analyse eines falles von seniler demenz

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(Aus der Psyehiatriseh-neurologisehen Klinik in Heidelberg.) Analyse eines FaUes von seniler Demenz. (Stiirungen der 0rientierung, des Denkens, der Realitiitserfassung.) Von Gertrud Jacob. (Eingegangen tim ,'~. Mai 192,~.) Inhalt. Einleitung, kliniseher Befund und Sektionsbefund (S. 25). Allgemeines Verhalten (S. 26). Orientierung in der Zeit (S. 28). Orientierung am eigenen K5rpcr, im Aullenraum, Erfassung von Gesamt- situationen optisch-r/iumlicher Art (S. 29). fiber einige Denkfunktionen (S. 33). Das Verhalten dem eigenen Spiegelbild gegenfiber (S. 34). Das Verhalten Bildern iibertmupt gegenfiber (S. 38). SchluB (S. 41). Der folgende Fall von seniler Demenz erscheint datum der Analyse wert, weil hier einige Ziige, wie sic zwar in Andeutungen allgemein bei ,,I)sychischen Schw~chezusti~nden" des Alters beobachtet werden, mit besonderer Schhrfe und Klarheit hervortreten. Da es sich um die Herausarbeitung einzclner ganz bcstimmtcr sce- lischer Verhaltensweisen handclt, so wird die Darstellung der Gesamt- persOnlichkeit, ihres Gehabens im allgemeinen, sowie der klinische Ver- lauf der Krankheit m6glichst kurz gehalten. Genauer sollen dagegen die St/)rungen in der zeitlichen und ritumlichen Orientierung, in der Er- fassung von Gestalt und Situation, im besonderen vom eigenen Spiegel- bild, und die Stiirung des Realithtsbewui~tseins untersucht werden. Frau M. wurde am 8. VII. 1927 in die hiesige Klinik aufgenommen und blieb hier bis zu ihrem Tode am 4. IX. 1927. M. ist 1850 geboren; iiber Kinder- und Jugendzeit ist nichts N/theres bekannt. Vor etw~t 50 Jahren heiratete sie einen Tfinchermeister; sie hat 2 gesunde Kinder. Sic war selbst his vor einiger Zeit gesund, eine tfichtige Hausfrau, in keiner Weise auff/~llig. Vor 2 Jahren begann langsam eine seelische Ver~nderung: sie wurde mil~trauisch, /tngstlich und, besonders nachts, unruhig. Sie redete und benahm sich manchmal sichtlich verwirrt, lief z. B. nachts mit der brennenden Petroleum- lampe auf den Marktplatz. Sie wurde zunehmend eitel, saB oft vor dent Spiegel, sprach mit ihrem Spiegelbild und warf einmal ein BrStchen hinter den Spiegel,

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Page 1: Analyse eines Falles von seniler Demenz

(Aus der Psyehiatriseh-neurologisehen Klinik in Heidelberg.)

Analyse eines FaUes von seniler Demenz. (Stiirungen der 0rientierung, des Denkens, der Realitiitserfassung.)

Von Gertrud Jacob.

(E ingegangen t im ,'~. M a i 192,~.)

Inhalt. Einleitung, kliniseher Befund und Sektionsbefund (S. 25). Allgemeines Verhalten (S. 26). Orientierung in der Zeit (S. 28). Orientierung am eigenen K5rpcr, im Aullenraum, Erfassung von Gesamt-

situationen optisch-r/iumlicher Art (S. 29). fiber einige Denkfunktionen (S. 33). Das Verhalten dem eigenen Spiegelbild gegenfiber (S. 34). Das Verhalten Bildern iibertmupt gegenfiber (S. 38). SchluB (S. 41).

Der folgende Fall von seniler Demenz erscheint da tum der Analyse wert, weil hier einige Ziige, wie sic zwar in Andeutungen allgemein bei ,,I)sychischen Schw~chezusti~nden" des Alters beobachte t werden, mit besonderer Schhrfe und Klarhei t hervortreten.

Da es sich um die Herausarbei tung einzclner ganz bcs t immtcr sce- lischer Verhaltensweisen handclt , so wird die Darstel lung der Gesamt- persOnlichkeit, ihres Gehabens im allgemeinen, sowie der klinische Ver- lauf der Krankhe i t m6glichst kurz gehalten. Genauer sollen dagegen die St/)rungen in der zeitlichen und ritumlichen Orientierung, in der Er- fassung von Gestalt und Situation, im besonderen vom eigenen Spiegel- bild, und die Stiirung des Realithtsbewui~tseins untersucht werden.

Frau M. wurde am 8. VII. 1927 in die hiesige Klinik aufgenommen und blieb hier bis zu ihrem Tode am 4. IX. 1927.

M. ist 1850 geboren; iiber Kinder- und Jugendzeit ist nichts N/theres bekannt. Vor etw~t 50 Jahren heiratete sie einen Tfinchermeister; sie hat 2 gesunde Kinder. Sic war selbst his vor einiger Zeit gesund, eine tfichtige Hausfrau, in keiner Weise auff/~llig. Vor 2 Jahren begann langsam eine seelische Ver~nderung: sie wurde mil~trauisch, /tngstlich und, besonders nachts, unruhig. Sie redete und benahm sich manchmal sichtlich verwirrt, lief z. B. nachts mit der brennenden Petroleum- lampe auf den Marktplatz. Sie wurde zunehmend eitel, saB oft vor dent Spiegel, sprach mit ihrem Spiegelbild und warf einmal ein BrStchen hinter den Spiegel,

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2 6 G. Jacob :

,,damit die arme alte Frau auch etwas zu essen habe". Auf den Vorhalt ihrer Tochter, dab sie sich doch sell)st im Spiegel sahe, erkli~rte sie: ,,Ja, die da hat dieselbe Bluse an wie ich."

Bei der Aufnahme in die Klinik hatte man den unmittelbaren Eindruck einer ursprfinglich lebhaften, intelligenten, affektiv resonanzf~higen PersSnlichkeit, ein Eindruck, der durch das Gesamtverhalten der M., die Art, wie sie auf das neue Milieu, die ~rzte, reagierte, durch ihre Spontan~uflerungen und die Priifungs- ergebnisse best~tigt wurde.

K6rperliche Untersuchung: Allgemeine, dem Alter entsprechende Reduktion des Kr~ftezustandes. Blutdruck 200/100, sonst, aul3er Arteriosklerose, an den inneren Organen kein krankhafter Befund. WaR. im Blutserum negativ. Neuro- logisch kein pathologischer Befund, keine Anzeichen ffir Apoplexie, keinerlei Herdsymptome.

Untersuchungsbe/und der Augenklinik: Beiderseits Cataracta incipiens, Fun- dus normal, genaue Visus- und Gesichtsfeldprtifung infolge der Demenz nieht mSglieh.

Mitte August 1927 erkrankte M. in der Klinik an Bronchopneumonie, begann k6rperlich zu verfallen, psychisch nachzulassen, bis sie gi~nzlich apathisch und unansprechbar wurde. Der Exitus letalis erfolgte am 4. IX.

Sektionsbe/und: Verschm~lerung der Grol3hirnrinde, Arteriosklerose der ba- salen Hirngefi~13e, sonst makroskopiseh Gehirn auf allen durchgelegten Schnitten o.B. (Eine histologische Untersuchung konnte nicht vorgenommen werden.) Atheromatose der Aorta und der Coronararterien. Altersatrophie yon Herz, Leber, Milz, Nieren. Bronchopneumonie beiderseits.

Die weiterhin mitgeteilten Beobachtungen und die, wortgetreu mitgesehrie- benen, Priifungsergebnisse stammen aus der Zeit yore 8. VII. bis 4. V|I[.

A llgemeines Verhalten. In dieser Zeit ffihlt M. sich kSrperlich wohl, Appetit gut, Schlaf mit leichten

Mitteln ausreichend, alle anderen kSrperlichen Funktionen intakt. Sic besorgt sich selbst, iflt allein.

Das ganze Verhalten der M. ist ausgesprochen passiv. Sie ist zuweilen, be- sonders morgcns, schl~frig, nicht bei vollem Wachbewufltsein. Spricht man sie an und unterh~lt sich kurze Zeit mit ihr, wird sie schnell v511ig klar und lebendig. GewShnlich liegt sie ruhig, gleichmiitig zu Bert, nimmt spontan nicht viel Anteil an den Vorg~ngen auf der Abteilung. Selten trifft man sie geschiiftig am Bettzeug nestelnd oder gelegentlich hin und her laufend mit der Begriindung, sie miissc helm und ffir die Kinder sorgen, oder es komme morgen doch Besuch zu ihr, sic miisse alles richten.

M. begegnet J~rzten und Schwestern mit verschieden starker Sympathie und Antipathie und behMt diese affektiven Einstellungen bei.

Die Stimmung ist aufler seltener Gereiztheit fiber das Essen oder die Schwestern ziemlich gleichm~13ig indifferent, an einzelnen Tagen leicht euphorisch.

Die Eigen-Anregbarkeit, abgesehen von jener Besch~ftigungsunruhe, ist sehr gering, dagegen reagiert M. in wechselnder Sti~rke, Dauer und Schnelligkeit, aber immer mit Bereitschaft und Vergnfigen auf jegliche Anregung, die an sie heran- gebracht wird und findet sich insbesondere in die Prfifungssituationen, nachdem gelegentlich in gereizter Stimmung ein anf~nglicher Widerstand fiberwunden werden mug, mit lebhaftem Interesse und einem die Situation lebendig und gut iiberschauenden Humor. Sie macht dann treffende Bemerkungen: bei Unter- suchungen auf r~umliche Orientierung zur hereinkommenden Schwester: ,,Ich studiere jetzt auf rechts und links, vornehmc Leute sind aber kuriosl" Oder:

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Analyse eines Falles yon seniler Demcnz. 27

,,Miil~t ihr d~ts alles lernen ? Da wird alles ausgetiifte|t, das is| ein ganz anderes Gelerne !" ,,Warum mfissen Sie das alles wissen ? wegen der Menschen, wie sie sind!" Einmal, Ms sie die Ref. im halbdunklen Korridor mit ,,Herr Dr." an- gesprochen hat, zicht sic sich aus dcr Aff/tre: ,,Ja, well ihr allc soviel wiftt und so gescheite Gesichter habt." l)erlei Bcmerkungen fallen natfirlich nebenbei. Ein wesentlicher Unterschied nebenl/~ufiger und aufgabengerechter Leis~ung stellt sich aber nicht heraus, wcil M. die Aufg~bcnsituation als eine angenchme Unter- haltung g/~nzlich ohne Hemmung oder Vcrlegenhcit hinnimmt.

