersOnlichkeit. In diesem geistigen Habitus dominiert das psychische Element als steuernde Kraft.

Gtitezeichen oder Normen for elementare Funktionen aufzustellen, wie sie im Umfeld des Gesichtssch/idels mit dem Gebil3 im Zentrum ablaufen, ist nicht mOg- tich. Funktionen zu normieren wiirde bedeuten, in allgemeine Begriffe auszuwei- chela, etwa die Atmung kategorisch nur als Nasenatmung zu fordern, obgleich doch

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Biomechanische und biofunktionelle Therapie

Muskglatur

Anzahl M:

Mastikatlon Nahrungsaufn. Zerkleinerung 8efSrderung

Zungen-M Gaumen- Hals- Ges ich ts - Kietetsystern Andere Kau-M. binnen-M. ] aussen-M. M M M Systeme

Z-basis Platysma Lippe U.K. O.K. ! Mundboden Wange'etc.

Gelenk Gaumen-M 4 4 4 5 5 > 10 Gebiss Sin,max.

Gebiss

• • • • • • • •

Phonation

MimJk

• • • • • •

I -

• • Q •

Pharynx Kehlkopf

Respiration

Variation:

Zwerchfell Bauchdecke Interk0stal-N SohultaM~.

Wirkung:

musk. Valuta. Zungenbasis schmaler Lippen- asym. SinusgrN?e asthenie- Valuta. Mundboden Istmus Lgnge Gelenk- Asymrnetr.

hypersthenie Mental-M b i ldung Kieferform Kaumodus spez. Mimik

• • , • • • •

Tiefbiss Zungenpressen s. nebenan Proklin. Zahnstellung Eins. Enge, Frontange Mundatmung InkL Arthro- totaler Prok~in. Engst. Ottener Big Kippung etc. path ie Rauramangel

Tab. I. Interaktion van Musketgruppen bei den g~ngigen funktionellen Verrichtungen im stomatogna- then Komplex mit zugehOrigen Variationen und deren mOglichen Folgen.

dem Menschen bei Mehrbedarf von Sauerstoff auch einmal die Notpforte des Mun- des often steht. Ich halte es daher ft~r gerechtfertigt, die elementaren Verrichtungen in ihrem Zusammenhang mit dem dazu geschaffenen anatomischen Substrat zu beurteilen. Da das Thema eine Straffung verlangt, Verweise ich auf das Schema der Tabelle I. Dort sind die wesentlichsten funktionellen Verrichtungen und die untrenn- baren Interaktionen zwischen den Muskelgruppen im stomatognathen Komplex zu- sammengestellt. Eine solche Auflistung ist deswegen von Bedeutung, weil diese fiif eine kritische Betrachtung der biofunktionellen Richtung wegweisend sein kann.

Bei der Mastikation, wie bei der zugeh6rigen Zungenfunktion odor bei der am Schluckakt beteiligten Lippen-Wangenmuskulatur, ist deren individueller morpho- logischer Status stets eine maggebende Gr6ge. Auch die Form des Unterkiefers und seiner Teile bestimmen wie der Tonus und der strukturelle Zustand der Kaumuskuta- tur die Entwicklung des dentoalveol~ren Systems. Die Respiration steht im Schema auBerhalb, weil sie mit dem GebiBsystem keine unmittelbare funktionelle Beziehung hat. Alles was hiermit und mit der Zungenaktion, auch bei der Wortbildung, an funktionellen Sonderheiten auff~tllt, zfihlt zum wesentlichen Inhalt der biofunktio- nellen Richtung. Damit ist indessen nur ein geringer Teil der physiologischen Ver- richtungen im stomatognathen Bereich berahrt.

Neben der Aktivit~t der Zunge und der Form ihrer Basis am Isthmus beeinflugt auch der Tonus der Mundbodenmuskulatur und die mimische Gesichtsmuskulatur

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Abb. 2a bis 2c. a) Dysfunktion: Verlegenheitsgebaren mit Retraktion des Unterkiefers bei schwachem Tonus der Oberlippe. b) Dyspraxie: Allergie mit Obstruktion der Nasengfmge lost Mundatmung und Ge- bil3anomatie aus. c) Dysbalance: Form-funktionelle Art. Maxill~tre Prognathie. Kr~iftige Mentalmuskuta- tur. Kurze Oberlippe von schwachem Tonus.

Abb. 3. Form-funktionetle Dysbalance. Riickfglle nach funktioneller Therapie. a) Kurze schwachtoni- sierte Oberlippe mit offenem BiB bei deflektierter Zungenlage; b) hoher Tonus der memaIen Muskulatur. FrontomandibuIare Retroktination. Stark entwickelte Pr~imaxilla; c) schwacher Tonus der Oberlippe, starke Mentalmuskulatur, K1. It; d) Max. Prognathie mit kurzer Unterkieferbasis, KI. II.

die Ausformung des Gebil3systems in bedeutendem Maf~e. Beim beseelten Menschen ist gerade dieses myofaziale Funktionssystem am meisten differenziert. Mehr als zehn Muskeln sind darin zusammengefaf3t. Es gibt jedem Menschen seine indivi- duelle Note und weist auf die psychische Motivation hin. Beim Erwachsenen mehr kontrolliert, offenbart das Kind seinen ,,seelischen H~abitus", seine Reaktionen auf ~tul3ere Eindracke und Ertebnisse viel auffNliger. Freudige Gefahle, Nachdenklich- keit, Verlegenheit, Aufmerksamkeit, Arger, all dies setzt die Mimik in Bewegung (Abb. 2a). Wieweit von diesem energetischen Funktionssystem positive oder negati- ve Impulse auf das dentoalveol~re System treffen und ob diese durch Menschen-

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Biomechanische und biofunktionelle Therapie

hand zu ,,regeln" sind, wird im n/~chsten Abschnitt (myofaziale Dysbalance) behan- delt.

