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Erika Arndt »Arbeiten Sie an Ihrer LP!« Bedeutung und Entwicklung der Lehrerpersönlichkeit 28089 Themenzentrierte Interaktion Das Ich zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Lebenskunst 23. Jahrgang, 2/2009, Seite 3240 Psychosozial-Verlag ZEITSCHRIFTENARCHIV

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Erika Arndt

»Arbeiten Sie an Ihrer LP!« – Bedeutungund Entwicklung derLehrerpersönlichkeit

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Themenzentrierte InteraktionDas Ich zwischen Persönlichkeitsentwicklung undLebenskunst23. Jahrgang, 2/2009, Seite 32–40Psychosozial-Verlag

ZEITSCHRIFTENARCHIV

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Themenschwerpunkt: Das Ich zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Lebenskunst

Zur AutorinErika Arndt, Jg. 1944, StD a.D., Dipl.-Päd., TZI-Grad., freiberufl. Dozentin, Prozessbegleiterin für Schulentwicklung, Supervisorin, Coach.Anschrift: Schwaighofstr. 3, 79100 Freiburg, 0761/7049821, [email protected]

Erika Arndt

„Arbeiten Sie an Ihrer LP!“ – Bedeutung und Entwicklung der Lehrerpersönlichkeit

Der Text beschreibt die Wandlungen, die die Kategorie „Lehrerper-sönlichkeit“ in der pädagogischen Diskussion durchlaufen hat. Die immer komplexer gewordenen Anforderungen an den Lehrerberuf erfordern eine veränderte ganzheitliche Ausbildung von Lehrern, für die es erste Versuche und Fortbildungsangebote gibt, die auch die Persönlichkeitsentwicklung von Lehrern unterstützt. Dabei wird das Persönlichkeitsmodell nach Riemann als Koordinatensys-tem zur erweiterten Selbst- und Fremdwahrnehmung dargestellt und die vier Faktoren der TZI zu den neuen Kompetenzbereichen in Beziehung gesetzt. Die Beschreibung einer Supervisionssitzung mit einem Lehrerteam dient zur Verdeutlichung einer ganzheitli-chen Fortbildungsarbeit nach den vier Faktoren der TZI.

This paper describes the changes that the category of “teaching personality” has been subject to in discussions on education. De-mands on the teaching profession have become more and more complex, and call for different and more holistic teacher training. There are further training courses which also enhance teachers’ personality development. In this connection, the personality model according to Riemann is presented as a system of coordinates for enhanced recognition of oneself and others, and linked to the four factors of TCI. The description of a supervision meeting with a team of teachers serves to illustrate holistic further training work based on the four TCI factors.

Was ist eine Lehrerpersönlichkeit?

Ein Fund im Internet: „… gibt es wirklich festmachbare Per-sönlichkeitsmerkmale, die den Lehrer kennzeichnen oder für ihn unverzichtbar sind? Bitte um Beiträge. Nachdenklich, Wol-kenstein“ – „Hallo Wolkenstein. Du glaubst gar nicht, welche Hassgefühle mir das Wort ‚Lehrerpersönlichkeit‘ verursacht … Während meines Referendariats wurde dieses Thema bei jedem Besuch angesprochen. Auf meine Frage, was das denn sei und ob

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Wie bildet man eine Lehrerpersönlichkeit

heraus?

es auch eine ‚Seminarleiterpersönlichkeit‘ gebe, bekam ich natür-lich nie eine Antwort. Nun betreue ich eine Referendarin, die in ihrem ersten Besuch ebenfalls darauf hingewiesen wurde, dass sie an ihrer LP zu arbeiten hätte …“ Tusnelda (www.lehrerforen.de). Hier zeigt sich, wie der Begriff „Lehrerpersönlichkeit“ bei Lehrern und Referendaren besetzt ist: als diffuse und bedrohliche Anforderung, oft gleichgesetzt mit Durchsetzungsfähigkeit. Seminare sehen als ihre Aufgabe „die Herausbildung der Lehrerpersönlichkeit“, getragen von der Grundannahme, „… dass die sozialen und personalen Kompetenzen zum unverzichtbaren Kern der Lehrprofession gehören.“ (Staatl. Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Freiburg). Aber wie „bildet man eine Lehrerpersönlichkeit heraus“ und wie sollte sie dann aussehen? Die Kategorie „Lehrerpersönlich-keit“ sowie die Ansprüche an den Lehrerberuf haben Wandlungen durchgemacht. Gudjons beschreibt die Entwicklungsschwerpunkte in vier Schritten: 1. Vom Halbtagsjobber zum Sisyphusarbeiter2. Vom Unterrichtsbeamten zur Lehrerpersönlichkeit (Schwer-

punkt: Beziehungsarbeit)3. Von der Lehrerpersönlichkeit zum Unterrichtsexperten (Schaf-

fen von Lerngelegenheiten, Betonung der Bedeutung eigen-ständiger Informationsverarbeitung durch die Lernenden)