Sie fibernimmt gewohnte Anforderungen ebenso wie ich-fremdere: Kartoffel- seh~tien, Strfimpfestopfen, Recllnen, Schreiben, Begriffe definieren usw. anfangs durchaus als Aufgabe, verliert im Verlauf der Durchfiihrung me|st das Be- wufttsein ciner Priifungssituation, |st dann ganz an die Sache hingegeben. Dic gesetzte Determination wird lange festgehalten, und dic Aufmerksamkeit bleibt iiber ger~tltme Zeit auf derselben HShe. Im Durchschnitt ermiidet M. nach I Stunde, dann wird abgebrochen.

M. stcllt sich sehr gut ein und urn: sowohl auf Aufgabe iiberhaupt wic auf dic jeweils geforderte Leistung. Nur zuweilen zeigt sic Tendenz zum Haften, Perseverieren, und das an charaktcristischcn Punkten, an denen noch davon die Rcdc scin wird. Als durehgehende Symptome sind diese Tendenzen nicht nach- weisbar. Sie is| |miner vSllig be| der Sache, Entgleisungcn entsprechen ihrer Lcistungsgrcnzc.

Konfabulationcn kommcn im allgemcinen nicht vor, auftcr wenn sic ihre Bcschi~ftigungsunruhe zu motivieren such|.. Einmal nur bring| sie eine aus- fiihrliche Geschichte vor, um dic Zuneigung zu einem der ~rzte zu crkl~ren: Sic kenne ihn seit seiner Geburt, habc ihn als kleincs Kind auf dem Arm getragen, (lie Eltern wohnten in ihrem Sti~dtchen in derselbcn Stra[3e usw. An dieser Ge- schichte hiilt sic cin paar Tage lang lest.

Verlegenheitsantworten werden oftmals gegeben, wenn das inhaltliche Ant- wortmaterial nicht zur Vcrffigung steht, z. B. auf dic Frage, wicviel Uhr es sei: ,,Soy|el wie gestern um dic Zeit" oder: welches Jahr: ,,Hab noch nicht geguckt (|~nach", ohne daft cin /~rgerlicher Affekt fiber das Nichtwissen merklich wfirde. hn Gegenteil freut sich M. me|st fiber dicse Schlagfertigkeit.

Mfindliche und schriftlichc Verst/indigung in gewissem Umfang |st |miner mSglich, von den bestehenden ~tphasischen StOrungen wird noch die Rede sein.

St0rungen der Sinnesi.i~tigkcit konntcn nicht festgestcllt werdcn, insbesondere sind Gesichts- und Tastempfindungcn, wic aus dem Gchaben nnd Hantieren der M. und t~us der minutiSscn Erfassung von Einzclhcitcn in ~tllen m6glichen realen lind Bildsituationeu zu schlieften |st, intakt. (Die sp/~ter zu besprechende Vcr- f~lschung der Wahrnehmung bcruht auf sehr komplcxcn Vorg~ngen, die nicht tLuf StSrung der Sinncsfunktionen zuriickgeffihrt werden k0nncn.) Sinnes- I)hysiologischc Priifungcn konntcn aus /iufteren Griinden nicht vorgcnommcn wcrden, sind ffir <lie aufzuwerfcmlen )'ragen auch nicht yon Belang.

Ausdrucks- und Handlungsmotorik wcrden frei, zwcckentsprcchcnd cntfaltet, ohne daft Entgleisungen vorkommen.

Aus diesen al lgemeinen Fes ts te l lungen ergibt sich das Bild eincr n ich t schr schwcren Demenz be| urspriinglich guter Inte l l igenz und noch an-

sprcchbarer Affektivi t~t . U m so in teressanter erscheint es, die patho-

logischen Abwand lungen einzelner Verhaltensweisen auf diesem relat iv

gu t e rhal tenen Grunde und ihre Durchf lechtung mi t vOllig i n t a k t e n F u n k t i o n c n zu verfolgen.

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28 G. Jacob:

Die t)rotokolle werden nut, wenn es ffir das Verst~ndnis tier Gesamtsituation, aus der heraus die Antworten erfolgen, n5tig ist, in der urspriinglichen Reihen- folge der Fragen wiedergegeben, sonst sind sie nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet und, je nachdem es die Darstellung erfordert, mehr oder minder vollst/~ndig mitgeteilt.

Orientierung in der Zeit.

Die St6rungen in der zeitlichen Orientierung sind im wesentlichen dicselben, wie man sie gewShnlich bei Korsakoff-Kranken finder. M. hat die Anschauung der eigenen Lebenszeit als Ganzes, dagegen nicht mehr eine irgendwie sinnf/~llig gegebene objektive Zeit, in welche sie, wenn auch noch so schcmenhaft, ihr Leben oder einzelne Daten einordnen k6nnte. Als Zeiterlebnis hat M. ferner t in Bewul3tscin um den Moment, um die Stunde, die sic auf Befragen immer nahczu richtig angibt.

M. wird bei fast allen Untersuchungen nach ihrem Alter, dem Datum ihrer Geburt, Daten aus ihrer Vergangenheit, nach dem Alter der Kinder usw. gefragt.

Mit fast gleichbleibender Sicherheit gibt sie ihr Alter an. Diesen Fixpunkt sieht sic als den Endpunkt einer langen durchlebten Zeitstrecke: ,,Werdet mir nur nicht so air! Wenn man solange drauf ist, ist man lange genug drauf!"

Das Datum ihrer Geburt bringt sie im Ansatz in durchaus richtige Beziehung zu ihrem heutigen Alter, die Einordnung in die objektive Zeit gelingt aber nicht mehr. - - Wann geboren .9 ,,Vor 77 Jahren, ich kann nicht wissen, der wievieltc, bin aber so alt", oder ,,da mul3 man retour schauen", eine Umschreibung, die anschaulich die zurficldiegende Zeitstrecke zum Ausdruck bringt. Und anders: warm geboren .9 ,,Da mul3 man in den Kalender schauen", odcr ,,in dem Jahr, in dem es geschrieben steht", ,,weifl nicht, geboren, da muff ich rechnen", Ver- suche einer ]3eziehungssetzung, die nicht mehr m6glich ist, weil der objektive Zeithintergrund unpr/~zise, vcrschwommen, blal3 geworden ist und nur noch mit Zahlen bezeichnet wird, die fiir M. selbst keinerlei anschauliche Vorstellung mehr sind und ganz wahllos eingesetzt werden: ]820, 1730, 1620 usw.

W/~hrend M. alte Erinnerungen inhaltlich bestimmt und lebendig reproduziert, z. B. erzi~hlt, daI~ die Grol~mutter ihr als Kind viele kleine J~pfel gcschenkt, daft die Tante immer gen/tht habe usw., kann sie den Zeitpunkt dicser Ereignisse nicht angeben, kann sie nur noch als ,,damals" in ihre eigcne Lcbenszeit einordnen.

Angaben iiber die Dauer ihres Klinikaufenthaltes, fiber gestern, vor tin paar Stunden stattgehabte Erlebnisse, sind immer ungenau. Erinnerungen der letzten Zeit werden meist zu weir zurfickdaticrt, was aus der Bl/~sse, mit der sie auftauchen, crklart werden kann.

Tagc und Monate als Bczeiehnungen sind M. noch geli~ufig, doeh gch6rt dies in die Aktualisierung des Wissensbesitzes, nicht des Zeitbewul~tseins.

Fi i r M. ist also ihr Alter eine relat ive feste Gr/ii3e, yon (ler aus sic sich in der Vergangenhei t zu or ient ieren sucht. Sie bcsitzt auBer

diesem mehr wissensm~i3igen F i x p u n k t ein direktes Zeiterlebnis in

der Setzung des gegenw/trtigen Momentes, und sic ha t ferner ein

anschauliches Wissen yon der abgelaufenen Zeitstrecke ihres cigenen

Lebens. Diese Strecke ist ihr jewcils ganz, n icht mehr ( l is t inkt unter -

te i lbar gegeben. Erlebnisse der j i ingsten wie der welt zurfickliegen- den Vergangenhei t k6nnen nur noch u n b e s t i m m t als neu| ich, (tamals

e ingeordnet werden, ganz unabh/~ngig yon der Pr/~gnanz, mi t der sie

e r inner t werden.

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Analyse cines Falles von seniler Demenz. 29

N u r cin einziges Mal se tz t M. bewul3t e inen zuk i in f t igcn Augenl ) l i ck

m i t : , , Ich mul~ j e t z t b a l d n a c h H a u s e " , sons t spr ich t sic, wie Seni le

vielfach, hie yon e i n e m K o m m e n d e n .

Orieutierung am eigenen K6rper, im A u[3enraum, Er/assung yon oplisch- rdiumlichen Ge~samtsituationen.

in der Beziehung yon K6rperraum land Aui]enraum pr/~valiert fiir M. der Kiirperraum ausgcsprochen. Die Orientierung am eigenen K6rper ist in gew6hn- lichen KSrperhaltungen ungest6rt. ,,Reflexive Handlungen", die Handhmgen in Bcziehung auf den eigenen Leib, gelingen fast immer prompt: Rechtes, linkes Auge zeigen, auf die rechte, die linke Seite legen, bei geschlossenen Augen den reehten, linken Arm hehen usw., wird in gewohnter Situation ohne Schwicrigkeit ausgeffihrt. Interessant im Zusammenhang mit andcren typisch abgcwandeltcn Leistungen ist, (tab M. bei der Aufforderung, mit der Hand auf den linken FaB zu zeigen, yon der Hiifte am linken Bein herunter bis zum FuB fiihrt, (lie Hand yore Leib nicht l~ist und nicht einfach die Richtung dutch die Luft zeigt. Ab- gesehen yon der ,,leibgebundenen" L6sung der Aufgabe des Zeigens bedeutet das Hcruntergleiten der Hand ein Suchen. Der FuB wird zwar gefunden, abet ist nicht so unmittelbar da und gegenwitrtig, dab er direkt gczeigt wird. Leichteste StS- rungen des K6rperschemas rnanih~stieren sieh zuerst an den am wcitesten weg- gelegenen K6rperteilen, ehen den FiiBen.

