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Autorenvorstellung

Dr. med. Rainer Schmidt, geboren in Berlin. Studium an der Freien UniversitätBerlin. Promotion zum Thema „Entwicklung des Plexus peribronchialis“ –elektro-nenmikroskopische Arbeit. Arzt für Pathologie und Kinder- und Jugendmedizin,Weiterbildung in Allergologie, Akupunktur, Naturheilverfahren und Mikrobiologi-scher Therapie. Seit 1984 in unterschiedlichen Praxisformen kinderärztlich tätig.Von 2007-2016 Vorsitzender des Arbeitskreises für Mikrobiologische Therapiee. V. Vortragstätigkeit im In- und Ausland. Er ist Autor zahlreicher Publikationen,v. a. zum Thema Mikrobiologische Therapie.

Dr. med. Susanne Schnitzer (Jahrgang 1970), Internistin, studierte 1990 bis 1997in Erlangen Medizin. Der Facharztausbildung folgten 8 Jahre internistische Pra-xistätigkeit. Parallel erwarb sie die Schwerpunktbezeichnung „Biologische Medi-zin“ sowie „Universitär geprüfte Scenartherapeutin“. Seit 2012 befasst sie sich in-tensiv mit der menschlichen Mikroökologie und vertritt ein systemisches Krank-heitsverständnis. Ab 2013 Niederlassung in eigener Praxis. Sie ist u. a. Dozentinfür den Arbeitskreis für Mikrobiologische Therapie e.V. und auch Autorin einigerVeröffentlichungen.

Rainer Schmidt, Susanne Schnitzer

Allergie und Mikrobiota

Systemisches Krankheitsverständnis –

Mikrobiologische Therapie

Zeichnungen von Angéla Ellwanger

122 Abbildungen

Karl F. Haug Verlag · Stuttgart

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publika-tion in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliertebibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

AnschriftenDr. med. Rainer SchmidtLindenstr. 829462 [email protected]

Dr. med. Susanne SchnitzerHöhenweg 491094 [email protected]

Ihre Meinung ist uns wichtig! Bitte schreiben Sie uns unter:www.thieme.de/service/feedback.html

© 2018 Karl F. Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KGRüdigerstr. 1470469 StuttgartDeutschland

www.haug-verlag.de

Printed in Germany

Zeichnungen: Angéla Ellwanger, MarburgOriginalbefunde: MVZ Institut für Mikroökologie GmbH,HerbornUmschlaggestaltung: Thieme VerlagsgruppeUmschlaggrafik: Angéla Ellwanger, MarburgSatz: Druckhaus Götz, LudwigsburgDruck: Grafisches Centrum Cuno, Calbe

DOI 10.1055/b-004-140 265

ISBN 978-3-13-241087-9 1 2 3 4 5 6

Auch erhältlich als E-Book:eISBN (PDF) 978-3-13-241088-6eISBN (epub) 978-3-13-241089-3

Wichtiger Hinweis:Wie jede Wissenschaft ist die Medizinständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und kli-nische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbeson-dere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbe-langt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Ap-plikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrau-en, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfaltdarauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissens-stand bei Fertigstellung des Werkes entspricht.Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikati-onsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr über-nommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durchsorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Prä-parate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezia-listen festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung fürDosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationengegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine sol-che Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendetenPräparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebrachtworden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt aufeigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellie-ren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkei-ten dem Verlag mitzuteilen.

Geschützte Warennamen (Warenzeichen ®) werden nichtimmer besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehleneines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen wer-den, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrecht-lich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engenGrenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmungdes Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungenoder die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro-nischen Systemen.

Vorwort: Der eigene Weg

Daran erkenn’ ich den gelehrten Herrn!Was ihr nicht tastet, steht euch fern;Was ihr nicht fasst, das fehlt euch ganz und gar;Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr;Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht;Und was ihr nicht münzt, das meint ihr, geltenicht.

Goethe: Mephistopheles in Faust II

Die Begleitung und Behandlung vor allem aller-gisch reagierender Kinder beschäftigt mich nunschon seit über 34 Jahren und noch immer habeich mehr Fragen, als ich Antworten gefunden habe.Als ich im Jahr 1982 meine Tätigkeit als Kinderarztund Allergologe an der Universitätskinderklinik inBerlin aufnahm, diente mir als Rüstzeug lediglichdas im Studium erworbene Wissen. Es gab mehroder minder klare diagnostische und therapeuti-sche Vorgaben, die bei jedem allergisch reagieren-den Kind angewandt werden mussten. Individuel-le Vorgehensweisen waren nicht gefragt. So warendie Betroffenen einem starren Untersuchungspro-gramm unterworfen (Allergietests, Bestimmungdes Immunglobulin E, Provokationstests, Hist-aminbestimmung, Erstellung des Blutbildes, Lun-genfunktionstests etc.). Die sich anschließendeTherapie war überschaubar: Es wurden Antihista-minika oder kortisonhaltige Präparate sowohl fürdie externe als auch die systemische Anwendungverabreicht. Im Falle des allergischen Asthmabronchiale wurden Bronchospasmolytika und Mu-kolytika verordnet, später kamen inhalative Korti-koide hinzu. Die spezifische Immuntherapie, da-mals noch Hyposensibilisierung genannt, galt alsdas entscheidende Verfahren, die allergische Reak-tion zu dämpfen. Zwar ließen sich die Beschwer-den der Kinder in den meisten Fällen mit diesenMaßnahmen herabsetzen, Heilung konnte ich indiesen Jahren aber bei keinem Kind beobachten,sodass mehr oder minder starke Beschwerden indie Erwachsenenzeit mitgenommen wurden.

Mit dem Wechsel in die eigene Fachpraxis fürKinderallergologie und -pneumologie änderte sichzwar nicht die Aufgabenfülle, aber es entstandRaum für eine zunehmend individuellere Behand-

lung. Dazu trug eine Ausbildung in Akupunkturbei. Die Kombination konventioneller Therapiever-fahren mit Akupunkturtechniken erwies sich alssehr wirksam. Insbesondere akute Beschwerdenließen sich nun teilweise ohne immunsupprimie-rende Maßnahmen kupieren. Mit zunehmenderErfahrung und Sicherheit konnte ich die konven-tionelle Therapie nach und nach reduzieren. Den-noch waren echte Heilungsverläufe noch die Aus-nahme, obwohl gerade die im Gegensatz zu Er-wachsenen verhältnismäßig kürzeren Krankheits-verläufe von Kleinkindern eine Ausheilungtendenziell begünstigen.

Einem „Zufall“ war es zu verdanken, dass ich an-lässlich eines Medizinkongresses und der dort üb-lichen Industrieausstellung mit einem weiterentherapeutischen Verfahren konfrontiert wurde.Ich wurde auf ein Verfahren aufmerksam gemacht,das eine Immunmodulation bewirken sollte – ge-meint ist die Autovaccine-Therapie (Kap. 12.3).Aus körpereigenen (kommensalen oder pathoge-nen) Bakterien wird bei diesem Verfahren ein in-dividueller Wirkstoff hergestellt (ähnlich einemImpfstoff), der dann oral, nasal, perkutan oder periniectionem dem Patienten verabreicht wird. Ichdachte bei der Vorstellung sofort an Kinder, dieimmer wieder Scharlachrezidive durchlitten und,gemäß der damaligen Sicht, antibiotisch behandeltwerden mussten. Dabei wurden diese Kinder im-mer kränker und entwickelten eine Vielzahl vonBegleitstörungen. Der Zusammenhang zwischenAntibiotikaeinnahme und Induktion einer Entero-kolitis war damals noch nicht bekannt. Zu sehrvertraute man (wie auch heute vielfach noch) aufdie vermeintlich ungefährliche Wirkung von Anti-biotika.

In den vier folgenden Jahren wendete ich dieAutovaccine-Therapie bei 46 Kindern mit Schar-lachrezidiven an, und keines (!) erkrankte in denfolgenden sechs Jahren erneut an Scharlach. Ohnedie Prinzipien der Behandlung durchdrungen zuhaben, schien es mir plausibel, auch andere Be-schwerdebilder, die mit einer Inflammation ein-hergingen, zu behandeln. Was lag näher, als auchallergisch reagierende Kinder mit einzubeziehen.

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Pathophysiologisch liegt diesem Beschwerdebildja auch eine chronische Entzündung zugrunde.Und nun geschah das „Wunder“, dass zahlreichesolchermaßen behandelte Kinder nach zwei bisdrei Autovaccine-Behandlungen tatsächlich völligbeschwerdefrei wurden. Das machte mich muti-ger, zunehmend aber auch neugieriger. Und so be-gann ich eine Zusatzausbildung in Naturheilver-fahren, bei der ganz verschiedene bewährte Ver-fahren zum Einsatz kommen. Nun konnte ich eineimmer individuellere Therapie bei den betroffenenKindern vornehmen und v. a. den Einsatz von Kor-tison und Antibiotika minimieren. Ende der1980er-Jahre setzte sich zudem die Erkenntnisdurch, dass neben rein medizinischen Maßnah-men auch die psychosozialen Gegebenheiten chro-nisch kranker Kinder mit in Betracht gezogen wer-den sollten. Daher entwickelten ein Kollege undich in Zusammenarbeit mit einer systemischen Fa-milientherapeutin, einer Physiotherapeutin sowieeiner Musiktherapeutin ein Asthma-Schulungs-programm mit dem Namen atemlos [113]. An je-weils einem Wochenende wurden sechs bis achtKinder und deren Familienmitglieder von unse-rem Team geschult – zunächst in Berlin, späterauch im Wendland. Diese Kombination von Schu-lung, komplementärmedizinischen Verfahren undbedarfsangepasster konventioneller Therapie er-öffnete ganz neue Sichtweisen des Verständnissesvon Krankheit und Gesundheit.

Die erfolgreiche Behandlung mit Autovaccinen,letztendlich mit Bestandteilen von Mikroorganis-men, hatte nicht nur eine spürbare Zufriedenheitin mir ausgelöst, sondern erst recht Fragen auf-geworfen:

● Wie kann es sein, dass eine chronische Entzün-dung mit Bakterien günstig beeinflusst werdenkann?

● Welche immunlogischen Wirkprinzipien liegendiesem Geschehen zugrunde?

● Wie steht es mit der Verträglichkeit und mitmöglichen Spätfolgen?

Es half nichts, ich musste diesen Fragen nachgehenund habe mich mit der Mikrobiologischen Thera-pie auseinandergesetzt. Zu diesem Zweck wurdeich Mitglied im Arbeitskreis für MikrobiologischeTherapie e. V. (AMT e.V.), der sich bereits 1954 inHerborn konstituiert hatte. Mittlerweile bin ichseit ca. zehn Jahren Vorsitzender dieses Fachver-bandes – und meine Fragen sind nicht wenigerworden!