4. Vom Instrukteur zum Lernberater (Schaffen von Lerngele-genheiten, Beraten, Unterstützen, Rückmelden, Besprechen, Auffordern …) (Gudjons 2002)

1. Vom Halbtagsjobber zum Sisyphusarbeiter

Aufgrund zunehmender Frühpensionierungen und auffälligem Krankenstand wurde in den 1970er/80er Jahren das veränderte Anforderungsprofil des Lehrerberufs zum Thema. Ein Fazit zur Lehrerbelastung: „Der Eigensinn und die eigentümliche Anstren-gung, die alltägliche Dauerspannung der Unterrichts- und Erzie-hungsarbeit liegt darin begründet, dass pädagogisches Handeln … ständig wechselnden Situationen ausgesetzt ist, nie zu einem siche-ren Erfolg verbürgenden Ende kommt und deshalb immer eine Bewährungsdynamik enthält, die … nie endgültig gelöst werden kann. Lehrerarbeit ist Sisyphusarbeit“ (Combe, 1997, 12).

2. Vom Unterrichtsbeamten zur Lehrerpersönlichkeit

Auch in den 1980er Jahren gab es keine wesentlichen Verbesse-rungen der Arbeitsbedingungen. In dieser Zeit wächst ein neues

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Interesse an der Lehrerpersönlichkeit und ihrer gezielten Entfal-tung. Auch wenn Gudjons die politische Absicht (Kostenneutralität) nicht gutheißt, ist er überzeugt von der großen Bedeutung, die Per-sönlichkeitsmerkmale im Lehrerberuf haben. In seinen Aufsätzen „Lehrerpersönlichkeit im Aufwind – kein Beitrag zur Verringerung der Bildungskosten“ (1982) und „Die Lehrer/innenpersönlich-keit. Grundlage aller pädagogischen Arbeit“ (2003) setzt er sich detailliert mit ihrer Wirkung im beruflichen Alltag auseinander. Er orientiert sich am Modell von Riemann (Riemann 1975), das er in Bezug auf Tendenzen im Lehrerberuf untersuchte.

Distanz

Ordnung/System Freiheit/Spontaneitat

Nahe

1

Die Tendenzen (Nähe- bzw. Distanzierungsbedürfnis, Ordnungs-tendenz bzw. Spontaneität) dienen als Koordinaten zur Beschrei-bung von Lehrerhandeln:

Lehrer mit Grundtendenz Distanz haben Qualitäten in ihrer Auto-nomie und Sachlichkeit; bevorzugen stofforientierten Unterricht; neigen zu sachorientierter Leistungsbewertung; gestehen sozialen Lernzielen eine eher untergeordnete Rolle zu; werden aufgrund eigener Leistungsideale eher über- als unterfordern.

Lehrer mit Grundtendenz Nähe bevorzugen Unterricht, der an Schülermotivation orientiert ist; neigen zu pädagogischer Leis-tungsbewertung; messen dem sozialen Klima einen hohen Wert bei; neigen zur Nachgiebigkeit, wenn sie Ablehnung befürchten; erleben die Auslesefunktion von Schule als belastend.

Lehrer mit Grundtendenz System/Ordnung sind in hohem Maße berechenbar und zuverlässig; bevorzugen einen an Übersicht und Kontrolle orientierten Unterricht; halten Macht und Durchsetzung für wichtig; erleben Opposition und Widerstand als bedrohlich; tendieren zur Identifikation mit hierarchischer Schulstruktur.

Lehrer mit Grundtendenz Freiheit/Spontaneität zeigen Experi-mentierfreude, Eigeninitiative und Fähigkeit zu Improvisation; variieren Leistungskriterien je nach Stoff, Situation und Schüler; arbeiten weniger mit langfristigen Planungen; können begeistern und mitreißen, aber auch in Show abgleiten; erleben Einengung und Kontrolle als bedrohlich.