Die Anpassung der Form an funktionelle Verhaltensweisen und auch von diesen an die gegebene Grundform ist ein erzwungener KompromiB. Ein kinetischer Im- puls kann immer nur im Rahmen jener Strukturen wirksam werden, welche die ge- netisch gepr/~gte Form vorschreibt (Abb. 3). Mit anderen Worten: eine Funktion w, ird durch die Form des Objekts gesteuert; sie kann ihrerseits die Ursprungsform zweckentsprechend und zur Sicherung ihres Bestandes modellieren, bis sich ein indi- viduelles Gleichgewicht ergibt. In diesem Sinne verdient die Arbeitshypothese vom Form-funktionellen Gleichgewicht grOgte Beachtung. Darin liegt ein gewichtiger Baustein zum Brtickenschtag zwischen den scheinbar so extremen Richtungen in der Kieferorthop~idie, von denen sich die eine an die Reihenfolge der Sch0pfungsge- schichte h~ilt und die andere sie umkehrt.

Das Form-funktionelle Gleichgewicht im stomatognathen Komplex und seine St6rungen

Paaren sich in einem organischen System gt~nstige formale Strukturen mit gtinsti- gen Funktionselementen, so entsteht ein stabiles Gleichgewicht. Beide sind einander angepaBt. St6rungen des Gleichgewichts k6nnen von beiden Seiten ausgehen.

Der biomechanischen Richtung geniigt das Faktum einer strukturellen Anomalie ohne Beziehung zum Partner der ,,Funktion". Sie vergleicht eine gestOrte Okklu- sion mit der anatomisch perfekten Okklusion und nimmt als gegeben an, dab das ge- st6rte Gleichgewicht durch Eingriff an der ver~inderten Struktur wieder herzustellen ist. Die Funktion wird als der anpassungsf~hige Teil betrachtet. Das hat schon Angle angenommen. Erst ein Rezidiv beweist, dab diese Ansicht durchaus nicht allgemein gtiltig sein kann. Wo sich ein nachhaltiger Erfolg der mechanischen Therapie ein- stellt, da ist der Schlug erlaubt, dab der angenommene verursachende funktionell- traumatische Reiz nur tempor~tr gewirkt hatte, vor allem aber, dab die vorhandenen Strukturelemente harmonisch abgestimmt waren.

Was etwaige St6rungen des Gleichgewichts von seiten der Funktion anbetrifft, so sind sie ganz verschiedener Art. Im Kindesalter, in der Regel psychogen bedingt, tre- ten sie tempor~tr begrenzt auf. Bleiben sie jedoch station~ir, dann haben sie in der Regel einen strukturellen Hintergrund. Sie sind an die Form des skelettfiren Sttitzge- webes gefesselt.

Damit wird die vielzitierte ,,Ganzheitsschau" angesprochen, die als die Summe von Formen und Funktionen auch deren unterschiedliches Verhalten unter den ver- schiedenen Lebensbedingungen umfaBt. Den kranken Menschen als eine kOrperlich- seelische Einheit zu betrachten, ist ein alter und wahrer medizinischer Spruch. Nicht erst seitdem Gebiganomalien de jure zur Krankheit erkl~rt wurden, ist an die Ganz- heitsschau in der Kieferorthop~die gedacht [7, 22, 241. In Watrys [26] von mir oft zi- tiertem Ausspruch: ,,Wir behandeln nicht die Protrusion, sondern den Patienten mit der Protrusion", wird auf den auf die Person bezogenen Charakter jeder GebiB- anomalie angespielt. Balters hat sich vornehmlich und verdienstvoll darum bemiaht,

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die Einseitigkeit der Gebil3betrachtung zugunsten einer Ganzheitsbetrachtung auf- zugeben. Ich habe mehrfach darauf angespielt, den Schwerpunkt nicht einseitig auf die Analyse banaler Funktion zu legen, sondern alle Bedingungen zu wtirdigen, un- ter denen formale und funktionelle Elemente jeweils stehen [6, 10] (1942, 1962). Lei- der hat die Abwertung, man darf sagen die MiBachtung der Form und der Formana- lyse dazu geft~hrt, sie zu vernachl~ssigen.

Die Berufung auf die Ganzheitsbetrachtung wird andererseits leicht zu einer ver- balen Beteuerung degradiert. Das wird bei der Diskussion um die Kernpunkte der biofunktionellen Richtung erkenntlich. Vordergrfindig setzte Balters auf die ,,Zunge als Ausdrucksorgan seelischer Spannungen" (zit. nach Langen [15]) und auf die funktionelten Entgleisungen bei der Atmung (Mundatmung). Obrigens haben viele Autoren, auch aus friaherer Zeit, die Zunge fiir die Entstehung von GebiBanomalien verantwortlich gemacht (Clark 1836, Lefoulon 1844, Desirabode 1847, Tomes 1873, Salter 1874, Sauer 1877; zit. n. Weinberger [28]). Niemand wird den Effekt dieser MiBhelligkeiten bestreiten. Mir kommt es darauf an, den bedingenden Umst~inden nachzugehen, unter denen solche Entgleisungen wirken. Einmal kOnnen negative Folgen entstehen, die sich jedoch therapeutisch polarisieren lassen. Ein anderes Mal bleiben sie konstante Mechanismen (Stereotypen), die immer wieder negativ auf die Form EinfluB nehmen (Abb. 3).

Kiirzlich hat Langen [15] die menschliche Zunge und ihre Aktivit~ten vom Stand- punkt des Physiotherapeuten und Neurophysiologen analysiert. Er hat damit eben- falls, wenn auch aus anderen Motiven, die Hypothese yon der ,,Zunge als Schick- salswende" nach Balters (zit. n. Langen [15]) ged~tmpft. Funktionelle Abweichun- gen wie die Mundatmung, und diese in Verbindung mit der Zungenaktion, sollten nicht schlechthin als Causa efficiens ftir GebiBanomalien gelten, die durch ein ,,Re- gelungsverfahren" (Frginkel [51) zu beseitigen sind. Mit solchen Allgemeinpl~itzen wird den physiologischen Umst~inden nicht Rechnung getragen. Trotz respiratori- scher Dysfunktion kOnnen Kinder gute bis sehr gute GebiBverhgltnisse aufweisen. Strukturell liegen dann in der Regel formgt~nstige Umst~nde vor. Die Kieferbasisb6- gen sind breit und kurz angelegt, meist ist der Gaumen niedrig, die Trabekelstruktur krfiftig entwickelt. Hier verursacht die Mundatmung keine transversale Enge wie beim langen, schmalen und schwachen Kiefer des asthenischen Typs. Auch eine all- ffitlige Lutschgewohnheit wird ihm keine K1. II,1 einbringen. Mit dem Terminus ,,Dysfunktion" l~il3t sich demnach die Vielfalt der Erscheinungen innerhalb des sto- matognathen Komplexes kaum abdecken. Solche allgemeinen Begriffe sind nicht transparent genug, um damit ein neues therapeutisches Konzept zu stOtzen. Um sich in diesem Dickicht der Form-funktionellen Beziehungen zu orientieren, bedarf es differenzierender Analysen. Zum Verst~ndnis dieser Auseinandersetzung mug dar- auf eingegangen werden.