In den letzten 15 Jahren wurden zunehmendhäufiger Forschungsergebnisse bekannt, die dieempirischen Erkenntnisse des AMT e.V. bestätig-ten. Mehr noch, sogar die lange Jahre bestenfallsals „kühn“, oft genug aber als „verrückt“ abgetanenIdeen und Gedankengebäude stellen nun die ammeisten diskutierten, brandaktuellen „Neuigkei-ten“ dar, die nun – auf einmal! – in der ganzen Ge-sellschaft für Aufsehen und Erstaunen sorgen. Nunist es wichtig, dass beides, nämlich wissenschaftli-che Untersuchungen und die bereits jahrzehnte-lange ärztliche Erfahrung, zusammenfließen, da-mit dieses Wissen allen Patienten zugutekommenkann. Dieses Buch bündelt die Erfahrungen derletzten 25 Jahre und bietet dem Leser die Mög-lichkeit, sich in die Gedanken des Autors hinein-zuversetzen.

Wustrow, im August 2017 Dr. Rainer Schmidt

Vorwort: Der eigene Weg

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Vorwort

Die statistischen Zahlen über den Gesundheits-zustand der Menschen in den Industrienationengleichen inzwischen Katastrophenmeldungen. Siescheinen eine deutliche Sprache zu sprechen: Die„zivilisierte“ Menschheit hat in Anbetracht des er-schreckenden Anstieges an Morbidität wohl denZenit ihrer evolutionären Karriere überschritten.Dabei geht es längst nicht mehr nur um die häufigbeklagte Zunahme von „Allergien“ und anderenErkrankungen des atopischen Formenkreises:Auch die Zunahme rheumatischer und chronisch-entzündlicher oder aber auch metabolischer, neo-plastischer und degenerativer Krankheitsbilderlässt die Kosten im Gesundheitswesen explodierenund die Regierenden sorgenvoll in die Zukunftblicken.

Angesichts der rapiden Entwicklungen sehensich Medizin und Pharmazie in hektische Betrieb-samkeit gezwungen: Immer neue Wunderwaffenwerden aus dem Hut gezaubert. Standen vor we-nigen Jahren noch „Inhibitoren“, „Suppressoren“und „Antagonisten“ hoch im Kurs, sind es nun„Biosimilars“, „Biologics“ oder sonstige ausgeklü-gelte Wirkstoffprinzipien, die ein schlagkräftigesArsenal im Kampf gegen die Vielzahl von Krank-heitssymptomen bieten sollen.

Es geht um Symptome unterschiedlichster Aus-prägung und Gefährlichkeit, die dem zivilisiertenMenschen zusetzen und ihn krank machen. Min-destens jedoch hindern sie ihn daran, seine ge-wohnte, komfortable und in erster Linie von Kon-sum und Lustgewinn geprägte Lebensweise wei-terzuführen. Diese Symptome gilt es zu bekämp-fen, zu verhindern, zu unterbinden, denn sindkeine Symptome mehr spürbar, ist ja alles in Ord-nung und es kann so weitergehen ...

Im Ernst?Wie kann es sein, dass es nun hierzulande seit

kaum mehr als ein, zwei Generationen kaum nochKinder gibt, die keine „Allergie“ gegen irgend-etwas haben? Dass chronisch-entzündliche Darm-erkrankungen (CED) immer häufiger werden undschwere Erkrankungen bereits bei Kindern keineSeltenheit mehr sind? Oder dass in jeder Schul-klasse AD(H)S-Kinder dem Unterricht nur unter

Methylphenidat länger als zehn Minuten folgenkönnen? Krankheitsbilder, die vor nicht allzu lan-ger Zeit fast Raritäten waren, scheinen sich, einerSeuche gleich, auszubreiten.

Lange Zeit war alles, was die konventionelle, evi-denzbasierte Medizin als Erklärung zu bieten hat-te, der entschuldigende Hinweis auf genetischeDispositionen und die somit schicksalsergebeneHaltung, dass hier eine „Heilung“ sowieso nicht er-wartet werden kann. Denn genetische Dispositio-nen sind ja bekanntlich angeboren ... Und dahermuss eine Therapie an einer „anständigen“ Unter-bindung der Symptome ansetzen.

Kann das wirklich der richtige Weg sein? Wiesogab es Beschwerdebilder wie die chronisch-ent-zündlichen Darmerkrankungen (CED) oder Dia-betes oder „Allergien“ nicht früher schon in einemvergleichbaren Ausmaß? „Früher“, als es mehr um„Handfestes“ ging, wie um Milzbrand und Cholera,Pocken und Pest. Erkrankungen, die dank der me-dizinischen Fortschritte heutzutage ihren Schre-cken fast verloren haben. Was also hat diese Ent-wicklung hin zu einer immer bedrohlicheren Mor-bidität ganz anderer Krankheitsformen denn nuneigentlich losgetreten? Was war denn „früher“ soanders?

Jeder weiß es: Vieles war anders. An sich fastalles …

Immer noch möchten wir gerne an all die ge-sundheitsförderlichen Dinge glauben, die uns dieLebensumstände und die Lebensweise der heuti-gen Zeit, die „Zivilisation“, zum Geschenk macht.Wir schwärmen von der guten medizinischen Ver-sorgung, singen das Hohelied der Hygiene oderstreifen an endlosen Regalen mit allen erdenk-lichen Lebensmitteln entlang, die unseren Gau-men schmeicheln möchten. Die dunklen Seitender „Zuvielisation“ ignorieren wir gerne, sei es imGroßen, wenn es um Globalisierung, Ausbeutung,Armut und Artensterben geht, oder im KLeinen,wenn es „nur“ um die Gesundheit des Einzelnengeht. Negative Einflüsse, Schadstoffe aus Nahrungund Umwelt, unser Lifestyle und alle Effekte desConvenience Food – das schöne Leben scheint be-droht, wenn wir uns die Vielzahl von Faktoren be-

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wusst machen, die bereits bekannt sind, und ver-suchen, diese dann zumindest für uns selber zumeiden.

Diese drastische Änderung unserer Lebens-umstände und unserer Lebensweise innerhalb derletzten 50, 60 Jahre scheint den menschlichen Or-ganismus tatsächlich aus der Balance geworfen zuhaben. Das Immunsystem mit all seinen hoch-selektiven Informationssystemen und fein auf-einander abgestimmten Regulationskreisenscheint außer Rand und Band geraten, bisweilenso dermaßen überspannt, dass z. B. autoimmuneReaktionsschienen aktiviert oder im Extremfallharmlose Pflanzenmoleküle einen tödlichen ana-phylaktischen Schock auslösen. Solche Ereignissekönnen wohl kaum mehr als sinnvolles Ergebnisder Evolution gedeutet werden. Jegliche Fähigkeitzur Toleranz, zur Kompensationsfähigkeit scheintverloren, wir haben es mit Systemen zu tun, diesich offenbar in permanentem Alarmzustand be-finden.

Aber keine Angst – wir kennen die Prozesse ge-nau: welche Zytokine welche Reaktionen bei wel-chen Zellen hervorrufen und was letztendlich dieSymptomatik dieser Panikreaktionen hervorruft.Alles ist bestens erforscht: Wir können im Idealfallselbst lebensbedrohliche Verläufe noch stoppenund dramatischen allergischen Kettenreaktionenein Ende setzen.

Und dennoch haben selbst solche beeindrucken-den medizinischen Erfolge einen schalen Bei-geschmack. Denn von einer „Heilung“ des irrlau-fenden, weil überschießend „allergisch“ reagieren-den Organismus kann man kaum sprechen. Fürdie meisten Patienten besteht die Gewissheit eines„nächsten Mals“.In der konventionellen Medizin scheint das the-

rapeutische Überlegen stets vom Charme einermöglichen, schnellen Symptomfreiheit geblendet.Oder ist es der Anspruch des Patienten, der schnel-les und effektives Handeln gebietet? „Geben Siemir doch einfach nur die richtige Tablette!“

Der Großteil der therapeutischen Bemühungenzielt dahin, stets die Symptome, also die letztenSchritte der entstandenen Körperreaktionen, an-zugreifen und den Patienten gerade eben zurSymptomfreiheit zur verhelfen. Damit ist dieseraber eben nicht gesund!

Im Grund genommen sind wir Ärzte und Thera-peuten uns doch im Klaren darüber, dass die langeKette der vorangehenden Reaktionen und Aus-gleichsversuche, die im Organismus letztendlichdann zur Ausprägung der Symptomatik führten,weiterhin abläuft. Lediglich das Symptom wird ab-geschnitten, das nur selten als ein Zeichen der Ge-genregulation verstanden wird. Und hiermit wirdwieder einmal deutlich, dass wir uns mit den bis-her üblichen therapeutischen Ansätzen nur umdie berühmte sichtbare Spitze des Eisberges küm-mern.

Die Kernfrage bleibt: Was irritiert, belastet denmenschlichen Organismus so dermaßen, dass sichall diese Kettenreaktionen bilden können und sichdas System gleichsam im Versuch der Kompensati-on der Kompensation zu verheddern scheint? DerToleranzverlust als häufigster Immundefekt – wokommt er her? Und was also ist zu tun?

So schwierig diese Frage scheint, so einfach undvollkommen einleuchtend lautet die Antwort: Esgeht ganz ursächlich um die Integrität unseresSeins, um eine erfolgreiche Abgrenzung von unse-rer potenziell tödlichen Umgebung. ErfolgreicheAbgrenzung oder Integritätsverlust – davon hängtdas Überleben unseres Organismus ab. Die Akti-vierung von Immunreaktionen und Heilungsver-suchen hat nur ein Ziel: unsere Integrität und da-mit die volle Funktionsfähigkeit wieder herzustel-len.

Hinter diesem Prinzip verbirgt sich ein hoch-komplexes System, das, obwohl schon lange be-kannt, erst in jüngster Zeit zunehmend wieder inden Fokus der Aufmerksamkeit rückt.

Nur wenige denken bei dem Ausdruck „Grenz-fläche“ unseres Körpers an etwas anderes als andie äußere Haut. Viel größer und wichtiger ist je-doch die innere Grenze zur Umwelt, das Schleim-hautorgan, mit seiner ungleich größeren Oberflä-che. Dabei steht insbesondere der Darm als dieWiege und Schule des Immunsystems im Vorder-grund. Das Schleimhautorgan beherbergt darüberhinaus den lebensnotwendigen, bisher nur unzu-reichend beachteten zweiten Teil des mensch-lichen Organismus: die in enger Symbiose mitdem Menschen lebende menschliche Mikrobiota.

