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 52 THEMEN  |  Zusammenbruch in der Provinz S e b as t i a n  S t u d e ,  ge  b.  l  9  7  9  ;  S  t  u  di  u  m de  r  Ne  ue  re  n  /  Ne  ue  s  te  n  G e  sc  hic  h  te,  P  o  li  ti  k  wi  s  se  n  sc  h  a  f  t  u  n  d  P  hi  l  o  s  o  p  hie  a  n  de  r  M  a  r  ti  n  -  L  u  t  he  r  -  U  ni  ve  r  si  t  ä  t  H  a  l  le  -  Wi  t  te  n  be  r  g  u  n  d  de  r  H  u  m  b  o  l  d  t  -  U  ni  ve  r  si  t  ä  t z  u  Be  r  li  n  ;  M.  A.  hi  s  t.  ;  se  l  b  s  t  s  t  ä  n  di  ge  r  Hi  s  t  o  ri  ke  r  ;  A  u  s  -  s  te  l  l  u  n  g  s  p  r  oje  k  t "  P  ri  t  z  w  a  l  k  l  9  8  9.  Die  f  rie  d  lic  he  Re  v  o  l  u  ti  o  n i  n  de  r  b  r  a  n  de  n  -  b  u  r  gi  sc  he  n  P  r  o  vi  n  z". Der Kreis Pritzwalk gehörte seit der DDR-  Ver walt ung sre form im Jahr 1952 zum Bezirk Potsdam und lag auf halber Stre- cke zwischen Berlin und Rostock. 1  Im Jahr 1989 lebten hier rund 32 000 Einwohner,  vor allem in d er gleichnami gen Krei sstadt und den beiden kleineren Städten Putlitz und Meyenburg. 2  Der Kreis Pritzwalk war stark durch die Landwirtschaft geprägt.  Von den rund 17 000 berufstätige n Pritz-  walker n arbei tete n knapp 7 400 in der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft. Der  bede uten dste Indu stri ebet rieb im Kreis  war der VEB Zahnradwerk Pritzwalk, der zum Magdeburger Kombinat Getriebe und  Kupplungen  gehörte. Zu Jahresbeginn 1989 arbeiteten rund 1 400 Menschen im Zahn- radwerk. Insgesamt gab es knapp 2 500 Industriearbeiter im Kreis. 3 Die SED-Bezirksparteiorganisation Potsdam zählte Ende des Jahres 1988 mehr als 100 000 Mitglieder und Kandidaten. 1 Rolf Rehberg / Wolfgang Simon: Illustrierte Geschichte Pritzwalks, Pritzwalk 2006, S. 153. 2 Vorlage für das Sekretariat der SED-Kreisleitung Pritzwalk vom 1. Februar 1989, BLHA, Rep. 531, Nr. 1070 Pritzwalk, o. Pag. 3 Entwurf Jahres- und Haushaltsplan 1990 des Kreises Pritz- walk vom 26. Juli 1989, Kreisarchiv Prignitz, Sitzungsproto- kolle des Rates des Kreises Pritzwalk, A 00963, o. Pag. Sebastian Stude Zusammenbruc h in der Provinz Krise und Revolution im Kreis Pritzwalk Mit rund 2 700 Mitglie- dern und Kandidaten war die SED-Kreisparteior- ganisation Pritzwalk die zweitkleinste im damaligen Bezirk Potsdam. 4  Rund 30 hauptamtliche Mitarbeiter der MfS-Kreisdienststelle Pritzwalk und mehr als 200 inofzielle Mitarbeiter (IM) sollten den Führungs- anspruch der SED vor Ort absichern. Tatsächlich gab es im Kreis damals keine entwickelte Friedens-, Umwelt- und Menschen- rechtsbewegung. Auch gab es in Pritzwalk zu Jahresbe- ginn 1989 mit 25 Personen  ve rg le ic hs we is e we ni ge  Antra gste ller auf ständ ige  Au sr ei se . 5  Die Aussage eines damaligen Sekretärs der SED-Kreisleitung: „Wir hatten in dieser Hinsicht die  wenigsten Probleme. Es gab hier nicht viele Dinge, die politisch anrüchig waren.“ 6  ist aus seiner Perspektive deshalb wohl zutreffend. Trotz dieser eher unauf- fälligen Ausgangssituation  Anfa ng des Jahre s 1989 erreichte die friedliche Revolution auch den Kreis Pritzwalk. 4 BLHA, Rep. 530, Nr. 7976, o. Pag. 5 Monatsbericht des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Pritzwalk an den 1. Sekretär der SED- Bezirksleitung Potsdam vom 16. Januar 1989, BLHA, Rep. 530, Nr. 7647, o. Pag. 6 Interview mit einem damaligen Sekretär der SED-Kreisleitung vom 19. Juni 2009.