Dyspraxie und Dysfunktion

Kinder wie Erwachsene verlieren zeitweise die F~higkeit, eine normale Nasenat- mung zu praktizieren. Eine zeitlich gehinderte Nasenatmung wird kaum die Gebil3-

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Biomechan&che und biofunktionelle Therapie

Abb. 4. Entwicklung eines Zwangsbisses durch Dysfunktion beim Frontzahnwechsel (8j~ihriges M/id- chert), 3 Monate BiBsperre mit ,,Bionator" bringt Regellage und Breitenzuwachs (OK).

form beeinflussen. Hat sich jedoch schon wahrend des Frontzahnwechsels eine MiB- helligkeit herausgebildet (invertierter BiB, ScherenbiB), so gentigt eine kurzzeitige BiBsperre, um die normale Gebigentwicklung sieherzustellen (Abb. 4). Traumati- sche oder entztindliche Prozesse im Nasenraum oder deren Folgen oder solche in der Pars nasalis des Pharynx sowie adenoide Vegetationen verursachen bekanntlich re- spiratorische Abweichungen; sie fiihren zur Mundatmung. Nach fach~irztlicher Be- handlung sollte sich die normale Funktion automatisch einstetlen und keine GebiBir- ritation folgen; wenn doch, dann sollte die Kiefer-Gebil3-Struktur analysiert wer- den.

Ich untersuchte 85 Patienten (Tabelle II) im Alter yon durchsehnittlich 14,5 Jah- ren. Sie waren als 7j~ihrige wegen Mundatmung adenotomiert. Zur Zeit der Nachun- tersuchung konnten 52,9% wieder normal atmen (b). Von diesen hatten 33,3 % Ge-

biBanomalien, tiberwiegend auf Grund gebiBbezogener Umstande. Von der Gesamt- anzahl waren 35,3°70 Mundatmer geblieben (a). Bei ihnen lag der Prozentsatz der Anomalie doppelt so hoch (60 %), und das wiederum durch EinfluB funktionetler Aggression (40%), wfihrend sich der Anteil gebiBbezogener Umst/inde bei 20% hielt.

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% verursacht: n : 85 % Anomatien

% Form/Funkt. Iokaler Dysbalance Anlass

normalisierte 52.9 33.3 11 22,3 Nasenatmung

t gemischte 11,7 6.6 I - - 6.6 Atmun 9 I

Tab. II. Mit 7 Jahren adenotomiert, wurden die Probanden mit 14 Jahren nachuntersucht, f,)berwiegend bei Form-funktioneller DysbaIance land sich der hOchste Anfall yon Gebiganomalien (Reihe a).

Innerhalb der entwicklungsperiodischen, seelisch-kOrperlichen Schwankungen beim Kinde ist eine Frt~hphase bemerkenswert. Das Kind nimmt die Umgebung mit allen Sinnen auf, es 6ffnet Augen, Ohr und Mund. KOrperlich ist es entspannt, see- lisch aber hOchst gespannt. Ein Kind in dieser Entwicklungsphase hat noch kein voI1 entwickeltes Ich-Bewugtsein. Von der Augenwelt dirigiert, setzt es sich damit auf in- dividuell verschiedenartige Weise auseinander. Das eine verkriecht sich und bleibt lange ein Mundatmer aus Verlegenheit (Abb. 2 a), wghrend das andere schneller ein Ich-Bewugtsein entwickelt und keine GebiBschgden als Folge der Mundatmung ha- ben wird. Das empfindsame, grazile und introvertierte Kind ist morphologisch von anderem Habitus als das aktive und in der Organentwicklung mehr robuste und we- niger krankheitsanfgllige Kind.

Ein traumatisches Ereignis wghrend der Dentition kann den normalen Kauakt hindern und zur Lagever/~nderung des Unterkiefers fahren. Immer vorausgesetzt, dab die Strukturen harmonisch aufeinander abgestimmt sind, wird die BiBlage zur Normalit~tt zurackfinden, sobald die auslOsende Ursache beseitigt ist. Jedes Ger/~t, welches eine Bigsperre verursacht, ist dazu in der Lage (Abb. 4 und 5). Solche und /~hnliche Vorg/~nge einer zeitweiligen Hinderung normaler Funktion kOnnten tref- fender als ,,Dyspraxie" bezeichnet werden.

Als ,,Dysfunktion" warden jene funktionetlen Entgleisungen zu bezeichnen sein, die ebenfalls nur temporgr auftreten, im wesentlichen psychogener Art sind, jedoch strukturell harmonische Gliederung im Kieferbasis-Verh~ltnis, in der ZahngrOBen- Proportion, im Volumen der Zunge zum Mundraum und dergl, aufweisen. Ob Finger- oder Zungentutschen einfach schlechte Gewohnheiten (Unarten) darstellen, muB verneint werden, nachdem Nilsson [16] objektiv nachweisen konnte, dab selbst Feten schon am Finger saugen. Es massen demnach konstitutionell-genetische Eigenarten der Person mit im Spiel sein. Ob der urs~ichliche Impuls aus psychischer Labilit~tt, wie es zeitweilig im Entwicklungsgang empfindlicher Kinder zu finden ist, entsteht oder auf kOrperliches beziehungsweise seelisches Trauma zur~lckzufahren ist, bleibt belanglos. Mehrheitlich trifft dies wiederum auf passive asthenische und grazile Kinder zu. Bekanntlich werden derartige funktionelle Aberrationen zuweilen

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Biomechanische und biofunktionelle Therapie