Wichtigste Bedingung für das erfolgreiche Zu-sammenleben mit dieser unvorstellbar großenMenge an unterschiedlichsten Mikroorganismen

Vorwort

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ist eine funktionstüchtige Abgrenzung zummenschlichen Körper. Rein anatomisch ist diesesdie epitheliale Grenzfläche, die im weitaus größ-ten Teil unseres Schleimhautorgans aus einer ein-zelligen, mancherorts gerade mal 5μm messendenEpithelschicht besteht. Sie stellt jedoch weit mehrals eine komplexe, selektive Barriere dar. Sie fun-giert vielmehr als zentrale „Schnittstelle“ in einemhochdifferenzierten Informationssystem! Wir ha-ben es hier, modern ausgedrückt, mit dem „Inter-face“ zwischen den zwei Systembereichen des Or-ganismus zu tun, die sich gegenseitig bedingen.Die epitheliale Zellschicht ist damit für intensivs-ten, bidirektionalen Informationsaustausch zwi-schen sämtlichen Regulationssystemen des Orga-nismus auf der einen Seite und dem Mikrokosmos„mikrobielles Milieu“ auf der anderen Seite ver-antwortlich! Dieses komplex regulierte Informati-onssystem scheint, ausgehend von diesem Grenz-raum, über Gesundheit und Krankheit des gesam-ten Organismus zu entscheiden.

Auch wenn diese komplexen Zusammenhängezu großen Teilen bereits von den Urvätern der Mi-kroökologie Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhun-derts vermutet wurden und empirisch wie auchtherapeutisch bereits seit Langem damit gearbei-tet wird – erst in der letzten Dekade scheint sichdie Wissenschaft nun um die genauere Erfor-schung des Ökosystems Mensch zu bemühen. DieErgebnisse, die nun auf der ganzen Welt und ausden verschiedensten Fakultäten förmlich hervor-brechen, sind schier unglaublich und faszinierend.Und so verwundert es nicht, dass sie, gleich der„Idee, deren Zeit gekommen ist“ (Victor Hugo zu-geschrieben), nun ungebremst unsere Sicht derDinge ins Wanken bringen. Es ergeben sich völligandere Sichtweisen von Salutogenese oder Krank-heitsentstehung, von Regulation und Gegenregu-lation, des gesamten „Seins“ unseres Organismus.Zusammen mit aktuellen Forschungsergebnissenaus den naturwissenschaftlichen Fachbereichen,wie Immunologie, Physiologie, Biologie, Biochemieoder Genetik, lässt sich ein schlüssiges Gesamtbilddes Zusammenwirkens menschlicher Regulations-systeme erahnen.

Es lässt uns demütig und bescheiden werden,wenn wir begreifen, welch fragilen Strukturen,hochsensiblen Effekten und empfindlichen Balan-cemomenten wir uns gegenübersehen.

„Wir“ – wer ist das dann eigentlich? Tragen wirunsere Überlegungen zusammen, können wir er-kennen, dass wir unser „Bewusst-Sein“ wohletwas zu selbstherrlich vom natürlichen Sein los-gelöst haben und uns somit nur in einer subjekti-ven, geschützten, quasi selbst erklärten Welt be-wegen. Mit der Wirklichkeit unseres „Systems“,das ganz klar an biochemische, physiologische,physikalische und viele andere Regeln gebundenist, hat diese selbst erklärte „Kuschelwelt“, in dernicht sein kann, was nicht sein darf, kaum etwaszu tun. Und wir begreifen schließlich, dass jederKörper genau so reagiert, wie er muss, weil ernicht anders kann! Was „wir“ persönlich davonhalten, also: ob uns das gefällt oder nicht, steht da-bei überhaupt nicht zur Diskussion! Zu komplexist das Miteinander all der Einflussgrößen und Re-gulationssysteme, letztendlich das Zusammenspielaller relevanter Faktoren dieses holobiontischenSystems, als dass wir uns einbilden dürften, hiermehr als nur eine Winzigkeit mitreden zu können.

Für uns Ärzte und Therapeuten liegt jedoch imVerstehen dieser Einflüsse, ihrer Auswirkungenund weiteren Zusammenhänge (zumindest derer,die bis jetzt bekannt sind), die große Chance, unseinem schließlich fehlreagierenden und damitkranken System von einem anderen Ansatz her zunähern.

Im Gegensatz zu den Herangehensweisen derkonventionellen Medizin ergeben sich hier kausaleTherapieansätze! Es grenzt an Ironie, dass auchdiese therapeutischen Möglichkeiten zum größtenTeil schon lange bekannt sind: Bis in die 1960er-Jahre war die Therapieform der Mikrobiologi-schen Therapie bekannt und bewährt, bis sie zu-gunsten „moderner“ Therapieverfahren, insbeson-dere der Gabe von Antibiotika, völlig verlassenwurde und beinahe in Vergessenheit geriet – umnun, 60 Jahre später, mit gutem Grund genau des-wegen eine Renaissance zu erfahren – oder nun„neu erfunden“ zu werden ...

Es ist höchste Zeit! Denn mit der Antibiotika-resistenz wächst ein neues Gespenst, das nichtweniger Angst und Schrecken verbreitet als dienebenbei zum Teil auch dadurch „gezüchteten“zunehmenden Erkrankungsinzidenzen verschie-denster Art.

Dieses Buch soll dazu beitragen, die Entwick-lung von Krankheit, von Entzündung und allergi-

Vorwort

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scher Reaktion aus einem anderen Blickwinkel zuverstehen, und zwar als nachvollziehbare Kom-pensations- und Heilungsversuche eines Systems,dessen Integrität gestört oder in Gefahr ist.

Mit der Betrachtung relevanter immunologi-scher, ernährungs- und stoffwechselphysiologi-scher Themen vor dem systemischen Hintergrundwerden in diesem Buch die wichtigen Verbindun-gen und gedanklichen Brücken geschlagen, die einumfassendes, systemisches Verständnis von„Krankheit“ als Ergebnis grundlegender Regulati-onsprozesse möglich machen.

Dies stellt u. a. die Grundlage für das Verständnismikrobiologischer Diagnostik- und Therapieansät-ze dar: Sie erlauben, sich dem individuellen Ge-sundheitszustand eines Patienten zu nähern undein für ihn passendes Therapiekonzept zu erarbei-ten, das eine Regulation seines Systems hin zumNormalen wieder möglich machen kann.

Bräuningshof,im August 2017

Dr. Susanne Schnitzer

Vorwort

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Der eigene Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Teil 1Einführung

1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

1.1 Allergische Reaktionen und atopische Krankheitsbilder neu verstehen . . . . . . . . . . . . 20

1.2 Einteilung der allergischen Reaktionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

1.3 Integrität und Integritätsverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1.4 Gesundheit und Krankheit, ein steter Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

1.5 Salutogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

1.5.1 Die Bedeutung genetischer und epigenetischer Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

1.5.2 Resilienzbestimmende Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Teil 2Die allergische Reaktion – systemische Sichtweise

2 Einführende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

3 Ein Ganzes – das Schleimhautorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

3.1 Blastogenese – Embryogenese – Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

3.2 Gemeinsamkeiten der einzelnen Schleimhautabschnitte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

3.3 Wandaufbau des Schleimhautorgans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

3.4 Charakteristika der einzelnen Schleimhautabschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

3.4.1 Oro-Gastro-Intestinaltrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

3.4.2 Atemwegssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

3.4.3 Harnableitendes System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

3.4.4 Sexualorgane der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

3.5 Histologischer Aufbau des Schleimhautorgans. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

3.5.1 Intestinale Schleimhautzellen mit Sonderaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

3.6 Zytoskelett und desmosomale Haftkomplexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

3.6.1 Charakteristika der Membranproteine, Basalmembran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

3.7 Kommunikationsfaktor Enterisches Nervensystem (ENS) und Darm-Hirn-Achse. . . . . . . 43

4 Grundzüge immunologischer Reaktionsprinzipien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

4.1 Elemente des Immunsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

4.1.1 Unspezifische Immunabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

4.1.2 Spezifisch-adaptive Immunabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

4.1.3 Gezielte Immunantwort: Antikörperbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

4.2 IgG1–3-immunkomplexvermittelte allergische Reaktion Typ III . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

4.3 Immunologische Bedeutung der IgG4-Antikörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

4.4 Immunglobulin E in der Abwehr von Parasiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

11

Inhaltsverzeichnis

12

4.5 IgE-vermittelte Allergie Typ I: konventionelle Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . 56

4.6 Immunologische Besonderheiten während der Schwangerschaft und der Säuglings- und

Kleinkindperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

4.6.1 Schwangerschaft – Abgrenzung und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

4.6.2 Freund und Feind erkennen: die Entwicklung der mukosalen (oralen) Toleranz beim Säugling 57

5 Der Mensch – eine symbiontische Lebensgemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

5.1 Gute „alte“ Freunde: die Mikrobiota und ihr Mikrobiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

5.2 Mensch und Mikrobe – ein Erfolgskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Dr. rer. nat. Elke Jaspers

5.2.1 Wer lebt denn da?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

5.2.2 Gut organisiert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

5.2.3 Unsere Mikrobiota: Was tut sie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

5.2.4 Einflüsse auf das Mukosa-Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

5.2.5 Quo vadis? Von der Wissenschaft zur Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

5.3 Der Mensch – ein Holobiont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

6 Der biologische Limes: intakte Grenzflächen als Voraussetzung für das Leben . . . 82

6.1 Transepitheliale und parazelluläre Permeabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

6.2 Wirkung potenzieller Störfaktoren auf Tight Junctions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

6.3 Schutzsysteme des Schleimhautorgans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

6.3.1 Mukusschicht: der unterschätzte, überlebenswichtige Biofilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

6.3.2 Schutzfaktoren der epithelialen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

6.3.3 Mukosa-Immunsystem (MIS) und darmassoziiertes lymphatisches Gewebe (GALT) . . . . . . 95

6.4 Die Mastzelle und ihre Mediatorfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

6.4.1 Mikrobiota und Mastzellaktivität: Motor der Chronic Silent Inflammation und Trigger

allergischer Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

6.4.2 Einflüsse exogen zugeführten Histamins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

6.4.3 Histaminabbau: Diaminooxidase und Histamin-N-Methyltransferase . . . . . . . . . . . . . . 104

6.4.4 Histamin in der Frauenheilkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

6.4.5 Einflüsse von Histamin in der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

7 Aus dem Gleichgewicht gebracht – Einfluss verschiedener Faktoren auf Grenzfläche,Mikrobiota und immunologische Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

7.1 Prä- und perinatale Einflüsse: entscheidend für das ganze Leben . . . . . . . . . . . . . . . 109

7.1.1 Normale Geburt oder Kaiserschnittentbindung: Bedeutung der Mikrobiota . . . . . . . . . . 110

7.1.2 Prägende Phase: die Säuglingszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

7.1.3 Der Griff zum Fläschchen als Weiche in Richtung Regulationsstörung. . . . . . . . . . . . . . 115

7.2 „Westliche Ernährung“: der Ursprung allen Übels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

7.2.1 „Die Milch macht's“: problematische Kost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

7.2.2 „Gehaltvolle“ Lebensmittel: Inhaltsstoffe glutenhaltiger Getreideprodukte und

ihre Auswirkungen auf den menschlichen Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

