der junge von kayhausen und die haut aus dem bareler moor
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Der Junge von Kayhausen unddie Haut aus dem Bareler Moor
Neueste Untersuchungsergebnisse
Sonderausgabe aus
Museumsjournal
Natur und Mensch
2010
– 2 |
Inhalt
E. Jopp, E. Oplesch, S. Klingner, F. Both, M. Schultz, K. Püschel
Feststellungen zum Erhaltungszustand und Deskription der
makroskopischen Untersuchungen (2010) .................................................................................................. 41
E. Jopp, D. Säring, P. Käsemann, M. Schultz, K. Püschel
Lokalisation und Interpretation der Stichverletzungen,
Fesselungen und sonstige Verletzungen ..................................................................................................... 57
K. Püschel, M. Schultz, E. Jopp
So genannte „operative Fallanalyse“ –
......................................................................... 77
J. Zustin, M. Schultz
................................................................................... 91
J. Mißbach-Güntner, Chr. Dullin, S. Klingner, E. Oplesch, F. Alves, M. Schultz
hochauflösender Computertomographie .................................................................................................. 103
M. P. Schön, A. Bennemann, St. Emmert, M. Schultz
................................... 113
M. Schultz, J. Zustin, J. Nováček, E. Jopp, K. Püschel, S. Klingner, E. Oplesch
Licht- und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen
................................................................................... 123
E. Oplesch, S. Klingner, J. Mißbach-Güntner, E. Jopp, K. Püschel, M. Schultz
Ergebnisse der paläopathologischen Untersuchung
.................................................................................... 147
J. Zustin, I. Moll, J. Mißbach-Güntner, M. Schultz, K. Püschel, E. Jopp
Untersuchung der sog. „Brusthaut“ der Moorleiche
„Mädchen aus dem Bareler Moor“ ............................................................................................................. 159
J. Mißbach-Güntner, Chr. Dullin, J. Schirmer, F. Alves, M. Schultz
Analyse des Hautfragments der Moorleiche „Bareler Moor“ mittels
hochauflösender Computertomographie ................................................................................................... 165
S. Klingner, E. Oplesch, M. Schön, M. Schultz
Licht- und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen
an Hautproben der Moorleiche des „Mädchens Bareler Moor“ ................................................................. 173
| 41 –
Feststellungen zum Erhaltungszustand und Deskription der
makroskopischen Untersuchungen (2010)
E. Jopp, E. Oplesch, S. Klingner, F. Both, M. Schultz, K. Püschel
Aus der neu rekonstruierten Körperhöhe
(s. u.) und aus der Beurteilung der Breite der
Knorpelfuge des Oberschenkelkopfes ergibt
sich für BERG, ROLLE, SEEMANN (1981, 16) ein
Alter von 13 – 14 Jahren:
„Zunächst sind hier Bedenken hinsichtlich
der Altersschätzung anzumelden: Wie ist
die Bestimmung der Körpergröße zustande
gekommen? Nach der Zentimetereinteilung
auf Abb. [9, Kapitel 2] beträgt die Länge des
ganzen Torsos nur rund 90 Zentimeter; die
Länge des Oberarmknochens beträgt 26-27
Zentimeter, woraus sich eine Körpergröße
von 130-135 Zentimetern errechnen läßt. Es
kommt hinzu, daß die Knorpelfuge am Hüft-
gelenksende des Oberschenkelknochens
auf dem Röntgenbild einen Schmalheitsgrad
aufweist, der nicht dem achten bis neunten,
sondern wie auch die Körperlänge eher dem
13. bis 14. Lebensjahr entspricht. Man muß
also starken Zweifel haben, ob die bisherige
Altersschätzung wirklich zutrifft.“
Eine neue und gewagt enge Einschätzung
des Alters erfolgte 1996 durch den Zahnarzt
Dr. Schübel. Er kam unter Berücksichtigung
der übernommenen Körperhöhenangaben
und der selbst beurteilten Gebissentwick-
lung des Oberkiefers auf ein Alter von ca.
6 ½ Jahren.
Für die aktuelle Untersuchung stand einer-
seits das nicht weiter beurteilbare Unterkie-
ferfragment (Abb. 1) für die Einschätzung
des Lebensalters zur Verfügung. Zusätz-
lich wurden von Schultz und Mitarbeitern
weiterführende paläopathologische Unter-
suchungen am Skelett vorgenommen. Auf-
grund der Mikrostruktur des kompakten
Knochengewebes (histomorphologische
und histomorphometrische Lebensaltersbe-
stimmung) wird das Alter des Jungen hier
mit (6) 7 – 13 (14) Jahren geschätzt (siehe
auch Schultz et al. in diesem Band).
Äußere Leichenschau:
Tagebuch-Nr. G1930-10,
Junge von Kayhausen – Protokoll
Die Moorleiche liegt in einem mit Konser-
vierungsflüssigkeit (destilliertes Wasser und
70%iges Ethanol) gefüllten Plastikbehältnis
(Asservat Nr. 1). Weitere Teile der Moorleiche
befinden sich in diversen Behältnissen (Ge-
fäß Nr. 2 bis 15). Für die makroskopischen
Untersuchungen wurde die Konservierungs-
flüssigkeit entfernt. Für den ersten Untersu-
chungsgang wurde der Körper des Jungen
zwischen Glasplatten mit einer „Sandwich-
Technik“ umgewendet.
Die Beschreibung der Befunde erfolgt un-
ter strukturellen Gesichtspunkten (und be-
wusst nicht z. B. kopf-fußwärts). Zum bes-
seren Verständnis der Fallsituation werden z.
T. die Ergebnisse der zuvor durchgeführten
Untersuchungen in den hier vorgelegten Be-
richt eingefügt.
Individualdaten –
Alter, Geschlecht und Körperhöhe
Alter
Das Alter wird 1922 von Schläger nicht
angegeben. Trotzdem rekonstruiert MAR-
TIN (1924, 243) das Alter anhand der von
ihm geschätzten Körperhöhe – �wie die
mitgeteilten Maße ergeben“ – auf 8 – 9
Jahre.
Aus dem Obduktionsprotokoll von 1952 ge-
hen keine Angaben hervor. Obgleich 1953
der noch vorhandene Molar und die Reste
des Oberkiefers von Dr. Lahmann untersucht
wurden, wird von HAYEN (1964) das Alter von
8 – 9 Jahren ohne Zusammenhang – offen-
bar den Angaben Martins folgend – über-
nommen.
– 42 |
Zusammenfassend wird man das Alter des
Jungen von Kayhausen heute mit (6) 7 – 13
(14) angeben.
Geschlecht
Obwohl die äußeren Geschlechtsorgane
2010 nicht mehr vorhanden waren, wird die
Beurteilung von Schläger (1922) als männ-
lich – Penis und Hoden waren gut erhalten
– von uns akzeptiert.
„Nach den vorhandenen Resten scheint es
sich um eine männliche Leiche zu handeln. Es
finden sich Reste des Penis und zwei rund-
liche Gebilde, welche als Hoden angespro-
chen werden müssen.“ (Schläger 1922).
In den Untersuchungsjahren 1952, 1981
und 1996 wurde die Einschätzung Schlä-
gers – wahrscheinlich aufgrund des feh-
lenden Protokolls – angezweifelt. So wurde
die Geschlechtsangabe 1952 – nicht zwei-
felsfrei – bestätigt:
„Im Bereich der Schamfuge ragt ein dau-
mengroßer, fast nur von Haut gebildeter Ge-
webeteil hervor. Der Größe und Lage nach
könnte es sich bei diesem im Übrigen leeren
Gewebeschlauch um das männliche Glied
handeln. Im Übrigen ist der Zustand der Be-
ckenorgane so, dass aus ihnen Rückschlüs-
se auf das Geschlecht des Individuums nicht
mehr mit Sicherheit möglich sind.“ (Obduk-
tionsprotokoll 1952).
Berg und Mitarbeiter stellen die Geschlechts-
bestimmung – aufgrund von ausschließlich
Fotos und Literaturstudium – in Frage und
empfehlen die Bestimmung über die Be-
ckenform. Sie schreiben: �Das gleiche gilt für
die Geschlechtsbestimmung. Ohne nähere
Analyse der Beckenform muß zumindest die
Möglichkeit des weiblichen Geschlechts of-
fen bleiben.“ (BERG et al. 1981, 16)
Das Geschlecht der Leiche konnte 1996
nicht mehr sicher bestätigt werden, da die
Genitalien nicht mehr erhalten waren. Mögli-
cherweise sind diese bei der Obduktion 1952
im Zuge der Entfernung der Organe des klei-
nen Beckens ebenfalls entnommen worden
(siehe unten). Pieper und Mitarbeiter ver-
suchten eine Geschlechtsbestimmung über
die Ausprägung des Collum-Corpus-Winkels
des Femurs (früher auch Collum-Diaphysen-
Winkel genannt) (PIEPER et al. 1999).
„Der Collodiaphysenwinkel des linken Fe-
mur ließ eher auf männliches, denn auf weib-
liches Geschlecht schließen (WB); dies ist
allerdings als sehr fragliches Indiz zu werten
(PP).“ (Rechtsmedizinischer Befund in den
nicht publizierten Aufzeichnungen von Dr. P.
Pieper und Prof. W. Bonte)
Kritisch ist hier anzumerken, dass sich bei
Kinderskeletten dieser Winkel nicht zur Ge-
schlechtsdifferenzierung eignet.
Abb. 1: Unterkiefer-Zahnbogen links (Foto: Eva Schreiber).
| 43 –
Körperhöhe
Die rekonstruierte Körperhöhe von etwa
1,20 m „wie die mitgeteilten Einzelmaße er-
gaben“ (MARTIN 1924, 243) und das daraus
resultierende Alter von 8 – 9 Jahren, wird von
Schläger im Protokoll nicht erwähnt:
„Die Leiche hat eine Länge von Scheitelhöhe
bis zum unteren Ende des Oberschenkelkno-
ches von 87cm.“ (Protokoll Schläger 1922).
Bei der Obduktion von 1952 wurden neue
Berechnungen der Körperhöhe durchge-
führt und die Angaben von 1924 bestätigt:
�Die Länge des linken Oberarms, soweit eine
exakte Messung noch möglich ist, beträgt 24
cm. Würde man dieses Mass bei der üblichen
Berechnung der Körpergrösse zugrunde le-
gen (Länge des Oberarmknochens mal 5 –
„ohne Berücksichtigung einer evtl. möglichen
Schrumpfung“ (HAYEN 1964, 29), so würde
für die Körpergrösse des Individuums schät-
zungsweise ein Mass von etwa 1,20 bis 1,25
Meter resultieren. (Rohes geschätztes Mittel-
maß).“ (Obduktionsgutachten 1952).
BERG et al. (1981, 16) rekonstruierten die
Körperhöhe anhand einer Abbildung in HA-
YEN 1987 neu und kommen auf ein Ergebnis
von 1,30 - 1,35 m. Nach der Zentimeterein-
teilung auf einer Abbildung betrage die Län-
ge des Torsos nur rund 90 cm, die Länge
des Oberarmknochens auf dem Röntgenbild
betrage 26-27 cm, woraus sich eine KH von
1,20 - 1,35 m errechnen lasse.
Die 1922 und 1952 angegebene Körperhöhe
von 1,20 - 1,25 m wurde 1996 bestätigt.
Bei der aktuellen Untersuchung wurden kei-
ne neuen Vermessungen durchgeführt, da
diese aufgrund des Erhaltungszustandes
der Skelettelemente keine zuverlässigen
Ergebnisse mehr liefern.
Erhaltungszustand
Postmortale Artefakte
Der Erhaltungszustand der Leiche ist 2010 –
verglichen mit dem Zustand zum Zeitpunkt
der Dokumentation von 1922 – schlecht.
Die Haut zeigt diverse Defekte, die offenbar
zum einen auf die über einen längeren Zeit-
raum erfolgte Lagerung in einem zu engen
Becken zurückzuführen sind, zum anderen
auf die Zerstörungen im Zuge der Obduktion
bzw. Untersuchungen in den Jahren 1952
und 1996.
So handelt es sich bei der 6 cm langen glatt-
randigen Schnittlegung in der mittleren Na-
ckenregion eindeutig um ein Sektionsarte-
fakt, das im Zusammenhang mit der Ent-
fernung des Gesichts bei der Obduktion
1952 entstand. Schon 1996 wurde dieser
Schnitt von Pieper und Bonte im rechtsme-
dizinischen Befund beschrieben:
„Die insgesamt 6 cm lange Schnittstelle in
der linken hinteren Halsregion, die aus zwei,
leicht winkelig zueinanderlaufenden Schnitt-
strecken von je 3 cm Länge besteht, deckt
sich nicht mit Obduktionsbefund von 1952;
hier muss es sich um einen recht groben
Sektionsartefakt handeln.“
Ein weiteres Sektionsartefakt aus dem Jahr
1952 stellt ein glattrandiger Gewebsdefekt
im mittleren Gesäßbereich dar. Offenbar re-
sultiert dieser Schnitt aus der Entfernung der
Organe des kleinen Beckens (Abb. 2).
Ein mehrfach fetzig aufgerissener Bereich
der Haut an der Vorder-/Außenseite der
rechten Schulter resultiert offenbar aus
der Freilegung der Epi- und Diaphyse und
des Oberarmbeins während der Untersu-
chungen durch Bonte und Pieper 1996.
– 44 |
Unregelmäßige Gewebsdefekte im Bereich
der linken Schulter und des linken Ober-
arms sind offenbar auf die Lagerung zu-
rückzuführen (Abb. 3). Aus den Untersu-
chungsprotokollen der vergangenen Jahre
sind keine Hinweise auf die Ursachen zu
entnehmen.
In Abb. 4 zeigt sich die Veränderung des Er-
haltungszustandes über den Zeitraum von
der Bergung bis heute.
Auf der Abb. 5 ist der Junge in Rückenla-
ge dargestellt. Verglichen wird hier der Zu-
stand von 1922 („in situ“) mit dem makro-
skopischen Zustand sowie dem Zustand der
Knochen im CT von 2010.
Über den Zustand der Brust- und Bauch-
höhle schreibt Schläger (1922), dass diese
unregelmäßig eröffnet sind und die Organe
freiliegen. Links waren nur einzelne Rippen
vorhanden, die rechte Brusthöhle war weit-
gehend erhalten (siehe auch Jopp, Both in
diesem Band).
„II. Brust und Bauchhöhle: Beide Höhlen sind
wie durch einen, allerdings sehr unregelmä-
ßigen, Sektionsschnitt eröffnet. Die rechte
Brusthöhle wird durch die Rippen in ihrer
ungefähren natürlichen Lage noch begrenzt.
Links sind nur einzelne Rippenreste vorhan-
den. Im linken Brustfellsack finden sich noch
deutliche Reste des Lungengewebes, welche
sich durch ihre dunkel grau-grüne Farbe von
den umgebenden Häuten des Brustfellsacks
abheben. Hinter diesen nach unten verlau-
fend sieht man deutlich die große Körper-
schlagader.“ (Protokoll Schläger 1922).
Morphologische Strukturen
Kopf und Gesicht
Von der Kopfschwarte sind nur noch der
Bereich des Hinterkopfes mit anhängenden
Haaren sowie die sich anschließende Haut
des Nackens erhalten. Die Ränder der Haut
sind seitlich mehrfach eingerissen/ausgeris-
sen. Die Haare (etwa 4 bis 5 cm lang) schim-
mern rötlich-bräunlich.
Die Gesichtshaut ist zu einem Teil – rechte
Seite – noch in situ anhaftend, und die an-
Abb. 2: Gesäß mit glattrandigem Gewebsdefekt im mittleren Bereich (Foto: Eilin Jopp).
Abb. 3: Linke Schulter, Körper in Rückenlage (Foto: Eva Schreiber).
| 45 –
dere Gesichtshälfte – linke Seite – als Tro-
ckenasservat erhalten. Die linke Gesichts-
hälfte einschließlich des linken Ohres und
der Halsbereich mit den Stichwunden wur-
de 1952 bei der Obduktion entfernt und in
einem Weckglas aufbewahrt. Eine Untersu-
chung dieses Asservats fand dann erst 1996
statt. Pieper et al. trockneten das Gesicht
und spannten es auf einer Styroporunter-
lage auf.
Die rechte Gesichtsregion ist als unregelmä-
ßiges Hautstück (etwa 10 x 10cm) erhalten.
Das rechte Ohr ist als erbsengroßer „Haut-
bürzel“ vorhanden – dieser Zustand besteht
offenbar seit der Bergung. Eine ähnliche Be-
schreibung findet sich im Obduktionsproto-
koll von 1952. Möglicherweise ist der Zustand
(Defekt) des rechten Ohres aus der Fundge-
schichte erklärlich – der Finder zog den Jun-
gen am rechten Ohr auf die linke Seite!
Weiterhin lassen sich an der rechten Ge-
sichtshälfte Knorpelreste der Nase und der
Bereich der ehemaligen Augenhöhle erken-
nen. Hier besteht ein unregelmäßiger Ge-
websdefekt, bei dem vom Auge und von an-
grenzenden Strukturen nichts erhalten ge-
blieben ist. Einzelne knöcherne Strukturen,
die dem rechten Jochbogen und Teilen des
Oberkiefers (untere Begrenzung der Augen-
höhle) entsprechen, finden sich anhaftend
an dem Hautgewebe. Der Mund und das
Kinn sind noch zu erkennen (Abb. 6).
Die Haut der linken Gesichts- und Halsseite
liegt heute nur in getrocknetem Zustand vor.
Man erkennt im oberen Anteil Abschnitte der
linken Augenbraue und den Bereich der Au-
genhöhle, letzterer nur noch als halbkreisför-
miger Gewebeausschnitt erhalten. Augen-
lider oder Haare (Augenbrauen, Wimpern)
sind nicht erhalten (Abb. 7).
Das linke Ohr hat sich ebenfalls offenbar
seit 1922 nicht verändert. Die Ohrmuschel
Abb. 4: Vergleichende Darstellung des Erhaltungszustandes des Jungen in Bauchlage – 1922,
1952, 2010 (Fotomontage: Dennis Säring).
Abb. 5: Vergleichende Darstellung des Erhaltungszustandes des Jungen in Rückenlage – „in
situ“ 1922, makroskopisch und als CT-Befund von 2010 (Fotomontage: Dennis Säring).
– 46 |
ist deutlich zu erkennen (Abb. 8). Ein brei-
ter, unregelmäßiger Hautdefekt oberhalb der
Ohrmuschel zieht bis zum Abtrennungs-
rand dieses Hautstücks. Dieser Defekt wird
schon bei der Obduktion 1952 beschrieben.
Die Ursache wurde damals nicht mitgeteilt
und bleibt heute unklar.
Die Knochen des Schädels sind bis auf eini-
ge Fragmente des Gesichts- und Hirnschä-
dels (insgesamt 13 Stück) nicht mehr erhal-
ten. Die erhaltenen Fragmente sind in einem
sehr schlechten Zustand und lassen sich nur
in einigen wenigen Fällen bestimmten Schä-
delbereichen zuordnen (Abb. 9, Skelettsche-
ma). An den erhaltenen Knochen lassen sich
keine Werkzeugspuren und keine Hinweise
auf zu Lebzeiten entstandene Frakturen
oder auf Knochenkrankheiten finden.
Innere Organe
Die Organe des Jungen sind bis auf weni-
ge asservierte, nur schwer zu identifizieren-
de Anteile nicht mehr erhalten. Sie wurden
1952 bei der Obduktion entnommen und
in Gläsern aufbewahrt. Offenbar sind diese
Gläser im Laufe der Zeit – bis auf ein Glas
mit der Aufschrift „Gekröse“ – verschwun-
den. 1996 wurden bereits einige Proben hi-
stologisch untersucht – die Probenentnah-
me ist an verschiedenen Stellen anhand
glattrandiger Durchtrennungen der Gewebs-
strukturen zu erkennen.
Bei der aktuellen Inspektion des Körpers
konnten im inneren Brustbereich keine De-
tails abgegrenzt werden. Im rechten inneren
Brustbereich neben der hier weitgehend in-
takten Hautpartie liegen fetzige Reste von
fraglichem Lungengewebe. Das Herz oder
Teile davon sind eindeutig nicht vorhanden
Im Bauch- und Beckenbereich sind zwischen
den hier aufgeplatzten/aufgerissenen Haut-
partien ebenfalls keine Einzelheiten zu er-
Abb. 6: Rechte Gesichtsregion (Foto: Eilin Jopp).
Abb. 7: Linke trockene Gesichtshälfte (Foto: Eilin Jopp).
| 47 –
kennen. Bei einigen membranartigen Struk-
turen im rechten Unterbauch könnte es sich
um Teile des Darmtraktes handeln. Teile des
knöchernen Beckens haben sich erhalten.
Das erhaltene „Organpaket“ aus dem Glas-
gefäß wurde lediglich orientierend beschrie-
ben und fotografisch dokumentiert. Neben
membranösen und schlauchartigen Struk-
turen finden sich kleinere Teile von kom-
paktem, parenchymatösem Gewebe. Ein-
deutig abgrenzbar ist ein großes Blutgefäß
(Aorta). Diese Körperhauptschlagader ist
völlig glattrandig quer zur Verlaufsrichtung
durchtrennt. Zarter Wandaufbau.