Abb. 5. Psychogene temporfire Dysfunktion (8,5jfihriges Miadchen), Tiefbil3, 4 mm horiz. Stufe. Tr~igt 4 Monate ,,Protektor". 3 mm Breitenzuwachs (OK). Sag. Einstellung und dentoalveollare Verlgngerung (vergl. 65 und 26 untere Bildreihe. Links vor und rechts nach Ablage des Gerfttes).

noch in hOherem Alter gefunden und deformieren das GebiB nachhaltig: Spontan- heilungen sind nach Absetzen der funktionellen StOrungen dann zu beobachten, wenn wiederum keine weiteren strukturelten Absonderlichkeiten bestehen [I 1]. Bei solchen Getegenheiten ist der prophyiaktische Einsatz biofunktioneller Ger~tte stets angezeigt, weil sich aus einer zeitweiligen fliachtigen FunktionsstOrung bei konstitu- tioneller Disposition unangenehme Folgen fiar das Gebil3 entwickeln kOnnen (Abb. 2b). Far den kieferorthopfidischen Diagnostiker stellt sich dann jedoch die entscbeidende Frage, inwieweit sich hinter der Dysfunktion noch eine strukturelle Disposition, also eine Form-funktionelle Dysbalance, verbirgt. In derartigen Situa- tionen wird es far die biofunktionelle Therapie kritisch, sich auf die autonome Heft- kraft der Natur zu verlassen.

Form-funktionelle Dysbalance

Wenn die Folgen einer Dysfunktion am Gebil3 eines 6- bis 8j~thrigen Kindes leicht zu beseitigen sind, so ist anzunehmen, dab sich die Ursache der funktionellen Abwei- chung w~hrend der Entwicklung verfliachtigt hatte. Nur die MiBhelligkeit im GebiB war station~tr geblieben. Ein ,,Sperrger~tt" gleich welcher Art gibt der nattMichen EntwickIung freie Bahn. Verh/~lt sich jedoch eine Anomalie refrak t~tr oder tritt ein Rezidiv ein, so wird in der Regel eine Form-funktionelle Dysbalance gefunden. Bei der Dysfunktion lag die Betonung auf der funktionellen Aberration bei gleichzeiti- ger struktureller Harmonie. Bei der Dysbalance liegt sie auf dem genuinen Ungleich- gewicht zwischen Form und Funktion.

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H. G. Gerlach

Abb. 6. Form-funktionelle Dysbalance. Schmaler, tiefliegender Isthmus. Mundatmung, myofaziale Dysbalance (~hnlich Abb. 2c), gnathobasate Dis- harmonie, K1. II,t , NAB-Winkel (75/73) + 2 °. Keine Indikation fttr ,,funktionelle" Therapie.

/

Am BeispM der respiratorischen Insuffizienz kann die Dysbalance zwischen den am Respirationsvorgang beteiligten Systemen beschrieben werden. Der physiologi- sche Ablauf der Atmung ist an einen freien Nasenraum und Pharynx gebunden. Der hintere Mundraum, begrenzt vom Isthmus faucium (Gaumenseget-Muskulatur) und der vertikal davor stehenden Zungenbasis, darf die Passage nicht behindern. Nor- malerweise sind diese Wege so beschaffen, dab sie ihrer besonderen funktionellen Aufgabe gerecht werden. Bisweilen sind sie Hindernisse, die dem morphologischen Stil der PersOnlichkeit entsprechen. Im eigentlichen Nasenraum, der physiologi- schen Pforte der Atemluft, k0nnen bekanntlich schon die Luftwege anatomisch ver-

engt sein. Da finden sich neben Septumdeviation angeborene Nasengangsenge, also strukturelle Disharmonien. In der Pars nasalis des Pharynx kOnnen adenoide Vege- tationen derartige Obstruktionen verstfirken. Im Bereich der zweiten (oralen) Not- pforte far die Atemluft treten noch h~iufiger morphologische Variationen seitens der Zungenbasismuskulatur und der Zungenbodenmuskulatur auf (Tab. I). Seltsam ge- nug, daf3 dart~ber so wenig diskutiert wird. H~ufig gesellen sich dazu obstruktive Schtundenge am Isthmus faucium (Gaumensegel-Muskulatur) und an der Pars ora- lis des Pharynx (Abb. 6 und 7). Das sind echte strukturelle Dissonanzen [13].

Im Regelfall, bei ungehinderter Nasenatmung, polarisieren sich die funktionellen Energien der Zunge und des Zungenrackens am barren Gaumen bzw. am vorderen Gaumenteil hinter den Frontz~ihnen. Diese stehen ihrerseits gewissermat3en als Puf- ferzone zwischen der Zunge und dem vestibul~ren Raum, dessen faziale Wand die Gesichtsmuskulatur bildet. Normalerweise tiegt die Zungenspitze in Ruhestellung und bei guter Nasenatmung ohnehin mit vermindertem Tonus am vorderen Gau- men. Das Vestibulum bleibt bei entspannter Gesichtsmuskulatur ein kinetisch neu- traler Raum. Von der Zunge aus betrachtet, steht sie nach fazial im Gleichgewicht (glossofaziale Balance), nach dorsal gerichtet ebenfalls (glossopharyngeale Balance). Bei dieser Gleichgewichtslage kann die nasale Atemluft frei aber die Pars oratis pharyngea zur Lunge str6men. Die Lippen sind dabei geschlossen und das Ge-

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Biomechanische und biofunktionelle Therapie

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Abb, 7, Glossopharyngeale und gnathobasale Dysbalance (links 12j~,hrig, rechts 16j~hrig). NAB-Winkel (72/76) - - 4 °. KopfbiB mit progener Tendenz. Starke Zungenbasis, tieflie- gender Isthmus, habituelle Mundatmung, kurze Oberlippe. Keine Indikation ftir ,,Funktionsregelung".

Abb. 8. Habituelte Mundatmung durch Form- funktionelle Dysbalance: Kurzer Kiefer, volumi- nose Zungen-Mundbodenmuskutatur zwingi zu anormaler Funktion. Keine Indikation far ,,funk- tionette" Therapie,

bib kann sich frei zum Vestibulum entwicketn. Sobald im glossopharyngeaten Um- feld strukturelle Dissonanzen vorliegen, wird Mundatmung praktiziert (Abb. 8). Der innere Mundraum ist der ZungengrOBe nicht angepaBt. Sie sucht durch Vor- strecken den eingeengten Pharynx zu entlasten. Am GebiB ruft diese Form- funktionale Dysbalance Anpassungserscheinungen hervor, die wir dann als An- omalie registrieren.