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5/10/2018 Artikel Sebastian Stude - slidepdf.com

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52 T h e m e n | Z u s a b r u c i d r P r o v i z

Seb as t i a n   S t u de , 

 ge b.  l 9 7 9 ;  S t u di u m  de r  Ne

 ue re n / Ne ue s te n 

 G e sc hic h te,  P o li ti k wi s s

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i n  de r  b r a n de n - 

 b u r gi sc he n  P r o vi n z".

Der Kreis Pritzwalk gehörte seit der DDR-  Verwaltungsreform im Jahr 1952 zumBezirk Potsdam und lag auf halber Stre-cke zwischen Berlin und Rostock.1 Im Jahr

1989 lebten hier rund 32 000 Einwohner, vor allem in der gleichnamigen Kreisstadtund den beiden kleineren Städten Putlitzund Meyenburg.2 Der Kreis Pritzwalk warstark durch die Landwirtschaft geprägt.

 Von den rund 17 000 berufstätigen Pritz-  walkern arbeiteten knapp 7 400 in derLand- und Nahrungsgüterwirtschaft. Der

  bedeutendste Industriebetrieb im Kreis war der VEB Zahnradwerk Pritzwalk, derzum Magdeburger Kombinat Getriebe und 

 Kupplungen gehörte. Zu Jahresbeginn 1989

arbeiteten rund 1 400 Menschen im Zahn-radwerk. Insgesamt gab es knapp 2 500Industriearbeiter im Kreis.3

Die SED-BezirksparteiorganisationPotsdam zählte Ende des Jahres 1988 mehrals 100 000 Mitglieder und Kandidaten.

1 Rolf Rehberg / Wolfgang Simon: Illustrierte Geschichte

Pritzwalks, Pritzwalk 2006, S. 153.

2 Vorlage für das Sekretariat der SED-Kreisleitung Pritzwalk

vom 1. Februar 1989, BLHA, Rep. 531, Nr. 1070 Pritzwalk,

o. Pag.

3 Entwurf Jahres- und Haushaltsplan 1990 des Kreises Pritz-

walk vom 26. Juli 1989, Kreisarchiv Prignitz, Sitzungsproto-

kolle des Rates des Kreises Pritzwalk, A 00963, o. Pag.

S e b a s t i a n S t u d e

Zusammenbruch in der

ProvinzKr is ud Rvolut io i Kr is Pr i tzwalk 

Mit rund 2 700 Mitglie-dern und Kandidaten wardie SED-Kreisparteior-ganisation Pritzwalk die

zweitkleinste im damaligenBezirk Potsdam.4 Rund 30hauptamtliche Mitarbeiterder MfS-KreisdienststellePritzwalk und mehr als200 inofzielle Mitarbeiter

(IM) sollten den Führungs-anspruch der SED vor Ortabsichern. Tatsächlich gabes im Kreis damals keineentwickelte Friedens-,Umwelt- und Menschen-

rechtsbewegung. Auch gabes in Pritzwalk zu Jahresbe-ginn 1989 mit 25 Personen

  vergleichsweise wenige  Antragsteller auf ständige Ausreise. 5 Die Aussageeines damaligen Sekretärsder SED-Kreisleitung: „Wirhatten in dieser Hinsicht die

 wenigsten Probleme. Es gabhier nicht viele Dinge, diepolitisch anrüchig waren.“6 ist aus seiner Perspektive

deshalb wohl zutreffend.Trotz dieser eher unauf-

fälligen Ausgangssituation  Anfang des Jahres 1989erreichte die friedlicheRevolution auch den KreisPritzwalk.