Die weiteren Gewebeteile sind nicht eindeu-
tig zu identifizieren. Es könnte sich um Teile
des Zwerchfells handeln, um Dünndarm und
Dickdarm, Darmgekröse, möglicherweise
auch um Lungengewebe und/oder Leberge-
webe. Weitere Untersuchungen wurden auf-
grund des schlechten Erhaltungszustandes
nicht durchgeführt.
Knochen
Von der ursprünglich gut erhaltenen Wir-
belsäule (1922 und 1952) sind die Wirbel-
körper bei der aktuellen Untersuchung nur
noch fragmentarisch erhalten. Sicher lassen
sich nur Anteile der Brust- und Lendenwir-
bel nachweisen. Teilweise sind Bänder und
Muskulatur sowie deren Sehnen undeutlich
zu erkennen (Abb. 11).
Zudem finden sich in einem Gefäß vier tro-
ckene Wirbelfragmente. Das größte Frag-
ment wurde mittels Mikro-CT speziell un-
tersucht (siehe Marshall in diesem Band).
Im Brustbereich finden sich 2010 die Rip-
pen nicht mehr in ursprünglicher Position.
Bei der ersten Untersuchung 1922 befanden
sich die Rippen in der rechten Brusthöhle
noch in ihrer ungefähren natürlichen Lage.
Offenbar ist dieser Befund bei der Obdukti-
on 1952 zerstört worden. Aktuell sind insge-
samt 19 unterschiedlich große Rippen bzw.
Rippenfragmente in unterschiedlichem Er-
Abb. 8: Linkes Ohr (Foto: Eilin Jopp).
| 49 –
haltungszustand erhalten; wobei die rechts-
seitigen Rippen vollständiger als die linken
erhalten sind (Ausnahme: 1. Rippe). Die
besser erhaltenen Rippen sind zur vorderen
Brustwand hin weitgehend intakt (Übergang
zum knorpeligen Teil). Die hinteren wirbel-
säulennahen Enden sind unregelmäßig ab-
gebrochen. Es finden sich Defekte, die mit
der Bergung erklärt werden könnten. Anson-
sten gibt es keinerlei Hinweis auf alte Frak-
turen oder Werkzeugspuren.
Als weitere knöcherne Anteile des Brust-
korbes waren 2010 lediglich das sternale
Ende des linken Schlüsselbeins mit offener
Epiphysenfuge sowie ein relativ plattes Kno-
chenstück mit anhaftenden Hautresten – am
ehesten als Handgriff des Brustbeins (Manu-
brium) identifiziert – erhalten. Die Fragmente
zeigen Defekte, deren Ursache nicht nach-
gewiesen werden konnten.
Der Erhaltungszustand der Arme lässt sich
auf dem CT nachvollziehen (Abb. 10). Bei-
de Arme sind bis zu den Händen als gut
erhaltener Hautschlauch zu erkennen. Die
Oberarmknochen können bei der makro-
skopischen Inspektion aufgrund des Erhal-
tungszustandes nur schwer ertastet werden.
Speziell auf der linken Seite entsteht aller-
dings der Eindruck, dass sich hier innerhalb
des Hautschlauches knöcherne Strukturen
befinden, insbesondere im Bereich des El-
Abb. 10: CT Aufnahmen in Bauchlage. Hervorge-
hoben sind die erhaltenen Knochen in der „Haut-
hülle“ (Dennis Säring, med. Informatik UKE, siehe
auch Simon in diesem Band).
Abb. 11: Halswirbelsäule und Textil um den Hals – von vorne betrachtet (Foto: Eva Schreiber).
– 50 |
lenbogens. Etwa im Ellenbogenbereich sind
die seitlich dem Rumpf anliegenden Arme je-
weils zur Rückenregion hin im Winkel von 90°
abgewinkelt.
Die Knochen der Unterarme und Hände
sind so schlecht erhalten, dass sie zum
großen Teil nur noch fragmentarisch vorlie-
gen; teilweise lassen sich die Fragmente im
Hautschlauch (z. B. rechter Unterarm) er-
tasten. An den sichtbaren, außerhalb des
Hautschlauches liegenden Anteilen – z. B.
der rechten Speiche – lassen sich offene
Wachstumsfugen erkennen. Zudem fehlen
die größten Anteile beider Hände. Musku-
latur und Sehnen sowie einzelne fragmen-
tarische Mittelhandknochen sind erhalten.
Die Haut der Hände ist unregelmäßig und
vielfach eingerissen.
Außerdem finden sich diverse, isoliert aufbe-
wahrte Knochenfragmente in kleineren Ge-
fäßen (diese wurden teilweise schon 1922
asserviert) – zwei Teile der rechten Ulna, ein
Fragment des distalen Endes der rechten
Speiche, ein Fragment des lateralen Condy-
lus sowie kleinere unregelmäßige Fragmente
des fraglichen rechten Oberarmschaftes.
Der Erhaltungszustand der Beinknochen
ist ebenfalls im Skelettschema (Abb. 9) und
auf der computertomografischen Abbildung
(Abb. 10) dargestellt.
Die Haut des linken Oberschenkels ist weit-
gehend erhalten und mehrfach längs und
quer aufgerissen (offensichtlich postmorta-
le Artefakte). Das Muskelgewebe liegt teil-
weise frei. In den Weichgeweben tastet man
den linken Oberschenkelschaft. Im Kniebe-
reich liegt der distale Teil des Oberschen-
kelknochens weitgehend frei. Die offene
Wachstumsfuge ist zu erkennen. Die Haut
und Weichteile weisen im Bereich des Knie-
gelenks unregelmäßig fetzige Gewebsde-
fekte auf (Abb. 14).
Vom linken Schienbein ist lediglich der 14
cm lange proximale Anteil – aufbewahrt in
einem Gefäß – vorhanden. Die proxima-
le Epiphysenfuge ist offen. Die Oberfläche
des Schaftes ist glatt. Das distale Ende ist
glatt durchtrennt (leicht schräg zur Längs-
achse). 1 cm oberhalb der glatten Durch-
trennung findet sich an der Schienbeinvor-
derkante ein weiterer, 5 mm tief reichender
Schnitt (Abb. 12). Dieses Schaftfragment
wurde bereits 1922 isoliert beschrieben und
asserviert. Die glatte Durchtrennung resul-
tiert offenbar aus der Zerstörung der Un-
terschenkel durch den Torfstecher bei der
Auffindung der Leiche.
Abb. 12: Linke proximale Tibia, von vorn und hinten (Foto: Eilin Jopp).
| 51 –
Im großen Plastikbehältnis bzw. Asservaten-
becken finden sich außerhalb des Körpers
der linke – im Bereich der Wachstumsfuge
abgelöste – Oberschenkelkopf und der linke
Oberschenkelhals sowie der abgelöste linke
große Rollhügel mit anhängender Sehnen-
platte (Ansatzsehnen des mittleren und klei-
nen Gesäßmuskels, Abb. 13).
Der Bereich des rechten Oberschenkels
zeigt sehr unregelmäßige Haut- und Weich-
teildefekte. Die Haut ist an der Rücksei-
te und Innenseite des Schenkels teilweise
erhalten. Im Muskelschlauch lassen sich
Teile des rechten Oberschenkelschaftes –
ein Fragment der oberen Hälfte – ertasten.
Im Kniebereich finden sich unregelmäßige
Gewebsdefekte, die Haut ist nicht mehr er-
halten. Die Muskulatur ist lappenförmig bis
in Höhe der Kniekehle teilweise vorhanden
(Abb. 14).
In einem Gefäß befindet sich die distale
Schafthälfte des rechten Femurs. Am knie-
gelenknahen Ende des 19 cm langen Frag-
ments ist die Epiphyse abgelöst. Auch die-
ses Fragment wurde bereits 1922 beschrie-
ben und asserviert. An der lateralen Seite
des Fragments finden sich gröbere, bis in
die Spongiosa des Oberschenkelschaftes
hineinreichende Knochendefekte. Gröbere
Knochendefekte, insbesondere der Com-
pacta, bestehen auch an der Vorderseite
dieses Oberschenkelknochens. Im distalen
Drittel findet sich schräg verlaufend (etwa
im Winkel von 45° von innen oben nach au-
ßen unten) eine Bruchlinie im kompakten
Knochengewebe des Schaftes ohne Anzei-
Abb. 13: Linker Femurhals, Femurkopf und großer Rollhügel jeweils von
vorne (links) und hinten (rechts) (Foto: Eilin Jopp).
– 52 |
chen einer Callusbildung oder Dislokation
des Bruchs. Die Frakturlinie durchsetzt den
Knochen nicht vollständig sondern endet
kurz vor seiner Rückseite. Die Ursache des
Defekts ist nicht sicher festzustellen, dürf-
te aber sicher postmortaler Natur sein. Das
distale Schaftfragment ist proximal unre-
gelmäßig abgebrochen. Die Oberfläche des
Schaftes zeigt einige unterschiedlich große,
löchrige Defekte bzw. Abblätterungen der
Compacta (Ursache: nur postmortal, d. h.
Moorlagerung oder Konservierung) (Abb.
15).
Der weitgehend erhaltene rechte Ober-
schenkelkopf und der zugehörige Ober-
schenkelhals befinden sich in weiteren klei-
neren Gefäßen. Der große und kleine Roll-
hügel und der Kopf sind im Bereich ihrer
Epiphysenfugen abgelöst. Der Collum-Cor-
pus-Winkel erscheint relativ groß zu sein,
ist allerdings aufgrund des schlechten Er-
haltungszustandes nur eingeschränkt zu be-
urteilen (Hinweis: Bei einem Kind der Alters-
gruppe Infans II bewegt sich der als gesund
zu bezeichnende Winkel in der Regel etwas
größer als 124°).
Der Oberschenkelkopf zeigt im Bereich sei-
ner Gelenkfläche verschiedene Unregel-
mäßigkeiten bzw. knöcherne Eindrücke,
Einpressungen. Die spongiösen Knochen-
anteile enthalten überwiegend postmor-
tal entstandene, unregelmäßig vergrößerte
Hohlräume. Der äußere Aspekt lässt nicht
auf eine Knochenerkrankung schließen. Die
1952 im Röntgenbild und makroskopisch er-
kannte Hüftgelenksanomalie kann nicht be-
stätigt werden (siehe Beitrag Marshall et al.
in diesem Band).
Das rechte distale Schienbeinfragment ist
18 cm lang. Es wurde schon 1922 mit glei-
cher Längenangabe beschrieben und as-
serviert. Im Bereich der Wachstumsfuge hat
Abb. 14: Distaler Anteil der Oberschenkel. Junge liegt auf dem Rücken. (Foto: Eva Schreiber).
Abb. 15: Distaler rechter Femur, links: von vorne, rechts: von hinten (Foto: Eilin Jopp).
| 53 –
sich der körperferne Teil des Schienbeins mit
der Gelenkfläche und dem Innenknöchel ab-
gelöst. Die Schienbeinkante sowie die Au-
ßenkante des Knochens zum Wadenbein hin
sind relativ glatt. Das proximale Ende des
Knochens ist zerfranst bzw. unregelmäßig
zerborsten. Es finden sich keinerlei geformte
Defektbildungen, die auf irgendeine Werk-
Abb. 16: Rechter Oberschenkelhals und Oberschenkelkopf jeweils von vorne (links) und hinten (rechts) fotografiert (Foto: Eilin Jopp).
Abb. 17: Rechte distale Tibia von vorne (Foto: Eilin Jopp), von hinten (Foto: Eva Schreiber).
– 54 |
zeug- oder Tiereinwirkung hindeuten. Die
Innenseite des Schienbeines hat eine leicht
unruhige, gewellte Struktur (Abb. 16).
Vom Becken sind zum jetzigen Zeitpunkt
die rechte Darmbeinschaufel – in zwei Frag-
mente zerbrochen – und die dazu passende
rechte Crista iliaca sowie ein rechtes Sitz-
beinfragment erhalten (Abb. 17).
Das linke Becken ist nur noch in nicht si-
cher identifizierbaren Fragmenten vorhan-
den. Außerdem fand sich ein Gewebsteil mit
einer felgenartigen Struktur. Die seitlich an-
haftenden spongiösen Knochen lassen ver-
muten, dass es sich hier um die knorpelige
Struktur zwischen den Schambeinen (Dis-
cus interpubicus) handelt.
Zusammenfassung
Die vergleichende Darstellung der Untersu-
chungsprotokolle und Veröffentlichungen
seit der Auffindung des Jungen von Kayhau-
sen im Jahr 1922 zeigt anschaulich wie sich
der Erhaltungszustand – trotz der vorbild-
lichen Feuchtkonservierung – verschlech-
tert hat. Zudem lässt sich aus heutiger
Sicht feststellen, dass die zugegebenerma-
ßen neue Möglichkeit der zerstörungsfreien
bildgebenden Dokumentation der Befunde
den ohnehin schon schwierigen Zustand
von Moorleichen am ehesten bewahrt. An
dem Beispiel des Jungen von Kayhausen,
mit den insgesamt vier (aktuelle Untersu-
chung mitgezählt) großen Untersuchungen,
lässt sich zudem zeigen, dass je nach vor-
herrschender Lehrmeinung und Stand der
Technik interpretiert, dokumentiert und lei-
der auch zerstört wurde.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass an
diesem Körper einerseits durch Gewalt zu
Lebzeiten, andererseits durch frühe post-
mortale Veränderungen bei der Verbringung
in das Moor und beim Verbergen/Ablegen
im Moorschlamm diverse Veränderungen
entstanden sind. Weiterhin sind durch die
jahrhundertelange Lagerung im Moor, dann
bei der Auffindung durch die Bergung des
Abb. 18: Rechte Darmbeinschaufel, von vorne (oben) und hinten (unten) (Foto: Eilin Jopp).
| 55 –
Leichnams, schließlich durch die Konser-
vierung und mehrfachen Untersuchungen
zahlreiche Läsionen am Körper entstanden,
die in ihren Auswirkungen nur schwer einzu-
schätzen sind. Unseres Erachtens sind aber
vor allem auch Fäulnisprozesse und Einwir-
kungen von Tieren an der Zerstörung des
Körpers dieses Jungen mitbeteiligt. Dies gilt
insbesondere für die Aufreißungen und De-
fekte im Bereich der Brust- und Bauchwand
(vergl. hierzu die erste sorgfältige Dokumen-
tation von Schläger 1922).
Literatur
BERG, S., ROLLE, R., SEEMANN, H. 1981: Der Archäo-
loge und der Tod. Archäologie und Gerichtsme-
dizin. München und Luzern 1981, 10-16.
HAYEN, H. 1964: Die Knabenmoorleiche aus dem
Kayhausener Moor. Oldenburger Jahrbuch 63,
1964,19-42.
HAYEN, H. 1987: Die Moorleichen im Museum am
Damm. Veröffentlichungen des Staatlichen Mu-
seums für Naturkunde und Vorgeschichte Olden-
burg 6. Oldenburg 1987, 27-35.
MARTIN, J. 1924: Beiträge zur Moorleichenforschung.
Mannus 16, 1924, 240-259.
PIEPER, P., BEHRE, K.-E., MÖHLENHOFF, P., PARPATT, P.-
M., SCHÜBEL, F., SCHÜBEL, J. 1999: et al. Moor-
verlorene Landschaft. Schriftenreihe des Staatli-
chen Museums für Naturkunde und Vorgeschich-
te Oldenburg, Beiheft 10, Band 1. Oldenburg
1999, 63-79.
Anschriften der Verfasser
Eilin Jopp, M.A.
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut für Rechtsmedizin
Arbeitsbereich Forensische Anthropologie
Butenfeld 34
22529 Hamburg
Prof. Dr. Klaus Püschel
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut für Rechtsmedizin
Arbeitsbereich Forensische Anthropologie
Butenfeld 34
22529 Hamburg
Dipl.-Biol. Edith Oplesch
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: edzzo@web.de
Dipl.-Biol. Susan Klingner
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: Susan.Klingner@medizin.uni-goet-
tingen.de
Dr. Frank Both
Landesmuseum Natur und Mensch
Damm 38-44
26135 Oldenburg
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
und
Universität Hildesheim
Institut für Biologie und Chemie
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
E-Mail: mschult1@gwdg.de
| 57 –
Lokalisation und Interpretation der Stichverletzungen, Fes-
selungen und sonstige Verletzungen
E. Jopp, D. Säring, P. Käsemann, M. Schultz, K. Püschel
verläuft. Dieses soll in Verbindung gestan-
den haben bei der Auffindung der Leiche
mit einem 8 cm langen Ende einer zweiten
Umschnürung, welche beide Handgelenke
in doppelter Umschnürung derart umgibt,
dass jedes Handgelenk einmal gesondert
umschnürt war und dann beide Handge-
lenke zusammen ein drittes Mal. Ein fester
Knoten hält so die beiden Handgelenke auf
dem Rücken vereinigt am unteren Ende der
Wirbelsäule.“ (Schläger 1922).
Die von Martin nach Aussage des Finders
als Tragevorrichtung interpretierte Wicke-
lung des Textils um den Hals wird folgen-
dermaßen beschrieben:
„Ein Stück Gewebe von derselben Beschaf-
fenheit ist (feines Gewebe), wie in der Pho-
tographie [beschrieben wird das Foto Abb.
1] erkennbar ist, wie ein Schal um den Hals
geschlungen. Von hier soll der schalartig
zusammengefaltete Teil des Gewebes über
die Vorderseite des Körpers durch die Bei-
ne hindurch und wieder über den Rücken
zurück nach der Halsumwickelung hinauf
geführt gewesen sein. Beim hantieren mit
der Leiche war dieser Gewebestreifen bei-
derseits, vorn und hinten, nahe am Hals ab-
gerissen. Von den beiden übriggebliebenen
Zeugenden hängt das eine in der Mitte über
den Rücken herab, während das andere, das
vordere, in der Photographie nach rechts zur
Seite hin absteht.“ (MARTIN 1924, 242).
Im Obduktionsprotokoll von 1952 wird das
Textil um den Hals wie folgt beschrieben:
„Um die Halsgegend liegt ein aus sackar-
tigem Tuch gedrehter Strick, und zwar von
links her betrachtet, in Form zweier je etwa
daumendicker Stränge.“ (Obduktionsgut-
achten 1952).
Martin rekonstruiert die Fesselung der Hän-
de folgendermaßen:
In diesem Kapitel werden die Verletzungen
und Fesselungen des Jungen vergleichend
dargestellt. Um die todesursächlichen Verlet-
zungen von Bergungsdefekten und fälschlich
beurteilten Verletzungen zu trennen, wurden
auch hier die früheren Untersuchungsproto-
kolle und Publikationen zur Einschätzung
herangezogen. Ziel war es, durch eine ver-
gleichende Betrachtung der verschiedenen
Interpretationen dieser Verletzungen zu ei-
ner Einschätzung der Geschichte des Jun-
gen von Kayhausen zu gelangen.
Fesselung
Die Fesselungen des Jungen von Kayhau-
sen stellen einen der besonderen Befund-
komplexe dieses Falles dar. Über die Jahre
sind neben der eigentlichen Dokumentation
eine Menge Interpretationsansätze unkri-
tisch übernommen worden, die auf die Erst-
einschätzung von MARTIN (1924) zurückge-
hen. Insbesondere die Rekonstruktion von
zwei Zeugschlingen – die eine zum Fesseln,
die andere als Tragevorrichtung – ist offenbar
nicht objektiv, sondern zumindest teilweise
der Fantasie Martins entsprungen. So ist in
dem lange verschollenen Untersuchungs-
protokoll von Schläger (1922) nur von einer
Zeugschlinge am Körper des Jungen die
Rede, die dessen Hände auf dem Rücken
fesselt und diese mit dem Hals verbindet:
„Jetzt sieht man nur um den Hals herum
10 cm breite Gewebestreifen zweimal he-
rum geschlungen und zwar schalartig. Ein
15 cm langes Ende dieses Schals liegt bis
zur Mitte der Bauchhöhle. Diese schalar-
tige Umschnürung zeigt auf der Nacken-
seite einen festen Knoten von welchem aus
ein 8 cm langes Ende nach dem Rücken zu
– 58 |
„Die Fesselung ist in der Weise bewerkstel-
ligt, das aus einem Teil des feineren Gewe-
bes ein Strick gedreht worden ist, der zum
Zusammenbinden der auf den Rücken ge-
legten Unterarme benutzt und mittels seiner
beiden freien Enden am Hals befestigt wur-
de. In der Photographie ist letzteres nicht zu
erkennen, da die Fessel am Hals durch die
darüber liegende schalartige Umwickelung
verdeckt ist.“ (MARTIN 1924, 243). Martin sieht keinen Zusammenhang zwi-
schen der Fesselung der Hände auf dem
Rücken sowie der damit in Verbindung ste-
henden Umwickelung von Armen und Hals.
Er vermutet, dass es sich hier zum einen um
eine Handhabe zum Fortschaffen der Leiche
und zum anderen um eine zusätzliche Fes-
selung der Hände mit einem gleichartigen
(feinen) Gewebe handelt.
„Man könnte versucht sein, diese Vorrich-
tung mit der obenerwähnten Fesselung der
Arme in Zusammenhang zu bringen; doch
ist sie von dieser vollkommen unabhängig.
Ihr offensichtlicher Zweck ist es gewesen,
beim Fortschaffen der Leiche als Handhabe
zu dienen.“ (MARTIN 1924, 242 f.).