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H. G. Gerlach

Abb. 9. Form-funktionelle Dysbalance bei 3 Geschwistern als famili~tre Eigenart (K1. II,1). Vordergran- dig ist die an die Kieferform gebundene Mimik.

Jeder Versuch, diese Dysbalance einseitig von der Funktion her auszugleichen (Funktionsregelung), ist vergebens. Mit biomechanischem Verfahren l~13t sich hin- gegen ein entstandener Formfehler am GebiB kompensieren.

Myofaziale Dysbalance

In dem Schema der Tabelle I ist die Mimik gesondert als strukturell- bzw. als funktionell-eigenstgndiges System herausgestellt. Von englischen Autoren [2, 25] ist mit dem Begriff , ,Incompetence of the lips" die h~ufig unzureichende Balance der LippenschlieBmuskulatur angesprochen. Gleichgewicht oder Ungleichgewicht zwi- schen zwei physikalischen KOrpern ist unschwer feststellbar, jedoch weniger leicht mel3bar, wenn es sich um strukturell-organische Unterschiede oder um solche des Tonus handelt. Reicht die Oberlippe nicht zur Deckung der oberen Zahnfront aus, ist sie also zu kurz, so gibt dieser Vergleich zwischen zwei Strukturen einen Mal3stab. Ist der Zug oder der Tonus der Mentalmuskulatur stramin im Vergleich zu weicher, schlaffer Oberlippe, so ist das eine Dysbalance (Abb. 2c). Balanciert ist die Lippen- muskulatur, wenn beide Lippen gleichstarken Tonus haben, das Gebif3 gleichtang abdecken und auch bei mimischer T~ttigkeit des Lachens im Zustand der Syntonie geOffnet sind. Wohlbekannt als Dystonie ist die stfirkere tonische Anspannung des unteren Teils der Gesichtsmuskulatur bei mimischen Bewegungen. Sie ist h~ufig fa- milieneigent~imlich (Abb. 9) und dann mit einer K1. II verbunden. Die Therapie des Distalbisses wird durch eine myofaziale Dysbalance schwerstens behindert. Derarti- ge unganstige Konstellationen zwischen Formen und Funktionen mit dem Charak- ter eines Syndroms sind hfiufig. Ich habe frfiher versucht, die typischen Dysbalancen im fazialen Bereich bildlich festzuhalten [11]. Mit der Funktion der Lippen ist das myofaziale System insgesamt angesprochen.

Diese vielschichtige und in ihrer Form, dem Tonus und der Dynamik variations- reiche muskul~re Gesichtsbedeckung legt sich zum Teil bandfOrmig horizontal als Wand des Vestibulums um das Gebil3. Andere Teile sind beim Kauen, Schlucken, Sprechen und mimisch in der unterschiedlichsten Weise t~tig.

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Biomechanische und biofunktionelle Therapie

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Abb. 10. Dysfunktion durch Bigkollaps. Verlust 36 und 46. Therapie mit starrem ,,Protektor". Die basa- ten Ver~nderungen sind nicht so gravierend wie das alveol~tre Wachsmm (vor Behandlung punktierte Li- nien, ausgezogen nach Behandlung).

Uber die kinetische Einfluf3nahme auf die GebiBentwicktung habe ich mehrfach berichtet [7, 9--14]. Meine klinischen Versuche, eine neutrale Schutzzone durch Pe- lotten im Vestibulum zur freien Entwicktung des Gebisses zu schaffen, brachte da- reals fiberraschende Ergebnisse (Abb. 1 und 10 bis 12). Diese als ,,Protektor'" be- nannte Schutzapparatur ist im Prinzip dassetbe, was Balters und sp~ter Fri~nkel [5] bekannt machten. Sie lOsten die kompakten Pelotten in vielerlei Drahtkonstruktio- nen auf.

Durch den Erfolg der Schutztherapie konnte nachgewiesen werden, dab sich An- omalien unterschiedlichster Art durch Ausschattung ungfinstiger myofazialer Mus- kelaktivitfiten beheben lassen. Aber der Erfolg blieb nur dann konstant, wenn diese Aggressionen mit der Restaurierung des Gebisses nicht mehr wirksam waren. Den Gegenbeweis erbrachten Rezidive bei jenen Patienten, xvo die myof'aziale Dysbalan- ce als individuelles Merkmal fixiert war (Abb. 3). Daraus folgerte ich, dab die The- rapie, ob biomechanisch oder biofunktionell ausgerichtct, auf die Differenzierung zwischen Dysfunktion und Form-funktioneller Dysbalance Weft zu legen hat. Sie mul3 ihre Methoden den individuellen Verhfiltnissen anpassen und, um Rezidiven vorzubeugen, selbst Extraktionen dulden, wenn die Okklusion nicht anders zu stabi- lisieren ist.

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Abb. 11. Form-funktionelle Dys- balance (9jfihr.) im myofazialen Umfeld und in der Struktur des Unterkiefers tiegend. K1. II,t, Hypertonie des M. merit, Dysto- hie der Lippenmuskulatur. Gnter Umbau in alien Ebenen unter starrem ,,Schutzger~tt" mit Pelot- ten (11 J.). Rezidiv nach vier Jah- ren.

Die kieferorthop~idische Therapie als Einheit

Mit der Geschichte der Heilkunst verbindet sich auch die Entwicktung der Heft- mittel. Als die Wirkung mechanischer Reize auf die Zahnstellung entdeckt wurde,

war die Schaffung mechanischer Richtger~te gegeben. Seit der Jahrhundertwende haben diese hohe Perfektion erreicht. Doch es stimmt bedenklich, die Technik der apparativen Hilfsger~tte zum zentralen Anliegen der Therapie zu machen und sie iibermfil3ig zu kultivieren. Dabei wird vergessen, dab die wirklichen Probleme der Kieferorthop~die damit nicht gelOst werden. Ober Jahrzehnte ist die Lehre vom Ein- flul3 der Umwelt auf die Fehlentwicklungen im Gebil3 bestimmend. Darauf hat sich die biomechanische Therapie eingestellt. Zu diesem gleichen Ursachenkreis zfihtt funktionetles Fehlverhalten, welches die , ,Funktionalisten" ats Causa efficiens ffir Gebil3anomalien herausstellen. Sie spezialisieren sich auf die St~trkung geschw~chter Funktion oder auf die Rt~ckregelung zur normalen Funktion. Auch diese biofunk- tionelle Richtung hat einen historischen Hintergrund, der manches aufheilen kann.