Gekreuzte Bewegungen, linke Hand - - rechtes Augc usw. werdcn oft erst gleichseitig, rechte Hand - - rechtcs Auge, ausgefiihrt, dann racist spontan kor- rigiert. Es wird bier die gew6hnliche Ersehwerung (ler gekreuzten vor der gleieh- seitigen Bewcgung deutlich. Automatisierte gekreuzte Bcwegungen, wie die rcchtc Hand in die rechte Hand der Ref. legen, gelingen ohne Sehwicrigkeiten.

13. VII. Die folgenden Befehle werden hintereinander gegeben: Fassen Sic nfit der rechten Hand an Ihr rcehtes Ohr! richtig. Gehen Sic ]hre linke Hand! richtig. Wo ist meine linke Hand ? zeigt richtig. Zeigen Sic nach rechts! greift nach (lem rechten Arm der Ref., die ihr gegen-

ii|)er sitzt, sagt: ,,Das ist rechts", 1/~Bt die Hand wieder los, hebt ihrc rechtc Hand und meint wicderum: ,,l)as ist reehts ' ' t .

Zcigen Sic nach links! ,,I)a kann ieh greifen!", ergrcift m i tdc r linkcn Hand ein links von ihr auf dem Tisch liegendes Stiick Papier.

Zcigen Sic naeh vorn! legt den Mittelfinger (ler rechten Hand an die Nasc, fithrt dann an der Mittellinie ihres K6rpers hinunter. Auf vielfache Wiederholung der Aufforderung, nach vorn zu zeigen, beriihrt sic immer wieder ihre Nase.

Wo ist das F~,nster, vorn oder hinten ? (sic sitzt, durch (tie Litnge des Tisehes getrennt, ihm gcrade gegeniibcr), sic blickt hin, zeigt aber nicht, antwortct: ,,Das ist dort".

Wo ist das Fenster ? ,,Da muB ieh hingehen lind sehauen! was rein zu ist, ist rein, und wits hinter zu i s t , . . . " zeigt dabei in Richtung des Fensters un<l sieht zum Fenster hinaus ~.

Wo licgt dic Schachtcl, reehts oder links ? ((lie reehts yon ihr auf dem Tisch liegt). Antwort: ,,Das ist rcchts. Warte real, ich mug real sehauen". Bleibt

1 Ein anderes Mal erfal3t M. cinen ihr gerade gegeniibcrstehenden Stuhl mit dcr rechten Hand und sagt: ,,Jetzt i s t e r rechts".

" Am 24. VII. in einem anderen Zimmer gefragt, wo das Fenster sei, oh vorn oder hinten, zeigt sic richtig, meint dazu ghnlich wic obcn: ,,Rein zu i s tes" .

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30 G. Jacob :

kurze Zeit ratios, sieht naeh rechts und links, bis sie sic mit der rechten Hand ergreift und mimiseh kundgibt, dal~ sie die LSsung gefunden hat.

M. versteht also r~umliche Ordnungsbegriffe, setzt sie bei reflexiven Hand- lungen fast fehlerlos ein, bei Orientierung im AuBenraum in starker Abh/~ngigkeit vonihremKSrperraum, gelegentlichvon demihres Gegeniibers. Abstrakt-r/~umliche, reine l~ichtungs- und Ortsbeziehungen, kann M. indes nicht mehr setzen. So wandelt sic das Nachvornzeigen in das Zeigen der eigenen Nase, das Nachrechts- zeigen einmal in Berfihrung des reehten Armes der Ref. und dann in das Zeigen ihrer eigenen rechten Hand urn. Es wird dabei also nicht die reine Richtung in- tendiert, sondern start dessen ein konkretes Ding mit dem Merkmal der der Rich- tung entsprechenden Lage, wobei dieses Ding jeweils ihrem K6rperraum oder dem ihres Gegeniibers zugehSrt. - - Man kSnnte hier sagen, dab in dem Haften an Hand und Arm ein Perseverieren herauskommt. Dann ist aber wichtig, da6 M. im Bereich des KSrperlichen tiberhaupt haften bleibt, dab sic sich dagegen yon rechts auf links und yon einer motorischen Geistung auf die andere sofort um- stellt. Sie fibernimmt aus der Aufgabe nur nicht: Richtung als solche.

Noch klarer kommt in der Antwort ,,da kann ich greifen", die auf den Befehl, nach links zu zeigen, gegeben wird, heraus, dal~ Richtung ohne Ziel nicht nut nicht intendiert, sondern da6 Riehtung und Ziel nur mit der Er/assunff eines Gcgenstandes gesetzt werden, dab M. ,,links" erst am links liegenden Ding kon- krctisiert, dann yon der Anschauung des Dinges zu seinem Ergreifen iibergcht und also in zweifacher Weise einc abstrakte Beziehung ins Konkrete umwandelt.

Im Erfassen liegt die realste Beziehungssetzung, und in diesem Sinne wird ihr ,,rechts" ers~ gewil~, als sic, im sp/iteren Versuch, die Schachtel in die rechtc Hand genommen hat. - - W~hrend M. his hierher vom K6rperraum zu Dingcn im Augen- raum fortschreitet, bleibt sie bei (lem Befehl, nach vorn zu zeigen, am eigenen Leibe haften, und die geforderte Zuordnung yon vorn, Fenster und eigenem Leib setzt sic nicht. Um festzustellen, wo das Fenster sei, will sic sich zum Fenster hinbegeben, cine Art realer Umgehung ciner anschaulich und bcgrifflich nicht herstellbaren Verbindung. Im iibrigen wird dann dem Fenster ,,herein" und ,,heraus" im Ausdruck unscharf und unklar, aber dem Sinne nach richtig zu- geordnet. R~umlich blcibt also das Fenster ,,dort", M. ,,hier", und einc Ein- ordnung in einen Gesamtraum geschieht nicht.

Anders bei den Dingen, deren Ort M. dadurch bestimmt, (la6 sic sic an ihrcn Lcib heranbringt; damit beherrscht sic den Autenraum, soweit er ihr (;rei/raum gcworden ist.

24. VII.: M. sitzt aufrecht im Bett. Zeigen Sic nach hinten! Antwort: ,,Ich babe nichts in der Hand!" Zeigen Sie nach hinten! ,,Da, mein Buckel ist hintcn!" Wo ist vorn ? F~hrt an ihrer Brust herunter mit den Worten: ,,Das ist dic Brust !" Also erst wird Zeigen in seiner anschaulichsten Verstehensm6glichkeit genommcn, dann ist ihr vorn und hinten wie frfiher an dcn eigenen Leib gebunden.

In Riickcnlage hebt sic auf Auffordcrung richtig den linken Arm. Sie wird dann auf die rechte Seite gelegt und gefragt, wo der linke Arm sei; sie weist mit der linken Hand auf den rechten Arm, der unten liegt. Nochmals gefragt, wo der linke Arm sei, schl/~gt sie mit der linken Hand die Bettdccke zuriick, sieht unter die Decke, meint: ,,Da ist ein graues Tuch" und findet ihren zweiten, den rechten Arm nicht. In derselben Lage verwechselt sie dann mehrfach ihre rechte und linke Hand. Gefragt, wo vorn sei, zeigt sie auf dic schr/tg vor ihr sitzende Ref.: ,,Das ist vorn, nein hinten, nein vorn." Sic fKhrt dabei an Ref. entlang zur Veranschaulichung.

Es geniigt also eine ver/~nderte, ungewohnte Gage des K6rpers mit der dadurch hervorgerufenen erh6hten Aufmerksamkeitszuwendung, damit M. das

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Analyse eines Falles von seniler Demenz. 31

schlichte BewuBtsein der K6rperlichkeit, hier fiir ihren Arm, verliert, d. h. ihr K6rperschem,~ ist ihr nur solange selbstverst/~ndlich und intakt gegeben, als sie sich in normaler Lage befindet. Die Seitenlage genfigt schon, das ,,K6rper- schema" zu zerbrechen. Es riickt typischerweise sofort der ,,Reizort", in diesem Fall der rechte Ann, auf dem sic liegt, in den Vordergrund des Bewul3tseins, (leshalb wird als Antwort auf die Frage nach dem linken Ann mit der Hand auf den ,,gereizten", den rechten Arm, gezeigt. Die fibrigen Orts- nnd Richtungs- 1)cziehungcn werdcn im AnschluB ~m die Orientierungsst6rung am eigenen Leib ebenfalls unsicher.

Das 0berwiegen des K6rperraumes und (lie Unfiberschreitbarkeit seiner Begrenzung kommt in folgendem noch einmal gut heraus. Auf dem Rficken liegend gefragt, ob das unter ihrem Kopf befindliche Kissen oben oder unten sei, gibt M. zur Antwort: ,,Der Lcit) ist oben, unten, wenn ich reich umdreh." Und bei der folgenden Aufforderung, nach unten zu zeigen: ,,Soll ich reich kerzen. gerade hinstellen? (lann sind unten die Frills. Sonst kann man es (loeb nicht machen!"

Als M. gefragt wird, wo die Wand sei,/aflt sie richtig nach der nahen Wand, gleitet dann mit den Blicksn an den fibrigen W~mden entlang mit den Worten: ,,Rechts ist die Wand, links noch sine und vorn nnd hinten eins." Sie kann dis Wand ergrei/en, infolgedsssen sofort setzen und yon diesem Fixpunkt aus im Aullenraum welter fortschreiten.

Fiir dic Fliichtigkeit dsr eben vollzogenen Anschauung ist dann 1)ezeichnend, dafl, als sic sofort darauf gefragt wird, wicviel W/inde dieses Zimmer habe, meint: ,,Weil~ ich nicht, da miissen Sic hingehen und messen."