7.2.3 Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

7.2.4 Lektine: Weizenlektin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

7.2.5 FODMAPs: explosive Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

7.3 Anti-bios: gegen das Leben! Die Folgen unkritischer Antibiotikatherapien. . . . . . . . . . 152

7.4 Frühkindliche Ernährungs- und Verdauungsstörungen – „Schreikinder“ sind häufig krank! 155

7.5 Einflüsse von Umweltfaktoren auf das immunologische Gleichgewicht . . . . . . . . . . . 157

7.6 Metabolische Endotoxinämie: schleichende Gefahr im Tarngewand . . . . . . . . . . . . . 159

7.7 Auswirkungen der „Schutzimpfungen“ auf das immunologische Gleichgewicht . . . . . . 160

8 Inflammation (Entzündungsreaktion): ein Rettungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . 163

9 Endstation: die allergische Reaktion aus systemischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . 164

9.1 Integritätsverlust am Schleimhautorgan – zentrale Bedeutung für den Gesamtorganismus 167

9.2 Das allergisch reagierende Kind: eine typische Krankheitsgeschichte . . . . . . . . . . . . . 169

Dr. Rainer Schmidt

9.3 Mögliche Folgen der allergischen Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

9.4 Das Chamäleon der Atopie: verschiedene Krankheitsbilder,

identischer Pathomechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

9.4.1 Atopische Dermatitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

9.4.2 Obstruktive Bronchitis, Asthma-bronchiale-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

9.4.3 Allergische Rhinitis und Konjunktivitis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

10 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Teil 3Diagnostik, Therapie, Prävention

11 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

11.1 Der Mensch – ein Ganzes: systemische Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

11.1.1 Wie die Schleimhaut „spricht“ – Diagnostik bei schleimhautassoziierten Krankheitsbildern . 187

11.1.2 „Was für ein Typ bist DU denn?“ –Mikrobiomanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

12 Das systemische Therapiekonzept – die Prinzipien der Mikrobiologischen Therapie 204

12.1 Geschichtlicher Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

12.2 Präbiotika und Probiotika: Definition und Wirkprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

12.2.1 Präbiotika (auch Prebiotika). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

12.2.2 Probiotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

12.3 Autovaccine-Therapie – individuelle Immunmodulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

12.3.1 Wirkprinzipien und Besonderheiten der Therapie mit AutoColiVaccine® . . . . . . . . . . . . . 213

12.3.2 Autovaccinen mit pathogenen Keimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

12.3.3 Allgemeines Dosierungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

12.3.4 Dosierungsschema für besondere Indikationen: Monotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

13 Praktische Vorgehensweise bei der Durchführung der Mikrobiologischen Therapie 221

13.1 Therapieaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

13.2 Informationen aus der Praxis für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

14 Fäkale Mikrobiotatransplantation (Stuhltransplantation) . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

15 Mikrobiologische Therapie als sinnvolle Präventionsmaßnahme . . . . . . . . . . . . 234

15.1 Prävention beginnt schon in der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

15.1.1 Schleimhautschutz des Neugeborenen: Beobachtungen im Rahmen einer Allergieprävention

mit Probiotika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

15.1.2 Prävention der atopischen Dermatitis mit einem Lysat aus Enterococcus faecalis und Escherichia

coli: PAPS-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

15.2 Antibiotika und Probiotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Inhaltsverzeichnis

13

15.3 Kritische Lebenssituationen als systemische Risikofaktoren: Prävention langfristiger

Folgen mit Mikrobiologischer Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

15.4 Prävention durch Ernährung: gluten- und kuhmilchhaltige Lebensmittel sind

problematische Kost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

16 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Teil 4Kasuistiken

17 Kasuistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

17.1 Raphael. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

17.2 Max und Moritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

17.2.1 Max . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

17.2.2 Moritz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

17.3 Jonathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

17.4 Susanne J. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

17.5 Atopische Dermatitis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

17.6 Finis ab origine pendet: Das Ende hängt vom Anfang ab! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

17.6.1 Emma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

17.6.2 Finn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

17.6.3 Helena und Lilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

Teil 5Anhang

18 Patienteninformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

19 Auswahl im Handel verfügbarer Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

19.1 Präbiotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

19.1.1 Inulin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

19.1.2 Resistente Stärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

19.1.3 scGOS (Galactooligosaccharide)/scFOS (Fructooligosaccharide) . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

19.1.4 Sonstige Substanzen und Mischpräparate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

19.2 Protektive Mikrobiota . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

19.2.1 Stoffwechselprodukte von protektiver Mikrobiota ohne weitere Zusätze . . . . . . . . . . . . 291

19.2.2 Bifidobakterien und Milchsäurebakterien, keine Histaminbildner, ohne weitere

Wirkstoffzusätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

19.2.3 Bifidobakterien und Milchsäurebakterien ohne weitere Wirkstoffzusätze . . . . . . . . . . . . 291

19.2.4 Mit Zusätzen von Präbiotika und/oder Vitaminen, keine Histaminbildner. . . . . . . . . . . . 292

19.2.5 Mit Zusätzen von Präbiotika und/oder Vitaminen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

19.3 Immunmodulierende Mikrobiota . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

19.3.1 Stoffwechselprodukte von immunmodulierender Mikrobiota. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

19.3.2 Stoffwechselprodukte und Wandbestandteile von immunmodulierender Mikrobiota. . . . . 293

19.3.3 Lebende, immunmodulierende Mikrobiota . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

19.3.4 Nichtsymbionten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Inhaltsverzeichnis

14

20 Institute für mikrobiologische und schleimhautassoziierte Diagnostik . . . . . . . . 295

21 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

Inhaltsverzeichnis

15

Teil 1Einführung

1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

1 Einführung

Allergische Reaktionen wird es wohl seit der Früh-zeit menschlichen Lebens gegeben haben. Schonvon Tiberius Claudius Caesar Germanicus (Britan-nicus, 41–55 n. Chr.), dem Sohn des römischen Kai-sers Claudius, wird berichtet, dass er regelmäßigmit Ausschlag und Hautrötungen vom Reitunter-richt nach Hause kam. Er hatte offenbar eine „Pfer-deallergie“. Zu dieser Zeit war vermutlich nochnicht absehbar, dass in der Neuzeit Millionen vonMenschen ein gleiches Schicksal erleiden würden.

Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts las-sen sich bei nahezu jedem zweiten Kind inDeutschland bereits Antikörper gegen mehr als 20verschiedene Substanzen im Blut nachweisen. Obsich im Verlauf des weiteren Lebens tatsächlicheine „Allergie“ ausbildet, lässt sich nur vermutenund nicht vorhersagen. Das Allergierisiko der be-reits sensibilisierten Kinder und Jugendlichen istheute jedoch deutlich erhöht im Vergleich zu frü-heren Erhebungen [160].

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird „Allergie“als eine Krankheit verstanden. Der Begriff „Aller-gie“ bezeichnet laut Pschyrembel lediglich eine„angeborene oder erworbene spezifische Ände-rung der Reaktionsfähigkeit des Immunsystemsgegenüber körperfremden, eigentlich unschädli-chen Substanzen, die als Antigen erkannt werden“.Es ist daher sinnvoll, nicht von einer Krankheits-entität „Allergie“, sondern von einer „allergischenReaktion“ zu sprechen, die prinzipiell als eine ent-zündliche Heilungsreaktion zu verstehen ist. Ob essich tatsächlich um eine angeborene Änderung derReaktionsbereitschaft handelt oder ob eher epi-genetische Einflüsse wirksam werden, muss kri-tisch hinterfragt werden.

Bereits hier stellt sich schon die grundlegendeFrage: Was könnte dieser Änderung der Reaktions-fähigkeit letztendlich zugrunde liegen? Für ge-wöhnlich werden eine genetische Disposition so-wie Umweltfaktoren und Allergene für die Entste-hung einer Allergie verantwortlich gemacht. Inder konventionellen Therapie reduzieren Kortikoi-de und Antihistaminika zwar die Beschwerde-symptomatik, beseitigen aber in keinem Fall dieUrsachen einer allergischen Reaktion. Bei Klein-

kindern sind diese Therapiestrategien zudem kri-tisch zu bewerten, da die Entwicklung des Im-munsystems in diesem Alter in der Regel nochnicht abgeschlossen ist. Bei seiner Entwicklungkönnen sich diese Arzneimittelgruppen störendauswirken. Muss in dieser Altersgruppe dennochüber einen längeren Zeitraum eine immunsuppri-mierende Behandlung durchgeführt werden, sindunter anderem auch negative Auswirkungen aufden Stoffwechsel der Kinder zu erwarten.

Insgesamt kann die Therapie der allergischenReaktion also derzeit kaum als kausal, nachhaltigwirksam und befriedigend betrachtet werden. DieUrsachen werden dabei in keiner Weise berück-sichtigt. Dadurch bleibt der Körper weiterhin inder bestehenden Abwehrsituation, die in eineüberschießende, chronifizierte Entzündung mün-det.

Ganz grundsätzlich soll also in diesem Buch derFrage nachgegangen werden, ob die allergischeReaktion eine Erkrankung darstellt oder eigentlichursprünglich eher als sinnvolle, ja notwendigeKörperreaktion zur Abwehr einer weit größerenSchädigung des Organismus gemeint ist. Darüberhinaus reagieren viele Menschen entzündlich-al-lergisch, andere wiederum nicht, obwohl ähnlichepathophysiologische Phänomene bestehen. Es istalso sinnvoll, die Begriffe „Krankheit“, „Gesund-heit“ und „Resilienz“ unter systemischen Gesichts-punkten zu betrachten und zu erörtern.

Eine allergische Reaktion entwickelt sich kli-nisch in den überwiegenden Fällen im frühen Kin-desalter. Es muss davon ausgegangen werden, dassdie Gründe einer allergischen Reaktionsbereit-schaft daher oftmals bereits in der Schwanger-schaft zu suchen sind. Wir wissen inzwischen,dass auch die Art der Geburt, das Stillen, die (zu)frühe Ernährung mit konventioneller Kost, Imp-fungen oder die Art und Weise der Behandlungfrüher Infekte einen viel größeren Einfluss auf dieEntwicklung einer chronischen Entzündung habenals allgemein angenommen. Es lohnt sich auch, da-rüber nachzudenken, inwieweit sich eine schnelleFiebersenkung oder antibiotische Behandlungeines Infektes störend auf die normale Entwick-

18

lung des kindlichen Immunsystems auswirkt.Ebenso wird sie von bestimmten Lebensmittelnbeeinflusst. In den Industrienationen sind dies inerster Linie Substanzen, die in Kuhmilch oder glu-tenhaltigen Getreidesorten enthalten sind. Sie ha-ben verschiedene proinflammatorische Signalwir-kungen.

Besonders wichtig ist jedoch der Blick auf deneigentlichen Ort des Geschehens. Eine allergischeReaktion spielt sich ja im Regelfall an der Schleim-haut ab. Es sollte daher besser vom „Schleimhaut-organ“ gesprochen werden, denn es eröffnet neuePerspektiven, wenn an diesem Punkt umgedachtwird: Nicht die einzelnen Schleimhautabschnittestehen isoliert im Mittelpunkt der allergischen Re-aktion, sondern das „Schleimhautorgan“ in seinerGesamtheit.