Die persönliche Entwicklungsaufgabe ist, überdominante Ten-denzen zu kontrollieren, unterentwickelte zu verstärken. Das gilt

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auch heute bei gestiegenen Anforderungen: Lehrer sollten Frei-raum geben können, situative Lernanlässe nutzen und individuelle Lernwege zulassen, fürsorglich sein, aber auch die Einhaltung von Absprachen kontrollieren und ein bestimmtes sachliches Niveau gewährleisten. Ohne den Blick auf sich selbst, warnt Gudjons, können „alle Veränderungsversuche in der Schullandschaft zu kalter Sozialtechnologie verkommen“ (Gudjons, 2003, 11). Pädagogische Glaubenskriege (Kuschelpädagogen gegen Hardliner) entstehen, wenn Tendenzen unversöhnlich aufeinander stoßen, denn es sind die korrespondierenden Ängste (Vereinnahmung durch Nähe/Abgelehnt werden/Kontrollverlust/Einengung), die eine kollegiale Verständigung erschweren.

3. Von der Lehrerpersönlichkeit zum Unterrichtsexperten

In den 1980er/90er Jahren wurde darüber geforscht, welche Kom-petenzen Lehrer im Hinblick auf den Lernzuwachs der Schüler haben sollten: „Von der alles beherrschenden Persönlichkeit des Lehrers über erfolgreiche Verhaltensweisen zum kompetenten Fachmann mit nur begrenztem Einfluss …“ (Bromme, 1997, 182). Als professioneller Experte hält er einen Unterricht, der methodisch abwechslungsreich, schülerorientiert, zeitweise grup-pengestützt, zugleich straff geführt und kognitiv stimulierend ist (Gudjons, 2002).

4. Vom Instrukteur zum Lernberater

Die kognitivistische Lerntheorie betonte die eigenständige Infor-mationsverarbeitung durch die Lernenden und stützt daher die Entwicklung von offenen Unterrichtsformen. Anforderungen sind hier: Bereitstellen von Lerngelegenheiten, Beraten in individuel-len und kooperativen Lernprozessen auf der Grundlage geziel-ter Lernstandsdiagnosen, Anerkennen eigenständiger Lernwege, Rückmelden von persönlichen Wahrnehmungen, Besprechen und Auffordern (vgl. ebd.). Allerdings ist der Schock nach PISA mit dem Ruf nach objektiven Leistungsvergleichen eine erhebliche Bremse in dieser Entwicklung. Kanders (2000) hat herausgefunden, dass viele Lehrer zwar offene Unterrichtsformen bejahen, sich in der neuen Rolle aber sehr unsicher fühlen.

Fazit: Die Anforderungen sind komplexer geworden und die erforderlichen Kompetenzen vielfältiger. Lernen passiert aber überwiegend in Interaktionsprozessen, d.h. die Person des Lehrers

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ist weiterhin ein maßgeblicher Faktor. Hier bietet die TZI durch die Beschreibung der Kompetenzbereiche Orientierung:

Kompetenzbereich Reflexionsebene Reflexionstyp

Persönliche Kompetenz

Nachdenken über sich selbst und das eigene Handeln

Selbstreflexion

Soziale Kompetenz Nachdenken über die Beziehung zu anderen (Menschen)

Prozessreflexion

Fachliche Kompetenz

Nachdenken über Ziele, Inhalte und Methoden

Sachreflexion

Politische Kompetenz

Nachdenken über die soziokulturellen Bedingungen und den politischen Kontext sowie die gewählten Strategien

Kontextreflexion

(Schratz 1996, 109)

Die Notwendigkeit einer Fachkompetenz wurde nie angezweifelt und bestimmt noch überproportional die Ausbildung von Lehrern. Sie beeinflusst damit das Selbstverständnis von Lehrern, die den größten Teil ihrer Ausbildung in didaktisch unterentwickeltem Milieu durchlaufen haben. Angebote zur Erweiterung der perso-nalen und sozialen Kompetenz sind rar. Lehrerausbildung ist unter diesem Aspekt fahrlässig. Denn auch Ergebnisse der Hirnforschung beweisen, dass Lernerfolge stark von der Beziehungsgestaltung abhängen (Bauer, 2007). Sie unterstreichen damit noch einmal den Wert der Selbst- und Sozialkompetenz. Für das geforderte Engagement in Schulentwicklungsprozessen ist die (schul-)po-litische Kompetenz unverzichtbar. Am TZI-Modell können die Kompetenzen den vier Faktoren zugeordnet werden:

Der Schulalltag bietet ständig Zumutungen und Chancen, an der persönlichen Weiterentwicklung zu arbeiten. Aber Schule ist immer noch ein Ort, an dem viel Energie in das Aufrechterhalten von Fassaden geht. Lehrer arbeiten überwiegend hinter verschlossenen Türen – man kennt sich im Kollegenkreis als Unterrichtende eher „aus zweiter Hand“. Das Selbstbild ist, durch gesellschaft-liche (Vor-) Urteile und Überforderungen beeinflusst, oft von einer defensiven Haltung bestimmt. Und selektive Wahrnehmung

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Ergebnisse der Hirn­forschung beweisen,

dass Lernerfolge stark von der Bezie­

hungsgestaltung abhängen

ist auch ein Schutzmechanismus gegen widersprüchlich erlebte Anforderungen.

Herlt und Schaarschmidt setzen bei der Selbsteinschätzung von Lehramtsstudenten an, sie haben als Konsequenz aus Studien zur psychischen Gesundheit im Lehrerberuf (Schaarschmidt, 2005) einen im Internet abrufbaren Selbsterkundungsbogen „Fit für den Lehrerberuf?“ (www.dbb.de) entwickelt. In Kassel gibt es ein Angebot für zukünftige Lehrer, das sich an berufsrelevanten Per-sönlichkeitsmerkmalen orientiert: „Der Lehrer steht vor allem als Mensch vor der Klasse, weniger als Konzeptanwender. Viele Lehrer werfen bereits kurz nach ihrem Berufseinstieg ihr frisch erworbenes pädagogisches und didaktisches Wissen über Bord und greifen zu-rück auf das Lehrerhandeln, welches sie selber erlebt und scheinbar verinnerlicht haben. Die modularisierte Lehrerausbildung schult vornehmlich einzelne Kompetenzen. Bleiben diese Kompetenzen jedoch nebeneinander stehen, … wird ein wesentlicher Teil der Aus-Bildung vernachlässigt“ (Nolle, 2008, 461).

In TZI-Kursen geht es um Erfahrungslernen, das hilft, um mit den wechselnden emotionalen Zuständen und den reich-lich vorhandenen Antinomien im Schulalltag umzugehen (Iwers-Stelljes/Luca, 2008). Die TZI als ganzheitlicher Ansatz zielt eben nicht auf fraktionierte Kompetenzen, sondern verbindet sie mit Impulsen zur stimmigen pro-fessionellen Weiterentwicklung. „Die dynamische Balance als Grundlage lebendigen Lernens und Leitens fordert die Gleichwertigkeit von Erfahren, Denken, Fühlen, Handeln. Leiten nach TZI braucht geschulte Wahrnehmung nach innen und außen, ebenso Kommunikationsfähigkeit und ein Repertoire von Methoden, die ganzheitliche Lernprozesse fördern helfen.“ (Arndt, 1996, 103) Ewert hat den Einfluss der TZI bei der professionellen und persönlichen Weiterentwicklung von 18 Lehrerinnen und Lehrern untersucht und in biographisch orientierten Interviews detailliert deren Potentiale beschrieben. (Ewert, 2008)

Arbeit an der Lehrerpersönlichkeit im Rahmen von TZI-Supervision

Das Beispiel von einer an TZI orientierten Supervisionssitzung zeigt, wie die vier Reflexionsebenen ineinander greifen: Eine Religions-lehrerin stellt die Situation in einer 9. Klasse dar und schildert ihre Ohnmacht gegenüber einigen Jungen, die das Unterrichtsgeschehen stören durch Catchen bis in den Unterricht hinein und ungeniertes Dazwischenreden. Lehrerin seufzend: „… und das, während ich die Bibel durchnehmen will.“ In ihrer Darstellung ist keine Wut

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Die TZI hilft, profes­sioneller mit

Konfliktsituationen umzugehen

zu spüren – eher freundliche, vielleicht etwas beschämte Resigna-tion. Ihr Vortrag ist manchmal von einem Lächeln begleitet. Die Kollegengruppe reagiert mit lautem Lachen, als sie einige typische Verhaltensweisen und Bemerkungen aus der letzten Stunde schildert. Unser Eindruck: Die Jungen nerven durch Unruhe, sind witzig provozierend – aber eigentlich nicht unsympathisch – „halt Neunt-klässler“. Bei weiterem Nachfragen zeigt sich, dass die Mädchen überwiegend leistungsstark und leistungswillig sind. Sie beklagen sich aber nicht über „ihre Jungs“, sondern erleben die Showeinlagen eher amüsiert. Leidensdruck hat eigentlich nur die Lehrerin.