Nach Angabe des Torfstechers sollen auch
die Unterschenkel und Füße des Jungen mit
einem Pelzumhang (Kalbfell) zusammenge-
bunden gewesen sein. Beim Eintreffen Mar-
Abb. 1: Rückseite der Leiche, links gesäubert.
| 59 –
tins am Tag nach der Auffindung war dieser
Umstand nicht mehr zu erkennen.
„Zudem fand ich in einem größeren Plag-
gen von „Moorfleisch“ in ziemlicher Voll-
zähligkeit die Knochen beider Füße, so die
beiden leicht kenntlichen Fersenbeine, dicht
beieinanderliegend nebst 3 Fußnägeln und
dazwischen zahlreiche kleine Pelzfetzen. Ich
schließe aus diesem Befund, dass letztere
von dem unteren um die Füße gewickeltem
Ende des Pelzkragens herrühren, dass beim
Torfgraben einen starken Widerstand entge-
gensetzte und daher im Eifer kurz und klein
gestochen wurde.“ (MARTIN 1924, 242).
Dies bedeutet, dass die Fesselung, respek-
tive Tragevorrichtung sowie die Umwicke-
lung der Beine nicht mehr von Martin selbst
dokumentiert werden konnten, sondern le-
diglich auf den Angaben des Torfstechers
beruhen. Wie sicher sind diese Angaben?
Martin sah nach Beurteilung des Befundes
auf dem Foto keinen Grund, an den Anga-
ben des Torfstechers zu zweifeln.
Bei Schläger (1922) wird nur kurz folgendes
erwähnt: „Beide Unterschenkel fehlen ganz. Die Beine sollen bei der Auffindung mit zu-
sammen genähten Fellstücken gebunden
gewesen sein.“
Im Obduktionsprotokoll von 1952 findet sich
keine Beschreibung. HAYEN (1964, 32) über-
nimmt die Beschreibung und Interpretation
nach MARTIN (1924):
„Die Unterschenkel und Füße waren in einen
Pelzumhang eingehüllt. Dabei brauchte man
nur den Halsausschnitt um die Unterschenkel
zu legen und die durch ihn gezogene Schnur
zuzuknoten. Offenbar sollte auch dieses den
Transport des Toten erleichtern.“
Bei BERG et al. (1981) und PIEPER et al. (1996)
finden sich keine Beurteilungen der ver-
meintlichen Pelzumwickelungen der Unter-
schenkel.
Heute wird die von Martin beschriebene
Position des Pelzmantels als nicht mehr re-
konstruierbar angesehen. Der Mantel kann
ebenso gut auf den Beinen oder daneben
gelegen haben. Somit wäre eine Fesselung
der Beine mit dem Umhang nicht nachge-
wiesen.
Martin interpretiert die Fesselung des Jun-
gen im Sinne der Wiedergängerfurcht und stellte dazu fest, dass:
„bei der Kayhauser Leiche […] mit Sicher-
heit festgestellt werden [konnte], dass die
Fesselung der Hände und Füße erst nach
der Ermordung vorgenommen worden ist.
Welchen Zweck aber konnte es haben, eine
Leiche zu fesseln? Doch nur den einen, die
Wiederkehr des Toten zu verhüten. Die Fes-
selung ist also lediglich als ein Bannmittel
anzusehen.“ (MARTIN 1924, 254).
Hayen lieferte dann die Zeichnung und sei-
ne eigene Interpretation (angelehnt an Mar-
tin) zu der Fesselung und Tragevorrichtung
(Abb. 2):
„Den Toten beseitigte man [trug ihn auf das
Moor und drückte ihn in nasses Torfmoos-
polster hinein – Zusammenfassung, S. 40].
Mit den Fetzen zerrissener Kleidung band
man die Arme des Opfers so zusammen,
dass sie bei einem Transport nicht hinderlich
waren, mit seinem Pelzumhang die Beine.
Zusätzlich wurde ein zusammengefaltetes
Tuch derart um den Körper geknotet, dass
man ihn ohne besondere Mühe tragen konn-
te.“ (HAYEN 1964, 33).
Weiter rekonstruiert er anhand der vorhan-
denen Tragevorrichtung den „Schauplatz“
der Tötung. Die Tragevorrichtung zeige,
dass die Tötung nicht im Moor, wenigstens
aber nicht am Ort der Beseitigung erfolgt
sein kann (HAYEN 1964). Für Hayen lässt sich
der erkennbare Teil des Vorgangs in drei Ab-
schnitte gliedern, die örtlich getrennt anzu-
– 60 |
nehmen seien: 1. Tötung des Jungen, 2.
Transport des Leichnams und 3. Beseiti-
gung durch Einbettung in das Moor.
Bei BERG et al. (1981) wird die Fesselung,
insbesondere die Tragevorrichtung, in die ei-
gene Interpretation eingebaut und um eine
weitere zweckdienliche Bestimmung der
Halsfessel ergänzt:
„Insgesamt sprechen aber die Befunde in
der Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine
deliktische Tötung mit nachfolgendem Ab-
transport der Leiche; die Umwicklung des
Halses könnte auch dadurch motiviert wor-
den sein, dass man das (postmortale) Ablie-
ßen von Blut aus den Halswunden unterbin-
den wollte.“ (BERG et al. 1981, 16).
Die Schalwicklung um Hals und Hände wur-
de durch Peter Pieper und den Textilexper-
ten Klaus Tidow aus Neumünster unter-
sucht (Protokoll der Voruntersuchung vom
16.12.1996). Hierfür wurde das Textil von der
Leiche abgenommen und anschließend wie-
der in die vermeintlich ursprüngliche Posi-
tion verbracht. Die diesbezüglichen bislang
nicht publizierten Ergebnisse stellen sich in
Auszügen folgendermaßen dar:
„Der Schlaufenumfang in der Halsregion
misst ca. 30 cm, wonach die Schlaufe, in
Doppelwicklung und ohne Verknotung, rela-
tiv locker um den Hals gelegen haben dürf-
te (s. Skizze PP). Da die Wickelung im Be-
reich oberhalb der umschlungenen Hände
und unterhalb der Rippen-/Halspartie – ver-
mutlich sekundär – zerrissen ist, wird eine
Entfernung des oberen Anteils durch Ab-
streifung in Richtung des Kopfes Schädels
zwecks besserer Untersuchungsmöglich-
keiten durch den Textilexperten beschlos-
sen (PP).“
„Beide Teile stammen möglicherweise aus
nur einem Ausgangsstück, und zwar vermut-
lich aus dem Unterteil eines großen Tuches,
das eher von einem Rahmenwebstuhl als
von einem Gewichtswebstuhl kommt.“
„Ein Handgelenksknoten ist nicht existent
(vgl. H. Hayen 1987:32). Es finden sich –
wie schon bei der Halsschlaufe s.o. – eine
2-fache Umschlingung, hier jedoch des
Handgelenks, darüber, in ca. 10 cm Abstand,
der untere, vermutlich zumindest dreifache
Knoten (WB & KT, s. Skizze PP).“ (Abb. 3)
„Beim oberen Knoten im Nackenbereich
handelt es sich hingegen vermutlich um ei-
nen mindestens zweifachen (WB & KT, s.
Skizze PP).“
„Um Gewebezerstörung zu vermeiden, wur-
de nicht versucht, die Knoten zu lösen. Ei-
nige kleine Gewebsproben wurden zwecks
weiterer Untersuchungen in Neumünster
entnommen (KT), andere Gewebezonen ex-
emplarisch mittels Makroskopie dokumen-
tiert (PP).“
Abb. 2: Die Leiche und Rekonstruktionszeichnung der Fesselung (HAYEN 1987).
| 61 –
2010 hatte der Junge nur eine Textilum-
schlingung um Hals und Handgelenke. Auch
den Beschreibungen von 1996 ist zu ent-
nehmen, dass nur eine Fesselung mit Kno-
ten (wie von Pieper skizziert) vorhanden war.
Die Abb. 4 zeigt den Jungen in Bauchlage
sowie die Fesselung der Hände und des
Halses seit 1922. Der unsortierte und ver-
schobene Zustand der Fessel ist auf die
Sektion von 1952 und die Entfernung des
Schals von 1996 zurückzuführen.
Im Einzelnen wird die Fesselung im Protokoll
der äußeren Leichenschau 2010 folgender-
maßen beschrieben:
„Im Halsbereich (von hinten) der rechten
feuchten Gesichtshälfte liegt um den Hals
herum (schalartig) ein verknotetes Textil aus
relativ grobem Stoff. Von vorne betrach-
tet erkennt man, dass das Textil ganz um
den Hals herumgeschlungen war (Abb. 5).
Auf der linken Seite ist kein Textil mehr ab-
zugrenzen. Der Stoff ist mehrfach ausgefa-
sert, abgerissen/durchgerissen. Die Breite
des Textils (im ausgebreiteten Zustand) be-
trägt 5 cm.“
„Zwischen der linksseitigen Ellenbogenre-
gion des Corpus und der Körperseite wie-
derum Teile des Textilstoffes (ähnlich wie im
Halsbereich beschrieben), hier mehrfach in
sich verdreht und gefaltet bzw. auch einfach
verschlungen. Von hinten erkennt man Reste
der Umwicklung um die Handgelenke. Die-
se Umschnürung um die Reste der Handge-
lenke ist heute sehr locker. Die Knoten sich
im Bereich des Halses und der Handgelenke
noch erhalten.“ (siehe Abb. 4).
Strangulationsfurche
Schläger konnte 1922 keine Strangulati-
onsfurchen durch die Stoffumwickelung
am Hals erkennen und schloss dement-
sprechend Strangulation als Todesursache
Abb. 3: Links: Kayhausener Moor; Wickelung des schalartigen Tuches; unmaßstäbliche, schematische Skizze (PP) (Pieper, Protokoll von der Vorun-
tersuchung vom 16.12.1996); rechts: Schal, mit dem der Junge gefesselt war; links: Halswickelung, mittig: „Knoten“ um die Hände, rechts: Ende mit
Fransen (Foto: Christa Loose, Göttingen 1996).
– 62 |
aus. Dieser Befund wurde bei den nachfol-
genden Untersuchungen weitestgehend be-
stätigt (z. B. MARTIN 1924, Obduktion 1952,
HAYEN 1964).
„Eine deutliche Strangulationsfurche ist am
Halse nicht festzustellen.“ (Schläger 1922).
Martin beschreibt den Befund und Interpre-
tiert das Geschehen wie folgt (HAYEN 1964,
31 übernimmt Martins Einschätzung):
„Der naheliegende Gedanke, daß der Junge
bei der Fesselung erdrosselt wurde, ist nach
Herrn Schlägers Meinung wegen des Fehlens
einer Strangulationsfurche unbedingt von der
Abb. 4: Darstellung der Fesselung auf dem Rücken seit 1922 (links). An dritter und vierter Position ist der Zustand 2010 einmal makroskopisch und
einmal mittels der bearbeiteten CT Aufnahme dargestellt (Fotomontage: Dennis Säring; CT Rekonstruktion gemäß Phillip Käsemann).
Abb. 5: Textil um den Hals. Junge liegt in Rücken-
lage. (Foto: Eva Schreiber).
| 63 –
Hand zu weisen. Wie Herr Schläger münd-
lich sich äußerte, müßte in Anbetracht des
trefflichen Erhaltungszustandes der Haut eine
solche Marke deutlich erkennbar sein, falls
der Tod durch Erdrosselung herbeigeführt
worden wäre. Die gänzliche Abwesenheit
von Zeichen der Strangulation lassen viel-
mehr darauf schließen, daß das Leben be-
reits erloschen war, als die Zeugschlinge um
den Hals gelegt wurde.“ (MARTIN 1924, 243 f.).
Berg und Mitarbeiter (BERG et al. 1981) be-
urteilen den Befund nach Literaturrecherche
und Abbildungen folgendermaßen:
„Eine Strangulationsfurche muss natürlich
nach Ablauf der frühen postmortalen Ver-
änderungen bei Eintritt der Moorgärung
keineswegs noch unbedingt sichtbar sein;
die diesbezügliche Argumentation ist nicht
stichhaltig.“ (BERG et al. 1981, 16)
Bonte und Pieper (1996) suchten in der
rechten Halsgegend nach einer möglichen
vorhandenen Strangulationsfurche. Offen-
bar waren die Untersucher fälschlich davon
ausgegangen, dass derartige Furchen ent-
deckt worden waren; sie schreiben:
“… das Vorhandensein einer Strangulations-
furche bestätigt sich nicht. Es handelt sich
hier um einen Hautdefekt infolge Überdeh-
nung bei langer postmortaler Rechtsdre-
hung des Halses im Moorboden (PP & WB).“
(Rechtsmedizinische Befunde)
Bei der Untersuchung 2010 war nur die ge-
trocknete linke Gesichtshälfte mit Anteilen
des Halses für die Begutachtung geeignet.
Die rechte Gesichtshälfte und Halsgegend
konnte aufgrund des Erhaltungszustandes
für diese Fragestellung nicht mehr genutzt
werden. Der Befund am Hals stellte sich fol-
gendermaßen dar:
„An der linken Gesichtshälfte (Trockenprä-
parat) findet man in der Vorderhalsregion,
wenig oberhalb des jetzt präparatorisch ge-
legten Schnittes, eine angedeutet mulden-
artige Einsenkung der Haut, hier sehr unre-
gelmäßig verworfen, mehr bräunlich gefärbt,
während die übrige Gesichtshaut eine mehr
grau-weißliche Struktur hat. Im oberen An-
teil dieser Verwerfungen – etwa am Über-
gang vom Mundboden zum Hals – parallel
dazu zwei dicht beieinander liegende, unre-
gelmäßige Hautaufreissungen, voneinander
getrennt durch eine um 1 mm breite faser-
artige, feinste Oberhautbrücke. Diese Hau-
taufreissungen weisen keine Defektbildung
in die Tiefe hinein auf.“ (Äußere Leichen-
schau 2010).
In Übereinstimmung mit Pieper/Bonte
(1996) interpretieren wir diese oberfläch-
lichen Hautaufreissungen als postmortale
Dehnungsartefakte. Konkrete Hinweise auf
eine Strangulation ergeben sich unseres
Erachtens nicht. Andererseits ist einzuräu-
men, dass eine Strangulationsfurche nicht
zwingend erhalten geblieben sein müsste,
da bei Lagerung im feuchten Milieu sowie
einer postmortalen Quellung der Haut mög-
licherweise vorhandene Furchen überdeckt
werden könnte. Die Oberhaut ist bei Moor-
leichen regelmäßig ab-/ aufgelöst.
Halsstiche
Bezüglich der drei Einstiche auf der linken
Seite des Halses gibt es in den Untersu-
chungsjahren seit 1922 keine Unstimmig-
keiten. Die Verletzungen werden von allen
Untersuchern als Todesursache angesehen
und bestätigt. Als Tatwaffe wurde ein Dolch
vorgeschlagen (HAYEN 1964) jedoch nicht zur
Gänze bestätigt.
– 64 |
Schläger (1922) beschrieb die Halsstiche
wie folgt:
„Eine weiter ganz gradlinige Durchtrennung
der Haut findet sich in einer Länge von 4 cm
am oberen Rande des linken Schlüsselbeins
und zwei weitere Hautdurchtrennungen mit
nicht ganz geraden Rändern 1cm oberhalb
dieser Wunde in der Richtung von unten
nach oben.“ (Schläger 1922).
MARTIN (1924) schloss aus den drei dicht ne-
beneinander liegenden Wunden am Hals,
nahe am Schlüsselbein, dass der Junge
erstochen wurde und die Stiche aufgrund
ihrer Lage schnell aufeinander erfolgt sein
müssen.
Im Obduktionsprotokoll von 1952 stellt sich
der Befund ähnlich dar:
„3-4 Querfinger breit unter der linken Ohrmu-
schelspitze finden sich in der stark in Falten
gelegten Haut 2 weit klaffende, in horizonta-
ler Richtung verlaufende Gewebsdurchtren-
nungen mit glatten Rändern. 2 Querfinger
breit von diesen Gewebsdurchtrennungen
entfernt, und zwar nach der Vorderseite des
Halses hin findet sich eine weitere Gewebs-
durchtrennung, ebenfalls von glattrandiger
Beschaffenheit. Im Einzelnen zeigen diese
Gewebsdurchtrennungen folgende Längen-
maße: 4 bzw. 3,5 und 3 cm.“ (Obduktions-
protokoll 1952) (Abb. 6).
Nach der Obduktion 1952 wurden „Teile des linken Gesichts einschl. lk. Ohr mit Halswun-
den“ entnommen und in einem Weckglas
feucht konserviert.
HAYEN (1964, 33, 40) übernimmt die Inter-
pretation von Martin und fügt Angaben zur
Tatwaffe hinzu, die nicht aus den Berichten
aus den Jahren 1922 und 1924 (Schläger,
Martin) oder dem Obduktionsgutachten von
1952 hervorgehen. Möglicherweise wurde
auch dieser Befund mündlich bei der Ob-
duktion mit den Obduzenten besprochen:
„..wird durch mehrere schnell aufeinander-
folgende Stiche getötet. Hierzu benutzte
man entweder einen Dolch oder aber ei-
nen Speer. Die Länge der Stichwunden, die
zwischen 3 cm und 4 cm schwankt, deutet
an, dass die benutzte Waffe eine Spitze hat-
te, nach rückwärts mindestens 4 cm breit
wurde und mit flacher Klinge versehen war.
Durch die eng beieinander erfolgten Verlet-
zungen des Halses ist die Verwendung der
kürzeren, genauer treffenden Stichwaffe,
also des Dolches, wahrscheinlich.“
BERG et al. (1981, 16) hielten diese Rekon-
struktion für fragwürdig:
„Die Länge der Hautstichwunde lässt keinen
Schluss auf die Klingenbreite der Tatwaffe
zu, weil das Stichloch je nach der Stichrich-
tung beim Einstechen oder Herausziehen
der Klinge durch die Scheide sekundär er-
weitert werden kann.“
Bonte und Pieper (1996) untersuchten das
noch feuchte Präparat. Es befand sich nach Abb. 6: Halsschnitte, Obduktion 1952. Nach der Obduktion wurden „Teile des linken Gesichts
einschließlich linkes Ohr mit Halswunden“ entnommen und in einem Weckglas feucht konserviert.
| 65 –
der Obduktion von 1952 in einem Glas. Eine
detaillierte Beschreibung der Stichwunden
fehlt im Protokoll. Das Präparat wurde zum
trocknen auf einer Styroporunterlage aufge-
spannt. Erst in der Veröffentlichung PIEPER
2002 (wird die Todesursache durch Stich
zum Hals pauschal bestätigt.
Im aktuellen Protokoll der äußeren Leichen-
schau von 2010 wird der Befund an dem
jetzt ausgetrockneten Präparat beschrie-
ben:
„3,5 cm unterhalb des Ohres an der linken
Halsseite ein 3,5 cm langer Gewebsdefekt.
Der Rand des Defektes ist glattrandig (insbe-
sondere im Bereich der Haut, fraglich auch
im Bereich der darunter liegenden Muskula-
tur). Das Gewebe ist hier lediglich 7 mm dick.
Zu Läsionen an den tiefer gelegenen Weich-
teilen lassen sich keine Feststellungen tref-
fen. Maximales Klaffen dieses glattrandigen
Gewebsdefektes 1,5 cm. In der Tiefe blickt
man auf ein unregelmäßiges, ovales, im vor-
deren Bereich eindeutig spitziges Loch mit
den Ausmaßen 2 x 1,2 cm. Von diesem glatt-
randigen Gewebsdefekt durch eine 2 mm
breite Hautbrücke getrennt ein weiterer Ge-
websdefekt mit einer Länge von 4 cm, zum
ersten Defekt hin nach vorne versetzt, begin-
nend etwa in Höhe der Mitte des zunächst
beschriebenen Defektes. Hier im Bereich
der Haut auch relativ glattrandige Durch-
trennungsstellen. Im hinteren Anteil geht der
Defekt in die Tiefe. Hier findet sich ein im
Randbereich ebenfalls angedeutet glattran-
diger Defekt in der Muskulatur, etwa in Ver-
laufsrichtung des Hautdefektes, 1,7 cm lang
und maximal 0,7 cm klaffend. Etwa die vor-
dere Hälfte des Haut- und Weichteildefektes
läuft oberflächlich aus. Hier ist lediglich die
obere Hautschicht durchtrennt. Der Defekt
ist hier bis 1,8 cm breit und läuft in Rich-
tung Kinn ganz seicht aus. Etwa wie bei einer
oberflächlichen Hautschnitt-/-ritzverletzung,
während der Defekt im rückwärtigen Anteil
dieser Wunde in die Tiefe geht. – Neben dem
größeren Defekt in den tieferen Weichteilen
(Muskulatur) noch ein umschriebener wei-
terer, 0,5 cm breiter und 3 mm klaffender
Defekt.“ (Abb. 7). „Eine weitere glattrandige Hautverletzung ist
von der 2. Verletzung durch eine 5 mm breite
Hautbrücke getrennt. Hier erkennt man im
Randbereich dieser Verletzung ein spitzes
Auslaufen (rückwärts) angedeutet „schwal-
benschwanzförmig“ (nach vorne hin). Der
Weichteildefekt in der Tiefe ist hier unregel-
mäßig. Er ist zur Halsvorderseite hin gerich-
tet, Ausdehnung 1,9 cm, Breite jetzt 0,5 cm.