Bekanntlich blockiert der RtickfalI yon Unterkiefer und Zunge bei Neugeborenen (Glossoptose) die Atemwege in mitunter lebensbedrohender Weise. Die noch unbe- zahnten Kiefer geben keine M6glichkeit, Stt~tzvorrichtungen zu befestigen. Robin

(1902) half sich damit, dab er den Unterkiefer durch eine Art Verbundplatte am Oberkiefer absti3tzte (Monoblock) und durch diese Vorbif31age den Luftweg frei hielt. Eine offensichttiche Funktionsschw~che wurde k~instlich ausbalanciert, bis

Abb. 12. ,,Protektor" mit Pelotten im Vestibu- lum.

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Biomechanische und biofunktionelle Therapie

der Organismus dazu selbst f~hig war. Um diese seine ,,M6thode eumorphique" auch zur Heilung von ,,Dysmorphosen" (Robin) auszunutzen, verband er den ge- teitten Monoblock durch eine transversale Schraube. Zwar machte er ihn dadurch zu einem traditionellen aktiv-mechanischen Ger~tt, jedoch blieb die Erkenntnis fiber die Bedeutung der Funktion im pathogenetischen wie im therapeutischen Zusam- menhang lebendig.

Watry [26] (1924) machte dieses Konzept zur Grundlage seiner ,,physio- therapeutischen Methode". Durch Anregung herabgesetzter oder ausgeschalteter Funktionen suchte er Stellungsanomalien der Zfihne mit dem gleichen Monoblock zu beheben, den er jedoch durch eine Coffinfeder elastisch machte, lJbrigens nannte Watry [26] diese Methode sp~ter auch ,,Funktionstherapie" (1942).

Mit dem gleichen Gerfit arbeitete auch Andresen in Norwegen. Er wurde zum Ini- tiator der Funktionskieferorthop~die (FKO) und nannte das Ger~t jetzt aber ,,Akti- vator", um eine ganz andere Zielsetzung seiner ,,funktionellen Methode" hervorzu- heben. In der Monographie von Andresen u. Hi~upl [1] wurde diese Art der Behand- lung deutlich als ,,biomechanische Arbeitsweise" klassifiziert. Anstelle mechani- scher Energ~en wurde die eigene Muskelkraft des Trfigers zur Regulierung yon Ok- klusionsanomalien ausgenutzt und transformativ aber den Monoblock auf das den- toalveolfire System t~bertragen. Darin sah Hi~upl eine besondere biologische Quali- t~t des Umbaureizes.

Durch die rege betriebene Darstellung der Vorteile der Funktionskieferorthopgdie ft~r den geweblichen Umbau wurde der Begriff ,,Funktion" recht einseitig interpre- tiert, so dab es schwierig ist, ihn wieder zu einer allgemeinen biologischen Bedeu- tung zurt~ckzuft~hren. Darum hat sich Balters bemt~ht. Die gleiche Verbundplatte wurde jetzt ohne jedes aktive Element nur als Trgger von DrahtbOgen benutzt, die teils palatinal (Zungenbfigel), teils vestibular (Lippen-Wangenbagel) eingearbeitet waren, ohne die Z~thne zu bert~hren. Auf diese Weise sollten Abwegigkeiten der Funktion yon Zunge und Lippe beseitigt werden (Bionatorger~t), Eine Variation dieser Gerfite mit noch weiter detaillierter Drahtft~hrung stellt der ,,Funktions- regler" nach Fri~nkel [5] dar. fOber Sinn und Wirkung solcher Superkonstruktionen kann man sich Rechenschaft geben, wenn man seine Funktionsger~te einmal in allereinfachster Form konstruiert.

Gebiganomalien ~iber Funktionsreize auch in Verbindung mit Atemabungen zur Selbstheilung zu bringen, erinnert an die l~bungen von Rogers [17], aber auch an die gymnastische Methode der Katharina Schroth (dreidimensionale Skoliosebehand- lung). Durch bewul3t geft~hrte Atemtechnik erzielte sie groBartige Erfolge. In Ver- folg solcher allgemein aktivierender MaBnahmen strebte Balters danach, die,,Ganz- heitsbetrachtung" der Person in den Mittelpunkt seiner Heilmethode zu stellen, was t~brigens schon immer ein Anliegen der Medizin war. Nach der fraheren ausft~hrli- chen Auseinandersetzung mit dem Inhalt dieses Begriffs soll hiergber noch ein her- vorragender Interpret medizinischer Probleme seine Meinung abgeben. Buttersack [4] meinte dazu, dab zwar allenthalben yon Ganzheiten gepredigt wt~rde, dab wir je- doch praktisch nicht so recht vom Denken in deskriptiver Anatomie losk~men. Das w~re, so meinte er, durch die Dominanz des Seh-Sinnes bedingt. Er schneide Stacke

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aus unserer Umwelt heraus und hindere das Erkennen ihrer ZusammengehOrigkeit. Diese Erkl~irung kann wortwOrtlich auf beide therapeutischen Richtungen bezogen werden, auf die biomechanische wie auf die biofunktionelle.