Wir arbeiten mit Visualisierung und entwickeln ein Bild am Flipchart, das Jungen und Mädchen einander gegenüberstellt, alle haben lachende Gesichter. Die Mädchen bekommen (vielleicht durch das Fach angeregt) einen Heiligenschein, die Jungen kleine Teufelshörner. Lachen in der Supervisionsgruppe. Einige männliche Teilnehmer berichten auf Nachfrage aus ihrer Schulzeit, in der sie ähnliches Verhalten an den Tag legten. Sie sind in diesem Moment (nicht ohne Stolz) mit den Jungen identifiziert. Gruppensituation: Die Männer erzählen, die Frauen hören teils amüsiert zu. Und wir merken: wir sind gerade in einer Re-Inszenierung.

Durch den Blick auf das handelnde Lehrer-Ich und die Dynamik der Gruppe können wir die Vorgänge besser verstehen. Gefragt nach ihrer Identifikation erkennt die Lehrerin: „Ich gehöre hier wohl eher zu den Mädchen – ich war/bin ähnlich und hätte mich wohl auch eher arrangiert und wahrscheinlich heimlich zugestimmt.“ Es gab eine die Situation stabilisierende Kollusion, ein heimliches Einverständnis: die Jungen sprengen den Rahmen, trauen sich zu

provozieren – leben also eine Seite aus, die die Mädchen (und die Lehrerin) weniger haben oder unterdrücken. Sie sorgen damit für (heimlich gewünschte) Abwechslung und Lebendigkeit. Diese Rollenübernahme der Jungen ermög-licht den Mädchen eine gute Anpassung, denn beides hat Raum in der Klasse: Anpassung und Rebellion. Dies sind die Facetten einer widersprüchlichen biografischen Aufgabe in der Pubertät. Die Lehrerin kann ihre rebellische Seite eben-

falls delegieren, erlebt also unbewusst auch eine Befriedigung ihrer nicht ausgelebten Impulse. In der pädagogischen Arbeit stehen wir immer auch vor dem Jugendlichen in uns selbst. (Fürstenau, 1978)

Die Lehrerin ist außerdem Mutter eines „nicht ganz einfachen Sohnes“, d.h. es gibt noch einen weiteren „mütterlichen“ Impuls, der ein korrigierendes Vorgehen gegen die Jungen erschwert. Sie versteht jetzt auch ihre eigene Blockaden („mir fällt nichts ein, oder wenn, dann bin ich inkonsequent, wirke in meinen Interventionen nicht überzeugend“). All das hat viel mit ihrer Grundstruktur, der eigenen Sozialisation und biographischen Situation zu tun. Und mit einem Unbehagen in diesem Schulsystem, das benoteten Re-

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Wichtig ist, ob der Lehrer als Persönlich­

keit echt ist

ligionsunterricht vorschreibt – eingezwängt in die dritte Stunde zwischen Mathematik und Englisch. Hier würde sie auch gerne ausbrechen, sieht aber keinen Weg.

Ein professioneller Umgang in dieser Konfliktsituation ist nach der persönlichen Arbeit (ICH) und der Analyse der Gruppensitu-ation (WIR) fundierter möglich und vor allem nachhaltiger. Nach Einzelgesprächen mit den Störern gibt es konsequent angewandte Regeln – wie im Fußball. Die störenden Schüler werden, wo nötig, „aus dem Spiel“ genommen und mit Einzelarbeit beschäftigt. Das alles ohne Moralisieren, sondern mit Hinweis auf die Verantwor-tung der Lehrerin für den Unterricht. Sie kann jetzt klarer diese Verantwortung übernehmen und damit auch über die Unterrichts-ziele und methodische Alternativen neu nachdenken.

TZI und Lehrerpersönlichkeit

Alle vier Faktoren bestimmen das Geschehen: Wenn die Lehrerin ihr Selbst-Bewusstsein erweitert, verändert das die Sicht auf die Klasse. Eine dadurch veränderte Zielsetzung beeinflusst die Lernar-rangements, was sich positiv auf die Motivation der Klasse auswirkt. Wenn die Klasse z.B. selbst zu Themen forschen und dadurch Lerninhalte mitbestimmen kann, verändert dies auch die Lehrerolle und favorisiert damit andere per-sönliche Grundtendenzen der Lehrerin als im Frontal-unterricht. Das Hinterfragen der Rahmenbedingungen, z.B. die 45 Minuten-Struktur des Schultags (Arndt, 2002), gehört als Veränderungsimpuls in die Schulentwicklungsgruppe.