Insgesamt handelt es sich um 3 in etwa pa-
rallel verlaufende Stich-/Schnittläsionen, die
von der linken Halsseite zur Vorderhalsregi-
on hin gerichtet sind.“
Auch aus gerichtsmedizinischer Sicht kann
man endgültig von drei Stichverletzungen
in der seitlichen/ vorderen Halsregion aus-
gehen.
Schulterstich
Die Stichwunde am linken Oberarm wird
von Schläger im Protokoll 1922 lediglich
beschrieben:
„Auf der Hinterseite des linken Oberarmge-
lenks findet sich eine 4 cm lange gradlinige
Durchtrennung der Haut, welche von außen
oben nach innen unten verläuft.“
Alle weiteren Interpretationen stammen of-
fenbar von Martin. So rühre die Wunde „au-
genscheinlich von einem breiten Messer“
(MARTIN 1924). Die Wunde sitze hinten im
Deltamuskel (durch den das Heben des Ar-
mes bewirkt werde). Lage und Verlauf dieser
Wunde lassen für Martin erkennen, „dass
– 66 |
sich der Arm in gehobener Stellung befand,
als er den Messerstich erhielt; denn bei hän-
gender Armstellung müsste, falls der Mörder
den Stoß mit der rechten Hand ausführte,
die Wunde in umgekehrter Richtung – von
innen oben nach außen unten – verlaufen.“
(MARTIN 1924, 245). Damit hat sich für MARTIN (1924, 245) fol-
gendes Szenario zugetragen:
„In dem Leichenfund spiegelt sich der Mord
in seinen einzelnen Phasen so getreu wie-
der, als hätte der ganze Vorgang sich vor un-
seren Augen abgespielt. Aus der Lage und
dem Verlauf der Armwunde schließe ich, daß
der Angegriffene mit hochgehobenen linken
Arm Gesicht und Hals zu schützen suchte
und die tödlichen Stiche in den Hals in dem
Augenblick erhielt, als der verwundete Arm
kraftlos niedersank.“
Obgleich Schläger (1922) von einer mikro-
skopischen Untersuchung der Wundränder
mit folgenden einfachen Worten absieht,
„Auf eine genauere mikroskopische Unter-
suchung der Haut in der Umgebung der als
Wunde angesprochenen Veränderungen am
linken Oberarm und am oberen Rande des
linken Schlüsselbeines wird für den Augen-
blick verzichtet um die Form dieser Verlet-
zungen nicht zu verändern.“ schreibt MARTIN
(1924, 244):
„Herr Schläger machte den Vorschlag, eine
mikroskopische Untersuchung der Wund-
ränder vorzunehmen, um festzustellen, ob
ein Bluterguß in die umliegenden Gewebe
stattgefunden habe. Hiermit würde der un-
anfechtbare Beweis geliefert sein, daß die
Verletzungen bei Lebzeiten erfolgt sind. Der
Fall liegt indessen so sonnenklar zutage, daß
von einer solchen Untersuchung abgesehen
werden darf.“ Obwohl die Verletzung im Obduktionspro-
tokoll von 1952 nicht beschrieben wird,
da hier offenbar die Entnahme der Organe
das Hauptanliegen der Untersuchung war,
Abb. 7: Drei Halsstiche auf der linken Halsseite (Foto: Eilin Jopp).
| 67 –
nimmt HAYEN 1964 in seiner Fundinterpreta-
tion auch Bezug auf diese Verletzungen und
bestimmt z. B. die Waffe (s. o.). Bei der Inter-
pretation hält er sich ganz an den Vorschlag
von Martin, und übernimmt die Deutung der
Wunde als Abwehrverletzung:
„Drei Wunden liegen an der Vorderseite des
Halses, eine jedoch im Deltamuskel des lin-
ken Oberarms. Offenbar hatte der Junge
hierzu – ob zur Abwehr? – den linken Arm
so – vor das Gesicht? – gehalten, dass der
von einem Rechtshänder geführte Stoß ihn
auf seine Rückseite traf.“ (HAYEN 1964, 33).
BERG et al. (1981) beurteilen die Verletzungen
folgendermaßen:
„Aus heutiger kriminalphänomenologischer
Sicht sind Stichverletzungen des Halses eher
selten und meist mit aberrierenden Mehr-
fachverletzungen in der Umgebung (Ge-
sicht, Brust, Schulter) verbunden; die Par-
allelität der Halswunden spricht dafür, dass
kein Wechsel in der Zueinander-Position von
Täter und Opfer stattgefunden hat. Abwehr-
verletzungen am Oberarm kommen fast nie
vor; die mit unbefangener Selbstverständ-
lichkeit praktisch als einzige Möglichkeit an-
gebotene Deutung der Schulterwunde als
Abwehrverletzung ist aus gerichtsmedizi-
nischer Sicht eher unwahrscheinlich.“ (BERG
et al. 1981, 16).
Auch Bonte und Pieper halten die Verlet-
zungen der linken Schulter nicht für eine
Abwehrverletzung (rechtsmedizinischer Be-
fund 1996):
„Die glattrandige, ca. 4 cm lange Wunde am
linken Oberarm ist entgegen H. Hayen 1987
nicht als typische Abwehrverletzung zu in-
terpretieren.“
Die Frage, ob das um den Hals geschlun-
gene Textil durch die scharfe Gewalt zum
Hals beschädigt wurde oder nicht ist nicht
zweifelsfrei geklärt. Aus dem wieder aufge-
tauchten textilkundlichen Gutachten von
Ephrajm (1922) – es war seit 1922 nicht auf-
zufinden (BOTH, FANSA 2011, 43 f.) – geht
nicht hervor, ob das Textil Schnittspuren auf-
weist. Dennoch beschreiben MARTIN (1924)
und später HAYEN (1964 nach MARTIN), dass
es keine Schnittspuren am Textil gab.
Bei MARTIN (1924, 244) heißt es dazu:
„Da die Wunden von der Zeugschlinge völ-
lig verdeckt sind, diese aber keine von Mes-
serstichen herrührende Beschädigung auf-
weist, so erhellt, daß die Fesselung erst nach
der Ermordung erfolgt sein kann.“
Dies führte dann in der Folge zu der Interpre-
tation, dass der Junge zunächst durch die
Stiche zum Hals getötet und anschließend
gefesselt wurde. Nach MARTIN (1924) ein un-
trügliches Zeichen für eine Bannung gegen
die Wiederkehr des toten Jungen.
Im Protokoll der äußeren Leichenschau von
2010 wird die Verletzung folgendermaßen
beschrieben:
„Rückwärts an der linken Schulter, begin-
nend 2 cm unterhalb der Schulterhöhe und
3 cm einwärts der Oberarmaußenseite, ein
glattrandiger Haut- und Weichteildefekt, der
im Winkel von 45° nach innen unten zieht.
Länge 4 cm. Maximales Klaffen jetzt am Cor-
pus um 0,8 cm. In der Tiefe des Defektes
einerseits glattrandig durchtrennte Kno-
chenstrukturen, anderseits durchtrennte
Muskulatur. Der untere Wundrand ist zuge-
schrägt, der obere angespitzt. Von daher
Verlaufszurichtung dieser Stichverletzung in
der Tiefe Richtung Nacken (ansteigend von
unten nach oben). In der Tiefe lässt sich der
Stichkanal dann nicht weiter verfolgen. Der
Schnitt verletzt in der Tiefe die rückwärtigen
Anteile des linken Deltamuskels. Es handelt
sich um eine Stichverletzung und nicht um
eine mehr oberflächliche Schnittverletzung.“
(Abb. 8).
– 68 |
Bauchdefekt – Riss der Bauchdecke
Schläger (1922) beschreibt einen von oben
nach unten verlaufenden Riss, durch den die
Brust- und Bauchhöhle – nebst den wohler-
haltenen inneren Organen – wie durch einen
„unregelmäßigen Sektionsschnitt“ freigelegt
sind:
„Beide Höhlen (Brust- und Bauchhöhle) sind
wie durch einen, allerdings sehr unregelmä-
ßigen, Sektionsschnitt eröffnet.“ (Schläger
1922).
Dieser Schnitt, so vermutet MARTIN (1924),
ist offenbar durch den Druck der im Kör-
perinneren sich entwickelnden Gase verur-
sacht worden. Aichel (1927 zitiert nach HA-
YEN 1964, 23) sieht demgegenüber diesen
Defekt nicht als Folge der „Zersetzung im
Körperinneren“ an, da die „inneren Organe
vorzüglich erhalten waren“, und der „Darm-
kanal intakt war“.
Im Obduktionsprotokoll von 1952 wird der
Defekt wieder nur beschrieben:
„Der Bereich von Brust und Bauch zeigt nur
noch Reste der Hautdecke, die in dünnen,
teilweise durchlöcherten Lappen von der
Unterlage abzuheben sind“.
Die Interpretation dieses Befundes wird
dann von HAYEN (1964) geliefert. Er geht in
Anlehnung an Martins Einschätzung weiter-
hin davon aus, dass der Gasdruck für den
Defekt verantwortlich ist. Der gute Erhal-
tungszustand der Organe sei auf den nach
dem „Platzen“ eingedrungenen Torfbrei zu-
rückzuführen, der die weitere Zersetzung
verhindert hätte (HAYEN 1964).
BERG et al. (1981, 16) halten diese Erklärung
für unwahrscheinlich und boten eine Inter-
pretation an, deren Eignung noch fragwür-
diger anmutet:
„Andere Vermutungen müssen aus gerichts-
medizinischer Sicht abgelehnt werden; dass
zum Beispiel die Bauchdecke durch Fäulnis-
gase aufreißen könnte, ist mit Sicherheit un-
richtig. Wenn hier ein Artefakt auszuschlie-
ßen ist, müsste sogar an ein Aufschlitzen
Abb. 8: Stichverletzung an der linken Schulter. Vergleichende Darstellung von Foto und CT 3D Rekonstruktion (Foto: Eilin Jopp; CT Rekonstruktion
Dennis Säring).
| 69 –
der Leibeshöhle nach Art nekrosadistischer
Handlung gedacht werden. Eine mikrosko-
pische Untersuchung der Wundränder er-
gibt in solchen Fällen keinen Aufschluss;
man könnte aber an der Wirbelsäule mögli-
cherweise Knochenverletzungen durch das
Messer finden, mit dem die Halsstichwun-
den beigebracht wurden – allerdings nur
durch Präparation, wegen der moorsäure-
bedingten Knochenentkalkung nicht rönt-
genologisch.“
Von Bonte und Pieper (1996) wurde dieser
Befund bei der rechtsmedizinischen Begut-
achtung nicht beschrieben.
Im Protokoll der aktuellen Untersuchung
2010 wird der Riss auf der Vorderseite der
Leiche folgendermaßen beschrieben:
„Der gesamte Corpus ist vorne von der Kopf-/
Halsregion bis zur Schamregion breit aufgeris-
sen. Am liegenden, ausgebreiteten Corpus ist
diese Aufreißungszone zwischen 8 und 12 cm
breit. Zu den Beinen hin (im Unterbauchbe-
reich) verläuft die Aufreißungszone dann mehr
in Richtung zum rechten Oberschenkel.“
Wenngleich sich diese Beschreibung wei-
testgehend mit den Angaben im Protokoll
aus dem Jahr 1922 deckt, bleibt es wei-
terhin unklar, ob es sich hier um einen Ber-
gungsartefakt handelt, oder ob dieser De-
fekt durch Fäulnis entstanden ist.
Weiterer Bauchdefekt – Stoß mit einer
Stange?
Eine weiterer von MARTIN (1924, 244) be-
schriebener Defekt der Haut der Bauchde-
cke, resultierend aus einer Beschädigung
durch einen möglichen Stoß mit einer Stan-
ge oder ähnlichem zum niederdrücken ins
Moor, wird weder von Schläger (Protokoll
1922) noch von den Obduzenten 1952 be-
schrieben. Möglicherweise hat hier Martin
die beschriebenen „gerissenen Stellen“ im
Hüftbereich gemeint:
„Die noch größtenteils erhaltene Haut hat le-
derartige Beschaffenheit, an vielen Stellen
scheint sie gerissen zu sein, so in der Ge-
gend des rechten Hüftbeins auch in der lin-
ken Hüftgegend.“ (Schläger 1922).
Martin beschrieb und interpretierte folgen-
dermaßen: „… die Haut der Bauchdecke eine
Beschädigung, wie von einem Stock herrüh-
rend, aufweist, die nach ihrer Beschaffenheit
schon vorhanden gewesen sein muß, bevor
die Leiche aufgedeckt wurde.“
Möglicherweise ist hier eine Fehlinterpreta-
tion im „Sinne der Geschichte“ Martins ge-
troffen worden, denn er rekonstruierte einen
Tümpel als ursprüngliche „Ablegestelle“ der
Leiche und beschreibt die Deponierung des
Jungen wie folgt:
„Um den Ermordeten zu bannen, schleppt
der Verbrecher die Leiche mit Hilfe der oben
beschriebenen Tragevorrichtung ins Moor
hinaus, wirft sie in einen Wassertümpel und
drückt sie, wie die Verletzungen der Haut
der Bauchdecke vermuten lässt, mittels ei-
ner Stange in das den Boden des Gewässers
bedeckende Wollgras hinein, so dass sie
sich mit Händen und Füßen darin verstrickt
und ihrem Wiederauftreiben vorgebeugt ist.
Die an der Lagerstelle der Leiche bemerkte
schwachmuldenförmige Vertiefung in dem
Wollgrastorf deutet ebenfalls darauf hin,
dass die Leiche gewaltsam zu Boden ge-
drückt wurde.“ (MARTIN 1924, 245)
Diese Interpretation des Tatherganges bleibt
auch bei HAYEN 1964 weitestgehend beste-
hen, allerdings wird die Positionierung im
Moor anders interpretiert. So spricht er bei
der „Art der Beseitigung“ von „Einbettung“
im nassen Torfmoospolster und nicht wie
MARTIN (1924) vom Versenken in einem Tüm-
– 70 |
pel oder Kolk. Alle weiteren Autoren enthal-
ten sich einer Beschreibung.
Bei der äußeren Leichenschau 2010 stellt
sich der in Frage kommende Bereich folgen-
dermaßen dar:
„Die seitlichen Hautpartien am Rumpf sind in
sich mehrfach eingerissen. Der innere Rand
des Hautdefektes im vorderen Rumpfbe-
reich ist überall völlig unregelmäßig fetzig
(keinerlei Anhaltspunkt für Schnittlegung in
diesem Bereich).“
Möglicherweise sind auch diese Defekte
durch die Bergung und das Freilegen durch
den Finder entstanden.
Oberarmfraktur rechts
Merkwürdigerweise werden von Schläger
(1922) die Verletzungen am rechten Ober-
arm nicht beschrieben, während MARTIN
(1924, 244) den Defekt gleich nach der Er-
wähnung der Verletzung der Bauchdecke
folgendermaßen beschrieb:
„Ferner ist zu beachten, daß der rechte
Oberarmknochen mitten durchgebrochen
ist, und daß die zersplitterten Enden der bei-
den Bruchstücke durch die Haut hindurch
gedrungen sind. Da die Knochen in ihrem
jetzigen Erhaltungszustand zu weich sind,
um die noch recht feste, widerstandsfähige
Haut durchbohren zu können, so muß der
Knochenbruch schon vor der Versenkung
der Leiche entstanden sein.“
In seiner Interpretation des „Tathergangs“
passt dieser Befund folgendermaßen hin-
ein (MARTIN 1924, 245):
„Nun die unselige Tat geschehen, packt den
Mörder das Grauen vor der Rache seines
Opfers. Er reißt demselben das Zeug vom
Leibe, um den Toten damit zu fesseln, da-
mit er nicht wiederkehre und ihn nachhole.
Größerer Sicherheit halber bricht er ihm
obendrein den rechten Oberarm, um ihm
so das Lösen seiner Fesseln unmöglich zu
machen.“
Im Obduktionsprotokoll von 1952 wird die
Fraktur ebenfalls nicht erwähnt und HAYEN
(1964) schloss sich wieder den Beschrei-
bungen und weitestgehend den Interpreta-
tionen von MARTIN (1924) an. Allerdings ist
er bei der Einschätzungen des Motivs nicht
so sicher und widerspricht Martins Wieder-
gänger-Theorie:
„Der Bruch des rechten Oberarms erfolgte,
wie schon gezeigt wurde, wohl im Zusam-
menhang mit der Tötung oder dem Trans-
port, jedenfalls aber sicher vor der Einbet-
tung.“ (HAYEN 1964, 31).
Und etwas später heißt es:
„Ob der rechte Oberarmknochen zufällig
oder mit einer bestimmten Absicht zerbro-
chen wurde, ist nicht zu klären. Offenbar ge-
schah dieses jedoch im Ablauf der erkannten
Vorgänge.“ (HAYEN 1964, 34).
Auch zu dieser Verletzung liefern die ande-
ren Autoren keine Einschätzung.
Das aktuelle Protokoll der äußeren Leichen-
schau (2010) benennt den Defekt am Ober-
arm folgendermaßen:
„14 cm unterhalb der rechten Schulterhöhe
steht der rechte Oberarmknochen unregel-
mäßig frakturiert aus dem Haut- und Mus-
kelschlauch des rechten Oberarms heraus.
Die Knochenbruchlinie verläuft schräg von
vorne oben nach hinten unten und ist ziem-
lich unregelmäßig. Die Haut über diesem Be-
reich ist fetzig zerrissen. Die unregelmäßige
Hautaufreissungszone an der Außenseite
des Oberarms reicht bis zum oberen Drit-
tel des rechten Unterarms. Hier fehlen die
Knochen in der Umgebung des rechten El-
lenbogens. Man findet lediglich Sehnen und
Muskulatur.“ (Abb. 9).
| 71 –
Demnach bestünde die Möglichkeit, dass
beim Umdrehen der Leiche auf die linke
Seite nicht nur die Hände abgerissen sind,
sondern auch der rechte Oberarm dabei
verdrehte, die Haut aufriss und der Kno-
chen brach. Möglicherweise handelt es
sich hier also auch um einen Bergungsde-
fekt. Die makroskopische Betrachtung der
Bruchkante mit einer Lupe (durch Michael
Schultz 2010) ließ keine diagenetischen Ver-
änderungen erkennen und unterstützt damit
diese Vermutung.
Zusammenfassung
Wenn man nun zusammenfassend die Dar-
stellungen und Interpretationen betrachtet,
was bleibt dann als Faktum übrig?
Vielleicht beginnt man hier mit der Darstel-
lung der Motivation der einzelnen Untersu-
cher in ihrer Zeit. Die Tabelle fasst die Jahre
der Untersuchungen zusammen. Spezielle
Untersuchungen, wie z. B. 14C-Datierungen
oder die Hautuntersuchung von Bechara
(2001), sind in der Tabelle nicht aufgeführt
(Tab. 1).
Obgleich schon Schläger (1922) zumindest
in seinem Protokoll auf fantasievolle Ein-
schätzungen der Befunde verzichtet hat,
„erzählt“ Martin 1924 die Geschichte auch
im Sinne seiner Zeit. Die Wiedergänger-
furcht-These war zur Zeit Martins eine gän-
gige Erklärung insbesondere für die häufig
neben oder über Moorleichen gefundenen
Stangen und Stöcker.
Die Untersuchungen der Torfschichten am
Fundort führten Martin zu der Erkenntnis,
dass der Junge in einem Wassertümpel de-
poniert worden sei und, um nicht wieder auf-
zutreiben, mit einer Stange in Wasser ge-
drückt wurde. So waren für ihn die Bauch-
deckendefekte erklärlich. Hayen (1964) wi-
derspricht nach eigenen pollenanalytischen
Abb. 9: Frakturierter rechter Oberarm (Foto: Eilin Jopp).
– 72 |
Untersuchungen Martins Interpretation. Er
beschreibt den ursprünglichen Ablageplatz
als „nasses Tormoospolster“, hielt aber ein
Eindrücken mit einer Stange zur Erklärung
der Bauchdefekte trotz allem für wahr-
scheinlich. Alle anderen Autoren verzichte-
ten auf eine Beschreibung des Fundplatzes.
Der in diesem Zusammenhang gesehene
Defekt der Bauchdecke wurde nicht mehr
beschrieben, weil er möglicherweise als sol-
cher nicht mehr zu erkennen war.
Bezüglich der ursprünglichen Fundsituation
stellt sich die Frage, ob die 1924 von Martin,
bzw. vom Finder gemachten Angaben stim-
men. Fakt ist, dass 1. die Leiche beim Torf-
stechen gefunden und dadurch im Bereich
der Unterschenkel und Füße stark zerstört
wurde, 2. der Finder die Leiche am rechten
Ohr ziehend, auf die linke Seite drehte und
damit die genaue Position der Hände und
Unterarme verändert und möglicherweise
den Defekt am rechten Humerus verursacht
sowie die gesamt Körperhaltung zerstört hat
und 3. die Beschreibungen des Befundes in
Martins Publikation von 1924 auf den Aus-
sagen des Finders beruhen.