4 BLHA, Rep. 530, Nr. 7976, o.

Pag.

5 Monatsbericht des 1. Sekretärs

der SED-Kreisleitung Pritzwalk

an den 1. Sekretär der SED-

Bezirksleitung Potsdam vom 16.

Januar 1989, BLHA, Rep. 530,

Nr. 7647, o. Pag.

6 Interview mit einem damaligen

Sekretär der SED-Kreisleitung

vom 19. Juni 2009.

5/10/2018 Artikel Sebastian Stude - slidepdf.com

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53h o r c u d G u c k 1 / 2 0 1 0 | h f t 6 7

Die Krise auf dem Land

 Wie gravierend die wirtschaftlichen Pro-  bleme im Jahr 1989 im Kreis Pritzwalk 

 waren, zeigen verschiedene Beispiele. Viel-leicht am drängendsten war in Pritzwalk die „Lösung der Wohnungsfrage als sozia-les Problem“ – wie es ofziös in der DDR 

hieß. Laut Angaben des Rates des KreisesPritzwalk hatten Mitte des Jahres 1989mehr als einhundert Familien keine eigene

 Wohnung und ebenso viele Familien lebtenin zu kleinen Wohnungen.7 Beispielhaft istdas Wohnungsproblem einer Pritzwalke-rin, das diese im September 1989, kurz vorBegin der Heizperiode, in einem Brief an die

damalige Bürgermeisterin schilderte. Dieanfängliche Freude der alleinerziehendenFrau mit drei Kindern über die ihr zuge-teilte Neubauwohnung war schnell vero-gen, als sie feststellte, dass in der 2 ½ Zim-merwohnung nur die Heizung in der Küchefunktionierte. Wegen fehlender Heizkörperkonnte die Kommunale Wohnungsverwal-tung in Pritzwalk die defekten Heizkörperim Wohn-, Kinder- und Schlafzimmer nichtaustauschen. Deshalb musste die Pritzwal-kerin mit ihren drei Kindern von 1986 bis

in den Herbst 1989 in ihrer Wohnung fastohne Heizung auskommen.8

  Angesichts der sich Ende der achtzi-ger Jahre zuspitzenden Wirtschaftskrisein der gesamten DDR verwaltete der Ratdes Kreises Pritzwalk oftmals nur nochden Mangel. Die Gemeinden meldeten seitJahresanfang 1989 unter anderem, dass imÖrtchen Preddöhl die Technik der Freiwilli-gen Feuerwehr seit Monaten nicht einsatz-fähig war. In der Gemeinde Telschow lief die Jauchegrube der örtlichen LPG über,

 weil diese nicht geleert wurde. Der Inhalt

ergoss sich über die Dorfstraße In derGemeinde Jännersdorf besaßen die Stall-anlagen gleich gar keine Kläranlagen undgefährdeten damit die örtliche Trinkwas-serversorgung. Über solche und ähnlicheBeschwerden führte der Rat des KreisesPritzwalk detailliert Statistik. Diese Statis-tik besagt, dass die Pritzwalker vor allemüber Fragen des Wohnungswesens, des

  Verkehrs- und Nachrichtenwesens sowie

7 Information der Kreisplankommission beim Rat des Kreises

Pritzwalk gegenüber dem Sekretariat der SED-Kreisleitung

Pritzwalk vom 1. Juni 1989, BLHA, Rep. 531 Pritzwalk, Nr.