Zusammenfassend 1/tl3t sich sagen: Die r~tumliche Or icn t ie rung geht

vom eigenen Leibe aus. Das , ,KSrpe r schema" is t labil, im i ibr igen in- takt,, solange n ich t ungewohnte Lage und d a m i t erhShte Aufmerksam- ke i t auf <tie eigene KSrpe r l i chke i t und die Beziehung der KSrper te i l e zue inander und zum umgebenden R a u m das Bewul~tsein yore eigenen

K 6 r p e r seiner Se lbs tve r s tgnd l i chke i t 1)eraubt. Die Gegenst~tnde werden mOglichst nahe an den Leib he rangebrach t ,

miigl ichst , ,erfal l t" , in den , ,Gre i f raum" (Biihler) einbezogen. Das Her- aus t re tcn aus KSrper - und Grc i f raum is t schwierig. En t f e rn t e r c Gcgen- s thnde werden n ich t mehr in Beziehung zum eigenen K 6 r p e r gesetzt . Das Fens t e r bleit)t fiir sich in seinem eigenen R a u m mi t seinem Si tua- t ionszubchSr yon , ,draul3en" und , ,dr innen" . Oder als M. e inmal gef ragt wi rd : L ieg t die F r a u rechts oder l inks von Ihnen ? ,,Die l iegt in der Mitre yore Be t t " , wird diese S i tua t ion zwar als in sich beschlossen und ffir sich abgeschlossen erfal3t, es wird abe t wie bei der Loka l i sa t ion des Fens te r s keine f ibergreifende Gesamts i t ua t i on in der r~umlichen Ordnung mehr aufgebaut . R ich tung i i be rhaup t wird n ich t gesetz t und mlr als Loka l i sa t ion eines Dinges vers tanden .

Der Verlust der anschaulichen Vergegcnw/~rtigung einer r/~umlichen Gesamt- lage fiihrt bei M. zur Desorientiertheit in fremden und in grOBeren R/~umen. Kommt sie in ein unbekanntes Zimmer, so bleibt ihr Blick an einem zuf~llig getroffenen Gegenstand - - Sofa, Tisch - - haften. Sis sieht sich nicht wciter urn, wird die Ge- samtheit gar nicht wahr. Ffihrt man sie kurz darauf wieder in dasselbe Zimmer und fiillt ihr Blick zufallig in eine andcre Ecke, so erkennt sie den gaum nicht

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32 G. Jacob :

wieder, nieht etwa darum, weil ihr die gedi~chtnism/il3ige Reproduktion des Vorher- gesehenen und die Identifizierung mit dem im Augenblick Wahrgenommenen nicht gelingt, sondern weil sie ganz einfach im selben Zimmer ganz andere Dinge anschaut, alles Umgebende ihr nicht zum Bewufltsein kommt, und eine Tendenz, sich den Raum in seiner Totalit~t zur Anschauung zu bringen, nicht besteht. Lenkt mall sie abet auf das Vorhergesehene, z. B. das Sofa, so identifiziert sie es prompt mit dem von friiher Bekannten.

Umgekehrt erfaflt M. eine Situation in ihrer Totalit/it, ohne die Glieder (listinkt zu unterscheiden. M. hat l~ngere Zeit mit Ref. und einer Stenotypistin im Unter- suchungszimmer am Tisch gesessen. Nachdem sie nach wcnigen Minuten, in dcnen sie drauBen im Gang wartete, wieder hereinkommt und Ref. stehend vor- finder, ist sie ratlos, weifl nicht, ob das die _~rztin ist (bei den iiblichen Visiten am Bett ist nie eine Verkennung oder Unsicherheit in der Identifizierung vorgekommen). Erst als die urspriingliche Situation wieder hergestellt ist, gibt M. mit ziemlicher GewiBheit an, das sei die _~rztin. Es werden also die Teile, aus der Gesamtsituation gelSst, nicht mehr identifiziert, noch weniger kSnnen sie kombinatorisch auf dic urspriingliche Situation bezogen und fiber diese dann erkannt werden.

Eincrsei ts stellt M. also kcine Gesamts i tua t ion mehr her, auf der

anderen Seite ist die Tota l i t~ t zwar gegeben, aber unkonzis , unscharf

in ihren Bcstandtei len. Der Zusammeuhang yon G~mzhcit und Teil,

vone inander gelSst, k a n n n ich t mehr hergestell t werden. Das Ine in-

andergefiigtsein, die S t ruk tu r i e rung ist verlorengcgangen, die Ganzhci t

ist als Komplex verschwommcn, und (lie Teilc sind cbcnfalls n ich t

pr~tzis gepr~tgt im Bewul~tsein.

Einzelne Komponenten der StSrung lassen sich klarer herausstellen, wenn man an einfachsten Figuren die Erfassung und Reproduktion r~tumlicher Be- ziehungen untersucht. Es werden M. einzelne, aus wenigen Stiibchen gelegte, geometrische Figuren gezeigt und M. dann aufgefordert, sie aus dem Ged~chtnis zu reproduzieren. M. wiederholt die Lage eines St/~bchens ebenso wie die Korsakoff- Kranken Biirgers ohne ZSgern. Leere, abstrakte Figuren aus mehreren Sti~bchen, denen keine Bedeutung, keine Abnlichkeitsbeziehung unterzulegen ist, werden in folgender Weise vereinfacht: Es werden niemals andere Winkel als rechte ge- legt, am liebsten reiht M. die St~bchen einfach nebeneinander, macht aus einem Dreieck eine Figur yon 3 t)arallelen, oder aus einem Rhombus ein Rechteck, ohne sich um die Reproduktionsgleichheit zu kiimmern. Sie versucht, die St~bchen in einem mSglichst kleinen Raum unterzubringen und behMt die Anzahl bei, auch wenn ein Haufen von St/~bchen ihr zur Verfiigung daneben liegt. Ob M. die reine Form genau wahrnimmt, ob sie sic zu fliichtig perzipiert oder ob ihr die Genauigkeit der Wiedergabe gleichgiiltig bleibt, l~13t sich nicht sagen. Dal3 sie die Figuren als Gestalten tiberhaupt erfaflt, beweisen die Art der Abwandlung und weiter die Deutungen, die sie, wenn irgend mSglich, herausholt.

T T ist eine Bank, Z ein Haken, * ein Stern usw. Diese als sinnvoll erfa[3ten Figuren reproduziert M. dann, indem sie versucht,

den Bedeutungsgehalt selbst~tndig, unabhangig von der Gestalt des Vorbildes, darzustellen. Die Wiedergabe entspricht dann nicht dem Vorbild, sondern ver- einfacht es : 1. indem mSglichst wenig St/tbchen verwendet werden, z. B. der Stern start durch 8 durch 4 St/~bchen dargestellt wird, 2. indem alle schiefen Winkel wiederum vermieden werden mit der Begriindung, es habe zwar schief gelegen, sic kSnne die Ecken aber nicht machen (diese Begrtindung wurde bei Umwandlung z. B. eincs Rhombus in ein Rechteck niemals vorgebracht). Nur in der Wieder-

Page 9: Analyse eines Falles von seniler Demenz

Analyse eines Falles yon seniler Demenz. 33

gabe des Hauses ist das anschauliche Wissen um die Form stark genug, um die vereinfachende Tendenz zu iiberwinden: Das Dach wird n i t den nStigen sehiefen Winkeln dargestellt. - - Bei diesen Versuchen zeigt M. das sonst fast nie hervor- tretende Perseverieren; das Haus wird durch mehrere andere Figuren hindurch festgehalten. Es hat den st~rksten Bedeutungsgehalt, die grSBte Ich-N~the und verdr~tngt ilffolgedessen die anderen Vorstellungen. - - Die bedeutungserfiillte Figur wird also ihrem Sinngehalt, nicht aber ihrer distinkten Form nach re- produziert. - - Dieses Ireie Schalten mit dem Wahrgenommenen unter der Deter- mination einer Bedeutung wird sp~ter bei den Spiegelbildverkennungen wieder gefunden. - - Es ,,zerfallen" M. hier also keine Gestalten, sie werden abet durch- gehend auf eine einfaehere Formel gebracht.

Komplexen Bildsituationen gegenilber verh~lt M. sich nicht so eindeutig. Durchgehend ist nur festzustellen, dab jede Erfassung ,,nut yon einer Riehtung her bestimmt ist". Entweder wird die Gcsamtsituation intendiert: z. B. dab die Kinder den Wagen ziehen, oder der Mann geht ins Haus hinein, wobei der Mann nicht als Brieftr~ger vorgestellt wird, oder es wird im Ganzen eine Teilsituation wahrgenommen, oder es wird einfaeh ein Gegenstand naeh dem anderen an- gesehaut und aufgez~hlt.

W/thrend demnach die Erfassung eines Bildes zwar einseitig ist und nach den aufgez/ihlten Schematen verlauft, aber doeh immer auf irgendeine Weise gelingt, versagt M. bei der einfachsten Kombination, wenn sie aus einfachen Teilgliedern ein an sich noeh wenig kompliziertes Gesamtbild aufbauen soll. So wird ihr ein Bild mit einem Wagen mit 2 roten Radern gezeigt und ihr dann durchgesehnitten wiedergegeben. Sic versucht, den Wagen zusammenzusetzen, orientiert sich zu- erst richtig an den Radern, bringt es dann abet nicht fertig, stellt die eine H~lfte des Wagens auf den Kopf. Sie verh/~lt sich hier genau so wie der Fall H. yon Feuchtwanger un(t Eliasberg, stellt aber im Gegensatz zu H. die Fehlleistung selbst fest, ohne sie indes korrigieren zu kSnnen.

Lebensgewohnte Situationen beherrscht M., fegt die Stube, deckt richtig den Tisch usw.

Die Praxie ist intakt. Ausdrucksbewegungen, Hantierungen am Objekt, ,,Bewegungsablaufe auf vorstellungsmaBigem Wege": Wie geht die Uhr, wie dreht man eine Kaffeemiihle usw. laufen ungestSrt und zweckgeriehtet ab. Die nur in ungewohnter Lage aktuell werdende St6rung des K6rperschemas beeinfluBt die Praxie noeh nicht. Die ,,Funktionen, welche das oberfl/iehlieh bearbeitete Material nun endgiiltig zur Handlung bereitmachen sollen" (Schilder), sind erhalten.

(JTber einzelne Denk]unktionen.