Dies bedeutet, dass die genaue Position der
„Hand- und Fuß- Fesselung“ und der später
von Martin als „Tragevorrichtung“ beschrie-
bene Textilschnürung nicht mit Bestimmtheit
rekonstruiert werden kann. Auch hier sind le-
diglich die Angaben des Finders Grundlage
aller weiteren Interpretationen, z. B. das Ab-
reißen des schalartig gefalteten Tuchs im Be-
reich des Halses beim Drehen der Leiche oder
die genaue Position des Pelzumhanges. Um-
wickelte er die Unterschenkel? Lag der Um-
hang vielleicht auch über oder unter den Bei-
nen? Lag er vielleicht neben den Beinen?
Nimmt man eine andere Position des Pelz-
umhanges und der Textilien an, könnte eben-
falls rekonstruiert werden, dass es keine Um-
wickelung oder Fesselung der Unterschenkel
mit dem Pelzkragen gegeben hat und dass
die „Textil-Verschnürung“ um Hals und Hän-
de als rekonstruierte Tragevorrichtung nicht
existiert hat, sondern dass lediglich eine Fes-
selung der Hände auf dem Rücken und eine
Verbindung mit dem Hals bestand.
Eindeutig als Grabungs- bzw. Bergungsarte-
fakte sind die Durchtrennung der linken Tibia
durch einen Spatenstich, die zerstochenen
Füße, die abgerissenen Hände und das ein-
gerissene rechte Ohr zu sehen. Die Fraktur
des rechten Oberarms sowie der angeblich
durch eine Stange verursachte Defekt der
Bauchdecke können unseres Erachtens
ebenfalls am ehesten als Bergungsartefakt
angesehen werden.
Bei der Obduktion 1952 wurden dem Leich-
nam weitere Spuren der „scharfen Gewalt“
zugefügt, die als solche auch sicher zu iden-
SCHLÄGER
1922
MARTIN
1924
1952
HAYEN
1964
BERG et al.
1981
PIEPER et al.
1996
PÜSCHEL
et al. 2010
1. medizinische
Bestandsauf-
nahme
Interpretation
Wiedergänger-
Bannung
Obduktion und
Entfernung der
Organe, Röntgen
Tatmotiv nicht
bestimmbar
Interpretation
Opfer als Zeuge
einer Straftat,
Sexualdelikt
(deliktische
Tötung)
Histologische
Untersuchungen
(Organreste,
Magen-
Darminhalt),
ohne
Interpretation
bildgebende
Untersuchungen,
2. Bestandsauf-
nahme
| 73 –
tifizieren sind. So lässt der glatte Schnitt im
Gesäßbereich vermuten, dass hier die Reste
des ehemals erhaltenen Geschlechtsteils
entfernt wurden. Ebenso ist der 6 cm lange
Halsschnitt als Sektionsartefakt zu erkennen
und passt zur Entfernung der linken Gesichts-
hälfte im Rahmen der Obduktion 1952.
Die nur 1952 auf dem Röntgenbild und
makroskopisch durch Dr. Feye erkann-
te Hüftgelenksdeformation, interpretierte
HAYEN (1964, 1987) als weiteres Motiv für
den Mord an dem Kind. Auch diese Aus-
legung der „Krankentötung“ wurde für di-
verse Moorleichen, wie beispielsweise die
Frau von Zweeloo, das Mädchen von Yde,
oder das Kind aus der Esterweger Dose als
Erklärung für Mord und Beseitigung im Moor
verwendet, konnte aber insgesamt bei Be-
trachtung der Häufigkeiten nicht überzeu-
gen (VAN DER SANDEN 1996; BROCK 2009).
Im Lauf der 90-jährigen Fundgeschichte des
Jungen von Kayhausen sind seit der Auffin-
dung 1922 diverse Anteile der Leiche verlo-
ren gegangen. Der Erhaltungszustand, ins-
besondere der Knochen hat sich über die
Jahre zusehends verschlechtert. Einige der
dargestellten Befunde vorangegangener
Untersuchungen des Leichnams (siehe auch
Beitrag Jopp, Both in diesem Band) sind da-
her heute nicht bzw. nur unzureichend nach-
zuvollziehen. So gingen schon in der Zeit
zwischen Auffindung 1922 und der Obduk-
tion 1952 einzelne Hand- und Fußknochen,
Finger- und Fußnägel, das distale Ende der
linken und das proximale Ende der rech-
ten Tibia, der größte Anteil des Unterkie-
fers und der gut erhaltene Penis mit Hoden
(1952 als „Hautschlauch“ beschrieben), die
von Schläger als Asservate in Formalin auf-
geführt werden, verloren.
Bei der Obduktion 1952 wurden alle bis
dahin gut erhaltenen Organe entnommen.
1996 konnten sie nur noch in kleinen Men-
gen und zum größten Teil als unkenntliche
Reste untersucht werden. Im Zuge der ak-
tuellen Untersuchungen fand sich nunmehr
nur noch ein Glas mit enthaltenem „Gekrö-
se“. Außerdem ist das für die Altersbestim-
mung wichtige, bis 1996 erhaltene Oberkie-
ferfragment und der einzige seit Auffindung
erhaltene Molar heute nicht mehr vorhan-
den. Aktuell konnte nur ein nicht weiter beur-
teilbares kleines Fragment des Unterkiefers
gefunden werden.
Was bleibt 2010
Ein etwa (6) 7 – 13 (14) Jahre alt gewordener,
etwa 1,20-1,25 m großer Junge wurde ge-
tötet in Rückenlage im Moor bestattet. An-
zeichen für eine „Wiedergänger-Bannung“
finden sich nicht. Die Hände des Jungen wa-
ren auf dem Rücken gefesselt. Diese Fes-
sel war auch mit dem Hals verbunden. Eine
Tragevorrichtung scheint es nach unserer
Einschätzung nie gegeben zu haben. Eine
Umwicklung der Unterschenkel mit einem
Pelzumhang kann ebenfalls nicht bestätigt
werden, da die genaue Position des Um-
hanges unklar ist. Zusätzliche Textilreste,
bei denen es sich möglicherweise auch um
Reste seiner Kleidung handeln könnte, fan-
den sich verknäult im Nacken und linksseitig
der Leiche.
Der Junge wurde mit drei Stichen zum Hals
(linksseitig) getötet. Eine Stichverletzung im
Bereich der linken Schulter spricht dafür, dass
die Hände beim Angriff mit einem dolchar-
tigen Werkzeug bereits auf dem Rücken
gefesselt waren. Die Schulter wurde zur Ab-
wehr zum Ohr hochgezogen (im Sinne einer
Abwehrbewegung), als der Angriff zum Hals
erfolgte. Die weiteren parallelen Stiche trafen
– 74 |
dann den Hals. Das Verletzungsmuster mit
dicht beieinander liegenden ähnlichen Stich-
läsionen zeigt, dass das Opfer keine Mög-
lichkeit zu Flucht und/oder Abwehr hatte,
sondern fixiert bzw. weitgehend unbeweg-
lich war, z. B. durch Fesselung und evtl. auch
zusätzliches Festhalten. Hierfür spricht auch,
dass keine sonstigen Abwehrverletzungen
dokumentiert werden konnten. Ob der Hals
in dieser Phase des Geschehens schon mit
dem Textil umwickelt war ist unklar, da die
Untersuchungsprotokolle der Textilexperten
keine Schnittspuren erwähnen und sich an
dem noch vorhandenen Textil aufgrund des
Erhaltungszustandes keine sicheren Anga-
ben mehr machen lassen. Zu diskutieren ist,
dass das Textil erst nachträglich (nach den
Stichverletzungen) um den Hals gewickelt
wurde, um die Stiche zu verdecken und/
oder Blutfluss zu vermeiden.
Bei der Auffindung der Leiche wurden zu-
nächst die Unterschenkel abgetrennt und
der Befund knieabwärts zerstört. Beim Um-
drehen der Leiche verursachte der Finder
den Defekt am rechten Ohr, da er die Leiche
am Ohr ziehend auf die linke Seite drehte.
Dabei zerriss die Haut des Arms und der
rechte Oberarmknochen brach. Die zersplit-
terte Fraktur am Oberarm ist nicht durch eine
zu Lebzeiten entstandene stumpfe Gewalt-
einwirkung erklärbar. Außerdem rissen beide
Hände ab und die auf dem Rücken ange-
brachte Fessel um Hals und Hände wurde
dabei zerrissen.
Für die Entstehung des großen Risses der
Bauchdecke kommt aus heutiger Sicht am
ehesten eine artifizielle Defektbildung bei
der Auffindung und Bergung (DD: Fäulnis)
in Frage. Ein angeblich durch eine Stange
verursachter Defekt der Bauchdecke (beim
Herunterdrücken des Körpers in das Moorla-
ger) konnte nicht bestätigt werden. Die Erklä-
rung des Niederdrückens des Leichnams ins
Moor mit einer Stange wird abgelehnt. Für
ein intentionelles Aufschlitzen der Leibes-
höhle (BERG et al. 1981) gibt es kein morpho-
logisches Äquivalent. Gerade auch im Ver-
gleich zu den anderen Verletzungen durch
scharfe Gewalt (Stichverletzungen) ist fest-
stellbar, dass kein Aufschneiden/Aufschlit-
zen, sondern ein aufreißen/aufplatzen vorlag.
Eine Strangulation am Hals wurde seit 1922
wiederholt diskutiert, kann aber endgül-
tig ausgeschlossen werden. Die dokumen-
tierten oberflächlichen Hautverwerfungen
und -einreißungen am Hals sind (ebenfalls)
als postmortal entstanden zu erklären.
Das Kind zeigt mit den dokumentierten HAR-
RIS-Linien der noch vorhandenen Schien-
beinfragmente (siehe Marshall et al. und
Missbach et al., in diesem Band) Anzeichen
überstandener, wiederholter Stresssituati-
onen (Mangelphasen oder Infektionskrank-
heiten), die für die Zeit um Christi Geburt in
Nordeuropa sicher keine Ausnahme darstellt
und beispielsweise auch schon bei dem
Mädchen aus dem Uchter Moor (JOPP et al.
2006) oder dem Kind von Windeby nachge-
wiesen wurden.
Die Reste in seinem Magen und Darm (Ap-
felkerne und div. Kulturpflanzenreste) zeigen
an, dass der Junge sich für seine Zeit normal
ernährt hat (PIEPER et al. 1999, 78). Weder
über die gefundenen Kleidungsreste noch
über den allgemeinen Gesundheitszustand
lässt sich eine Aussage bezüglich seines so-
zialen Status machen.
Eine Erkrankung der Hüftgelenke und damit
einhergehendes „humpeln “ wie von HAYEN
(1964) vorgeschlagen wurde, kann nicht be-
stätigt werden (siehe Simon et al. und Mar-
shall et al. in diesem Band).
| 75 –
Literatur
BERG, S., ROLLE, R., SEEMANN 1981: Der Archäologe
und der Tod. Archäologie und Gerichtsmedizin.
München und Luzern 1981, 10-16.
BOTH, F., FANSA, M. 2011: Faszination Moorleichen.
Schriftenreihe des Landesmuseums Natur und
Mensch, Heft 80. Mainz 2011.
BROCK, T. 2009: Moorleichen. Zeugen vergangener
Jahrtausende. AID Sonderheft 2009. Stuttgart
2009.
HAYEN, H. 1964: Die Knabenmoorleiche aus dem
Kayhausener Moor. Oldenburger Jahrbuch 63,
1964, 19-42.
HAYEN, H. 1987: Die Moorleichen im Museum am
Damm. Veröffentlichungen des Staatlichen Mu-
seums für Naturkunde und Vorgeschichte Olden-
burg. 6. Oldenburg 1987, 27-35.
JOPP, E., PÜSCHEL K., AMLING, M., SCHILLING, A. F.,
HELMKE, K., KAHLER, A., BAUEROCHSE, A. 2006:
Rechtsmedizin, Anthropologie und Archäologie
– „Mooras“ Harris-Linien – ein besonderer Be-
fund? Berichte zur Denkmalpflege in Niedersach-
sen Heft 2, 2006, 38-39.
MARTIN, J. 1924: Beiträge zur Moorleichenforschung.
Mannus 16, 1924, 240-259.
PIEPER, P. et al. 1999: Moorleichen. In: M. Fansa
(Hrsg.), Weder See noch Land. Moor - eine ver-
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Museums für Naturkunde und Vorgeschichte Bei-
heft 10, Band 1, Oldenburg 1999, 63-79.
PIEPER, P. 2002: Moorleichen. In: H. Becket et al.
(Hrsg.), Reallexikon der germanischen Altertums-
kunde, Bd. 20, 2002, 222-229.
VAN DER SANDEN, W. A. B. 1996: Mumien aus dem
Moor – Die vor- und frühgeschichtlichen Moorlei-
chen aus Nordwesteuropa. Amsterdam 1996.
Anschriften der Verfasser
Eilin Jopp, M.A., Prof. Dr. Klaus Püschel,
Dr. D. Säring, P. Käsemann
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut für Rechtsmedizin
Arbeitsbereich Forensische Anthropologie
Butenfeld 34
22529 Hamburg
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
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Institut für Biologie und Chemie
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| 77 –
So genannte „operative Fallanalyse“ – Der „Fall Kayhausen“
aus aktueller kriminalistischer Sicht
K. Püschel, M. Schultz, E. Jopp
Interpretationen zum Geschehensablauf beim
Tod des Jungen von Kayhausen. Diese wer-
den nachfolgend stichwortartig referiert:
Im Verlauf der Zeit sowie der verschiedenen
Untersuchungen durch Wissenschaftler ver-
schiedener Fachrichtungen, erfolgten diverse
„In dem Leichenfund spiegelt sich der Mord in seinen einzelnen Phasen so getreu wieder,
als hätte der ganze Vorgang sich vor unserer Augen abgespielt. Aus der Lage und dem
Verlauf der Armwunde schließe ich, dass der Angegriffene mit dem hochgehobenen
linken Arm Gesicht und Hals zu schützen suchte und die tödlichen Stiche in den Hals
in dem Augenblick erhielt, als der verwundete Arm kraftlos niedersank. Nun die un-
selige Tat geschehen, packt den Mörder das Grauen vor der Rache seines Opfers. Er
reißt demselben das Zeug vom Leibe, um den Toten damit zu fesseln, damit er nicht
wiederkehre und ihn nachhole. Größerer Sicherheit halber bricht er ihm obendrein
den rechten Oberarmknochen, um ihm so das Lösen seiner Fesseln unmöglich zu
machen. Um den Ermordeten zu bannen, schleppt der Verbrecher die Leiche mit Hilfe
der oben beschriebenen Tragevorrichtung ins Moor hinaus, wirft sie in einen Wasser-
tümpel und drückt sie, wie die Verletzung der Haut der Bauchdecke vermuten lässt,
mittels einer Stange in das den Boden des Gewässers bedeckende Wollgras hinein,
so dass sie sich mit Händen und Füßen darin verstrickt und ihrem Wiederauftreiben vor-
gebeugt ist. Die an der Lagerstelle der Leiche bemerkte schwachmuldenförmige Ver-
tiefung in dem Wollgrastorf deutet ebenfalls darauf hin, dass die Leiche gewaltsam zu
Boden gedrückt wurde. Das zur Fesselung und Herstellung der Tragevorrichtung nicht
benutzte Zeug, das im Nacken der Leiche angetroffen wurde, mag unter den nur lose
um den Hals gelegten schalartigen Streifen gestopft gewesen sein, um zugleich mit der
Leiche beseitigt zu werden, damit es dem Mörder nicht zum Verräter werden könnte.“
(MARTIN 1924, 245)
„Ein etwa 8 bis 9 Jahre alter, verkrüppelter Junge, der lange Zeit krank gewesen ist
und zuletzt nicht gehungert hat, wird durch mehrere schnell aufeinanderfolgende
Stiche getötet. Hierzu benutzt man entweder einen Dolch oder aber einen Speer. Die
Länge der Schnittwunden, die zwischen 3cm und 4cm schwankt, deutet an, dass die
benutzte Waffe eine Spitze hatte, nach rückwärts mindestens 4cm breit wurde und
mit flacher Klinge versehen war. Durch die eng nebeneinander erfolgten Verletzungen
des Halses ist die Verwendung der kürzeren, genauer treffenden Stichwaffe, also des
Dolches, wahrscheinlich. Drei Wunden liegen an der Vorderseite des Halses, eine je-
doch im Deltamuskel des linken Oberarmes. Offenbar hatte der Junge hierzu – ob
zur Abwehr? – den linken Arm so – vor das Gesicht? – gehalten, dass der von einem
Rechtshänder geführte Stoß ihn auf seiner Rückseite traf. Den Toten beseitigte man -
trug ihn auf das Moor und drückte ihn in nasses Torfmoospolster hinein. Mit den Fet-
– 78 |
Unter Berücksichtigung der ausführlichen
Diskussion zu sämtlichen Befunden an die-
ser Moorleiche (vergl. insbesondere JOPP et
al. zur Lokalisation und Interpretation der
Verletzungen) ist zur Rekonstruktion des
Tathergangs folgendes festzuhalten:
zen zerrissener Kleidung band man die Arme des Opfers so zusammen, dass sie bei
einem Transport nicht hinderlich waren, mit seinem Pelzumhang die Beine. Zusätzlich
wurde ein zusammengefaltetes Tuch derart um den Körper geknotet, dass man ihn ohne
besondere Mühe tragen konnte. Die Pollenanalyse verweist diesen Vorgang in die Zeit
zwischen Chr. Geb. und 200 n. Chr. – Abschließend wird darauf hingewiesen, dass aus
den Fundumständen und den Ablagerungen des Moores sich Vorgänge mehr oder we-
niger ausführlich erkennen lassen, die Ableitung eines bestimmten Tatmotives jedoch
nicht möglich ist.“
(HAYEN 1964)
I. Rekonstruktion des Tathergangs
dem Rücken gefesselt. Die Schulter wurde zur Abwehr zum Ohr hochgezogen.
Die weiteren Stiche trafen den Hals.
keine Möglichkeit zu Flucht und/ oder Abwehr hatte, sondern fixiert bzw. weitge-
hend unbeweglich war, z. B. durch Fesselung. Hierfür spricht auch, dass es keine
weiteren Abwehrverletzungen gab.
ist unklar (offenbar keine Schnittspuren im Textil).
abwärts zerstört.
da er die Leiche am Ohr ziehend auf die linke Seite drehte. Dabei rissen beide
Hände ab und das Textil der Fessel vom Hals zu den Händen zerriss.
splitterte Fraktur ist nicht durch eine zu Lebzeiten entstandene stumpfe Gewalt-
einwirkung erklärbar.
Halsstiche als tödliche Verletzung!
Fesselung!
Fraktur des Oberarms postmortal entstanden!
| 79 –
II. Rekonstruktion des Tathergangs
geklärt werden. Ein angeblich durch eine Stange verursachter Defekt der Bauch-
decke (beim Herunterdrücken des Körpers in das Moorlager) ist rechtsmedizinisch
nicht nachvollziehbar.
BERG et al. 1981) durch den „Täter“ kommt nicht
in Betracht.
zungen) ist feststellbar, dass kein Aufschneiden/ Aufschlitzen, sondern ein Aufrei-
ßen/Aufplatzen vorlag.
tierten Spuren am Hals sind als postmortal entstanden zu erklären.
Kein Aufschlitzen des Bauches!
Keine Strangulation!
Was bleibt 2011?
wurde getötet.
die Hände mit dem Hals. Die Rekonstruktion einer „Tragevorrichtung“ wird abge-
lehnt.
bestätigt werden, da die genaue Position des Umhanges unklar ist.
dung handeln könnte, fanden sich verknäult im Nacken und linksseitig der Lei-
che.
Sog. „Undoing“ beim Beseitigen des Leichnams!
„Dumping“ des entkleideten Leichnams!
– 80 |
Die Motivation für die Tötung des (6) 7 - 13
(14) Jahre alt gewordenen gesunden Jun-
gen von Kayhausen sowie der Geschehens-
ablauf sind unter Aspekten einer sog. ope-
rativen Fallanalyse (aus heutiger Sicht) am
ehesten folgendermaßen zu erklären:
Häufig benutzte Theorien von Opfer- oder
kultischen Zeremonien lassen sich anhand
der dokumentierten Tatsachen nicht bele-
gen. Die Konstellation deutet aus heutiger
Sicht auf eine – pädophil motivierte – Tö-
tungshandlung hin.
Literatur
BERG, S., Rolle, R., Seemann, H. 1981: Der Archäo-
loge und der Tod. Archäologie und Gerichtsmedi-
zin. München und Luzern 1981, 10-16.
HAYEN, H. 1964: Die Knabenmoorleiche aus dem
Kayhausener Moor. Oldenburger Jahrbuch 63,
1964, 19-42.
MARTIN, J. 1924: Beiträge zur Moorleichenforschung.
Mannus 16, 1924, 240-259.
von Hals und Oberkörper; dafür benutzt er z. T. die Kleidungsstücke.
losen, fixierten, gefesselten Jungen; der verletzte Halsbereich wird (nachträglich)
durch das Textil abgedeckt.
abdeckt, Kleidungsstücke unter den Nacken legt und das Kind positioniert.
dungsstücke neben und unter der Leiche) sog. „Leichen-Dumping“.
Anschriften der Verfasser
Prof. Dr. Klaus Püschel
Eilin Jopp, M.A.