1075, o. Pag.

8 Beschwerdeakten Wohnungswesen bzw. kommunale Be-

schwerden, 1986-1990, Stadtarchiv Pritzwalk, A 435, o.

Pag.

über Handel und Versorgung beschwerten. Vor allem über die schlechte örtliche Ver-sorgung mit Fleisch- und Wurstwaren, Diä-tartikeln, Ersatzteilen und Industriewaren

– insbesondere Textilien.9 Sogar die Kreis-Hygieneinspektion kam im Sommer 1989zu dem Schluss: „Die Anlieferung von Obstund Gemüse an den Handel und Küchenist zeitweise in sehr schlechter Qualität, sodass der Handel dieser Waren für den Ver-

 braucher eine Zumutung darstellt.“10

Weitere Kürzungen

Im völligen Gegensatz zu den alltäglichenProblemen und Missständen vor Ort hieß

es in einem internen Papier des Sekreta-riats der SED-Kreisleitung Pritzwalk vomJanuar 1989: „Während das Jahr 1989 inden kapitalistischen Ländern von Krisener-scheinungen, sinkenden Wachstumsraten,zunehmender Arbeitslosigkeit und damiteinhergehender Armut gekennzeichnetist (...) markieren unsere Pläne kontinu-ierliches Wirtschaftswachstum.“11 Dabeimusste die Pritzwalker SED-Führungseit dem Sommer 1989 fortlaufend gegenSchwierigkeiten bei der Ernte ankämpfen.

Im Kreis fehlten Ersatzteile für die Ernte-technik, Dieseltreibstoff und Pugschare

– was für die landwirtschaftlich geprägteGegend eine Katastrophe war.12

Bereits im Februar 1989 hatte derRat des Kreises Pritzwalk an den Rat desBezirkes Potsdam berichtet: „Durch dieInitiative des Rates des Kreises wurdenMaterialreserven unter immer schwieriger

  werdenden Bedingungen innerhalb undaußerhalb des Kreises erschlossen und

  besondere Aktivitäten entwickelt.“13 Vonder SED-Führung in Potsdam konnte Pritz-

  walk wegen der allgemeinen wirtschaft-lichen Krise in der DDR aber keine Hilfeerwarten. Im Gegenteil, es gab weitere Ein-schnitte: Zu Sommerbeginn 1989 kürzte

9 Jahreseingabeanalyse 1989, Sitzungsprotokoll vom 24.

Januar 1990 des Rates des Kreises Pritzwalk, Kreisarchiv

Prignitz, A 00976, o. Pag.

10 Schreiben der Kreis-Hygieneinspektion Pritzwalk vom 19.

Juli 1989, Kreisarchiv Prignitz, Altbestand Kreisarchiv Pritz-

walk 1295, o. Pag.

11 Vorlage für das Sekretariat der SED-Kreisleitung Pritzwalk

vom 27. Januar 1989, BLHA, Rep. 531 Pritzwalk, Nr. 1070,

o. Pag.

12 Monatsbericht des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Pritz-

walk an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Potsdam

vom 18. Juli 1989, BLHA, Rep. 530, Nr. 7653, o. Pag.

13 Berichterstattung vom 8. Februar 1989, Sitzungsprotokoll

des Rates des Kreises Pritzwalk vom 8. Februar 1989, Kreis-

archiv Prignitz A 00951, o. Pag.