Schilder sagt in der Psychologie der Para lyse: ,,Das Wahrnehmungs - rohmater ia l unter l iegt Verschiebungen u n d Verd ich tungen und k a n n nicht in s t rukture l l gegliederte Ordnungen zusammengefa~t w e r d e n . . . "

Es ist auch hier der Verlust der , ,gegliederten Ordnung" , des Aufbaues

des Denkens u n d des Bezuges auf e inen al lgemeinen ob jek t iven Gfiltig-

ke i t szusammenhang wesentlich. Es fehlt die kritische Ste l lungnahme,

die E i n o r d n u n g des Wahrgenommenen in die Gesamterfahrung, die

Aktual is ierung des jeweilig n5t igen Wissensbesitzes (Pick). Es fehlt

das Evidenz- und vielfach das Widerspruchserlebnis . Die dynamischen

Faktoren , die Zielsetzung und Determinierung, das Weiterschrei ten, die Gespannthei t , die Spontaneit~it haben mit der gesamten psychischen

z. f. d. g. Neur. u. Psych. 116. 3

Page 10: Analyse eines Falles von seniler Demenz

3 4 G. Jacob :

Akt iv i t~ t weitgehend nachgelassen. M. k a n n nur einen gewissen Um-

fang denkm~Big bew~ltigen u n d n u r eine kleine Anzahl yon Da ten

s inngem~6 in Beziehung setzen. Das Material selbst ist schon als Wahr - nehmungs inha l t unseharf , ve rschwommen, flfichtig.

Im einzelnen ist hervorzuheben: die Auffassung allgemeinerer Bestimmungen (rechts, links) gelingt, wie erw~ihnt, nur in der Konkretisierung als Eigenschaft eines Dinges, ebenso werden Sachbezeichnungen iiberhaupt nur als Nennung eines einzelnen Gegenstandes verstanden, so ist Sehlfissel tiberhaupt immer der Schliissel zu einer bestimmten Tiir usw.

Gleiehheitsbeziehung wird gesetzt: M. sucht nfit Genauigkeit aus einem P~ckchen bunter Wollf~den solche gleicher Farbe heraus. ~hnlichkeit wird oft betont; zu Ref.: ,,Ihr seht der GroBmutter iihnlich, seid Ihr verwandt ?" (Es klingt hier eine diffuse Bekanntheitsqualit~t als Resultat unprKziser Wahrnehmung und Verfi~lsehung der Wahrnehmung mit affektiv get6nten Vorstellungen an, hier liegt eine der Ursachen ffir die freundliche Zutunlichkeit der M. allen Lenten gegentiber: sie fiihlt sich nirgendwo fremd). Mengenverh~iltnisse werden (an Streichholzhi~ufchen gepriift) richtig gesch~tzt. Die Beziehung vom Ganzen zu den Teilen und umgekehrt wurde schon auseinandergesetzt. Abstrakte Situationen, die wesentlich eine Urteilsfunktion verlangen, werden relativ gut iibersehen: Der fremde Professor wird bei der ersten Visite yon M. mit ,,Herr Professor" angeredet und als ,,der H6chste im Hause" bezeichnet, Ref. als die, die studiert, allerdings dann aueh in Angleichung an gewohntere Verhitltnisse als ,,die Toehter V O I U H a n s . ~

Als Oberbegriff fiir: Vater, Mutter, Kind wird erst ,,Drilling", dann spontan: ,,Familie" geflmden. Reichtum wird mit ,,viel Sachen, M6bel" definiert, Ge- rechtigkeit mit: ,,Da[~ man Recht tut, nicht liigt und rut nicht betriigen."

Lesen, Schreiben, Rechnen geht in der iiblichen Art und Weise gut. Das Lesen versagt indes, sobald es nicht in dem gewohnten automatisierten Schema, sondern als eine kombinatorische Leistung gefordert wird, niimlich wenn die Buch- staben statt nebeneinander untereinander geschrieben sind.

Unter den mnestischen St6rungen steht obenan der Gedi~chtnisdefekt. M. verfiigt nur noch fiber Bruchstiicke aus ihrer eigenen Vergangenheit und ihrem friiheren Wissensbesitz. Die Merkfiihigkeit wechselt. Bilder werden meist wieder- erkannt, Situationen meist erinnert, aber, wie gesagt, oft falsch datiert. M. hat eine amnestische Aphasie ffir ich-nahe und fernliegende Gegenstitnde; Feder- halter: ,,So zum Schreiben", ,,das Bettding". ,,Das Ding da" wird als Flickwort oft gebraucht.

Sonst besteht im Sprachlichen noch ein nicht sehr erheblicher Agrammatis- mus, der nicht n~her analysiert wurde.

Sensorische St6rungen sind nicht vorhanden, so dab die Unterhaltung und Vermittlung yon Befehlen niemals schwierig ist.

W~hrend diese im wesentlicheu typisch dementen Verhaltensweisen gar nichts Besonderes bieten, ist yon Interesse die Verkennung des eigenen Spiegel- bildes und die daran und an der Erfassung yon Bildern tiberhaupt zum Aus- druck kommende ,,Modifikation des BewuBtseins der Realit~tt" (Dilthey).

Das Verhalten dem eigenen Spiegelbild gegeniiber. Vorauszuschicken ist, dab der Mann der M. Tfincher war, dab M. Bilder

und ihre Funktion kennt, selbst besitzt, weiB, daB man sie malen kann. Der fiir die Versuche beniitzte Spiegel ist ein rechteckiger Handspicgel yon 12:20 cm Li~nge.

Page 11: Analyse eines Falles von seniler Demenz

Analyst eines Falles von seniler Demcnz. 35

In der Anamnese wurde angegeben, <lag M. mit ihrem Spiegelbild spr~che, ihm Brot hingeworfen hitte.

Am 13. VII. wird M., wiihrend sic im Bett liegt, der Spiegel gegeben, sic sieht interessiert hinein und meint spontan: ,,l)as bin ieh", sieht sehhrfer hin: ,,So dick bin ich doeh nieht, das ist doeh kein Frauengcsieht." Gefragt, wer das sei: ,,Das sieht wie unser Grogvater daheim, Augen, Nase, weige Haare", wobei sic sieh mit der Hand fiber ihr eigenes Haar fahrt. Gefragt, ob die im Spiegel ge- sehenen Haare ihre eigencn w~iren: ,,Meine sind auch so, nein, Grogvaters."

Auf die Frage, ob sic es nieht selbst sein k6nnte: ,,Nein, ich sehe doeh nicht so aus. Sehe ich so aus'.+ Nein!" Sie unterbricht sich, zeigt auf ein br~tunlieh verf/~rbtes, sehr auffMliges Mal auf ihrer reehten Wange und sagt: ,,Das ist ja mein Fleck!", beriihrt dann die entsprechende Stelle des Spiegels und meint: ,,Der geh6rt nieht dahin, das ist der Grogvater."

Auf die abermalige Frage, wer das sei: ,,GroBvater. Wenn es ein kleineres Portr/~t w/~re, w~re es anders. Wenn es meines witre, w/ire es kleiner."

M. erkennt sich also zuerst, dann crscheint ihr ein Merkmal ,,so dick" als ihr nieht zugeh6rig und sie sehliegt, das sci kein Frauengesieht. Also mug es ein M~tnnergesieht sein, und fiber die der Wahrnehmung yon weigen Haaren usw. assoziiertc Vorstellung aus ihrem Erinnerungsbesitz wird es der GroBvater, oder, das 1/il~t sieh nieht sieher herausstellen, das Bild des GroBvaters. Die Intention: ,,Grogvater" wird nun festgehalten. Darauf wir(l scharf und eindeutig ihr ,,brauner Fleck" wahrgenommen, und zwar sowohl optisch wie taktil und wird riehtig auf dem Spiegelglas lokalisiert. Trotzdem diese Wahrnehmung komplex, greifbar und sichtbar, und unverweehselbar ist, ist M. nieht imstande, die Vorstellung vom Grogvater zu vernichten. ,,Grogvater" blcibt im Anschauungserlebnis herrsehend, und da das Zusammen yon einem Teil yon ihr selbst (Fleek) mit ,,GroBvater" M. als Widerspruch bewugt wird, so zieht sic den Schlug: Der Fleck geb6rt nicht hierher.

Also der reale Fleck wird eliminiert, weil er und das Erlebnis ,,Gro6vatcr" sieh gegenseitig aussehliegen. Wie ,,Gro6vater" hier gegeben ist, ist nicht zu sagen. Wahrseheinlieh gcht ,,Grogvater" fiber die reine Bildfunktion hinaus, sicher ist abcr, dab die Gcgcnstandserfassung ,,GroBvater" dieselbe Wirkliehkcits- t6nung besitzen mu6 wie der braune Fleck und in derselben Art wahrgenommen wird, dcnn nur so k6nnen die beiden Erlebnisse in Widerspruch zueinander stehen.

Im nichsten Satze, wenn das Portritt kleiner wire, ware es ihres, tritt M. mit dem Wort ,,PortrLtt" aus der Dingwirklichkeit heraus und setzt zwar nicht eine Spiegelbildwirkliehkeit, aber in dersclben Ebene eine Bildwirklichkeit.

Bei urspriinglich riehtiger W a h r n e h m u n g des Ganzen t r i t t demnaeh

pl6tzlich eine Verschiebung yon , ,Vordergrund u n d H i n t e r g r u n d des

Erlebnisses" ein, assoziiertes Material verdr~ngt den urspri ingl ieh an- geschauten Gegenstand. Mit Interesse u n d I n t e n t i o n r i iekt alle GewiB- heir yon der Seite der W a h r n e h m u n g auf die der Vorstellung. l~ber

der ganzen Szene steht als Gesamtde te rmina t ion , ,Gro6vater ' : , yon hier aus werden die einzelnen n icht dazugeh6rigen Wa hr ne hmungs i nha l t e

auszusehal ten versucht. Es Iragt sich, ob M. die Eins te l lung auf ,,Grof3-

vater" einfach n ieh t abzubauen vermag, ob sie an der Vorstel lung haf ten bleibt. D a n n wiirde im Ganzen des Denkerlebnisses die iibergreifende

Gesamtde te rmina t ion festgehalten, w i h r e n d gleichzeitig, gewisser-

ma[Jen darunter , weehselnde Gegenst~nde und Beziehungssetzungen

3*

Page 12: Analyse eines Falles von seniler Demenz

36 G. Jacob :

mSglich sind und in einer derar t igen Abh~ingigkeit yon der Haup t -

de te rmina t ion stehen, dab yon dorther, yon der Vorstellung die Wahr- n e h m u n g korrigiert wird.