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Institut für Rechtsmedizin
Arbeitsbereich Forensische Anthropologie
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| 91 –
Histopathologische Analyse des Knochengewebes
J. Zustin, M. Schultz
den drei kleinere Proben, die komplett in
Kunststoff eingebettet und geschliffen wur-
den. Histopathologische Schnitte wurden
mit PAS Reaktion, Toluidin Blau und Goldner
Trichrom histochemisch gefärbt. Mikrosko-
pische Analysen wurden sowohl lichtmikro-
skopisch als auch unter polarisiertem Licht
durchgeführt.
Histopathologische Analyse
Mikroskopisch stellte sich in der Über-
sichtvergrößerung (25x) eine gut erhaltene
Grundstruktur des Knochens dar (Abb. 2A).
Es zeigte sich eine regelmäßige Vernetzung
der Spongiosa mit leeren intertrabekulären
Räumen. Es konnte weder blutbildendes
Gewebe noch Fettgewebe nachgewiesen
Makroskopische Begutachtung
Für die morphologische Analyse wurden
mehrere Knochenfragmente (Abb. 1) von
den Resten langer Röhrenknochen makros-
kopisch untersucht und für weitere histo-
pathologische Spezialuntersuchungen eine
Probe eingebettet. Makroskopisch konnte
man die Gewebsstücke leicht als Knochen
identifizieren, wobei sich sowohl die glatte
oberflächliche Knochenrinde, die Corticalis
(lat. corticalis „Rinde�), als auch der tiefer
gelegene Schwammknochen, die Spongio-
sa (lat. spongia „Schwamm�), unterscheiden
ließen. Die Oberfläche war frei von Weichge-
webe, man sah lediglich vereinzelte Haare.
Restliche Weichteile einschließlich der Kno-
chenhaut (Periost) fehlten. Das größte Kno-
chenfragment hat eine Länge von 6,1 cm
und ein Durchmesser von etwa 1,6 cm und
könnte von einem Hand- oder Fußknochen
stammen. Weitere Knochenproben waren
kleiner und eine genaue anatomische Zu-
ordnung war nicht möglich. Alle Gewebe-
proben wiesen eine dunkelbraune Farbe
auf. Der Knochen war derb elastisch und
es konnten keine mineralisierten knochen-
harten Areale gefunden werden. In der kon-
taktradiologischen Untersuchung kamen
ebenfalls keine mineralisierten Gewebeab-
schnitte zur Darstellung. Für weitere histo-
pathologische Analysen wurde das kleinste
Knochenfragment verwendet.
Aufarbeitung der Knochenprobe
Für die mikroskopische Untersuchung wur-
de eine Gewebeprobe mittels wasserge-
kühlter Diamantbandsäge, mit der sich der
Knochen schonend und nahezu ohne Arte-
fakte teilen lässt, lamelliert. Dabei entstan-
Abb. 1: Knochenproben der Moorleiche Junge von Kayhausen. Makroskopisch kommen drei
braune Gewebsfragmente ohne Weichteile zur Darstellung, die sich eindeutig dem Knochen-
gewebe zuordnen ließen. Es handelt sich mit größter Wahrscheinlichkeit um Teile von kleinen
Hand- oder Fußknochen. Die Knochenoberfläche war glatt, ohne Knochenhaut; es zeigten sich
lediglich wenige Haare, die den Knochen bedeckten. Ein Gewebsstück (links oben) wurde weiter
histopathologisch aufgearbeitet.
– 92 |
werden. Des Weiteren kommen in der Cor-
ticalis Osteone (Abb. 2B), die Grundbauele-
mente des Knochens, zur Darstellung. Deren
Kanäle sind ebenfalls leer, ohne Nachweis
von zellulären Strukturen. Ausgedehnte Re-
sorptionshöhlen wie bei einer Osteomyelitis
oder Callusformationen, die auf eine mög-
liche Fraktur hinweisen könnten, oder andere
grobe Veränderungen der Knochenarchitek-
tur liegen nicht vor, so dass im vorliegenden
Material von einem normalen gesunden Kno-
chen ausgegangen werden kann.
Abb. 2: Knochengewebe des
Moorleichnams (Übersicht). (A) Guter
Erhaltungszustand des Knochenge-
webes in der Übersichtsvergrößerung
(Toluidin Blau Färbung, Vergrößerung:
25x) mit regelmäßig vernetzten Kno-
chentrabekeln. Die Knochenbalken
sind komplett demineralisiert und die
Markräume leer. Fettmark oder Hä-
matopoese sind nicht nachweisbar.
(B) Bei höherer Vergrößerung sieht
man leere Havers-Kanäle (Pfeile), die
normalerweise lockeres Fibrosegewe-
be und Blutgefäße enthalten (Toluidin
Blau Färbung, Vergrößerung: 200x).
Abb. 3: Mikroskopische Befunde am Knochen des Moorleichnams bei starker Vergrößerung. (A) Die Knochentrabekel sind komplett demineralisiert,
die organische Grundsubstanz ist jedoch sehr gut erhalten. Man sieht mehrere optisch leere Linien (Pfeile, sgn. Kittlinien), die Areale mit Stadien un-
terschiedlicher Knochenentwicklung abgrenzen. Diese entsprechen den Grenzen zwischen osteoklastär resorbierten Trabekelabschnitten, die durch
Osteoblasten immer wieder angebaut und aufgefüllt wurden. (B) Man erkennt die lamelläre Struktur der organischen Grundsubstanz, in der sich optisch
leere Lakunen der Osteozyten (Pfeile) befinden. Die Knochenzellen sind nirgendwo mehr nachweisbar. (C) In einem Gewebeabschnitt auf der Knochen-
oberfläche zeigt sich eine unregelmäßige faserige Struktur mit dicken Fasern, die von lamellär strukturiertem Cortikalisknochen durch eine optisch leere
Linie abgegrenzt wird. Diese entspricht offensichtlich einem gelenknahen Sehnenansatzpunkt (A-C: unentkalkte Präparation, Färbung: Toluidin blau,
Vergrößerung: 400x).
| 93 –
In der stärkeren Vergrößerung (200x und 400x)
lässt sich eine sehr gut erhaltene organische
Grundsubstanz erkennen. Die Knochentra-
bekel sind komplett demineralisiert, die orga-
nische Grundsubstanz zeigt mehrere optisch
leere Linien (Abb. 3A), die die Areale mit unter-
schiedlichen Stadien der Knochenbildung ab-
grenzen und auf eine dynamische Knochen-
umbauaktivität hinweisen. Diese Linien stel-
len die Grenzen zwischen osteoklastär (d. h.
durch die Knochenfresszellen – Osteoklasten)
resorbierten Trabekelabschnitten dar, die
noch intravital durch die knochenbildenden
Zellen (Osteoblasten) immer wieder neu an-
gebaut und mit jüngerem Knochen aufge-
füllt wurden. Ferner erkennt man die lamel-
läre Struktur der organischen Grundsubstanz
und optisch leere Lakunen der Osteozyten
(Abb. 3B). Die Knochenzellen sind in keiner
Probe mehr nachweisbar. Auf der Knochen-
oberfläche zeigte sich eine unregelmäßige
faserige Struktur mit dicken Kollagenfasern,
die von lamellär strukturiertem Corticalis-
knochen durch eine optisch leere Linie ab-
gegrenzt wurde. Diese entspricht offensicht-
lich einem gelenknahen Sehnenansatzpunkt
(lat. enthesis, Abb. 3C), der intravital norma-
lerweise mineralisiert ist. Elastische Fasern
oder andere Weichgewebestrukturen sind
nicht nachweisbar.
Es ließen sich herdförmige geringfügige
Grundstrukturzerstörungen von Knochen-
trabekeln nachweisen. Mit histochemischer
PAS Reaktion konnten fokale Kolonien von
Pilzen (Abb. 4A) nachgewiesen werden, die
offensichtlich an den zerstörerischen Pro-
zessen teilgenommen haben. In der Nähe
von Pilzkolonien zeigten sich in den Kno-
chentrabekeln vermehrt Tunnelierungen
(vermutlich Pilz- oder Algenfraßgänge, Abb.
4B) mit kleinerem Durchmesser als die La-
kunen von Knochenzellen, die sich über
mehrere parallele Schnittstufen nachweisen
ließen und von der Größe her gut zur Grö-
ße von Pilzhyphen oder Algenwuchs pas-
sen. Ganz vereinzelt sah man pflanzliche
Reste (Abb. 4C), am ehesten Samen, mit
oberflächlich polarisationsoptisch doppel-
Abb. 4: Histopathologische Nebenbefunde am Knochengewebe des Moorleichnams. (A) Zwischen den Knochenbalken konnten vereinzelte Pilz-
kolonien nachgewiesen werden (PAS Reaktion, Vergrößerung: 200x). (B) In der Nachbarschaft von Pilzkolonien zeigten Knochenbalken vermehrt
Tunnelierungen kleinen Durchmessers, passend zur Größe von Pilzhyphen bzw. Algenfraßspuren (Toluidin Blau Färbung, Vergrößerung: 400x). (C) In
den intertrabekulären Räumen zeigten sich stellenweise pflanzliche Strukturen. (D) In der Polarisationsoptik war eine oberflächliche Zellulose-Kapsel zu
erkennen (Toluidin Blau Färbung, Polarisationsoptik, C und D: Vergrößerung: 400x).
– 94 |
brechender Kapsel, passend zu Zellulose-
haltigem pflanzlichem Gewebe. Da der zur
histopathologischen Untersuchung aufgear-
beitete Knochen bereits fragmentiert wurde,
könnten die pflanzlichen Bestandteile bei
der Manipulation bzw. nach Ausgrabung
oder nachfolgender Fixierung durchaus ar-
tifiziell eingebracht worden sein.
Zusammenfassung
Histologisch konnten bei den Knochenpro-
ben die Kollagenbündel der organischen Kno-
chengrundsubstanz nachgewiesen werden,
die eine regelmäßige lamelläre Grundstruktur
aufwiesen. Es stellte sich sowohl die Cortica-
lis mit Sehnenansatz als auch der Schwamm-
kochen dar, periostale Weichteile waren nicht
erhalten. Zelluläre Strukturen wie Osteo-
zyten oder Knochenmarkzellen waren eben-
falls nicht erkennbar. Zusätzlich stellten sich
pflanzliche Reste und Pilzelemente dar, die
das Knochengewebe möglicherweise auch
erst nach der Ausgrabung kolonisierten.
Anschriften der Verfasser
Priv. Doz. Dr. med. Jozef Zustin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut für Pathologie
Haus O, 26 Raum 275
Martinistr. 52
20246 Hamburg
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| 103 –
Analyse des Schienbeinschaftes des „Jungen von Kayhau-
sen“ mittels hochauflösender Computertomographie
J. Mißbach-Güntner, Chr. Dullin, S. Klingner, E. Oplesch, F. Alves,
M. Schultz
nicht-invasive Untersuchung größerer Ske-
lettelemente praktisch unmöglich machen.
Zur Aufnahme müssen die zu analysie-
renden Knochen zersägt werden. Trotzdem
steht der Nutzen eines Mikro-CT-Scans ge-
rade auch für kleine Fragmente außer Frage,
wie beispielsweise die Mikro-CT-basierte Di-
agnose einer fortgeschrittenen Osteomye-
litis an einem Schienbeinfragment von nur
einem Kubikzentimeter Volumen der Moor-
leiche „Esterweger Dose“ eindeutig zeigen
konnte (MISSBACH-GÜNTNER et al. 2010).
Um die linke Tibia des „Jungen von Kayhau-
sen“, einer kindlichen Moorleiche aus der
Weser-Ems-Region, die in die vorrömische
Eisenzeit datiert werden konnte (Übersicht:
BOTH und FANSA 2010), in Gänze zu scan-
nen und dabei nicht auf eine hervorragende
Ortsauflösung verzichten zu müssen, wurde
der Prototyp eines hochauflösenden, prä-
Einleitung
Durch neue, oft experimentelle und somit nur
im präklinischen Bereich einsetzbare bildge-
bende Verfahren erhält die anthropologisch-
forensische Forschung immer wieder neue
Impulse. Aussagen, die beispielsweise mit-
tels innovativer computertomographischer
(CT) Analysen über das Untersuchungsgut
getroffen werden können, stützen dabei je-
doch nicht nur die makroskopischen, kon-
ventionell röntgenologischen und lichtmi-
kroskopisch erhaltenen Ergebnisse. Sie ge-
statten darüber hinaus durch die freie Wahl
der Betrachtungswinkel, der zwei- oder drei-
dimensionalen Darstellungsweisen auch in
verschiedenen Schnittebenen sowie durch
die quantitative Bestimmung der ortsspe-
zifischen Röntgendichten eine völlig neue
Qualität der Information. Dazu zählt unter
anderem die CT-gestützte Knochendichte-
messung, die im Fall des Vergleichs beider
Oberarmbeine der Moorleiche „Esterweger
Dose“ ein Verteilungsmuster der Knochen-
mineraldichte aufwies, wie sie für Rechts-
händer typisch ist (BARVENCIK et al. 2010). Um
hoch aufgelöste Darstellungen von (prä)hi-
storischem Knochenmaterial gewinnen zu
können, werden Mikro-CT-Geräte verwen-
det, die zwar eine Ortsauflösung von unter
10 µm ermöglichen, dabei aber eine Bild-
aufnahme im Bereich von Stunden realisie-
ren und eine vielfach erhöhte Röntgendo-
sis im Vergleich zu klinischen Computerto-
mographen generieren, die nur eine durch-
schnittliche Ortsauflösung von 0,5 mm er-
reichen können (CADEMARTIRI et al. 2009). Bei
der anthropologisch-forensischen Analyse
spielt dieses Charakteristikum jedoch nur
eine untergeordnete Rolle. Viel kritischer
sind die sehr kleinen Gerätekammern vie-
ler Mikro-CT-Geräte zu betrachten, die eine
Abb. 1: Das präklinische Volumen-
CT ermöglicht bei einer Auflösung von
bis zu 150 µm die Aufnahme größerer
Objekte, die auf dem beweglichen Pa-
tiententisch (Stern) gelagert und in die
Gantry eingefahren werden.
– 104 |
klinischen Flächendetektor-Volumen-Com-
putertomographen (Abb. 1) eingesetzt, der
einerseits ein großes Objektvolumen und
dabei Aufnahmezeiten im Bereich von Se-
kunden zulässt und andererseits eine Orts-
auflösung von 150 bis 200 µm erreicht.
Untersuchungsgut und Methode
Für die CT-Analyse stand das linke Schien-
bein der Moorleiche des „Jungen von Kay-
hausen“ zur Verfügung, von dem sich die
oberen zwei Drittel des Schaftes erhalten
hatten (Abb. 2A). Dieses Schaftfragment
wurde mit dem Prototypen des Flächende-
tektor-Volumen-CT (VCT) gescannt, der eine
Entwicklung des General Electric Global Re-
search Centers (Niskayuna, NY, USA) ist.
Im Gegensatz zu üblichen Mikro-CT-Syste-
men, bei denen Röntgenstrahler und Detek-
tor ortsfest sind und die Untersuchungsob-
jekte auf einem Drehteller bewegt werden,
führen bei dem hier beschriebenen VCT-
Sys tem die Röntgenröhre und die Flächen-
detektoren in einer geschlossenen Abtast-
einheit (Gantry) eine miteinander gekop-
pelte Drehbewegung um ein gemeinsames
Rotationszentrum aus (s. Abb. 1). Zu dem
Sys tem gehört ferner ein Netzwerk aus ver-
schiedenen Rechnern, die das Gesamtsys-
tem steuern, sowie die Datenübertragung
und die anschließenden Rekonstruktions-
rechnungen bis hin zur Archivierung realisie-
ren. Das VCT-System wird als Axialsystem
betrieben, d.h. die Datenerfassung erfolgt
längs der Systemachse in voneinander un-
abhängigen Einzelschritten jeweils während
einer 360° umfassenden Rotation der Rönt-
genröhre und des Detektorsystems um das
stationäre Untersuchungsobjekt. Anschlie-
ßend wird bis zur vollständigen Erfassung
des zu untersuchenden Objektvolumens
der Patientenlagerungstisch schrittweise
vorwärts bewegt. Während des Tischvor-
schubs erfolgt keine Exposition.
Der Scan mit einer Ortsauflösung von ca.
150 µm erfolgte mit folgenden Parametern:
Einzeldetektormodus, 80 kVp, 100 mA, 1000
Projektionen pro Rotation in vier Sekunden
und insgesamt drei Schritte zur vollstän-
digen Abdeckung der Tibia. Anschließend
wurde der Datensatz mittels voxtools 3.0.64
Advantage Workstation 4.2 (GE Healthcare)
analysiert.
Da der Unterschenkelknochen des „Jungen
von Kayhausen“ in seiner Mineraldichte er-
heblich reduziert war, eigneten sich normale
Darstellungsprotokolle für die Langknochen
von heute lebenden Patienten nicht. Um ei-
nen sichtbaren Kontrast der sehr röntgen-
schwachen Knochenstruktur zu erzeugen,
wurde ein eigenes Darstellungsprotokoll
„Moor“ etabliert, welches die liegezeitlich
bedingte dunkle Verfärbung des Knochens
virtuell hell abbildet, oder auf vorhandene
Weichgewebsprotokolle wie „BW Lung“,
„Air Structure“ oder „BW Colon“ zurückge-
griffen.
Beurteilung des Erhaltungszustands
und der Morphologie
Die dreidimensionale Darstellung der Tibia
zeigt eine in den proximalen ersten zwei
Dritteln völlig integere Oberfläche des Kno-
chens (Abb. 2A). Der untere Gelenkbereich
fehlt jedoch und wird durch eine teils glatt
geschnittene, teils gebrochene Kante be-
grenzt. Etwa 1 cm oberhalb und parallel zu
dieser Kante imponiert eine weitere Schnitt-
marke, ebenfalls glatt und ohne Hinweise
auf Knochenreaktion (Abb. 2B, C), welches
| 105 –
auf postmortale, möglicherweise beim Torf-
stechen oder im Zuge der Bergung ent-
standene Beschädigungen hinweist. Auf
der ventralen Seite des Schienbeinkopfes
findet sich ein oberflächlich röntgenschwa-
cher Bereich, der als liegezeitlich bedingte
Verdrückung interpretiert werden kann (Abb.
3A). Das Fehlen der aufgrund des kindlichen
Alters noch nicht mit dem Schaft verwach-
senen Gelenkfläche bestätigt die Alters-
schätzung eines älteren Kindes (vgl. HAYEN
1964). Weiterhin ist durch die Abbildung der
knöchernen Oberfläche die Einkerbung ei-
ner Muskelursprungsmarke, der Linea mus-
culi solei, als prominente Struktur und klei-
nere, diskrete Blutgefäßimpressionen gut
Abb. 2: Die dreidimensionale Darstellung des Schienbeinfragmentes
mit einem Darstellungsprotokoll für Weichgewebe zeigt A: den Erhaltungs-
zustand des Knochens in der Übersicht. Das untere Schaftdrittel liegt
nicht mehr vor. Kurz vor der Bruchfläche zeigt sich eine glatte Schnitt-
marke (Pfeil). Maßstab = 2 cm. B, C: In der Vergrößerung stellt sich dieser
Schnitt (Pfeil) ebenso wie die Bruchkante am distalen Fragmentende als
scharfkantig, ohne irgendeine Erosionsspur und somit als postmortale
Beschädigung dar. Maßstab = 0,5 cm.
Abb. 3: Der dreidimensionale Datensatz des Schienbeins des „Jungen
von Kayhausen“ zeigt A: im oberen, vorderen Anteil eine Reduktion der
Knochendichte auf, die im Darstellungsprotokoll ockerfarben dargestellt
wird und als eine liegezeitliche Veränderung interpretiert werden kann. B:
Die obere Oberfläche des Tibiakopfes ist jedoch hervorragend erhalten.
Das Fehlen des oberen Gelenkendes infolge einer noch offenen Wachs-
tumsfuge stützt das angenommene kindliche Alter des Jungen. C, D: Die
exakte Abbildung der Knochenoberfläche lässt die krankhafte Ausbildung
der Muskelmarke (Linea musculi solei, weiße Pfeile) sowie kleinere Blut-
gefäßkanäle (blaue Pfeile) deutlich erkennen. Maßstab = 1 cm.
– 106 |
erkennbar (Abb. 3B-D). Diese Grubenbil-
dung ist als das Ergebnis einer übermäßi-
gen Beanspruchung anzusehen.
Um die Integrität des kompakten Knochen-
gewebes des Schaftes (Compacta) und der
Markhöhle des Schienbeins besser beur-
teilen zu können, wurde das Protokoll „Air
Structure“ auf den VCT-Datensatz ange-
wandt (Abb. 4). Während die dreidimensi-
onale, äußere Ansicht des Knochens einen
homogenen, mit Luft gefüllten Hohlraum ab-
bildet, der der Markhöhle entspricht, zeigt
sich der kompakte Wandbereich der Mark-
höhle dicht und luftleer (Abb. 4A). Erst die
virtuelle sagittale Schnittführung offenbart im
Bereich des eigentlich spongiösen Schien-
beinkopfes eine fokale, röntgendichte Regi-
on (Abb. 4B). Der Anschnitt im Bereich der
Diaphyse ermöglicht zwar eine genaue Ab-
grenzung von äußerer und innerer Generalla-
melle durch die unterschiedliche Dichte von
Knochenbinnenstruktur und Compacta (Abb.