In der traditionellen orthodontischen Regulierungskunst ist die therapeutische Handlnng auf die Remodellierung eines anormalen Formgefiiges gerichtet. Ein zum Umbau f/ihiges Gewebe bietet sich dazu an. Die Erfolgsquote ist hoch, die Indika- tion scheint unbegrenzt, wenn mit dem ,,Heilen" nicht nut das Symptom der MiB- helligkeit beseitigt ist, wenn keine neuen Sch~iden gesetzt sind [18] und wenn der Er- folg der Therapie gesichert bleibt. Das aber ist bei dieser Methode nicht immer ga- rantiert. G/ibe es keine Rezidive oder unvollkommene Behandlungsabschli~sse, so wi~rde sich nicht tier Verdacht aufdr~ingen, dab die , ,Form" allein nicht alles bedeu- tet. Die Erfahrungen haben doch wohl gezeigt, dab Angles beharrliches Suchen nach immer besserer Technik Rtickf/~lle nicht auszuschlieBen vermochte. Nichts ge- gen hochqualifizierte Technik. Eine gut dosierte Mechanik erleichtert eine Behand- lung, macht sie auch sicherer. Was die biomechanische Richtung zu wenig beriick- sichtigt, das ist die Pathogenese yon Anomalien im Form-funktionellen Sinne. Part- ner der Form bleibt die Funktion, das dynamische Prinzip im Leben. Aus diesem Zusammenhang darf nichts herausgeschnitten oder in das zweite Glied versetzt wer- den.

Welche summarischen Erkenntnisse ergeben sich for die biofunktionelle Richtung aus dieser kooperativen Verbindung von Form und Funktion? Sie sttitzt sich ganz darauf, dab die Natur perfekt sei, so wie es Flora und Fauna aus unserer Umwelt lehren. MiBhelligkeiten im GebiB sind dutch zuf/~llige funktionelle Abweichungen ausgel6st, meinen die Funktionalisten. Werden diese ausgeschaltet (geregelt), so hat das yon Natur aus perfekt angelegte GebiB die Freiheit, aus eigener Kraft zu seiner Norm zuriickzufinden. Die Funktionalisten vergessen dabei, dab wir in der auf3er- menschlichen Natur nur das zu sehen bekommen, was nicht durch Eigenselektion vorher vernichtet wurde. Nur das Perfekte ist zuri~ckgeblieben. Aber beim Men- schen sind alle Znst~inde gemischt vorhanden; sie vermehren sich unaufhaltsam und erfordern Hilfe. Uber die pathogenetische Natur funktioneller Abweichungen gibt es keine Meinungsunterschiede, wohl aber Ober die Bewertung der Funktion gegen- iiber der Struktur. Funktionelle Symptome sind lediglich Ausschnitte aus der Ge- samtheit, welche die Struktur mit der Funktion verbindet.

Wet seine Arbeiten selbstkritisch beurteilen kann, wird erkennen, dab reines Ma- nipulieren am Formbild, ohne Bedacht auf das Individualgefiige eines Patienten zu nehmen, genau so einseitig ist wie Funktionen regeln zu wollen, ohne die formalen Strukturen der zur Funktion bestimmten Systeme eingehend zu analysieren. Mit ho- hem Aufwand technischer Mittel werden h/iufig einfache Anomalien angegangen; bei schon stabilisierten Anomalien werden setbst naturwidrige Bewegungen erzwun- gen [18]. Technisches Raffinement bedeutet nicht zugleich technische Vollkommen- heit. Ein einfaches biofunktionelles Ger~it, friihzeitig eingesetzt, kann iiberraschend schnell wirken [20]. Abet auch diese Ger~ite, die allesamt auf den Monoblock zu- ri~ckgehen, die zugleich das Vestibulum ausnutzen (Schutz-Pelotten), sollten so ein- fach wie mOglich konstruiert sein. Wieviel Worte und Behauptungen wurden iiber

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Biomechanische und biofunktionelle Therapie

den Gaumenbiigel (Bionator), seine Lage und seine Wirkung auf die Zunge verbrei- tet. Ich konnte niemats eine andere Bedeutung entdecken als die eines Elements zur Skelettierung der Apparatur. Solche Einw~nde beschr/inken keineswegs die Indika- tion in der pr~ventiven Therapie. Sie sollte sich auf die erste Zahnwechselperiode konzentrieren, um der nattMichen Entwicklung dort zu dienen, wo sich bereits An- s/itze zur Bildung von Anomalien zeigen. Apparaturen, die das Gebig umklammern, kOnnen besonders in der Periode beschleunigten Kieferwachstums die Entwicklung nur hemmen. Ger/ite wie der ,,Protektor", der ,,Bionator" oder auch der ,,Funk- tionsregler" sind solche nichtfixierten Hilfsmittel. Damit soll keineswegs far eine ausschliegliche Begrenzung der Indikation auf das Jugendalter plgdiert werden. Es w~tre allerdings abwegig, einer Ideologie zuliebe Behandlungsbedarftige jahrelang mit Ger~ten experimentieren zu lassen, die nicht den Erfolg bringen kOnnen, der mit mechanischen Ger/iten spielend und ohne sch/idliche Folgen erreicht wird. Sich dann mit einem ,,individuellen Optimum" (Andresen) abzufinden, k6nnte so ausgelegt werden, dab damit ein therapeutisch unvollkommenes Vorgehen verteidigt werden soll. Die jeweilige Konstellation der pathogenetischen Faktoren gibt die Indikation an. Rahmendaten tiber das individuell so vielschichtige Verh~iltnis der strukturellen und funktionellen Elemente sind angegeben. Es kann also keine sachliche Gegner- schaft zwischen beiden therapeutischen Richtungen geben.

In dieser Arbeit mul3te die biofunktionelle Arbeitsweise und ihre Bewertung aus sachbezogenen Grtinden hervorgehoben werden. Sie ist historisch mit der Physio- therapie Watrys [26] verbunden. Fachlich hingegen bleibt sie im Rtickstand, wenn sie weiterhin auf biologischem Vorrang besteht. Die kieferorthop~dische Therapie mug als eine Einheit betrachtet werden. Ihre Methodik richtet sich nach den gegebe- nen sachlichen Umst~nden. Dafar ist der Vater der biofunktionellen Richtung, Wa- try [26], der eindrucksvollste Zeuge. Sein eigener Erfahrungsbericht schliegt n~im- lich so: ,,Heute mOchte ich auf Grund meiner fast 20j/ihrigen Erfahrung feststellen, dab man der physiotherapeutischen Methode einen schlechten Dienst erweist, wenn man sie zum System erheben wollte... Wie interessant diese Behandlungsmethode auch ist, so hat sie doch ihre Indikation und ihre Kontraindikation, und ihre An- wendung sollte erst auf Grund einer weisen Llberlegung erfolgen." Und er gibt end- lich den Rat: . . . . . der Behandlungsgang (gemeint: mit den Funktionsger/iten, d. Verf.) wird dann durch eine orthodontische Behandlung vervollst/~ndigt, die dort mit fixen Apparaturen eingreift, wo die physiotherapeutische Methode versagt" [261 (1942).