Den interzellulären desmosomalen Haftkomple-xen der Schleimhautzellen (oft synonym als TightJunctions bezeichnet) kommt hier eine Schlüssel-rolle bei sämtlichen schleimhautassoziiertenKrankheitsbildern zu. Die Lösung der letztendlichentscheidenden Frage nach einer kausalen Thera-pie liegt in der Bedeutung der uns Menschen inne-wohnenden Mikrobiota. Sämtliche Körperoberflä-chen sind mikrobiell besiedelt, in besonderemMaß jedoch das „Schleimhautorgan“. Dabei han-delt es sich überwiegend um Bakterien sehr unter-schiedlicher Spezies, ohne die wesentliche Körper-funktionen und -regulationsformen nicht stattfin-den können. Wir wissen inzwischen, dass einephysiologische humane Mikrobiota das Allergie-risiko mindert. Die Verdauung, der Schleimhaut-schutz, die Entwicklung und das Training des Mu-kosa-Immunsystems hängen eng mit ihr zusam-men. Die Frage lautet daher: Ist es denkbar, einebereits klinisch relevante allergische Reaktion miteiner Änderung unserer Ernährung, unserer Le-bensumstände und mit mikrobiellen Präparatenerfolgreich zu behandeln?

Der Begriff „Mikrobiom“ schlägt derzeit großeWellen in der Fach- wie in der Laienpresse. Oft-mals werden die Begriffe „Mikrobiom“ und „Mi-krobiota“ synonym gebraucht. Grundsätzlich solltehier jedoch unterschieden werden, denn bei derMikrobiota handelt es sich um die Summe derKleinstlebewesen, deren Zusammenleben miteinem Wirtsorganismus (z. B. Mensch) bestimm-ten milieugesteuerten Regeln folgt. Die Mikrobiota

bestimmt die Eigenschaften des „Milieus". Hierdarf nicht nur an bestimmte physikalische undchemische Parameter an unseren Körperoberflä-chen gedacht werden, die den Grenzraum zur Um-welt darstellen. Die milieuassoziierten, ernäh-rungsbedingten Stoffwechselprodukte, Antigen-strukturen und Botenstoffe der Mikrobiota – undnicht letztendlich allein ihre Präsenz und Kommu-nikation als verschiedenste lebende Organismensind vielmehr bestimmende biologische Größenfür die Regulation des gesamten Organismus.

Demgegenüber steht der Begriff „Mikrobiom“.Er bezeichnet die große Summe der gesamten ge-netischen Informationen der kommensalen (phy-siologischen) Mikrobiota eines Organismus. Dieseübersteigt die Summe der Informationen desmenschlichen Genoms um mindestens das 360-Fache!

Die sich dahinter verbergenden Prinzipien undGesetzmäßigkeiten führen zu einem seit über60 Jahren bekannten Therapieprinzip: der Mikro-biologischen Therapie. Sie hat sich besonders beider Behandlung und Prävention allergischer Reak-tionen bewährt. Die Ergebnisse aus Forschung undWissenschaft lassen nun die begründete Hoffnungzu, dass diese regulativen Einflüsse auch viele wei-tere Krankheitsbilder positiv beeinflussen oderverhindern können. Mittels schleimhautassoziier-ter Diagnostik können wichtige Details zur mo-mentanen Situation von Schleimhautorgan, Im-munsystem, Mikrobiota und Milieu gewonnenwerden, die die Grundlage für ein individuellesTherapiekonzept darstellen. Ausgewählte Kasuisti-ken zeigen, wie dieses Verfahren angewendet wirdund wie hoch das Potenzial ist, den Körperschließlich in einen Heilungsprozess zu führen.

Die „beste“ Krankheit jedoch ist diejenige, dieerst gar nicht entsteht! Deshalb finden sich inKap. 15 Empfehlungen, wie im Falle konkreterHinweise z. B. auf eine allergische Reaktionsbereit-schaft des Kindes oder eine drohende Chronifizie-rung entzündlicher Reaktionen präventiv reagiertwerden kann.

1 – Einführung

Einfüh

rung

19

1.1

Allergische Reaktionen undatopische Krankheitsbilder neuverstehen

Die bunte Vielfalt an Erscheinungsbildern allergi-scher oder chronisch entzündlicher Reaktionenführt die Patienten zu Kollegen jeden Fach-bereichs. Typische Symptome wie Fließschnupfen,juckende Bindehaut, obstruktive Atembeschwer-den oder Hautausschläge sind am häufigsten ver-treten – und leiten schnell zur richtigen Diagnose.Schwierig wird es, wenn es beispielsweise um Be-schwerden wie unspezifische Magen-Darm-Prob-leme, chronische Müdigkeit oder Kopfschmerzengeht. Die Vermutung einer hier zugrunde liegen-den allergischen Reaktion (bzw. eines chronisch-entzündlichen Prozesses) steht oft erst am Endeeiner langen Reihe diagnostischer Maßnahmen.Und selbst wenn eine allergische Reaktion ver-mutet wird, lässt sich diese bei unauffälligen La-borwerten üblicher klassischer Marker wie Im-munglobulin E, Histamin oder eosinophiler Granu-lozyten im Blut oftmals nicht beweisen.

Legt man der allergischen Reaktion jedoch einerweitertes Verständnis zugrunde, eröffnen sichsinnvollere diagnostische Strategien: Der weitausgrößte Teil der allergischen Reaktion findet amSchleimhautorgan statt, also direkt an der innerenGrenzfläche zur Außenwelt. Was wäre demnachlogischer, als in schleimhautassoziierten Unter-suchungen (z. B. aus den Faeces) nach Anzeichenfür genau dort stattfindende entzündliche Prozes-se zu fahnden? Im Gegensatz zur Serologie lassenerhöhte schleimhautassoziierte Entzündungs-parameter frühzeitig und zuverlässig auf das Vor-liegen und auch den Schweregrad einer entzündli-chen Schleimhautreaktion schließen. In diesemZusammenhang muss auch die immense regulato-rische Bedeutung unserer physiologischen Mikro-biota in den diagnostischen Fokus gerückt werden.Auffälligkeiten im Biofilm (Muzin und Mikro-organismen) können bereits auf eine erhöhte Vul-nerabilität und Entzündungsbereitschaft derSchleimhaut oder aber unzureichende immun-modulierende Reize für das Immunsystem hinwei-sen.

Selbst wenn die Symptome eindeutig auf einentzündliches Geschehen an der Schleimhaut hin-weisen, sind immer noch weitere differenzialdiag-nostische Überlegungen anzustellen: Neben derallergischen Reaktion liegen den gleichen Sympto-men oft Pseudoallergien, Intoleranzen oder Le-bensmittelunverträglichkeiten zugrunde, die aufvöllig verschiedenen Pathomechanismen beruhen.Diese Begriffe werden fälschlicherweise sogar oftsynonym verwendet – diagnostische oder sprach-liche Unschärfen, die kausale Therapieansätze er-schweren.

1.2

Einteilung der allergischenReaktionsformen

Hinter dem Begriff „Allergie“ verbergen sich nachvon Pirquet vier Subtypen, die sich sowohl klinischals auch immunologisch unterscheiden lassen.

Die Typ-I-Allergie mit ihrer Sofortreaktion aufStoffe, die der Körper als bedrohlich erkennt, wirdim klinischen Alltag am häufigsten diagnostiziert.Typisch sind hier erhöhte Immunglobulin-E-Titer(IgE), die in der konventionellen Medizin als pa-thognomonisch gelten. Vielen Krankheitsbildernliegt jedoch eine Typ-III-Allergie vom verzögertenTyp zugrunde. Diese Allergieform beruht auf derBildung von Antigen-Antikörper-Komplexen beiAnwesenheit von Immunglobulinen der Klasse GI–III. Diese Immunglobuline werden als Antwortauf eine gestörte Schleimhautintegrität und an-schließendes ungefiltertes Eindringen von Fremd-proteinen in die Lamina propria gebildet. Die Im-munkomplexbildung bei Antigenkontakt löst inder Schleimhaut entzündliche Folgereaktionenaus. Antigen-Antikörper-Immunkomplexe könnendann via Blut- und Lymphsystem in den ganzenKörper gelangen und auch dort zu verschiedenenEntzündungsreaktionen führen.

Die beiden verbleibenden Formen, Typ-II-Aller-gie und Typ-IV-Allergie, treten deutlich seltenerauf und haben in der Transplantationsmedizinund bei Unverträglichkeiten von Medikamentenund Metallen Bedeutung. Die Pathomechanismensind hier nicht unbedingt antikörper-, sondern zy-tokinvermittelt. Sie werden ausgelöst durch be-

1 – Einführung

20

stimmte zelluläre Komponenten des Immunsys-tems. Diese Allergietypen sollen jedoch nicht In-halt dieses Buches sein.

Diese Betrachtungen verdeutlichen, dass die ur-sprüngliche Bedeutung einer allergischen Reak-tion die Initiierung einer Entzündung zum Schutzedes Körpers darstellt: Es sind prinzipiell sinnvolleFormen einer gezielten Abwehr, die vor allem ge-gen Mikroorganismen, bakterielle Endotoxineoder andere Fremdantigene gerichtet sind. DerAblauf dieser Entzündungsreaktionen ist norma-lerweise sehr differenziert reguliert und endet, so-bald das auslösende Agens abgewehrt, unschäd-lich gemacht und wieder ausgeschieden ist.

Eine stetig wachsende Anzahl von Menschenverharrt jedoch in dieser Entzündungssituation.Der normale Verlauf scheint hier unterbrochenund nicht zu seinem Ende zu finden. Man kannvon einer „Entzündungsstarre“ sprechen. Damiterfüllt sich die Definition des Allergiebegriffes(griech. αλλεργία, die Fremdreaktion, der andereMensch). Dieser eher deskriptive, 1906 von Pir-quet geprägte Begriff entstand in einer Zeit, als diekomplexen Regulationsvorgänge im Menschennoch wenig erforscht waren und bildhaften Erklä-rungsversuchen folgten. Clemens von Pirquet er-kannte damals als Erster, dass Antikörper nichtnur schützende Immunantworten vermitteln, son-dern auch Ursache von Überempfindlichkeitsreak-tionen sein können. Das Konzept der „Allergie“,das sich hinter diesem Begriff verbirgt, war das Re-sultat von Forschungen im Bereich von Schutz-impfung und Serumkrankheit. Von Pirquet warenbei wiederholter Impfung schneller auftretendeund stärkere Reaktionen an der Injektionsstelleaufgefallen. Für diese „hypererge Frühreaktion“prägte von Pirquet den Begriff Allergie aus griech.allos (= anders) und ergein (= reagieren).