16. VII. : M. wird der Spiegel von rechts vorgehalten, sic gibt an: ,,Jetzt bin ich drin", dann wird ihr der Spiegel von links vorgehalten, worauf sic sagt: ,,Jetzt ist die Grol3mutter drin". Es genfigt hier als StSrungsmoment die Unterbrechung und die geringfiigige Veri~nderung der Situation, und sofort verliert M. die In- tention auf die einfache Wahrnehmung. Daft jetzt Grol3mutter statt Groflvater gesetzt wird, erscheint im Hinblick auf das Alternieren yon Vorstellung und Wahrnehmung iiberhaupt belanglos. Grol3vater und GroBmutter werden auf Grund derselben Ahnlichkeitsbeziehungen und aus derselben Sphare assoziiert.

21. VII. : Der Spiegel wird M. in die Hand gegeben, sic schaut hinein und meint spontan: ,,Ein sch6nes Gesicht hat die Grol~mutter, war eine schSne Frau." Wen sehen Sic da ? ,,Das ist meine Grol~mutter. Jetzt kommen sic alle noch mal zur GroBmutter;" sagt das mit dem Ausdruck starker Rfihrung. Wo ist die GroBmutter 9. ,,Die ist gestorben und beerdigt."

Auf diese _Aul3erung hin wird M. sofort auf den Spiegel zurfickgelenkt und gefragt, ob darin die Gro~mutter sei, worauf sic zur Antwort gibt: ,,Da liegt sie drin und hat ihr schSnes Gesicht. Um den Mund herum ist sic, wie sic war. Ich meine, ich tat ein biflchen aussehen wie die GroBmutter."

M. streckt, w~hrend sic welter in den Spiegel sieht, auf Befehl die Zunge heraus. Gefragt, wen sic jetzt sieht: ,,Groflmutter! sieht gerade wie ich." Wer streckt die Zunge heraus 9. ,,Ich streck sic raus und die Grol3mutter," rfickt sich den Spiegel naher, sieht sehr genau hin und f/~hrt spontan fort: ,,Und die Augen hab' ich auch wie sic, der Gro6vater hat ein bil3chen grSl3ere gehabt."

M. faflt sich auf Aufforderung an die Nase, sieht wieder in den Spiegel: ,,Ich will mal die betrachten, ich sehe die Nase." Wem geh6rt die Nase: ,,Sieht mehr wie die Grol3mutter ihre." Wessen Nase ist das 9. ,,Die ist nicht vom Grol3vater, die ist von der Grofimutter."

Wessen Nase ist das 9. ,,Grol~vater seine." Man muff hier annehmen, dal3 die dreifach wiederholte Frage sie unsicher

macht, so dal3 sie, da die Antwort ,,GroBmutter" immer wieder eine neue Frage hervorruft, es jetzt mit ,,Grol3vater" versucht. Die beiden Vorstellungen liegen ja, wie gesagt, fiir M. sehr nahe beieinander.

Aufgefordert, bei vorgehaltenem Spiegel die Zunge herauszustrecken und gefragt, wessen Zunge das sei: ,,Grol3vater seine."

Darauf wird der Spiegel weggenommen und M. befohlen: Zeigen Sic Ihre Zunge, was sic prompt ausfiihrt. Zeigen Sic Ihre Hand: prompt. Zeigen Sic meine Hand: ,,Ja, die ist doch welt," zeigt auf die Hand der Ref., nimmt dann yon selbst den Spiegel, halt ihn so, da6 sic die Hand der Ref. darin sieht, meint: ,,Ja, so sah sie aus vonder Grol3mutter."

Dann sieht sic sich bei Drehung des Spiegels selbst zufMlig wieder, sagt lachend: ,,Ja, das ist die Grol~mutter. Wenn ich lach, lacht sic auch. Sic hat immer gelacht. Sic hat nml gesagt, als wir Obst h a t t e n . . . " (der Rest des Satzes verliert sich unversti~ndlich, wobei dem Gesichtsausdruck nach eine freundliche Erinnerung auftaucht). M. f~hrt dann fort: ,,Ich sehe wie sic, ja, ich sehe wie die Grol3mutter." Redet dann auf den Spiegel geradezu ein: ,,Ja, Du bist unsere GroBmutter. Ja, sic hat immer gelacht, wie sic jctzt lacht."

Deutlicher noch als bei dem ersten Spiegelversuch wird die Intention auf das Erinnerungsbild Grol3mutter, dann abgewandelt auf die Sphere Grol3mutter-- Grol3vater, festgehalten. M. reagiert darunter prompt auf jeden neu gegebenen

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Analyse eines Falles yon seniler Demenz. 37

Befehl, stellt sich sofort um, vom Anschauen auf motorische Leistung, dann yon Nase auf Zunge anf Hand, yon ihrer Hand anf die Hand der Ref. usw.

Diesmal meint M. schon zu Anfang ,,GroBmutter" und setzt dann in einander folgenden Akten: Die Grogmutter hat (vor ihr im Spiegel) ein sch6nes Gesicht, war eine sch6ne Frau. M. baut dann die Situation aus wie ein Tagtr~umer, li~Bt ,,die anderen" zu der GroBmutter kommen, verliert sich in Erinnerungen. Mit der n~chsten Antwort: ,,die ist bcgraben und beerdigt", konstatiert M. einen realen Sachverhalt, um im folgenden Satz: ,,Da liegt sie drin und hat ihr schSnes Gesieht", eine Aussage zu machen, als schaue sic (lie Gro6mutter an, wie sie auf dem Totenbett liegt, und zwar so, als sfihe sie dieses Erinnerungsbild im Rahmen des Spiegels.

Dann kommt als Neues eine Bewegung der M. in die Situation : Zunge heraus- strecken, lachen. M. gibt dazu an: ,,Wenn sie lache, lache die Grogmutter auch", und li~[~t auch die Gro6mutter die Zunge herausstrecken.

M. hat dabei das sichere Ich-Erlebnis: Ich lache. Sie stellt das Laehen an sich selbst lest und nimmt gleiehzeitig die Veriinderung des Spiegelbildes wahr. Die ,,GroBmutter" wird aber so sehr gesehen, ist schon so sehr der realen Wahr- nehmungswelt genahert, dab selbst die unmittelbaren kin~tsthetischen und taktilen Erlebnisse, die M. an ihrem eigenen Leibe verspiirt, nieht mehr diese optische Gegebenheit korrigieren k6nnen.

Anders aber als bei der vorher er6rterten Einstellung auf die Vorstellung ,,Grogvater", deren Festhalten die Ausschaltung der st6renden Wahrnehmung, des eigenen braunen Fleckes, verlangte, geht hier die Gesamtspiegelbildwahr- nehmung in die Vorstellung ein, und die ffesehene Veranderung des Spiegelbildes wird zu einem Tun des vorgestellten Gegenstandes, zu einer mimischen J~ugerung der Grogmutter, die nur als gleiehartig und gleiehzeitig mit dem eigenen Ver- halten der M. verbunden ist.

Hier gehen kini~sthetische und taktile Empfindungen yon dem einen Objekt, yon M. selbst aus, yon einem zweiten, dem Spiegelbild, die Gesichtsempfindung. Aber auch wenn alle Gegebenheiten, in diesem Falle taktile und Gesichtsempfin- dungen, auf dasselbe Objekt bezogen werden, wie in sp~teren Bilderversuehen, gehen sie nicht in eine komplexe Wahrnehmung dieses Objektes cin.

M. hat Mso die G r o g m u t t e r innerha lb einer ganz kurzen Zeit als sch6n, als to t , als l achend und als ge lacht haben(t . Es wird in j edem Moment die G r o g m u t t e r als solche gemeint . I n n e r h a l b dieses allge- meinen R a h m e n s , ,Gro[3mutter" r i ch te t je<ler gesctz te Tei l inhMt sich nun ganz isol ier t auf die G r o g m u t t e r als lachend, als t o t usw. - - Die G e s a m t d e t e r m i n a t i o n GroBmut te r is t b ier aber lediglieh yon auBen gesehen, dem Er lebn is nach bes tehen , ,Gro l tmi i t t e r" , n~mlich lachend, t o t usw. und t r o t z d e m ble ib t das Iden t i t~ t se r l ebn i s fiir diese eine Gro~- m u t t e r erhMten. - - Das, was dieses F e s t h a l t e n an , , G r o g m u t t e r i iber- h a u p t " bewirk t , i s t wie be im , ,Groi3vater" die a//ektive Betonung.

Es genfigt nun nicht , mi t Pick und Gri~nthal nur die , ,Nich tak tua l i - s ierung des Wissensbes i tzes" ftir die widerspruchsvol le , n i ch t korr ig ier te Se tzung der e inzelnen Ak te ve ran twor t l i ch zu machen. Auch das ak- tuel le Wissen da rum, da6 die Grol3mutter ges torben ist, h i nde r t M. nicht , sie im sofort fo lgenden Ak te als ]ebendig anzuschauen. Es mfissen

also noch andere , fundie rende S t6rungen vor l iegen: I n ke in Teilglied

geh t die Gesamthe i t der , ,ak tuel l gegebenen Tendenzen ' : ein, und kein

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38 G. Jacob :

Teilglied geht trotz seiner festen Strukturierung (lachende GroBmutter) mit der Gesamtanschauung (GroBmutter) eine unlSsbare und Gegen- s~tzliches aussehliel3ende Verbindung ein. Daher die Flfiehtigkeit, der Mangel an Erffilltheit und Gewicht des jeweiligen Erlebnisses und die M6glichkeit des unkorrigierten N~eheinanders yon einander aussehliel3en- den, ab~,r immer die oberste Determination (Grol3mutter) umfassenden Situationen.

Eine Blickwendung auf das Unverbundene und Widersprechende der einzelnen Akte findet nicht start, well die Tendenz zur ,,aufmerk- samen Erfassung der Gesamtsi tuation" nicht vorhanden ist. Die Ge- samtsituation selbst, hier das geordnete Continuum des Denkverlaufes, ist zer/allen, analog dem Zer/all riiumlich geordneter Ganzheiten.