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5/10/2018 Artikel Sebastian Stude - slidepdf.com

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54 T h e m e n | Z u s a b r u c i d r P r o v i z

der Rat des Bezirkes das Jahreskontingentfür Speiseeis für den Kreis Pritzwalk von120 Tonnen auf 15 Tonnen. Auf Grund vonKürzungen der Potsdamer Bezirkspostdi-

rektion erhielten seit dem Frühjahr 1989außerdem beinahe 80 Pritzwalker Familientrotz gültigem Abonnement keine „Mär-kische Volksstimme“ – der einzigen Tages-zeitung mit einem Pritzwalker Lokalteil.14

Mit Abschluss der Ernte im Sommer1989 setzte im Kreis Pritzwalk weitereErnüchterung ein. Durch Trockenheit undtechnische Ausfälle waren weniger als90 Prozent der geplanten Getreideernteerreicht worden. Auch die Industriebetriebehatten zum September 1989 im Durch-

schnitt den Nettogewinn nur mit 70 Prozentzum Plan erfüllt. Zuder noch am Jahresan-fang 1989 in der „Mär-kischen Volksstimme“

  versprochenen Verkür-zung der Wartezeiten

  bei Pkw-Reparaturenhieß es im September1989 durch den Vorsit-zenden des Rates desKreises Pritzwalk: „Kri-

tisch zu werten ist, dasskeine entscheidendeReduzierung der Warte-zeiten bei Trabant und

 Wartburg, insbesondereinfolge der nicht ausrei-chenden Bereitstellung

  von Kfz-Ersatzteilenerreicht wurde.“15

 Wie ausgeprägt diegesellschaftliche Kriseund die Unzufriedenheit der Menschen inder DDR kurz vor deren 40. Jubiläum im

Oktober 1989 waren, zeigte der Verlauf einer Stadtverordnetenversammlung inder Kreisstadt Pritzwalk Ende September1989. Als feierliche Tagung geplant, kames immer wieder zu kritischen Wortmel-dungen. Verschiedene Stadtverordnete

 bemängelten die schlechte Versorgung mitTrinkmilch oder Blumen. Der Direktor derdamaligen „Wilhem-Pieck-Oberschule“in Pritzwalk zeigte sich verärgert, weil die

14 Monatsbericht des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Pritz-

walk an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Potsdam

vom 18. April 1989, BLHA, Rep. 530, Nr. 7650, o. Pag.

15 Tätigkeitsbericht des Rates des Kreises Pritzwalk über 

die geleistete Arbeit zwischen der 1. und 2. Tagung des

Kreistages Pritzwalk vom 14. September 1989, Kreisarchiv

Prignitz, Altbestand Kreisarchiv Pritzwalk, 1541, o. Pag.

 bewilligten Gelder für die Werterhaltungdes Schulgebäudes wegen fehlenden Bau-materials nicht verbaut wurden.16

Die Opposi t ion formiert s ich

 Vor diesem Hintergrund gründete sich imHerbst 1989 auch im Kreis Pritzwalk dasNeue Forum.

Bis in die zweite Novemberhälfte 1989hinein war das Neue Forum in Pritzwalk auf die Veranstaltungsräume der Evange-lischen Kirche angewiesen. Doch einigesuchten schnell auch ein anderes Umfeld.Beispielsweise gründete Robert GemmelEnde November 1989 im Zahnradwerk eine

„Betriebsgruppe Neues Forum“.17 

Im Kreis Pritzwalk gab es im Herbst1989 eine öffentliche Protestbewegung –

aber keine sich wiederholende öffentlicheProtestform ähnlich den Montagsdemon-strationen in Leipzig.

  Am 27. Oktober, einem Freitag, fandin Pritzwalk die erste Demonstration imKreis statt. Bereits Tage zuvor kursiertenGerüchte, aber einen formellen Demons-trationsaufruf hatte es nicht gegeben. Dieseerste Demonstration fand ohne jeglicheBeteiligung des Neuen Forums statt. Laut„Märkischer Volksstimme“ versammel-ten sich am Abend des 27. Oktobers 1989

16 Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 28. Sep-

tember 1989, Stadtarchiv Pritzwalk, Protokolle Stadtverord-

netenversammlung 1989, o. Sig., o. Pag.