Von Pirquets Beobachtungen beinhalteten be-reits die grundsätzliche Problematik, die für dieVeränderung der physiologischen Reaktionsformverantwortlich ist. Eine Injektion hebt die Unver-sehrtheit der äußeren Körpergrenzfläche (an derInjektionsstelle) auf. Die Integrität des Körpers istdamit verletzt – Mikroorganismen oder mikrobiel-le Antigene können so unter Umgehung der nor-malen Abwehrmechanismen von Haut undSchleimhautorgan unmittelbar in den Organismusgelangen – und im Falle der Impfung speziell das

Impfserum mit auch hier mikrobiellen Bestandtei-len. Eine atypische, zunächst lokale, dann aber sys-temische Abwehrreaktion mit der möglichen Ge-fahr einer Erkrankung ist die Folge. Ohne diesenIntegritätsverlust (i. e. den Applikationsweg der In-jektion) wäre die immunlogische Antwort auf denAntigenkontakt anders verlaufen.

1.3

Integrität und Integritätsverlust

Der Begriff Unversehrtheit (Integrität) einesMenschen ist mit den Begriffen „Gesundheit“ und„Krankheit“ eng verbunden und nimmt dennochim medizinischen Alltag noch wenig Raum ein. Be-trachtet man ▶Abb. 1.1, dann nehmen die meistenMenschen einen weiblichen Körper wahr. Nur we-nigen wird dabei bewusst, dass es sich um dieNachbildung eines Menschen handelt, dem beideArme fehlen und der damit versehrt ist, d. h. seineIntegrität verloren hat. Es scheint vielen Menschender heutigen Zeit ähnlich zu ergehen: Sie sind sichinsbesondere bei chronischen körperlichen oderpsychischen Problemen nicht immer bewusst,dass auch sie ihre Unversehrtheit eingebüßt ha-ben. Krankheit wird sehr häufig als ein von außen

1.3 Integrität und Integritätsverlust

Einfüh

rung

21

▶Abb. 1.1 Venus von Milo (Ende 2. Jh. v. Chr.).

einwirkendes Ereignis betrachtet, das den betrof-fenen Menschen, quasi ohne eigenes Verschulden,ereilt. Ein Arzt soll dann eine Diagnose stellen und– wiederum „von außen“ – ein geeignetes Mittelzur Gesundung verordnen. Man wird „gesund ge-macht“.

Nüchtern betrachtet verhält es sich in den meis-ten Fällen anders: Kranksein ist ein Resultat viel-fältiger regulatorischer Ausgleichsversuche desOrganismus, die durch eine Veränderung der Le-bensumstände positiv beeinflusst werden könn-ten. Oftmals nehmen die Betroffen die schleichen-de Entwicklung eines Krankheitsprozesses aberkaumwahr – und ändern damit nur selten ihre Le-bensgewohnheiten.

Prof. Thomas Kesselring, Dozent für Ethik undPhilosophie an der Universität Bern, führte in sei-nem Beitrag zur Tagung von „Berner Gesundheit“am 04.05.2007 aus, dass der Begriff „Integrität“selbst in Fachkreisen keinen Aufschluss über dieWortbedeutung gibt [155].Integrität leitet sich von dem lateinischen Wort

integer ab, das mehrere Bedeutungen hat: unbe-rührt, unangetastet, unversehrt, unverletzt, unge-schwächt, frisch, gesund, unvermindert, unge-schmälert, vollständig, ganz, noch unerledigt, un-entschieden, vollständig, ganz, noch freistehend,unverdorben, unbefleckt, lauter, unschuldig, unbe-stochen, redlich, unparteilich.

Etymologie (Herkunft): Wie das lateinischeWort intactus, stammt das ebenfalls lateinischeWort integer von tangere (berühren). Integer kannin erweitertem Sinn aber auch heißen: nicht ver-letzt (trotz eventueller Berührung).

Der Begriff Integrität kann sowohl auf den Kör-per, die Psyche (Geist) als auch auf den seelischenAspekt angewendet werden. Eine sichere Abgren-zung unseres Seins von der potenziell schädigen-den oder auch tödlichen Umwelt ist die Vorausset-zung für einen ungestörten Ablauf aller Körper-funktionen und der seelischen und psychischenStabilität. Ihr Verlust wirkt sich auf das mensch-liche Sein in jedem Fall negativ aus. Das obersteZiel eines jeglichen Organismus ist die Bewahrungoder Wiederherstellung seiner Unversehrtheit aufallen Ebenen. Versuchen wir uns vorzustellen, wieviele schädigende Einflüsse auf die Integrität unse-rer Grenzflächen, also auf das Haut- und Schleim-hautorgan als Ganzes es gibt. Schnell fallen uns In-

fektionen ein. Doch weitaus wichtiger ist der Blickauf Fehlernährung, chemische Substanzen in Luft,Wasser und Nahrung, Genussgifte, chemisch-phar-mazeutische Medikamente und vor allem Dis-stress. Diese Einflüsse können auch zu Verände-rungen in der Zusammensetzung und Anzahl derlebensnotwendigen, physiologischen Mikrobiotaund des mikrobiellen Milieus im Schleimhaut-organ führen. Die Folgen hier sind vielschichtigund bis jetzt nur im Ansatz verstanden. Sie reichenvon der Störung oder dem Zusammenbruch dermikrobiellen Schutzfunktion (Kolonisationsresis-tenz) bis hin zu gravierenden Beeinträchtigungender Regulationsfähigkeit unserer Körperfunktio-nen. Ist diese Funktionalität der Schleimhaut-grenzfläche erst einmal aufgehoben, sind, von hierausgehend, Störungen sämtlicher Organe denkbar,bis hin zu Ausfällen der Organfunktionen z. B. vonLeber, Niere, Nerven- und Immunsystem.

Nun wird schnell klar, mit welch immensen Auf-gaben – und auch Handicaps! – das menschlicheImmunsystem und die übrigen Regulationssyste-me des Körpers sich permanent beschäftigen undauseinandersetzen müssen.

Ein „Zuviel“ an Störfaktoren, an Belastungenund Schädigungen kann mit Sicherheit irgend-wann nicht mehr „weggesteckt“ werden. Der be-rühmte „Tropfen zu viel“ führt zwangsläufig zumÜberlaufen des Fasses, und zwar zu einer Erschöp-fung der körperlichen und psychischen Ressourcenund zum Zusammenbruch der normalen Regulati-ons- und Kompensationsfähigkeit. Damit ist dieVoraussetzung für die Entwicklung von Krankheitgegeben.

1.4

Gesundheit und Krankheit, einsteter Prozess

Gesundheit gilt den meisten Menschen als höchs-tes Gut. Sie wird vielen, aber nicht allen Menschenin die Wiege gelegt und daher oft als etwas Selbst-verständliches angesehen. Solange der Mensch ge-sund ist, macht er sich nur selten Gedanken darü-ber, dass dieses Geschenk auch verloren gehenkönnte. Tritt dieser Fall ein, entsteht also Krank-heit, dann wird den meisten Menschen oft erst-

1 – Einführung

22

malig deutlich, welch einen unschätzbaren Wertein Leben in Gesundheit darstellt. Sucht man nacheiner Definition von „Gesundheit“, findet mansehr unterschiedliche Aussagen:

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) formu-liert:

Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen, kör-perlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindensund nicht nur das Fehlen von Krankheit und Ge-brechen.

Der Theologe Hans Grewel schreibt:

Wir verstehen Gesundheit als die Bereitschaft undFähigkeit und Kraft, mit den Begrenzungen oderStörungen oder Schädigungen zu leben, das heißt,den durch sie umgrenzten Horizont an Lebens-möglichkeiten auszuloten, zu erproben und „ein-zuüben“. [99]

Wer jetzt aber glaubt, die Medizin habe einen na-turwissenschaftlich klaren Gesundheitsbegriff, derirrt. Wir finden keine Definition des Begriffs „Ge-sundheit“, die nicht gleichzeitig in Bezug zumKrankheitsbegriff steht.Demgegenüber wird diesem eine erheblich grö-

ßere Bedeutung zugeschrieben. Ganz allgemeinwird formuliert:

Krankheit ist die Störung des statistisch normalenFunktionierens eines Organismus entsprechendden Umweltansprüchen dieser Art.

Insbesondere die Medizin ist seit Jahrhundertenbestrebt, den allgemeinen Begriff „Krankheit“ ein-deutig zu definieren und abzugrenzen. Dabei hatsie sich mit den unterschiedlichsten Krankheits-bildern („Erkrankungen“) auseinanderzusetzen. Inder täglichen Praxis wird im Allgemeinen eine Zu-ordnung von konkreten Beschwerdebildern zuebenso konkreten Krankheitsentitäten (Diagno-sen) angestrebt, woraus dann sowohl eine thera-peutische Strategie als auch administrative undökonomische Rahmenbedingungen abgeleitetwerden. Besonders deutlich wird das an der Inter-nationalen statistischen Klassifikation der Krank-heiten und verwandter Gesundheitsprobleme(ICD10 – SGB V). Der Plural „Krankheiten“ ist je-

doch irreführend, da es im Gegenzug auch keine„Gesundheiten“ gibt! Er ergibt sich aus dem Be-mühen, verschiedene Störungen organbezogen zubeschreiben. In der Folge ergibt sich daraus ein al-lein organbezogener Behandlungsansatz. Damitwird die Komplexität der zusammenhängendenRegulationsprinzipien des Organismus jedochnicht berücksichtigt. Denn nur selten gibt es iso-lierte Störungen einer Zelle, eines Zellverbandesoder Organs. Vielmehr führen die unterschiedli-chen auslösenden „Schädlichkeiten“ (Infektions-erreger, Fehlernährung, Disstress, Verletzungen,Vergiftungen etc.) zu Antworten auf verschiede-nen Ebenen des Organverbundes eines Menschen.

Mit diesen Definitionen von Gesundheit undKrankheit wird auch die tatsächliche Bedeutungdieser Begriffe für den Einzelnen nicht berücksich-tigt. Wenn sich ein Mensch „krank“ fühlt oder be-reits eine Krankheit diagnostiziert wurde, sprichtman von einem Patienten. Die geäußerten Be-schwerden werden dann bestimmten Krankheits-bildern zugeordnet. Oft kommt es aber vor, dasseine Diagnose allein auf der Basis von Laborbefun-den gestellt wird. Kann man diese Menschen dannauch bereits als „Patienten“ bezeichnen? Andersgefragt: Ab wann ist ein Mensch krank? Bereitslange vor dem Auftreten von bewusst wahr-genommenen Krankheitssymptomen finden imKörper Regulations- und Heilungsversuche statt.Sind diese bereits als Krankheit zu werten, obwohl„der Patient“ sie nicht bewusst empfindet? DieÜbergänge zwischen Gesundheit und Krankheitsind fließend. Daher verwendet man auch Begriffewie „Befindlichkeitsstörung“, womit Einschrän-kungen des leiblichen und/oder seelischen Wohl-befindens gemeint sind, ohne dass messbare bzw.definierte Krankheitsbilder vorliegen müssen.Hinter dem Begriff „Krankheit“ verbirgt sich alsoein „Eisberg“ an Adaptations- und Regulationsver-suchen, der sich einer bewussten Wahrnehmunglange entzieht. Erst wenn die Adaptationsfähigkeitnicht mehr ausreicht und die Regulation zusam-menbricht, wird der Symptomenkomplex desKrankheitsbildes als „Spitze des Eisberges“ wahr-genommen.