Zusammenfassend ist zu sagen: Bei vollem WachbewuBtsein, bei intakten Sinnesempfindungen n immt M. an ihrem Spiegelbild genaue Einzelheiten wahr, begreift auch das Gesamt als eine Einheit und zumeist als ihr eigenes Gesicht. Auf dem Wege fiber :~hnlichkeit des Aussehens und Gleichheit des Alters werden assoziativ mehr oder weniger affekt- beladene Erinnerungskomplexe herangebracht, das Erinnerungsbild rtickt his in eine der Wahrnehmung gleichkommende Anschaulichkeit, und Wahrnehmung und Vorstellung beginnen im BewuBtsein zu alter- nieren, ohne (lab M. zu diesem Wechsel der Intent ion Stellung n immt 1.

Der Realit~tsgrad der Vorstellung wird yon dem der Wahrnehmung nicht unterschieden. Zwar sind ph~nomenologische Angaben nicht zu erhalten, aber M. geht mit sich, ihrem Spiegelbild, der , ,gehabten" GrolL mut te r vSllig gleich um, und so muI3 man annehmen, daI~ Vorstellungs- wirklichkeit, Bildwirklichkeit und Dingwirklichkeit gewisserma6en auf derselben Ebene, mit derselben , ,Gradation" (Dilthey) der Realit~t erlebt werden. Das Sichwidersprechende in den Merkmalen der Er- innerungsvorstellungen selbst und die Unvereinbarkeit der Vorstellungen und der Wahrnehmungen wird nicht bewu[3t.

Das Verhalten Bildern i~berhaupt gegeni~ber. W~hrend man bei diesem Alternieren zwischen Vorstellungen aus dcr

Sphere GroBvater--GroBmutter und der Wahrnehmnng des eigenen Spiegel- bildes mit Schilder annehmen kann, daI3 die affektive Geladenheit des Hinter- grundes diesen zum Vordergrundserlebnis macht und die Realiti~tsgewil3heit der Vorstellungen erh6ht, fMlt die affektive Betonung bei den folgenden Versuchen an Bildern mit ganz neutralen Darstellungen fort, und trotzdem wandelt sich das Realit~ttsbewul~tsein im Verlaufe der Betrachtung.

M. erkennt auf farbigen Bildchen kleine Figuren von wenigen Zentimeter Gr6Be gut und in allen Einzelheiten. Sie sieht sie sich interessiert an, erfal3t meist die Gesamtsituation, bleibt manchmal an Einzelheiten h~ngen. Sie geht wie in

1 Dies Alternieren ist in seiner Gegebenheitsweise nicht anders als das, was Pick bei seinem Hysteriker beschreibt, nur wird dort das Alternieren selbst als solches erfat~t, der jeweilige Bewul~tseinsinhalt richtig eingeordnet.

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Analyse eines Falles von seniler Demenz. 39

alien Situationen nie vom Einzelnen zmn Ganzen oder v o n d e r Deutung des Gesamtbildes zu den Einzelheiten iiber, sondern verbleibt in der einmal gesetzten Art der Auffassung. Die meisten Deutungen bieten niehts Besonderes, werden deshalb nieht wiedergegeben.

27. VII. : M. wird ein Bild gezeigt, auf dem 2 Kinder, ein Junge und ein M/idehen, einen Wagen sehieben. Das M/idehen ist im Profil dargestellt, schiebt den Wagen von hinten, und ihre Hand ist dureh einen auf dem Wagen liegenden Sack verdeckt, gel der ersten Darbietung sieht M. sieh das gi ld stillschweigend an, Ms es ihr 1 Stunde spAter wieder gezeigt wird, meint sie: ,,Das habe ich schon betraehtet, das Bildchen und das Rad, was sie sehoben, gestern." Darauf wird M. gefragt, wo die zweite Hand des M/idehens sei. Antwort: ,,Unter dem Ding." Auf Wiederholung der Frage: Wo ist die zweite Hand ? dreht M. das Bild herum und sueht die Hand auf der l~fiekseite, dreht dann das Bild zurfick, f/~hrt am Kleid des MAdehens entlang und gibt an: ,,Es ist ihr Armel drauf," worauf sie, zur Demonstration, ihre eigene Hand in das Kleid yon Ref. wickelt.

M. erkennt also die Bildsituation, stellt zuerst richtig lest, dab die Hand verborgen sei, entnimmt dann der Wiederholung der Frage die Notwendigkeit, die Hand doeh zu finden, geht darauf fiber Bildhaftigkeit und fl~ehenhafte Dar- stellung hinaus und sucht dort, wo bei einer wirklichen Person die Hand sein mfigte. Ob sie dann mit der Feststellung, es sei der Armel darauf, in die Bild- situation zurtiekkehrt, ist nieht eindeutig feststellbar, jedenfalls findet sie dann wieder einen einfaehen l)bergang zur Dingrealit/~t, indem sie mit dem wirkliehen Kleid und ihrer eigenen Hand die gildsituation naehahmt.

27. VII. 2. gi ld: 2 Soldaten, einer im Vordergrund fast yon hinten, mit ein Vierteldrehung seitlieh, einer im Hintergrund yon vorn dargestellt. Die Sol- daten sehen einander an. M. zeigt auf den Vorderen : , ,Das ist ein Oberst, der schaut, wo der andere hingeht, weil der nfibersehaut."

Wo ist der Buekel (Dialektausdluek ffir Rtieken) von dem hinteren Mann.* ,,Der steht kerzengerade, der Buekel ist hinten drauf." Zeigen Sie den Buckel! ,,Ieh kann ihn nieht angreifen, unter dem andern, dem Fleiseh ist er." Suchen Sie ihn! Darauf biegt M. das Blatt, so dab die beiden Figuren einander direkt zugekehrt sind. Sic sagt: ,,Der mug so stehen, dag er ihn ansehaut." (Welehe Figur sie meint, ist nieht mit Sieherheit zu sagen.)

Noehmals aufgefordert, den Rticken zu zeigen, sueht sie ihn wie vorher die Hand auf der Rfiekseite des ]3ildes.

Neu ist hier die Umbiegung des Bildes mit der Begriindung, der Mann mtisse den andern ansehauen, also ein Umgehen mit der Bildperson wie mit einer wirk- lichen, und eine Umwandhmg der gildebene in eine raumliehe Gestaltung.

Es 1/~gt sieh in diesen beiden Versuehen nieht aussehliegen, dag erst der Anlag der Fragen M. in eine bestimmte Reaktionsweise hineingetrieben habe. Im folgenden geht M. dagegen spontan wml gi ld iiber den dargestellten Gegen- stand zum realen Ding welter.

29. VII . : M. werden zuerst einige Fragen naeh Wissensbesitz: Wochentage, Monate, dann eine Reihe Definitionsfragen, was Gereehtigkeit, Armut, Reiehtum und /ihnliehe gegriffe bedeuten, gestellt, um sie ganz auf abstraktes Denken hinzulenken. Dann konlmt die Frage: Was ist ein gi ld ? Sie antwortet: ,,Ein Stoff, ein fester Stoff, wo es drauf kommt, und dann ist es, was es ist ." Pause von 5 Minuten, dann Wiederholung der Frage: Was ist ein Bild? ,,Bild ist ein Zeichen, wie grog man es haben will, das ist gemalt. Wir haben daheim aueh gi lder ."

Darauf wird M. sofort in einem Bilderbueh eine Seite gezeigt mit vielen bunt gemalten Kfiehengeriiten yon ein paar Zentimeter Gr6ge und gefragt, was ist das ?

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40 G. Jacob :

M. antwortet, indem sie mit dem Finger die einzelnen Abbildungen berfihrt: ,,Das ist eine Wage, Schfissel, Leuchter, Wage und die Wagschale, Nachtlicht fiir sofort in den Stall, Kaffemfihle, Henkelkorb. Sch6n, dal~ Ihr das alles habt, kostet Geld, wenn man das so kauft, die Sachen."

Was kostet am meisten Geld? Darauf fragt sie zurfick: ,,Blol3 die Saehen oder das Essen?" Zeigt dann auf die Kaffeemfihle, meint: ,,Die Kaffeemfihle braucht man, die ist teuer." Sie zeigt dann auf die Laterne mit 2 perspektivisch verschobenen Glasscheiben und sagt: ,,Das sind 2 Teile, einer yon der Seite und einer yon der anderen."

Gefragt, wie man die Laterne aufmache, zeigt sie auf den Haken mit dem Bemerken: ,,Hier ist ein Haken, da ist immer einer bei uns gewesen."

Machen Sie ihn auf! Sie greift an den Haken, macht die Bewegung des Herauf- und Herunterschiebens, sagt dann: ,,Das kann man nieht, weiB nicht, wie ich es machen soll." Fal3t dann das ganze Blatt, bli~ttert urn, sieht auf die Rfick- seite und sagt: ,,Ich mfiBte es hSchstens versehneiden", IaBt wieder an den Haken und meint: ,,Nein, es geht nicht, es w/~re zu schade, wenn es verschnitten wfirde." Zieht sich dann aus der Affiire und sagt: ,,Das roach ich morgen", fiihrt dabei wie priifend fiber die ganze Bildflhche.

Drehen Sie die Kaffeemfihle! ,,Kann nicht, die ist bloB drauf gemalt." Ziehen Sie die Schublade aus der Kaffeemiihle heraus! Darauf faBt M. zu-

ni~chst an den Knopf der Schublade, macht die Bewegung des Hervorziehens, blattert dann ratlos ein paar Seiten um, f/ihrt wieder wie prfifend fiber die Bild- fl~che und sagt: ,,Da sind Sie im falschen Licht, wenn Sie glauben, Sie k6nnen es bloB malen."

Es wird ihr ein Kreuz (mit 2 zu einander senkreehten Strichen gezeichnet) und ein gezeichnetes Viereck gezeigt. Sie gibt an: ,,Und das ist das Viereckige. Eine Zeichnung viereckig und yore Kreuz extra hingemalt."

Wo steht das Kreuz ? ,,Kann nicht wissen, wo es gestanden hat." Kommt es vom Grabstein ? ,,Nein." Warum nieht ? ,,Von sieh komint's, zur Sch6nheit ist's gemacht worden." Zeigen Sie die Riickseite vom Kreuz! Dreht das Papier um, meint, als sie das leere Blatt sieht: ,,Braucht kein Kreuz zu sein."