17 Interview mit Robert Gemmel vom 19. Juni 2009.

rund 350 Menschen vor dem Rathaus derKreisstadt. Was folgte, ist eine PritzwalkerBesonderheit: Im Sinne der mittlerweile vonEgon Krenz propagierten „Dialogpolitik“

der „Wende“, gelang es der SED-Führungdes Kreises nämlich, die Demonstranten

 vor dem Rathaus in eine geschlossene Ver-anstaltung in das Kreiskulturhaus „Erich

 Weinert“ zu lenken. Im Ergebnis der Ver-anstaltung wurden die Teilnehmer auf eine spätere Dialogveranstaltung unterdem Titel „Pritzwalker Bürgerforum“ MitteNovember vertröstet.18

Ein weiteres Mal sollte dieser Coupder SED-Führung im Kreis Pritzwalk abernicht gelingen. Für den 6. November 1989,

einem Montag, plante nun das Neue Forumeine Demonstration durchdie Kreisstadt – und zwarin Form eines Schweige-marsches. Der Demons-tration vorausgehen sollteeine Veranstaltung in derevangelischen Kirche. DerPritzwalker Superintendentkam erst in letzter Minutedem inständigen Drängender Veranstalter des Neuen

Forums nach, die Kirche imZentrum der Kreisstadt fürdie Veranstaltung zu öffnen.Mit rund 2 000 Teilneh-mern und einem friedlichen

 Verlauf war der Abend des6. Novembers 1989 eingewaltiger Erfolg. Mit selbstangefertigten Schärpen, diezur Gewaltfreiheit aufrie-fen, und Transparenten,

auf denen die Zulassung des Neuen Forumsund freie Wahlen gefordert wurden, zogen

die Demonstranten durch die Kreisstadt.19

Um der „Dialogpolitik“ der SED-Füh-rung zu entsprechen, lud der damalige Vor-sitzende des Rates des Kreises Pritzwalk amfolgenden Tag sieben Gründungsmitgliederdes Neuen Forums zu einem persönlichenGespräch ein.20 Was die Situation in Pritz-

 walk im Sinne der SED-Führung beruhigenund kanalisieren sollte, bedeutete für dasNeue Forum im Kreis de facto die Anerken-nung als Gesprächspartner.

18 „Märkische Volksstimme“ vom 31. Oktober 1989, S. 6. In-

terview mit einem damaligen Sekretär der SED-Kreisleitung

vom 19. Juni 2009, auch Interview mit Peter Hubatsch vom

13. Juni 2009.

19 „Märkische Volksstimme“ vom 8. November 1989, S. 8.

20 „Märkische Volksstimme“ vom 9. November 1989, S. 8.

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5/10/2018 Artikel Sebastian Stude - slidepdf.com

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Bedingt durch die Öffnung der BerlinerMauer am 9. November aute die öffent-liche Protestbewegung im Kreis schlagartigab. Das schwierige Verhältnis von Reise-

freiheit und öffentlicher Protestbewegung belegt ein Demonstrationsaufruf des NeuenForums vom 25. November 1989, in dem eshieß: „Die Reisefreiheit ist errungen, doch

 viele Probleme sind geblieben!“ 21 Innerhalbeiner Woche hatten mehr als 14 000 Pritz-

 walker beim örtlichen Volkspolizeikreisamtein Visum zum Besuch der Bundesrepu-

 blik Deutschland ausstellen lassen – alsogut die Hälfte der Einwohner des KreisesPritzwalk!22 Im Rückblick erinnert sichSabine Kloß, eine der aktivsten Gründungs-

mitglieder des Neuen Forums in Pritzwalk:„In der Folge lief es in Pritzwalk auseinan-der. Jeder hatte mit sich zu tun und mitdem ‚rüber-fahren’.“23