4C), stellt aber gleichzeitig kleinere Luftein-
schlüsse im Bereich des normalerweise kom-
pakten Knochenrandes dar (Abb. 4D, E) und
weist somit auf eine erhebliche Reduktion
der „Kalksalze“ hin (Knochenapatit). Dieser
Befund ist ein wichtiger Hinweis auf die Art
der Knochendestruktion im Rahmen tapho-
nomischer Prozesse (z. B. Lagerung im Moor)
und kann dazu beitragen, historische von re-
zenten Moorleichenfunden abzugrenzen. Die
Darstellung des Knochenschaftes zeigt wei-
terhin einen großen, immer auf der Rücksei-
te des oberen Drittels des Schienbeinschaf-
tes auftretenden Blutgefäßkanal, der mit ei-
ner großen Öffnung (Foramen nutricium) auf
der Knochenrückseite in die kompakte Kno-
chenwandung eintritt und bis in die Mark-
höhle verläuft (Abb. 4E). Dreidimensionale
Anschnitte mit einem konventionellen Dar-
stellungsprotokoll für Weichgewebe lassen
die Compacta dagegen konsequent röntgen-
dicht erscheinen und liefern gleichzeitig einen
Überblick über die Knochenbinnenstruktur
(Abb. 5). Fokale Aufhärtungen innerhalb der
Markhöhle können als postmortal entstan-
dene Sedimentpartikel angesprochen wer-
den (Abb. 5B). Um den Mineralverlust der
Compacta jedoch auch in der Querschnitt-
ebene darstellen zu können, wurden zwei-
dimensionale Querschnitte des Knochen-
schaftes angefertigt (Abb. 6), die besonders
im Bereich des vorderen Schienbeinrandes
(Margo anterior) eine schwammig-poröse
Abb. 4: Das dreidimensionale Darstellungsprotokoll „Air Structure“ ermöglicht die Beurteilung
luftgefüllter Hohlräume des Knochens. A: Auf den ersten Blick erscheint die proximale Tibia im
Inneren homogen mit Luft gefüllt. Die Rindenschicht (Corticalis: Pfeile) hebt sich dagegen dunkler
und damit röntgendichter vom Knocheninneren ab. B: Im virtuellen Anschnitt des Tibiakopfes
ist deutlich ein fokal auftretender Hohlraum zu erkennen (weißer Pfeil), der einem dichten, fest
verfüllten Bereich (blauer Pfeil) gegenüber liegt. C: Im mittleren Schienbeinschaft stellt sich die
Grenze (Pfeile) zwischen dem kompaktem Randbereich des Knochens und dem luftgefüllten
Inneren besonders deutlich dar. D: Im Anschnitt sind auch diskretere Strukturen wie der Ge-
fäßkanal des Foramen nutricium (Pfeil) darstellbar. Maßstab = 1 cm. E: Die Vergrößerung des
Schaftbereichs zeigt neben dem belüfteten Schwammknochen (Spongiosa: Sterne) im Inneren
auch die kompakte Knochenwandung, die jedoch im Laufe der Liegezeit an Integrität verloren
hat und kleinere Lufteinschlüsse aufweist (blaue Pfeile). Der Gefäßkanal (weiße Pfeile) des Fora-
men nutricium kann von der Knochenoberfläche bis zu seiner Mündung in die Markhöhle verfolgt
werden. Maßstab = 1 cm.
| 107 –
Struktur des beim erwachsenen Individuum
kompakt ausgebildeten Bereiches belegen.
Als Ursache könnte ein diagenetischer Pro-
zess angesehen werden, der Hinweise auf
die Qualität des Moorbodens in Bezug auf
die Resorption von Knochensubstanz infolge
des sauren Moorbodens liefern könnte. Tat-
sächlich dürfte es sich aber wohl eher um le-
bensaltersbedingte Veränderungen handeln:
Kindlicher Knochen befindet sich im stetigen
Aufbau. Bei der Neubildung von Knochen-
substanz müssen gleichzeitig ältere Struk-
turen abgebaut werden. Dies bedingt die
Ausbildung zahlreicher Resorptionshöhlen,
die im Querschnittbild in Form kleiner Löcher
auffallen. Zusätzlich könnte bei dem Jungen
von Kayhausen auch noch eine gesteigerte
Ausbildung großer Gefäßkanäle im Sinne ei-
ner Hypervaskularisation vorliegen.
Um die Knochenbinnenstruktur im Bereich
des Schienbeinkopfes näher beurteilen zu
können, wurde dieser von vorne nach hin-
ten (ventral-dorsal) in der dreidimensionalen
Ansicht frontal geschnitten. Die für Kinder
und Jugendliche typischerweise dicht ge-
packte Spongiosa, welche in der Regel bis
weit in den Knochenschaft und somit in
den oberen und unteren Bereich der spä-
teren Markröhre hineinreicht (Abb. 7), wird
auch in dieser Darstellung von hinten durch
ein röntgendichtes, eher mit der Dichte der
Compacta zu vergleichendem Material er-
setzt (Abb. 7D, E). Eine drei- (Abb. 8A-D) und
zwei-dimensionale (Abb. 8E-G) Darstellung
des Schienbeinkopfes in der Querschnitt-
ebene bestätigt die Verfüllung mit röntgen-
dichtem Material im hinteren Bereich des
Knochens, die mit größter Sicherheit als la-
gerungsbedingtes Sediment anzusprechen
ist. Aufgrund der Verteilung des Sediments
ist von einer Rückenlage des „Jungen von
Kayhausen“ während der Liegezeit auszu-
gehen. Die Einlagerung von Sediment in den
Knochen, die durch äußere Inspektion allein
nicht ersichtlich war, macht gleichzeitig den
bidirektionalen Austausch von Knochenmi-
neralien und Bodenmineralien im Zuge des
taphonomischen Prozesses deutlich.
Abb. 5: Dreidimensionale Anschnitte der Diaphyse (A, B), bei der rönt-
gendichte Bereiche hell, röntgenschwache Bereiche dunkel imponieren,
ermöglichen die Unterscheidung von schwammknöcherner, d. h. spongi-
öser Knochenbinnenstruktur (blaue Pfeile) und der kompakten Wandung
der Markhöhle (weiße Pfeile). Gleichzeitig sind dichte Sedimenteinschlüsse
zu beobachten (Stern). Maßstab = 1 cm.
Abb. 6: In zweidimensionalen se-
quentiellen Querschnittbildern (A-D)
des Schienbeinschaftes, in denen
röntgendichte Bereiche hell, röntgen-
schwache Bereiche jedoch dunkel
imponieren, sind neben der spongi-
ösen Knochenbinnenstruktur auch
liegezeitlich bedingte Sedimentein-
schlüsse sichtbar (Sterne). In dieser
Darstellung ist weiterhin die poröse,
wohl diagenetisch veränderte äußere
Oberfläche (Compacta: rote Pfeile) be-
urteilbar, die besonders im Bereich der
Schienbeinvorderkante (Margo anteri-
or) fast schwammig wirkt. Möglicher-
weise liegen hier auch Spuren eines
physiologischen oder pathologischen
Prozesses vor (vgl. Abb. 11). Der Ka-
nal eines Foramen nutricium (blaue
Pfeile) ist punktuell nachvollziehbar.
Maßstab = 0,5 cm.
– 108 |
Abb. 7: Im sequentiellen dreidimensionalen Anschnitt des Tibiakopfes (A-E) lässt sich die dichte
Schwammknochenschicht (Spongiosa) im Knocheninneren (Sterne) bis weit in den Knochenschaft verfol-
gen. Im Frontalschnitt zeigt sich ein röntgendichter, heller Bereich, welcher die Spongiosa völlig verdrängt
und als Produkt der Diagenese interpretiert werden kann. Maßstab = 1 cm. F: In der Vergrößerung sind die
dicht gepackten Knochentrabekel gut darstellbar. Maßstab = 1 cm.
Abb. 8: In der Aufsicht (Abb. 8A) und den nachfolgenden dreidimensionalen sequentiellen Querschnitten
(Abb. 8B-G) ist die röntgendichte, diagenetisch bedingte Veränderung im Sinne einer Verdichtung (Pfeile) im
hinteren Schienbeinbereich gut zu beobachten. Mit zunehmendem Übergang in den weiter unten gelegenen
Schaftbereich nimmt diese Verdichtung ab. Maßstab = 1 cm. E-G: Die zweidimensionale Abbildung von
virtuellen Einzelschnitten lässt darüber hinaus den trabekulären Knochenbinnenaufbau (Sterne) erkennen.
Die Verdichtung zeigt sich in dieser Ansicht als dicht gepackte, völlig röntgendichte Struktur (Pfeile), die in
ihrer Dichte der kompakten Wandung der Markhöhle (Compacta) vergleichbar ist und gleichzeitig infolge
ihrer ausschließlich hinten anzutreffenden Ausbildung für eine Rückenlage der Leiche des „Jungen von
Kayhausen“ während der Liegezeit im Moor spricht. Maßstab = 1 cm.
| 109 –
Pathologisch bedeutsame Befunde
Da die in der Querschnittebene verlau-
fenden Strukturverdichtungen im oberen
Drittel des Schienbeinschaftes einschließ-
lich des Schienbeinkopfes Hinweise auf
Wachstumsstillstände geben können (so
genannte HARRISsche Linien), die auf Stres-
ssituationen zurückzuführen sind (z. B.
Mangelernährung, länger andauernde In-
fektionskrankheiten), wurden „Ray sum“
-Darstellungen, die dem konventionellen
Röntgensummationsbild entsprechen, aus-
gewertet. Obgleich in dieser Darstellungs-
weise das CT dem traditionellen Röntgen-
bild in Brillanz und Kontrast unterlegen ist,
sind die transversalen Streifungen gut zu
erkennen (Abb. 9A, B). Diese HARRISschen
Linien, die auf einem Wachstumsstillstand
und dem nachfolgenden, erneuten Einset-
zen von Knochensubstanz beruhen, können
jedoch auch im dreidimensionalen Anschnitt
verfolgt werden. Hierbei imponieren relativ
kräftig ausgebildete, röntgendichte und da-
mit von dem übrigen Schwammknochen
(Spongiosa) gut differenzierbare quer zur
Knochenlängsachse verlaufende Trabekel-
züge, die sich zu parallelen Linien formieren
(Abb. 9C, D).
Aber auch oberflächlich auf dem Schien-
beinschaft finden sich ungewöhnlich viele
schmalstreifige Impressionen, die in der
Knochenlängsachse angeordnet sind (Abb.
10). Bei näherer Betrachtung zeigen die-
se Einkerbungen die Charakteristika ober-
flächlicher Blutgefäße, obgleich in Anzahl
und Verteilung untypisch (vgl. Abb. 6). Bei
diesem Befund ist an drei verschiedene Sze-
narien zu denken: 1.) lässt eine Vermehrung
feinster Gefäßöffnungen und -impressionen
zunächst immer an eine Vermehrung von
Gefäßen (Hypervaskularisation) denken, die
als morphologisches Merkmal eines reak-
tiven Knochenprozesses angesehen werden
kann (z. B. im Zuge einer Entzündung). Da
es sich bei der Moorleiche jedoch um ein
Kind im Wachstum handelt, könnte es sich
bei der Zunahme von Gefäßen 2.) auch um
einen physiologischen Prozess im Bereich
des normalen Wachstums handeln. 3.) kön-
nen die Gefäßimpressionen im Zuge der Di-
agenese durch postmortalen Abbau der ur-
sprünglichen Oberfläche entstanden sein.
Abb. 9: HARRISsche Linien, die auf Episoden eines temporären Stillstandes des Längenwachs-
tums hinweisen, lassen sich mittels eines CT-Datensatzes sowohl konventionell, als auch räumlich
darstellen. A, B: Mit dem Protokoll „Ray sum“, das dem konventionellem Röntgenbild entspricht,
sind transversale, streifige Aufhärtungen (Pfeile) im oberen Schienbeinschaft zu erkennen, welche
als typische, wenn auch schwache, HARRISsche Linien angesprochen werden können. Maßstab
= 2 cm. C, D: Der dreidimensionale sequentielle Anschnitt zeigt darüber hinaus die Ursache
dieser Linien: Einzelne transversale Knochenbälkchen (Pfeile) weisen eine größere Dichte als
der umgebende Schwammknochen auf und zeugen somit von einer reaktivierten, etwas über
die Norm erfolgenden Mineraleinlagerung nach dem Wachstumsstillstand. Maßstab = 0,5 cm.
– 110 |
Möglicherweise ist das hier zu beobachten-
de Phänomen ein Zusammenspiel der drei
genannten Möglichkeiten.
Aufgrund der hervorragenden Auflösung
des präklinischen VCT werden auch kleinste
Diskreta, wie der Gefäßkanal eines Foramen
nutricium exakt abgebildet und erlauben so
verschiedenste Formen der Darstellung, die
den genauen Verlauf des Kanals, von der äu-
ßeren Knochenoberfläche bis hin zur Mark-
höhle aufzeigen (Abb. 11). Der hier darge-
stellte Kanal entspricht dabei der physiolo-
gischen Norm, die Methode gestattet jedoch
prospektiv auch die Detektion und Evaluati-
on kleinster strukturmorphologischer Verän-
derungen im pathologischen Bereich.
Zusammenfassung
Das linke, unvollständig erhalten gebliebene
Schienbein (Tibia) der eisenzeitlichen Moor-
leiche eines Kindes, das offenbar gewaltsam
getötet wurde und unter der Bezeichnung
„Junge von Kayhausen“ bekannt geworden
ist, wurde mittels hochauflösender, nicht de-
struktiver Volumen-Computertomographie
untersucht. Abgesehen von einer, für viele
Moorleichen typischen Rarefizierung des
Knochenminerals ist das Schienbein her-
vorragend erhalten und repräsentiert alle
strukturrelevanten Aspekte eines Knochens.
Aufgrund der Moorbodenlagerung weist der
Knochen Sedimenteinschlüsse im hinteren
Bereich des Schienbeinkopfes auf. Dies
deutet auf eine Rückenlage der Moorleiche
unter der Liegezeit hin. Über die hohe Orts-
auflösung des Datensatzes konnten eine
Gefäßvermehrung (Hypervaskularisation)
des Schienbeinschaftes, dreidimensional
abgebildete Linien eines verzögerten Län-
Abb. 10: Über die dreidimensionale
Darstellung des Schienbeinschaftes
kann auch die Knochenoberfläche
zuverlässig begutachtet werden. A,
B: Schmale, streifige Impressionen
finden sich über den gesamten Schaft
gleichmäßig verteilt. Maßstab = 1 cm.
C: Im größeren Ausschnitt sind die
parallel zur Schaftachse verlaufenden
Streifen (Pfeile) als oberflächliche Blut-
gefäßkanäle zu erkennen. Am linken
Rand imponiert die Linea musculi solei
als tiefe Grube, die als das Ergebnis
einer übermäßigen Beanspruchung
anzusehen ist. Maßstab = 0,5 cm.
Abb. 11: Durch die hohe Auflösung des an dem Schienbein gewonnenen VCT-Datensatzes
können auch kleinste Diskreta wie ein einzelnes Foramen nutricium und sein Kanal räumlich
dargestellt werden. A: Die Oberflächenstruktur des Schienbeinschaftes zeigt zunächst nur eine
Einkerbung (Pfeil), die zum eigentlichen Foramen nutricium führt. Maßstab = 0,5 cm. B: Der ge-
samte luftgefüllte Blutgefäßkanal (Pfeile) lässt sich mit dem Darstellungsprotokoll „Air Structure“
lückenlos nachvollziehen. Maßstab = 1 cm. C-H: In der dreidimensionalen Schnittführung kann
der Kanal (blaue Pfeile) nun punktuell auf seinem Weg durch die Schaftcompacta bis hin zur
Öffnung in die Markhöhle verfolgt werden. Weiterhin sichtbar sind einzelne röntgendichte Sedi-
mentpartikel (Sterne) und der Verlust an Integrität der kompakten Knochenrandbereiche, welche
sich durch fokale poröse Destruktionen (schwarze Pfeile) darstellen (vgl. Abb. 6). Maßstab = 0,2
cm.
| 111 –
genwachstums (HARRISsche Linien) sowie
der Verlauf eines Blutgefäßkanals (Foramen
nutricium) von der äußeren Knochenoberflä-
che (periostal) bis in die Markhöhle (endo-
stal) exakt dargestellt und beurteilt werden.
Literatur
BARVENCIK, F., PESTKA, J. M., BEIL, F. T., MARSHALL, R.
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der. In: M. Fansa, E. Jopp, K. Püschel (Hrsg.),
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BOTH, F., FANSA, M. 2010: Zur Forschungsgeschichte
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M. Fansa, E. Jopp, K. Püschel (Hrsg.), Das Kind
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außergewöhnlichen Skelett-Moorleiche. Olden-
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CADEMARTIRI, F., MAFFEI, E., PALUMBO, A., MARTINI, C.,
VIGNALI, L., TEDESCHI, C., GUARICCI, A., ALDROVANDI,
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graphy coronary angiography. Minerva cardioan-
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HAYEN H. 1964: Die Knabenmoorleiche aus dem
Kayhausener Moor 1922. Oldenburger Jahrbuch
63, 1964, 19-42.
MISSBACH-GÜNTNER, J., DULLIN, C., ALVES, F., SCHULTZ,
M. 2010: CT-Untersuchungen zur Analyse pa-
thologisch bedeutsamer Alterationen der Kno-
chenbinnenstruktur. In: M. Fansa, E. Jopp, K.
Püschel, (Hrsg.), Das Kind aus der Esterweger
Dose – Dokumentation einer außergewöhnlichen
Skelett-Moorleiche. Oldenburg 2010, 39-44.
Anschriften der Verfasser
Dr. rer. nat. Jeannine Mißbach-Güntner
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Diagnostische Radiologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
und
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Hämatologie und Onkologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: j.missbach@med.uni-goettingen.de
Christian Dullin
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Diagnostische Radiologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: christian.dullin@med.uni-goettin-
gen.de
Dipl.-Biol. Susan Klingner
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: Susan.Klingner@medizin.uni-goet-
tingen.de
Dipl.-Biol. Edith Oplesch
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: edzzo@web.de
Prof. Dr. med. Frauke Alves
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Hämatologie und Onkologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
und
MPI für experimentelle Medizin
Hermann-Rein-Str. 3
37075 Göttingen
E-Mail: falves@gwdg.de
– 112 |
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
und
Universität Hildesheim
Institut für Biologie und Chemie
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
E-Mail: mschult1@gwdg.de
| 113 –
Histologische Untersuchungen der Haut der Moorleiche
„Junge von Kayhausen“
M. P. Schön, A. Bennemann, St. Emmert, M. Schultz
haut (Subcutis) an. Die Epidermis besteht
ihrerseits aus vier Schichten, dem Stratum
basale (die Basalzellschicht, in der die Zell-
teilung stattfindet), dem Stratum spinosum
(Stachelzellschicht), dem Stratum granu-
losum (Körnerzellschicht) und dem außen
liegenden Stratum corneum (Hornschicht).
1. Einleitung
Im Jahr 1922 wurde im Moor nahe dem nie-
dersächsischen Ort Kayhausen die Leiche
eines gefesselten und erstochenen Jungen
der Altersstufe Infans-II entdeckt. Der etwa
1,20 m große Junge starb nach den bislang
vorliegenden Daten vor 1600 bis 2000 Jah-
ren. Die Weichgewebe der Leiche wurden
durch die konservierenden Bedingungen im
Moor bis heute erhalten. Hierfür werden or-
ganische Chemikalien im Torf, die deutliche
Unterschiede zwischen einzelnen Mooren
aufweisen können, verantwortlich gemacht
(NAUCKE 1968). Die Haut gehört zu den Ge-
weben, deren Morphologie durch Konser-
vierung im Moor gut erhalten werden kann.
Obwohl bereits viele Moorleichen gefunden
wurden und obwohl für die unterschiedlich-
sten Arten archäologischer Mumienfunde
etliche Veröffentlichungen vorliegen (z. B.
AUFDERHEIDE 2003; HESS et al. 1998; RUFFER
und SMITH 1910; SANDISON 1955, 1967), sind
erst wenige detaillierte Untersuchungen zur
mikroskopischen Morphologie der Haut von
Moorleichen publiziert worden. Hierbei ist
die bislang umfangreichste Untersuchung
an der Haut von Moorleichen in einer medi-
zinischen Dissertationsarbeit an der Ruhr-
Universität Bochum durchgeführt worden; in
dieser Arbeit wurde die Haut mehrerer Lei-
chen, die durch Konservierung im Moor er-
halten wurden, untersucht (BECHARA 2001).
Eine Übersicht der Anatomie der menschli-
chen interfollikulären Haut (ohne Unterhaut)
zeigt Abb. 1a. Grundsätzlich besteht die
Haut des Menschen aus drei großen Kom-
partimenten: Die Begrenzung zur Umwelt
bildet die epitheliale Schicht, die Oberhaut
(Epidermis). Darunter schließen sich die bin-
degewebigen (mesenchymalen) Schichten
der Lederhaut (Dermis) sowie der Unter-
Abb. 1: a) Aufbau normaler menschlicher Haut. Die Abbildung zeigt einen mit
Hämatoxylin und Eosin gefärbten Schnitt interfollikulärer Haut. Oberhaut (Epidermis)
und Lederhaut (Dermis) sind gekennzeichnet. Vergrößerung 200x. b) Ungefärbte
Dünnschliffe der Haut des „Jungen von Kayhausen“. Das Präparat lässt anhand der
feineren und aufgelockerteren Faserstruktur das Stratum papillare (gekennzeichnet
mit *) und anhand der groberen und kompakteren Faserstruktur das Stratum reticu-
lare (gekennzeichnet mit **) vermuten. c) Im polarisierten Licht lassen sich ebenfalls
die typischen Anordnungen kollagener Fasern der Dermis erkennen.