M. verh~lt sich also zuerst ganz sachgem~B, sie z/~hlt auf und stellt lest, was das alles fiir Ger~te sind, und erkli~rt sie dann spontan weitergehend ffir einen Besitz, der Geld kostet. Sie l~Bt sich darauf auf die Aufforderung, den Haken der Laterne zu 6ffnen, bis zum Versuch, bis zur Handlung an dem Bildobjekt bringen. Als die Handlung nicht durchffihrbar ist, konstatiert M. nicht etwa die auf der Hand liegende Sinnlosigkeit der Forderung, sondern sieht das ,,Verschneiden" (des Papieres) als eine immerhin m6gliche L6sung an, und obgleich sie taktil durch Gleiten fiber die Papieroberfl~che die Unr~umlichkeit, die Fl~chenhaftigkeit des Gesehenen geradezu er/assen mfiBte, kommt sie nicht bis zu diesem SchluB, sondern macht vorher halt und bleibt bei ratloser Unentschiedenheit stehen. Beim 3. Versuch, die Schublade aus der Bildfl/iche herauszuziehen, bleibt zuerst ebenfalls die Intention auf Dingwirklichkeit erhalten; sie versucht die Ausffihrung und bli~ttert dann ratlos in dem Buch. Und beide Male scheint das Indiehand- nehmen des Papiers wie ein Ersatz, wie eine MSglichkeit, eine wirkliche Handlung an einem realen Objekt vorzunehmen.

Diese UnmSglichkeit des Handelns fiihrt endlich doch zur Korrektur, und aus der angeschauten Dingwirklichkeit wird Bildwirkliehkeit. M. stellt dann schlieB- lich doch lest, daB die Sachen eben nur gemalt sind.

Die gewonnene Einsicht, dab es sich urn gemalte Gegenstande handelt, wird aber sofort bei dem Kreuz zugunsten der Auffassung eines r~umlichen Dinges mit Rtickseite wieder aufgegeben, und von dem Tatbestand, dab die Rfickseite

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Analyse eines Falles yon seniler Demenz. 41

fehlt, her die realc und dann auch die Bildwirklichkeit des vorher klar als Bild erkannten Kreuzes in Zweifel gezogen.

M. vollzieht also auch hier einen dauernden Wechsel zwischen der Sphi~re der Dingwirklichkeit und der Bildwirklichkeit. Sie unterbaut die Bilder mit Ding- wirklichkeit.

Umgekehrt aber, als sie am Tag nach diesen Priifungen mit den gemalten Kfichenger~ten in eine wirkliche Kiiche gefiihrt wird und mit den Geriiten, Henkel- korb, Schfissel usw. wirklich und sachgem~[~ hantiert, erz/~hlt sie dauernd yon den gestern gehabten, nicht etwa nur gesehenen Kiichenger/tten, und stellt sie durch- aus auf dieselbe Ebene wie die, die sie im Moment in der Hand hat.

Ffir die mangelnde Unterscheidung yon lebendig und leblos haben wir nur eine direkte AuBerung yon M. Gefragt, warum das M/idchen auf einem Bilde nicht spricht, antwortet sic: ,,Ich wciB nicht, sic spricht eben nicht."

Man kSnnte nun sagen, dal~ das Gewohntere, das Ichniihere realer Dinge und Personen vor deren bildlicher Darstellung M. veranlaBt, Bilder zu wirklichen Gegenst~inden zu machen, so dab schon Nennen eines Gegenstandes, Anschauen seines Bildes sofort zum Meinen des ])inges als solchem filhrt, das dann an die Stelle des repr/isentieren- den Bildes rfickt. Das Anschauen weckt dann das Erinnerungsbild, und dieses hat eine viel grSl~ere Fiille yon Merkmalen und yon Be- ziehungen zum gesamten Erinnerungsbesitz der M. als einfach das Bild, das sie rein als solches nicht interessiert. Dadurch, dab die Er- innerungsvorstellung st~rkeren Gehalt besitzt, verdri~ngt sie vom Hinter- grund her kommend wiederum die Wahrnehmung im Vordergrund, ein psychischer Mechanismus, der sich nur dadurch yon den Spiegel- bildph/inomenen unterscheidet, daf~ das, was hinter diesem Alternieren steht, weniger yore Affektiven und starker yore VerlSschen de~" ein- fachen Symholfunktion des Bildes bedingt ist.

Dilthey sagt yon der Traumsphare, dal~ in ihr die Spannung zwischen dem ,,energischen, bewegungsmi~chtigen Subjekt und den Gegensti~nden" herabgesetzt sei, dal~ ,,Wille, Impuls, willkilrliche Bewegung und ener- gischer Widerstand" der Objekte dem Leben erst die volle Realitiit ver- leihe. Wille, Impuls, willkfirliche Bewegung sind mit der Senkung der gesamten kOrperlichen und seelischen Vitalitat und Aktiviti~t schw~icher geworden, und damit hat die Intensit~t der Suhjekt-Objekt-Spannung nachgelassen, und so wird das Gleitende, die wechselnde ,,Gradation" des Realiti~tsbewul~tseins auch von dieser Seite her versti~ndlich.

~'chlu/3. Es ist eine selbstversti~ndliche Forderung, dal~ die psychischen

Mechanismen, die ein Weltbild gestalten, in den einfachsten denke- rischen und affektiven Verhaltensweisen bereits gefunden werden mils- sen. Es gelingt nun in diesem defektuSsen, dementen Erlebnis-Gesamt leichter als normalerweise, die einzelnen Funktionen und Beziehungen aufzuzeigen, weil das psychische Netzwerk durchsichtiger, die verhinden-

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42 G. Jacob :

den und verknfipfenden F~den gewissermal]en kfirzer, weniger zahlreich und weniger stark ineinander versehlungen sind.

Die Welt, in der M. lebt, ist ihrem Umfang naeh verkleinert, ihrem Inhalt nach dfirftiger geworden, gem~I~ dem Nachlassen der psyehisehen Fuuktionen, insbesondere aller dynamischen Faktoren, nur von wenigen, in erhShtem Ma~e ich-bezogenen, Erlebnissen erffillt. Die Welt ist ins- gesamt ver~ndert, verbla~t, strukturloser und weniger gegliedert, als Ausdruck einer allgemein ver~nderten Bewul~tseinslage, verminderter Bewul~tseinshelle und -klarheit. Dem widersprieht nicht, dal~ insel- haft innerhalb der allgemeinen Versehwommenheit mit Lebendigkeit irgend etwas getan, mit Pr~gnanz irgendeine kleine umgrenzte Situation gelegentlich gut erfaBt wird.

Je n~her die Erlebniswelt an M. selbst heranrfiekt, desto besser wird sie durchstrukturiert.

Die Geschlossenheit des zeitlichen und r~umlichen Hintergrundes ist verlorengegangen. Es gibt kein zusammenh~ngendes Bezugssystem, keine kontinuierliche r~umliehe und zeitliehe Ordnung mehr. Au~erhalb der ich-n~chsten Sphere sind die wenigen mSglichen Erlebnisse isoliert, beziehungslos untereinander und zum Ganzen gegeben, ohne lest um- schriebenen 5rtlichen und zeitlichen Stellenwert.

Die Leere, Schattenhaftigkeit und Versehwommenheit dieser Urn- welt bleibt unbemerkt, weil die Intention nie auf Gesamterfahrung, sondern immer auf atomistisch einzelne, und zwar ffir den engsten Lebenskreis bedeutungsvolle, Gegenst~nde geht.

Diesen engsten Kreis erffillt M. gewisserm~Ben mit ihrem cigenen Mal~, d. h. sie geht in ihrer Orientierung von sich selber aus, von ihrer Lebenszeit, ihrem KSrperraum, der fiir sie selbst wesentlichen Bedeutung aller Dinge, und sie beherrscht und ordnet nur noch die Erlebnisse dieses allern~chsten Umkreises, und auch die nicht mehr mit vSlliger Sicherheit, denn bis in die leibgebundenste Orientierung, bis in das KSrperschema hinein, lassen sich StSrungen und Unsicherheiten verfolgen.

In der Setzung der Dingwelt geht M. jeweils fiber die schlichte Wahr- nehmung hinaus, meint im Angeschauten immer Ich-bezfigliches, irgend- wie Bekanntes und Gewohntes, meint den Zweek und Bedeutungsgeh~lt der Dinge, nieht aber ihr einfaehes So-Sein. Dadurch verfleehten sieh ihre neuen Erlebnisse mannigfach mit ihren alten Erfahrungen, und der Mangel an Pr~gnanz, Klarheit und Anschaulichkeit der jeweiligen Wahrnehmung gibt den aufsteigenden affektiv geladenen Vorstellungen die relativ grSl]ere Lebendigkeit und damit die MSgliehkeit, an die Stelle der Wahrnehmung zu rfieken und den Vordergrund des ein- geengten Bewul~tseins zu besetzen.

Die Dinge werden abgewandelt, vereinfaeht, ungenau und unscharf erfal]t, sie verlieren dadurch den Charakter des Einmaligen, Unver-

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~vechselbaren, bes t immt Gepr~tgten, und da sie eben hie ohne Bedeutung,

und zwar Bedeu tung fiir die Wel t der M., gesetzt werden, so verl ieren

die Gegenst~nde auch den Charakter des Fiir-sich- u n d Unabhi~ngig- einfach-daseienden, und sic sind yon vornherein etwas, das e inen wohl-

b e k a n n t e n S inn hat, u n d an dem gewohnte affektive Beziehungen an- setzen u n d ablaufen.

Die affektiv be ton t en Erlebnisse beherrschen also die Erfahrungs-

welt, aber n ich t deshalb, well die Affektiviti~t ungeschwi~cht ist, sondern well unpers6nl iche Sachverhal te n icht in tend ie r t werden.

Die Dingwel t selbst ist somit entdifferenziert . Sic steht dem Ich n ich t

mehr objekt iv und dis tanzier t gegeniiber, sondern sie en tspr ich t den

Wiinschen und Bedfirfnissen des Ich. Die I ch -Umwel t -Spannung ist

dami t abgesunken und das Real i t~ tsbewu$tse in ha t die ihm eigen-

tfimliche Selbstversti~ndlichkeit und Unverr i ickbarkei t verloren, ohne abe t Er lebnis oder Problem zu wcrden.

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