Die anfangs in Supervisionssitzungen oft gestellt Frage „Was soll ich bloß tun?“ wird differenzierter:➢ Was verstehe ich über mich und den Gruppenprozess? ➢ Wie kann und will ich aufgrund dieses Verständnisses den

Unterricht gestalten?➢ Wie kann ich Einfluss nehmen auf mir wichtige Verände-

rungen der Rahmenbedingungen?

Lehrersein muss heißen, die Erforschung und Entwicklung der eigenen Person als permanente Aufgabe und Chance zu begreifen. Wichtig ist „nicht, ob einer eine ‚echte‘ Persönlichkeit ist, … son-dern ob er als Persönlichkeit echt ist oder ob er ständig mit einer Maske umherläuft, hinter der er etwas versteckt, was er selber nicht kennt: seine Person. Ist er seinen Wirkungen auf Schüler – auch den unbewussten – auf der Spur? Was tut einer für das Entdecken des Potentials seiner Persönlichkeit, der Erweiterung seines Selbst-Konzeptes? Dabei ist Persönlichkeit nichts Statisches mehr, vor allem kein ‚Endzustand‘“ (Gudjons, 2003, 12).

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Themenschwerpunkt: Das Ich zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Lebenskunst

Literatur

Arndt, Erika: TZI – Themenzentrierte Interaktion. In: Reinhold Miller: Schule selbst gestalten. Weinheim und Basel 1996, 98–110.

Arndt, Erika: Ruth Cohn und ihre Idee von lebendigen Lernprozessen in der Schule. In: Themenzentrierte Interaktion, Heft 1/2002, 50–58.

Bauer, Joachim: Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Hamburg 2007.Bromme, Rainer: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers. In: Enzyklopädie der

Psychologie. Bd. 3, Göttingen 1997, 177–212.Combe, Arno: Der Lehrer als Sisyphus. In: PÄDAGOGIK 10/1997, 10–14. Ewert, Friedrich: Themenzentrierte Interaktion (TZI) und pädagogische Professionalität von Lehrerinnen und

Lehrern. Erfahrungen und Reflexionen. Frankfurt/Main 2008.Fürstenau, Peter: Zur Psychoanalyse der Schule als Institution. In: Das Argument 1978, Heft 29, 65–78. Gudjons, Herbert: Krisen als Wandlungen im Lehrerberuf. In: PÄDAGOGIK 11/2002, 6–9.Gudjons, Herbert: Lehrerpersönlichkeit im Aufwind. In: Westermanns Pädagogische Beiträge 1982, Heft 6,

249–252. Gudjons, Herbert: Didaktik zum Anfassen. Lehrer/in-persönlichkeit und lebendiger Unterricht. Bad Heilbrunn

2003, 11–20.Herlt, Susanne; Schaarschmidt, Uwe: Fit für den Lehrerberuf? (www.dbb.de/dbb-beamtenbun-22006/dbb-pdf/

Fragebogen_Fit.pdf)Iwers-Stelljes, Telse; Luca, Renate: Ein Ansatz zur Förderung von Reflexionskompetenz: Fallarbeit in 7 Schritten.

In: Gruppendynamik & Organisationsberatung 2008, Heft 4, 429–442.Kanders, Michael: Das Bild der Schule aus der Sicht von Schülern und Lehrern II. Dortmund 2000.Nolle, Timo: Das Profilstudienprogramm: Konfliktberatung für Pädagoginnen und Pädagogen. In: Gruppendynamik

& Organisationsberatung 2008, Heft 4, 454–463.Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. München 1975.www.lehrerforen.deSchaarschmidt, Uwe: Halbtagsjobber? Psychische Gesundheit im Lehrerberuf. Analyse eines veränderungsbe-

dürftigen Zustandes. Weinheim und Basel 2005.Schaarschmidt, Uwe: Zwei psychologische Unterstützungsangebote für die Erhaltung und Stärkung der Lehrerge-

sundheit. Script unter www.zhsf-edu.ch/webautor-data/12/Zwei-Angebote_20081220.pdf, 2008.Schratz, Michael: Gemeinsam Schule lebendig gestalten. Anregungen zur Schulentwicklung und didaktischen

Erneuerung. Weinheim und Basel 1996.

Psychosozial-Verlag

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

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