Niedergang der SED und des MfS

Noch bis Mitte Oktober 1989 gab sich der1. Sekretär der SED-Kreisleitung Pritzwalk kämpferisch und hatte die Parole ausge-geben: „Der Kreis Pritzwalk bleibt poli-tisch stabil! An ihm beißt sich der Feind

die Zähne aus. Jedem ehrlich Meinendendie Hand, dem Feind des Sozialismus dieFaust.“24 Am 12. November musste er aberauf Grund der dramatischen Situation vorOrt zurücktreten. Wenige Tage später folgteihm das verbliebene Sekretariat der SED-Kreisleitung mit seinem geschlossenenRücktritt. Das MfS berichtete daraufhin ausPritzwalk: „Es vergehe kein Tag, an demnicht Fehlverhaltensweisen, Schmutz undDreck von Parteifunktionären aller Ebenenaufgedeckt werden. Es sei eine Schande fürdie SED und man schäme sich, dieser Partei

anzugehören – waren Reaktionen zahl-reicher Genossen.“25 Ein Versuch der SEDim Kreis Pritzwalk ihren Machtverlust auf-zuhalten, schlug völlig fehl: Zum 8. Dezem-

 ber 1989 hatte sie zu einer Demonstrationunter dem Slogan „Heraus zur Manifesta-tion für einen neuen Sozialismus!“ aufge-rufen.26 Wegen fehlender Resonanz unddes zeitgleichen außerordentlichen SED-Parteitags in Ost-Berlin wurde sie schlichtund einfach abgesagt.

21 „Märkische Volksstimme“ vom 25. November 1989, S. 8.

22 „Märkische Volksstimme“ vom 16. November 1989, S. 8.

23 Interview mit Sabine Kloß vom 20. Juni 2009.

24 BLAHA, Rep. 531 Pritzwalk, 1043, o. Pag.

25 BStU, Ast. Pdm, BVfS Pdm, KD Pw 389, Bl. 132.

26 „Märkische Volksstimme“ vom 6. Dezember 1989, S. 8.

Die Auflösung der MfS-Kreisdienst-stelle in Pritzwalk vollzog sich hingegen

  von der Öffentlichkeit weitestgehendunbemerkt. Bereits seit Mitte November

1989 galt innerhalb des Staatssicherheits-dienstes ein Befehl zur Aktenvernichtungund zur Umstrukturierung, der auch vieler-orts den Rückzug des MfS aus den Kreisen

 vorsah.27   Als die Vertreter des Neuen Forums,

Sabine Kloß und Ulrich Preuß, am 6.Dezember die MfS-Kreisdienststelle auf-suchten, war diese bereits geräumt. Derdamalige Leiter der MfS-Kreisdienststellelud die Beiden zu einer gemeinsamen TasseKaffee ins Gebäude ein. Der evangelische

Pfarrer Ulrich Preuß erinnert sich an dieBegehung: „Ich weiß noch, die Schränke

  waren alle leer. (…) Und dann sind wir  wieder nach Hause gegangen. Das war völlig unspektakulär. Wir haben dort keine  Akten, nichts gefunden. Wir wussten janicht mal, wonach wir suchen sollten.“28 

Die Akten der MfS-KreisdienststellePritzwalk, die nicht vernichtet wurden,

 waren zu diesem Zeitpunkt bereits in dieMfS-Bezirksverwaltung Potsdam ausgela-gert worden.29 In der Folge nahm sich ein

„Provisorischer Rat der Volkskontrolle“, derdem Rat des Kreises beigeordnet war, demErbe des MfS in Pritzwalk an. Im Frühjahr1990 beschloss der Rat der Stadt Pritzwalk,das Gebäude dem örtlichen Gesundheits-

 wesen zu überlassen.30

Besondere Wahlergebnisse

Mit dem Zerfall der SED und dem Rückzugdes MfS aus dem Kreis Pritzwalk schien dieMacht vor Ort sprichwörtlich auf der Straßezu liegen. Christian Kloß erinnert sich für

das Neue Forum: „Es war eine Zeit der Anarchie. Ich behaupte, wenn fünf Leutezu der Zeit in einen Betrieb zum Direktorgegangen wären und gesagt hätten: ‚Wirsind vom Neuen Forum. Sie sind abgesetzt.’