Zusammenfassung

Die traditionelle biomechanische Therapie remodelliert ein verformtes GebiB nach dem Vorbild der anatomisch perfekten Okklusion. Sie arbeitet symptomatisch an der Form. Eine andere therapeutische Richtung, die funktionelle Therapie, auf Warty zurtickgehend, heute durch Balters und Frankel aktuali- siert, folgt dem kausalen Prinzip. Mil3helligkeiten im GebiB werden als Folgen anormaler Funktionen oder von Funktionsschw~ichen angesehen. Diese ohne mechanische Hilfe zu beheben oder zu beleben, soil dem GebiB die freie Entfattung bis zum individuellen Optimum gew~ihrleisten. Hier wird die Funktion

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der Form vorangestellt. Es wird nachgewiesen, dab Form und Funkt ion untrennbare Partner von gleich hohem Rang sind. Wohlbekannte funktionelle Aberrat ionen in der Jugend kOnnen die Form des Gebisses ver~indern. Als banale, t e m p o r ~ begrenzte Traumen (Dysfunktionen) sind deren Folgen durchschnittlich leicht zu beseitigen. Oft heilen sie selbst aus. Biofunktionelle Ger~te k0nnen den Vorgang unterstiitzen. Bei refraktfiren Anomlien ist in der Regel eine StOrung im Gleichgewichtsverh/iltnis zwischen Form und Funkt ion nachweisbar. Eine solche Dysbalance kann jede Seite auslOsen. Formen sind im wesentlichen genetisch gepr~igt, und aUe Gewebe, die der Funkt ion dienen, sind auf diese Strukturen abgest immt. Die Verschiedenartigkeiten der Formen im menschlichen Gesicht mit der gegebenen strukturellen Variation innerhalb der zugehOrigen Muskelsysteme kOnnen Verhaltensweisen erzwingen, die fiJr das plastisch formbare Gebig ungt~nstig sind. Unter solchen Umst/inden ist eine Selbstentwicklung zur Normokklusion nicht mehr mit biofunktionellen Ger~tten zu erreichen. Das ist bereits von Watry ausgesprochen worden. Der Verfasser konnte es best/atigen.

S u m m a r y

Traditionally, biomechanical therapy is concerned with the remodelling o f a malformed dentition. The objective o f this is to chieve an anatomically perfect occlusion. This form of therapy is symptomatic and oriented towards form. However, another therapeutic approach, functional therapy, founded by Watry and at present practised by Balters and Frdnkel, is oriented towards the causal principle. Abnormali t ies of the dentition are considered to be the result of abnormal function, or functional deficiencies; their eli- minat ion allows free development of the dentition to the individual opt imum. Here, the emphasis is on function rather than form. In this article it is shown that form and function are inseparable partners of equal rank. Well-known functional disturbances in adelescence can lead to a change in the form of the dentition. The consequences of temporary t raumas (dysfunctions) are, as a rule, readily eliminated. In many cases, they resolve spontaneously. Biofunctional devices can be employed to promote this process. In the case of recurrence, a disturbance in the state of equilibrium between form and function can usually be found. Such an imbalance can be triggered by either. In general, forms are genetically determined, and all the tissue subserving funct ion are tailored to these structures. The multiplicity of forms in the h u m a n face, together with the given structural variation within the associated muscle systems, can result in the adoption of behavioural patterns which are unfavourable for the plastic formative dentition. Under these circumstances, spontaneous development o f a neutral occlusion, with biofunctional devices, can no lon- ger be achieved. This problem was already duscussed by Watry, and the present author can confi rm his conclusions.

R 6 s u m ~

La th6rapeutique biom6canique traditionelle vise A remodeler une denture irr6guli6re en recherchant une occlusion aussi parfaite que possible du point de vue anatomique. Elle traite donc essentiellement la forme. I1 existe une autre direction th6rapeutique: c'est la , , th6rapeutique fonctionnelle" proposbe par Watry et maintenant r6actualis6e par Balters et Frdinkel, qui ob6it au principe de causalit6. Elle consid6re les irr6gularit6s maxillo-dentaires commes les cons6quences de font ionnements anormaux ou insuffi- sants. Eliminer les anomalies ou stimuler les insuffisances sans aucune aide m6canique devrait assurer le libre d6veloppement de la denture et son parach6vement optimal compte tenu des caract6ristiques propres du sujet. En d 'antres termes, la fonction passe avant la forme. L 'an teur d6montre qu ' en fait forme et fonction sont deux facteurs associ6s et indissociables, et dont aucun n ' a pr6pond6rance sur l 'autre. La forme d 'une denture peut se trouver modifi6e par certaines aberrations fonctionnelles du jeune age, au demeurant bien connues. Les dysfont ionnements qui en r6sultent - - de type banal et limit6s dans le temps - - sont en g6n6ral faciles/~ r6gler; il arrive d'ailleurs souvent qu' i ls gu6rissent spontan~ment . Les appa- reils biofonctionnels peuvent y aider. Lorsque l 'anomalie persiste, on d6couvre g6n6ralement une rupture de cet 6quilibre entre forme et fonction, rupture qui peut ~tre le fait tant6t de t 'une, tant6t de l 'autre. Les formes r6sultent essentietlement de causes gbn6tiques, et t ous l e s tissus qui concourent ~t l 'accomplisse- ment de la fonction sont assujett is/ t ces formes. Les formes du visage humain 6taut tr~s diversifi6es, et ses structures dans le cadre du syst6me musculaire extr~mement variables, il pent en r6sulter des attritudes pr6judiciables/~ la denture, celle-ci 6rant sujette/t dbformations plastiques. Dans de tels cas, les appareits biofonctionnels sont impuissants ~. provoquer t '6votution spontan6e vers l 'occlusion normale. Watry l 'avait d6j~t dit, et l ' auteur a p u l e v~rifier.

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B i o m e c h a n i s c h e u n d b i o f u n k t i o n e l l e Therap ie

Schrifttum

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