Der Soziologieprofessor Aaron Antonovsky, USA,äußerte sich so:

1.4 Gesundheit und Krankheit, ein steter Prozess

Einfüh

rung

23

Jeder Mensch bewegt sich auf einem Kontinuumund ist damit nicht entweder gesund oder krank,sondern immer im Prozess wieder in die Gegen-richtung, also „gesund“. Je nachdem, ob diese Re-gulationen die Bewusstseinsschwelle erreichenoder nicht, nimmt der Patient von diesen Zu-standsänderungen seines Organismus eventuellgar nichts wahr. Solange der Körper über genü-gend regulative Ressourcen und Kompensations-fähigkeit verfügt, scheinen wir uns in einer steten,positiven Fluktuation zu befinden, deren Richtungim Falle einer Störung immer hin zum Normalengelenkt ist.

1.5

Salutogenese

Wie kann es nun sein, dass manche Menschen aufidentische oder ähnliche Störpotenziale mit derEntwicklung von „Krankheit“ reagieren, andereaber nicht? Sie scheinen sich im Störfall in ihremFließgleichgewicht nicht in Richtung eines Aus-gleichs, also einer Normalisierung hin zum „Ge-sunden“, zu bewegen, sondern in die falsche Rich-tung – oder sie verharren im jeweilig gestörten Zu-stand –, während ein anderer Organismus hier er-folgreich gegenregulieren und kompensierenkann.

A. Antonovsky beschäftigte sich in den 1970erJahren mit der Frage, welche Eigenschaften undRessourcen den Menschen helfen, unter extremenLebensbedingungen ihre körperliche und psy-chische Gesundheit zu erhalten [18]. Allgemeinerformuliert interessierte ihn, wie Gesundheit ent-steht. Diese Fragestellung sieht er in Ergänzung zupathogenetischen Erklärungsmustern der traditio-

nellen Medizin. Mit dem Begriff der Salutogeneseentwickelte er ein Konzept der Entstehung vonGesundheit.

Antonovsky postulierte die Existenz generali-sierter Widerstandsressourcen, die in erschwertenSituationen aller Art zur Unterstützung der Bewäl-tigung von Stressoren und das durch sie hervor-gerufene Spannungserleben auf allen Ebenen ein-gesetzt werden können.

Antonovsky folgend, haben wir es offenbar mitindividuell verschieden ausgeprägten oder ver-schieden wirksamen Widerstandsressourcen zutun, die im einen Fall zur Wiedererlangung unse-rer Gesundheit, im anderen Fall, z. B. bei gestörterRegulationsfähigkeit, aber zur Entwicklung vonKrankheit führen.

1.5.1 Die Bedeutung genetischer undepigenetischer Einflüsse

In diesem Zusammenhang halten die meistenMenschen, insbesondere aber viele Mediziner, diegenetischen Veranlagungen der einzelnen Indivi-duen für die entscheidende Größe, die „Leben“steuert und reguliert und damit verantwortlich istfür Gesundheit und Krankheit. Gerade bei der Be-wertung möglicher ursächlicher Auslöser der al-lergischen Reaktion findet man in vielen Abhand-lungen immer wieder – neben Umweltfaktoren –

die genetische Disposition der Betroffenen anoberster Stelle genannt. Tatsächlich fällt auf, dassallergisch reagierende Kinder, statistisch belegt, zu52% aus Familien stammen, in denen mindestensein Elternteil vergleichbare Beschwerden hat. Eserkranken aber auch 15% der Kinder, deren Elternkeine Anzeichen einer Reaktionslage erkennen las-sen (▶Abb. 1.2).

1 – Einführung

24

64 %

gesunde Elternteile ein Elternteil erkrankt beide Elternteile erkrankt

15 % 20 %

85 % 80 % 68 %

Anteil gesunder Kinder Anteil erkrankter KinderAnteil Eltern

32 %31 % 5 %

▶Abb. 1.2 Prävalenz atopischerKrankheitsbilder bei familiärerBelastung.

Das Leben in seinen unterschiedlichsten Aus-druckformen hinterlässt Spuren, die nicht zu ver-wischen sind: Die dauerhaftesten sind wohl in denGenen aller Lebewesen gespeichert. Sie enthaltensämtliche Informationen, die nicht nur das Über-leben eines Individuums sichern, sondern auchdas der gesamten Art. Diese natürliche Speiche-rung von „Daten“ ist zunächst weder gut nochschlecht. Die so festgelegten Informationen be-inhalten ebenso Besonderheiten des Phänotypswie auch seine komplexen Regulationsvorgängeauf allen Ebenen (z. B. Stoffwechsel, Hormonhaus-halt, Immunabwehr, Wesenszüge etc.). Unter phy-siologischen Umständen, d. h. bei einer seiner ge-netischen Prägung entsprechenden Lebensweise,greifen diese Systeme synergistisch ineinanderund gewährleisten ein Leben in Gesundheit undIntegrität. Aus der unglaublichen Vielfalt immerneuer Rekombinationen der Gene ergibt sich dieenorme Individualität der menschlichen Spezies.Diese Rekombinationen schließen sowohl günstigewie auch ungünstige Konstellationen ein, die auchvon Lebensbeginn an dem Einzelnen Handicapsunterschiedlicher Ausprägung auferlegen (kön-nen). Diese reichen von leichten Abweichungendes Phänotyps bis zu schweren Regulationsstörun-gen. Somit sind die Konsequenzen, ein weitgehendunbeschwertes Leben führen zu können, für einenMenschen mit einer Zöliakie andere als für einenPatienten mit einer Hämophilie. Das bedeutet fürden Einzelnen, dass die genetische Prägung miteinem Kartenspiel zu vergleichen wäre, mit demder „Spieler“ innerhalb gewisser Regeln seine„Züge“ wählen kann. Die Zusammensetzung sei-ner „Karten“ bestimmt die Grenzen seiner „spiele-rischen Freiheit“. Kurz: Hat man nur „gute Karten“,wird man stets ein Sieger sein. Ein Spieler mit demschlechteren Blatt wird verlieren, wenn erschlecht spielt. Doch wenn er gut spielt, kann erebenso gewinnen! Was dies ausmacht, das „Gut-spielen“, nämlich andere, bedeutsame Einflüsse indie Überlegungen mit einzubeziehen, ermöglichtuns, die komplexen Zusammenhänge des Lebensbesser verstehen zu lernen. Wir brauchen eine er-weiterte Sicht auf das Verständnis genetischer undepigenetischer Regulation von Entwicklungs- undErkrankungsprozessen.

Mit den zunehmend umfassenderen Möglich-keiten der Genforschung hatte man in den letzten

zwei Jahrzehnten gehofft, Krankheitsphänomenebesser verstehen zu lernen, insbesondere be-stimmte Krankheitsbilder den entsprechendenGenorten zuordnen zu können. Das glaubten Wis-senschaftler und auch Laien, bis der damalige US-Präsident Bill Clinton am 26. Juni 2000 das ersteentzifferte Human-Genom vorstellte.

Die damit verknüpften Erwartungen wichengroßer Ernüchterung: Anstatt der erwarteten ca.300000 Gene, die für die Vielfalt aller Eigenschaf-ten und Fähigkeiten des menschlichen Organis-mus verantwortlich sein sollten, fand man ledig-lich zwischen 22000 und 28000 – nicht mehr alsz. B. bei einem Fadenwurm! Dieses Ergebnis wi-derlegte klar die bequeme These des genetischenDeterminismus. Man war fest davon überzeugt ge-wesen, dass mit der Entschlüsselung der geneti-schen Codierungen, also der postulierten Zuor-denbarkeit bestimmter Funktionen und deren Stö-rungen zu bestimmten Genorten für die verschie-densten Krankheitsbilder, der Weg zu einervollständigen Heilung des kranken Organismusgefunden werde. Die größten Hoffnungen der Me-diziner waren wohl auf die Möglichkeit entspre-chender genetisch basierter Therapieformen ge-setzt worden. Mit der Entschlüsselung desmenschlichen Genoms zerschlug sich diese Hoff-nung. Man verfügte nun zwar über einen „Text“mit rund drei Milliarden Buchstabenpaaren ausden vier Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thy-min, doch damit waren die Geheimnisse desmenschlichen Bauplans nicht entschlüsselt.

Die Ergebnisse weitreichender genetischer As-soziationsstudien zu chronisch-entzündlichen Sys-temerkrankungen im Jahr 2014 bestätigten, dasswir nicht von monogen kausalen Zusammenhän-gen ausgehen können [101] [271] [233] [114]. Eszeigte sich vielmehr, dass ein komplexes Zusam-menwirken verschiedener identifizierter Krank-heitsgene und krankheitsassoziierter Regionen be-steht. Dies führt zu mannigfaltigen, nicht vorher-sehbaren Effekten, die wiederum zur Entstehunganderer entzündlicher und nicht entzündlicher Er-krankungsbilder führen können. Diese pathophy-siologischen „Brücken“ zwischen scheinbar völligverschiedenen Krankheitsbildern wurden im kli-nischen Alltag der konventionellen Medizin bis-lang nicht erkannt. Ein Beispiel hierfür wären die

1.5 Salutogenese

Einfüh

rung

25

1 – Einführung

26

Komorbiditäten im Zusammenhang mit der glu-tensensitiven Enteropathie (S.141).

Außerdem ist inzwischen klar geworden: Genesteuern nicht nur, sondern sie werden auch ge-steuert! Weitere, schwer kalkulierbare Faktorenfür das Auftreten von Krankheit bzw. die Vorher-sage bestimmter Krankheitsverläufe sind nämlichdie vielfältigen epigenetischen Einflüsse, die per-manent auf uns Menschen einwirken. Unter Epi-genetik versteht man die Genaktivität auf zell-und gewebespezifischer Ebene. Durch verschiede-ne Aktivitätszustände von Steuersequenzen (z. B.Promotor- und Suppressorgene) können große Ge-nomabschnitte „stumm“ oder „aktiv“ geschaltetwerden. Epigenetische Codierungen sind jedochvariabel und können sich situativ, z. B. umwelt-und entwicklungsabhängig, ändern. Mit einembesseren Verständnis dieser Einflussgrößen, die zuVeränderungen epigenetischer Konstellationenführen, öffnen sich andere Wege, Krankheitsent-stehung und -verläufe zu beeinflussen.