27 Vgl. Walter Süß: Staatssicherheit am Ende. Warum es den

Mächtigen 1989 nicht gelang eine Revolution zu verhindern,

Berlin 1989. Sowie Michael Richter: Die Staatssicherheit im

letzten Jahr der DDR, Weimar / Köln / Wien, 1996.

28 Interview mit Ulrich Preuß vom 14. Juni 2009.

29 Im Bestand des Archivs der Bundesbeauftragten für die

Stasi-Unterlagen befinden sich 65 lfd. Meter Aktenmaterial

der MfS-Kreisdienststelle Pritzwalk. Vgl. Neunter Tätigkeits-

bericht der BStU, 2009, S. 118. http://tinyurl.com/kr3mq3

(Stand: 12. Januar 2010).

30 Protokoll 5. /99 Sitzung des Kreistages vom 25. Januar 

1990, Kreisarchiv Prignitz, Altbestand Kreisarchiv Pritzwalk,

1542, o. Pag.

Das hätte in 70 Prozent der Fälle geklappt.(...) Alles war möglich.“31

Neben dem Pritzwalker Kreistag füllte vor allem der Runde Tisch des Kreises das

entstandene Machtvakuum aus. Er tagteerstmals am 18. Dezember 1989. Von denneuen politischen Akteuren nahmen amRunden Tisch des Kreises Pritzwalk Ver-treter des Neuen Forums, der Sozialdemo-kratischen Partei und des Demokratischen

 Aufbruchs teil. Der Runde Tisch des KreisesPritzwalk behandelte ausschließlich kom-munale Themen und sah sich von Beginn anals provisorische Einrichtung bis zur freienKommunalwahl im Jahr 1990. Anders alsam Zentralen Runden Tisch besaßen hier

die Vertreter der Evangelischen Kirche  volles Stimmrecht. Nicht stimmberechtigt  waren dagegen die Vertreter der Katho-lischen Kirche, die ähnlich den Massenor-ganisationen einen Vertreter beratend anden Runden Tisch des Kreises entsendendurften. Die Kirchenvertreter übernahmenauch keine Moderatorenrolle – diese übtendie teilnehmenden Gruppen und Parteien inalphabetischer Reihenfolge aus. Der RundeTisch des Kreises war berechtigt, dem Ratdes Kreises und dem Kreistag unverbind-

liche Vorschläge zu unterbreiten.

32

Den Schlusspunkt der friedlichen Revo-lution bildete im Kreis Pritzwalk die freieKommunalwahl am 6. Mai 1990. Andersals zur freien Volkskammerwahl am 18.März 1990 – bei der die SPD überraschendschwach abschnitt – traten die SPD unddas Neue Forum im Kreis Pritzwalk zurKommunalwahl mit einer gemeinsamenListe an. Reinhard Götze, einer der Wie-derbegründer der SozialdemokratischenPartei im Kreis Pritzwalk, erinnert sich:„Nach der Volkskammerwahl trat zunächst

eine sehr große Ernüchterung in der SPDein. Das war auch ein Grund, warum wir inPritzwalk – hier waren die entsprechendenLeute vernünftig – die gemeinsame Liste

  von Neuen Forum und SPD gemachthaben.“33 Tatsächlich gelang der Listenver-

 bindung aus SPD und Neuem Forum mitfast 30 Prozent der Wahlsieg vor der CDU,so dass mit Reinhard Götze ein glaubhafter

 Akteur der friedlichen Revolution im Kreiserster Pritzwalker Landrat wurde.34  SSt

31 Interview mit Christian Kloß vom 20. Juni 2009.

32 Vgl. Protokolle des Runden Tisches des Kreises Pritzwalk,

  Archiv Stadt- und Brauereimuseum Pritzwalk, Ordner 30 –

Pritzwalk Wende 189/90.

33 Interview mit Reinhard Götze vom 19. Juni 2009.

34 „Märkische Volksstimme“ vom 10. Mai 1990, S. 8.