: FazitDas bedeutet zusammenfassend, dass die Ausprä-gung bestimmter Merkmale im individuellen Phäno-typ ein Ergebnis hochkomplexer Wechselwirkungenist, an denen DNS, RNS, Proteine und Zellplasma so-wie weitere multiple, schwer berechenbare Größenaus der Umwelt des Individuums beteiligt sind. DieGenetik von Systemerkrankungen ist also entspre-chend nur selten monogen kausal, sondern vielmehrhochkomplex systemisch verschaltet und reguliert.Nimmt man die Syndrome chromosaler Defekte bei-seite, sind die individuellen genetischen Veranlagun-gen als Risiko anzusehen, nicht als Schicksal. Das seitLangem etablierte organzentrierte Krankheitsver-ständnis ist auf der Grundlage dieser Erkenntnissenicht mehr haltbar.

Diese neuen Erkenntnisse zeigen deutlich, dass an-statt der bislang angenommenen krankheitsspezi-fischen, genetischen Kausalitäten vielmehr eineVielzahl sehr unterschiedlicher Größen das Vor-handen- und Verfügbarsein unserer Widerstands-ressourcen bestimmt. Dies verdeutlicht der Begriffder individuellen menschlichen Resilienz. Auchdieser Begriff dehnt sich auf alle Ebenen unseresSeins aus. Und hier kommen unweigerlich wiederdie Gedanken zur Integrität unseres Menschseinsins Spiel.

1.5.2 Resilienzbestimmende Faktoren

Eine erfolgreiche Abgrenzung unseres Selbst (ei-gen) gegenüber der Umwelt (fremd) stellt die un-bedingte Grundvoraussetzung für die Gesamtheitund volle Funktionsfähigkeit aller Widerstandsres-sourcen dar. Dabei geht es genauso um die psy-chische Integrität wie um die Oberflächen desmenschlichen Organismus in ihrer Funktion alsGrenzfläche. Hier sollte sich das Augenmerk ins-besondere auf den größten Bereich richten: dieSchleimhaut. Die innere Grenzschicht zur Umwelthat eine Fläche von ca. 600–800 m2 und über-nimmt vielfältige Aufgaben.

Als zusammenhängender Gewebeschlauchdurchzieht das Schleimhautorgan den Menschenvon der Mundhöhle bis zum After und kleidetauch die Nasennebenhöhlen, die Lunge und denUrogenitalraum mit einer Schutzschicht aus. Über-all muss die Unversehrtheit des Organismus ge-genüber der Umwelt geschützt werden. Rein phy-sikalisch wäre diese Aufgabe nicht problematisch,wenn man an evolutionäre Lösungen wie einenSchildkrötenpanzer denkt. Wir dürfen jedochnicht vergessen, dass die größte Grenzfläche desmenschlichen Organismus gleichzeitig auch derOrt des innigsten Kontaktes, des Stoff- und Infor-mationsaustausches mit der Außenwelt ist. Einund dasselbe Organ scheint hier mit der Bewälti-gung zweier völlig gegensätzlicher Grundprinzi-pien die Quadratur des Kreises zu beherrschen.Diese Gedanken über völlig Selbstverständlicheswirken in ihrer Einfachheit trivial, doch sie ma-chen deutlich, wie außerordentlich wichtig das zu-verlässige Differenzieren von Resorption und Aus-scheidung, Toleranz und Abwehr, Durchlässigkeitund Barriere an dieser Stelle ist. Wir haben es mithochselektiven, komplex regulierten Grenzflä-chenfunktionen zu tun. Und bei noch genauererBetrachtung wird schnell klar, dass diese oben-drein nur zum Teil „körpereigen“ sind. Die lebens-notwendige physiologische Mikrobiota, zwingendzum Menschen gehörend, ist als zweiter Teil unse-res biologischen Systems eine weitere, allenfallsansatzweise verstandene Größe für die oben be-schriebene Salutogenese. In Anbetracht dieserKomplexität wird deutlich, wie fragil solch ein Sys-tem grundsätzlich ist und dass eine unglaublicheVielzahl potenzieller Störungen hier ihren Ausgangnehmen kann. Bedenken wir allein die bisher be-

kannten Funktionen und regulativen Prozesse, diemit dem Schleimhautorgan zusammenhängen,kann die Integrität und damit volle Funktions-fähigkeit der riesengroßen, größtenteils nur weni-ge Mikrometer dünnen Grenzfläche mit Sicherheitals ein ausschlaggebender Faktor für erfolgreicheResilienz oder eben Entwicklung von Krankheitangesehen werden.

Wir wissen, dass bereits intrauterin die Wei-chen für die ungestörte Entwicklung all dieserAufgaben und Fähigkeiten gestellt werden. Schonin diesem Zeitraum innigster Gemeinschaft mitder Mutter – die aber auch hier Eigenschaften aus-zeichnet, die prinzipiell beide Individuen klar von-einander abgrenzt! – wird in vielen Aspekten überdie spätere Konstitution und Fähigkeit zur Resi-lienz des Kindes entschieden. Die Einflüsse gehenweit über die bekannten Nebenwirkungen vonMedikamenten, Alkohol und Drogen hinaus! DieVermutung, dass das intrauterin heranwachsendeKind z. B. durch die gestörte Immunitätslage einerallergisch reagierenden Mutter bereits gestörtwird, konnte durch aktuelle molekularbiologischeUntersuchungen bestätigt werden. Daran wirdwiederum deutlich, dass nicht nur den geneti-schen und epigenetischen Einflüssen ein hoherStellenwert bei der Entstehung atopischer Krank-heitsbilder zukommt, sondern gerade auch denbesonderen Umstände während der Schwanger-schaft. Genauso wichtig ist die Situation der Ge-burt, die die Basis für eine physiologische Besied-lung mit Mikroorganismen des Neugeborenendarstellt. Dasselbe betrifft die anschließende Neo-natal- und Säuglingsphase, in der Organe und Kör-perfunktionen erst vollständig ausreifen. Daskindliche Immunsystem und die Grenzflächen-funktionen des Schleimhautorgans, allen vorander Darm, sind am Lebensanfang selbstverständ-lich genauso unreif, wie der gesamte Säugling unsrein äußerlich erscheint! Für die weitere ungestör-te Entwicklung ist die ausschließliche Ernährungdes Säuglings mit Muttermilch von der Natur vor-gesehen. Zu früh verabreichte Lebensmittel nichthumanen Ursprungs führen an der unreifenGrenzfläche mindestens zu Irritationen der Ver-dauung, wenn nicht zu erheblich weitreichende-ren Folgen, auf die später genauer eingegangenwird. Gerade das Stillen ist hier eine entschei-dende Größe für den Aufbau der mukosalen/ora-

len Toleranz. Nur so kann sich das Zusammenspielder Regulationssysteme entwickeln und könnendamit optimale Bedingungen für das „Training“des Immunsystems geschaffen werden: die Ent-wicklung der sog. mukosalen (synonym ge-braucht: oralen) Toleranz, des lebenswichtigenUnterscheidens von „fremd“ und „eigen“, von „ge-fährlich“ und „harmlos, somit tolerabel“.Nicht gestillte Kinder haben damit ein erstes

„Handicap“. Nicht nur, dass ihnen das in der Mut-termilch enthaltene sekretorische ImmunglobulinA (sIgA) vorenthalten bleibt, sie müssen sich auchmit artfremder Nahrung auseinandersetzen, dieauch nach bester Aufbereitung ungleich schlechterverdaut wird als Muttermilch oder/und zu einerfrühzeitigen Sensibilisierung, also Initiierung einerAbwehrreaktion auf artfremde Proteinstrukturen,führt (Kap. 7.2).

Durchschnittlich „normale“, reale Situationenam und um den Lebensanfang herum können wirnach diesen Überlegungen nun differenzierter be-trachten. Das betrifft u. a.● Krankheit der Mutter während der Schwanger-

schaft● Einnahme von Medikamenten oder Genuss-

giften (Nikotin, Alkohol, Drogen)● perinatale Medikationen, z. B. Antibiotika,

Wehenhemmer u. a.● Kaiserschnittentbindung● Infektionen von Mutter und Kind● ausbleibendes Stillen und damit zu frühe

Gabe von Fremdnahrung

Wenn sich also während der Perinatalperiode einegravierende oder mehrere solcher Störungen erge-ben, wird das für die nachfolgende Zeit Auswir-kungen auf den Säugling haben müssen. Der Ver-lauf der Immunogenese ist damit von vornhereinmit einem „Handicap“ versehen. Die im weiterenHeranwachsen folgende selbstständige Auseinan-dersetzung des kindlichen Organismus mit denverschiedensten Störpotenzialen (wie z. B. patho-gene Mikroorganismen, Fremdnahrung, potenziellschädigende Luft- und Wasserbestandteile, Medi-kamente, „passives Rauchen“, Arzneimittel etc.)wird dann entsprechend unterschiedlich verlau-fen.

1.5 Salutogenese

Einfüh

rung

27

: FazitDie beschriebenen prinzipiellen Überlegungen zur Un-versehrtheit körperlicher Grenzflächen und der Ent-wicklung unterschiedlicher Resilienzfaktoren auf derGrundlage der Salutogenese nach A. Antonowski un-terstreichen, dass „Krankheit“ nicht unbedingt aufdas subjektive Krankheitsempfinden reduziert werdendarf, das die Lebensqualität des jeweiligen Menschenbeeinflusst. Bereits längere Zeit vor dem Auftretenwahrnehmbarer Beschwerden kommen, je nach ge-netischer Prädisposition und epigenetischen Einflüs-sen, als Reaktion auf nicht physiologische Umwelt-und Lebenseinflüsse, eine Reihe regulatorischer Vor-gänge in Gang. Diese können wiederum, je nach ge-netischer Prädisposition, für eine Zeitspanne kompen-

siert werden. Bei Weiterbestehen dieser nicht physio-logischen Einflüsse (individuelle Fehlernährung, Life-style, Disstress, Toxine, Störungen des Milieus etc.)wird es später unweigerlich zu Manifestationen vonKrankheit kommen. In den folgenden beiden Kapiteln(Kap. 3, Kap. 4) wird genau auf die anatomischen undphysiologischen Grundlagen eingegangen. Damitwird ein Verständnis des komplexen Ineinandergrei-fens grundsätzlicher Faktoren und verschiedenerEffekte möglich, die schließlich zu einer Dekompensa-tion der Regulation und Entwicklung von Krankheitführen können. Diese sind Themen der Kap. 5,Kap. 6, Kap. 7, Kap. 8, Kap. 9 und Kap. 10.

1 – Einführung

28

Teil 2Die allergische Reaktion –systemische Sichtweise

2 Einführende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

3 Ein Ganzes – das Schleimhautorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

4 Grundzüge immunologischer Reaktionsprinzipien . . . . . . . 46

5 Der Mensch – eine symbiontische Lebensgemeinschaft . . . 61

6 Der biologische Limes: intakte Grenzflächen als Voraus-

setzung für das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

7 Aus dem Gleichgewicht gebracht – Einfluss verschiedener

Faktoren auf Grenzfläche, Mikrobiota und immunologische

Balance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

8 Inflammation (Entzündungsreaktion): ein Rettungsversuch 163

9 Endstation: die allergische Reaktion aus systemischer Sicht 164

10 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181