– 114 |
Die Epidermis, insbesondere auch deren
Hornschicht, kann je nach Lokalisation am
Körper, Geschlecht, Alter und mechanischer
Beanspruchung unterschiedlich dick ausge-
bildet sein. Normalerweise erneuert sich die
Epidermis innerhalb von etwa 28 Tagen. Die-
ser Zeitrahmen kann bei Erkrankungen der
Haut erheblich verändert sein. Die Hornzel-
len (Keratinozyten) machen mehr als 90%
der epidermalen Zellen aus; neben diesen
kommen in der Epidermis auch Pigment-
zellen (Melanozyten), Langerhans-Zellen,
Merkel-Zellen, Nervenendigungen und
Lymphozyten (weiße Blutkörperchen) vor.
Die Adnexe (Hautanhangsgebilde) gehen
ebenfalls von der Epidermis aus. Zu diesen
speziell differenzierten Teilen des Epithels,
die bereits während der Embryonalentwick-
lung angelegt werden, gehören Schweißdrü-
sen, Haarfollikel, Talgdrüsen und Nägel. Als
wichtige Strukturelemente enthält die Epi-
dermis Keratinfilamente. Diese Proteine sind
charakteristisch für Epithelien. Daher kann
die Detektion von Keratinen in der Histolo-
gie zum Nachweis epithelialer Strukturen
genutzt werden. Die Dermis, die sich nach
innen an die Epidermis anschließt und mit
dieser durch eine Basalmembran verbun-
den ist, besteht lichtmikroskopisch aus zwei
Schichten, dem äußeren Stratum papillare,
das aus feineren und etwas dünneren Kol-
lagenfasern aufgebaut ist sowie dem aus
kompakteren Kollagenfaserbündeln beste-
henden Stratum reticulare. Neben den do-
minanten Kollagenfasern befinden sich in
der Dermis weitere extrazelluläre Bestand-
teile, beispielsweise elastische Fasern und
Retikulinfasern. Die dominanten Zellen in
der Dermis sind Fibroblasten (Bindegewebs-
zellen). Daneben finden sich jedoch zahlrei-
che weitere Zelltypen, beispielsweise Mast-
zellen, Lymphozyten, dendritische Zellen,
Makrophagen, Endothelzellen und Nerven-
fasern. Die Unterhaut besteht aus fibrösen
Septen und zwischen diesen Septen läpp-
chenartig angeordneten Fettzellen. Auch in
diesem Kompartiment finden sich regelhaft,
jedoch zahlenmäßig in geringerem Ausmaß,
weitere Zelltypen, wie Endothelzellen, Lym-
phozyten und Makrophagen. Die Unterhaut
stellt die Verbindung zu Muskelfaszien und
Periost dar.
Wir berichten hier über histologische Unter-
suchungen der Haut des „Jungen von Kay-
hausen“. Dabei haben wir zunächst Dünn-
schliffe angefertigt. Andere Teile der links-
seitigen Bauchhaut- und der linksseitigen
Gesichtshaut wurden rehydriert oder direkt
als Feuchtpräparat weiter verarbeitet und
histochemisch sowie immunhistologisch
untersucht.
2. Material und Methoden
2.1. Dünnschliffe
Kleine Proben aus der linksseitigen Bauch-
und Gesichtshaut sowie einige Haare (aus
Gefäß Nr. 12) wurden für die lichtmikrosko-
pische Untersuchung entnommen. Von die-
sen wurden nach einem bereits beschrie-
benen Verfahren (SCHULTZ 1988; SCHULTZ und
DROMMER 1983) ungefärbte Dünnschliffe für
die Untersuchung im einfachen und polari-
sierten Durchlicht angefertigt.
2.2. Schnittpräparate für die konventionelle
Gewebeuntersuchung
Bei der histologischen Untersuchung konnte
sowohl auf Trocken- als auch auf Feucht-
präparate zurückgegriffen werden. Trockene
Hautfragmente der Moorleiche wurden für
| 115 –
48 h bei 4°C schonend in Phosphat-gepuf-
ferter Kochsalzlösung (PBS) rehydriert. Die
Fragmente wurden anschließend für 24 h in
Paraformaldehyd-Lösung (PFA, 4%) fixiert.
Fixierte Gewebestücke wurde nach histolo-
gischen Standard-Methoden entwässert (Al-
kohol- und Xylolreihe) und in Paraffin einge-
bettet. Schnitte dieser Paraffin-Präparate (3
µm dick) wurden histochemischen und im-
munhistologischen Färbungen unterzogen.
2.3. Histologische Färbungen
Färbungen mit Hämatoxylin und Eosin so-
wie Elastica- und Giemsa-Färbungen wur-
den nach etablierten Standard-Verfahren
durchgeführt. Weitere Paraffinschnitte wur-
den gemäß Herstellerprotokoll mit dem ge-
gen Keratine gerichteten murinen Antikörper
AE1/AE3 (DAKO, Hamburg) gefärbt.
3. Ergebnisse
Um die Gewebearchitektur frisch eingebet-
teter menschlicher Haut (Abb. 1a) mit den in
der Haut des „Jungen von Kayhausen“ noch
erhaltenen Strukturen zu vergleichen, wurden
zunächst Dünnschliffe einiger Hautfragmente
angefertigt. Ohne weitere Anfärbung konnte
an diesen Präparaten im einfachen Durch-
licht (Abb. 1b) sowie polarisationsmikrosko-
pisch (Abb. 1c) die von frisch eingebetteter
Haut bekannte typische Architektur der Le-
derhaut mit wellenförmigen, parallel angeord-
neten Fasern dargestellt werden. Fokal er-
schien sogar eine Unterscheidung zwischen
retikulärer und papillärer Dermis möglich
(Abb. 1b). Dabei entsprach die feinere, fili-
grane Faserstruktur in der Haut des „Jungen
von Kayhausen“ der von frisch eingebetteter
menschlicher Haut bekannten Architektur der
papillären Dermis, während die kompaktere
Schicht mit dickeren Kollagenfaserbündeln
der retikulären Dermis zugeordnet wurde (in
Abb. 1b mit * bzw. ** gekennzeichnet). Die-
se morphologische Unterscheidung kann al-
lerdings nicht mit letzter Sicherheit erfolgen.
Der größte Teil des erhaltenen Hautgewebes
des „Jungen von Kayhausen“ wies kom-
paktere und dickere Fasern auf, welche der
Architektur der retikulären Dermis entspre-
chen. Epitheliale Strukturen einschließlich der
Hautanhangsgebilde (Haarfollikel, Talg- oder
Schweißdrüsen) waren in den Dünnschliffen
nicht nachweisbar. Ebenso konnten Anteile
der Subcutis nicht dargestellt werden. Die
Haare zeigten runde bis ovaläre Querschnitte
mit in wenigen Haaren nachweisbaren Mark-
kanälen (Abb. 2).
Zur histologischen Untersuchung wurden
Fragmente der als Feuchtpräparat konser-
vierten Haut (Abb. 3) sowie Trockenpräpa-
rate, die für 48 Stunden in Phosphat-gepuf-
ferter Kochsalz-Lösung rehydriert wurden
(Abb. 4), aufgearbeitet. Vor der Einbettung in
Paraffin wurden die Präparate in Paraform-
aldehyd-Lösung fixiert. Die Schnitte wur-
den sowohl nativ als auch nach Anfärbung
mit Hämatoxylin und Eosin mikroskopisch
untersucht. Einige Paraffinschnitte wurden
zusätzlich Elastica-Färbungen, Giemsa-
Färbungen oder immunhistochemischen
Färbungen mit dem gegen Zytokeratine ge-
richteten Antikörper AE1/AE3 unterzogen.
Ohne weitere Anfärbung wiesen die Proben
eine bräunlich-gelbe Eigenfärbung auf, die
bereits Einzelheiten der Gewebearchitektur
erkennen ließ. Die morphologischen Einzel-
heiten, die in den mit Hämatoxylin und Eosin
gefärbten Proben (Abb. 3 und 4) erkennbar
waren, waren weitgehend bereits in den un-
gefärbten Proben sichtbar, traten nach An-
– 116 |
färbung allerdings etwas deutlicher hervor.
Ähnlich wie in den Dünnschliff-Präparaten
waren auch in den angefärbten Paraffin-
schnitten die Faserstrukturen des kollage-
nen Bindegewebes exzellent erhalten. Ver-
einzelt waren zwischen den Faserbündeln
eingelagerte pflanzliche Gewebe nachweis-
bar (in Abb. 3 durch einen Pfeil gekennzeich-
net).
In der Giemsa-Färbung fanden sich keine
zusätzlich erkennbaren Strukturen, insbe-
sondere keine eindeutig identifizierbaren
zellulären Elemente. Elastische Fasern, die
in frisch eingebetteter Haut als filigrane, dun-
kelbraun angefärbte Strukturen zwischen
den Kollagenfasern leicht erkennbar sind,
waren durch die Elastica-Färbung weder im
Feucht- (Abb. 3, rechts) noch im Trockenprä-
parat (Abb. 4, rechts) der Haut des „Jungen
von Kayhausen“ nachweisbar. Zur Bestäti-
gung, dass eindeutig epitheliale Strukturen
in der Haut des „Jungen von Kayhausen“
nicht erhalten sind, wurden Paraffinschnitte
mit dem gegen sämtliche Zytokeratine ge-
richteten Antikörper AE1/AE3 immunhisto-
chemisch angefärbt. Hierbei fand sich keine
Abb. 2: Dünnschliff der Kopfhaare
des „Jungen von Kayhausen“. Man
erkennt ovaläre Querschnitte und an
einigen Stellen kleinlumige Markkanä-
le. Der Rahmen im oberen Bild kenn-
zeichnet das Areal, das in der unteren
Fotografie stärker vergrößert ist. Ver-
größerung 200x bzw. 400x.
Abb. 3: Histologische Aufarbeitung
der Rumpfhaut (linksseitige Bauch-
haut) des „Jungen von Kayhausen“,
Paraffin-eingebettetes Feuchtpräpa-
rat. Die linke Fotografie zeigt einen
Schnitt, der mit Hämatoxylin und Eo-
sin gefärbt wurde. Im rechten Bildteil
ist die Elastica-Färbung gezeigt (der
Pfeil weist auf zwischen den Fasern
eingeschlossenes Pflanzenmaterial
hin). Vergrößerung 100x.
| 117 –
Reaktivität mit diesem Standard-Reagens
(Abb. 4, Mitte). Anteile des subkutanen Ge-
webes ließen sich auch in den gefärbten Par-
affinschnitten nicht nachweisen.
4. Diskussion
Die histologische Untersuchung der Haut
des „Jungen von Kayhausen“ zeigte, dass
die Struktur des kollagenen Bindegewebes
in der Dermis exzellent erhalten und durch-
aus mit der Gewebearchitektur frisch ein-
gebetteter menschlicher Haut vergleichbar
war. Die Struktur des dermalen Bindegewe-
bes war bereits in ungefärbten Präparaten
durch die Eigenfärbung des Gewebes nach-
weisbar und konnte durch histochemische
Anfärbung noch akzentuiert werden. Ähnlich
gute Darstellungen der Gewebearchitektur
wurden durch Dünnschliffe des nicht rehy-
drierten Gewebes erreicht. Damit entspra-
chen unsere Ergebnisse weitgehend einer
früheren Studie an der Haut des „Jungen
von Kayhausen“ sowie anderen Moorlei-
chen (BECHARA 2001). Der Erhaltungszustand
der dermalen Gewebearchitektur erwies
sich sogar als noch etwas besser, als bei
der Moorleiche „Moora“, die von uns kürz-
lich untersucht wurde (SCHÖN et al. 2011).
Abb. 4: Histologische Aufarbeitung der Rumpfhaut (linksseitige Rumpfhaut) des „Jungen von Kayhausen“, Schnitt von rehydriertem Trockenmaterial.
Der linke Schnitt wurde mit Hämatoxylin und Eosin gefärbt; der mittlere Schnitt wurde immunhistochemisch mit einem gegen Zytokeratine gerichteten
Antikörper gefärbt und der rechte Schnitt zeigt die Elastica-Färbung. Vergrößerung 100x.
– 118 |
Die gute Konservierung dermaler Struktu-
ren bei Moorleichen kann plausibel durch
folgende Hypothese erklärt werden: Das
im Torf enthaltene Polysaccharid Sphagnan
weist antimikrobielle und konservierende Ei-
genschaften auf (PAINTER 1995). Es kann am
Anfang einer komplexen Folge chemischer
Umsetzungen, die als Maillard- oder Mela-
noidin-Reaktion zusammengefasst werden,
stehen (VAN DER SANDEN 1996). Über mehrere
Zwischenschritte reagiert Sphagnan dabei
zu Humussäure, wobei beide Verbindungen,
Humussäure und Sphagnan, Calcium und
Stickstoff binden können. Es ergibt sich ein
zweifacher Netto-Effekt: Durch Humussäu-
re wird einerseits die Haut gegerbt, ähnlich
wie bei der Lederherstellung. Zusätzlich wird
den an der Zersetzung des Gewebes betei-
ligten Bakterien der für ihr Wachstum not-
wendige Stickstoff entzogen.
Bis auf vereinzelte pflanzliche Einlagerungen
(Torfreste) zwischen den dermalen Kollagen-
fasern waren keine weiteren Strukturen in der
Haut des „Jungen von Kayhausen“ erkenn-
bar. Frühere histologische Untersuchungen
an Mumien, die durch andere Einflüsse kon-
serviert wurden, ergaben ähnliche Befunde:
auch bei diesen fand sich häufig relativ gut
erhaltenes Bindegewebe, jedoch kaum erhal-
tene zelluläre Elemente (TURNER und HOLTOM
1981). Innerhalb des dermalen Bindegewe-
bes des „Jungen von Kayhausen“ selbst wa-
ren mit den hier angewandten Methoden wei-
tere Strukturen, insbesondere elastische Fa-
sern, nicht nachweisbar. Auch dieser Befund
bestätigte frühere Berichte an dieser sowie an
anderen Moorleichen (BECHARA 2001). Elasti-
sche Fasern scheinen demnach trotz Konser-
vierung im Moor keinen Bestand zu haben.
Alternativ könnte man über eine Veränderung
ihres Färbeverhaltens spekulieren.
Dass kollagene Faserstrukturen durch ver-
schiedene Arten der Mumifizierung bzw.
Konservierung gut erhalten werden kön-
nen, ist bereits mehrfach gezeigt worden.
Ein bekanntes Beispiel hierfür ist „Ötzi“ oder
der „Tyrolean Ice Man“ (WILLIAMS et al. 1995).
Durch die mehr als 5000 Jahre andauernde
Konservierung von „Ötzi“ im Eis der Alpen
wurden die Struktur und Anordnung der der-
malen Kollagenfasern ebenfalls sehr gut er-
halten. Die Abnahme des Proteinanteils der
Haut von „Ötzi“ lässt sich möglicherweise
durch partielle Denaturierung kollagener Fa-
sern erklären (WILLIAMS et al. 1995). Darüber
hinaus blieben epidermale Strukturen von
„Ötzi“, im Gegensatz zum „Jungen von Kay-
hausen“ und anderen Moorleichen, teilwei-
se erhalten (HESS et al. 1998; BECHARA 2001;
SCHÖN et al. 2011).
Manche molekularen Bestandteile der Haut
von Moorleichen können auf Ebene der Ami-
nosäuren erhalten bleiben (STANKIEWICZ et al.
1997). Wenn die Gewebekonservierung bei
Mumien hinreichend gut ist, können dabei
durchaus auch antigene Determinanten für
immunhistochemische Untersuchungen er-
halten sein. Dies wurde tatsächlich bereits
bei verschiedenen Mumien, die auf unter-
schiedliche Weise konserviert wurden, nach-
gewiesen (FULCHERI 1995; HOYLE et al. 1997;
WESER und KAUP 1994; WICK et al. 1980). Al-
lerdings waren antigene Epitope des Kolla-
gen Typ IV in früheren Untersuchungen an
Moorleichen nicht nachweisbar (BECHARA
2001; STÜCKER et al. 2001). Ebenso konnte
in unserer Untersuchung mit einem für die
histologische Routine-Diagnostik validierten
Antikörper gegen Zytokeratine in der Haut
des „Jungen von Kayhausen“ keine Re-
aktivität detektiert werden. Dies bestätigte
das bereits in den histochemischen Unter-
| 119 –
suchungen festgestellte Fehlen epithelialer
Anteile in der Haut des „Jungen von Kay-
hausen“.
Insgesamt lässt sich konstatieren, dass
bereits mit histochemischen Standardfär-
bungen in der Haut des „Jungen von Kay-
hausen“ sehr gute Darstellungen der erhal-
tenen kollagenen Faserstruktur erzielt wer-
den konnten. Andere Kompartimente oder
zelluläre Elemente waren hingegen nicht
nachweisbar.
Zusammenfassung
Die Weichgewebe der etwa 1600 bis 2000
Jahre alten Moorleiche „Junge von Kayhau-
sen“ können aufgrund ihres guten Erhal-
tungszustandes heute noch feingeweblich
genau untersucht werden. Wir haben Tei-
le der Bauchhaut (linksseitig) und der Ge-
sichtshaut (linksseitig) der Leiche, die im
Jahr 1922 im Moor bei Kayhausen in Nieder-
sachsen aufgefunden wurde, mittels Polari-
sationsmikroskopie an Dünnschliffen sowie
durch Histochemie und Immunhistochemie
an Gefrier- und Paraffinschnitten rehydrier-
ter Trockenhaut und am Feuchtpräparat un-
tersucht. Wie bei frischen Biopsien mensch-
licher Haut war bei der Haut des „Jungen
von Kayhausen“ die typische kollagene Fa-
serstruktur der retikulären Dermis sehr gut
erkennbar. Sowohl in den Dünnschliff-Prä-
paraten als auch in den mit Hämatoxylin und
Eosin gefärbten Paraffin-Präparaten konn-
ten darüber hinaus wahrscheinlich Anteile
der papillären Dermis gesehen werden. Die
Unterscheidung der beiden dermalen Kom-
partimente erschien anhand der feineren
und lockerer angeordneten Fasern in der
papillären Dermis im Vergleich zur gröberen
und strafferen Struktur der retikulären Der-
mis möglich. Ungefärbte Haut wies bereits
eine bräunliche Eigenfärbung auf. Verein-
zelt fanden sich Pflanzenteile zwischen den
dermalen Fasern eingelagert. Giemsa- und
Elastica-Färbungen ließen keine weiteren
Strukturen erkennen. Im Gegensatz zu histo-
logischen Präparaten frischer Haut konnten
bei der Haut des „Jungen von Kayhausen“
Reste epithelialer Strukturen einschließ-
lich der Anhangsgebilde (Schweißdrüsen,
Talgdrüsen, Haarfollikel) nicht nachgewie-
sen werden. Ebenso konnten mit keiner der
verwendeten Methoden zelluläre Strukturen
eindeutig identifiziert werden.
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Anschriften der Verfasser
Prof. Dr. med. Michael P. Schön
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Dermatologie, Venerologie und
Allergologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: michael.schoen@med.uni-goettin-
gen.de
| 121 –
Anette Bennemann
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Dermatologie, Venerologie und
Allergologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: anette.bennemann@med.uni-goet-
tingen.de
Prof. Dr. med. Steffen Emmert
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Dermatologie, Venerologie und
Allergologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: semmert@gwdg.de
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
und
Universität Hildesheim
Institut für Biologie und Chemie
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
E-Mail: mschult1@gwdg.de
| 123 –
Licht- und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen
an Gewebsproben der Moorleiche von Kayhausen
M. Schultz, J. Zustin, J. Nováček, E. Jopp, K. Püschel, S. Klingner, E. Oplesch
dieser Moorleiche unter Berücksichtigung
der Auswirkungen der Taphonomie und der
Diagenese zu überprüfen und zu charakteri-
sieren sowie den anhand der Ergebnisse der
makroskopischen Untersuchung (OPLESCH et
al. 2011, in diesem Band) geäußerten Ver-
dacht auf Blutarmut (Anämie) und auf einen
chronischen Vitamin-C-Mangel (Skorbut)
bzw. einen unbestimmten Entzündungspro-
zess des Knochens zu erhärten oder zu wi-
derlegen und weitere mögliche Krankheiten,
für die makroskopisch kein Hinweis bestand,
zu diagnostizieren. Weiterhin sollte der Ver-
such unternommen werden, das Lebensalter
dieses Knaben mit der histomorphometri-
schen und der histomorphologischen Me-
thode genauer zu bestimmen.
Material und Methoden
Grundsätzlich sollte bei der für eine mikro-
skopische Untersuchung notwendigen Pro-
benentnahme die Leiche des Jungen, die
mittlerweile aufgrund verschiedener Unter-
suchungsgänge – besonders in den Jahren
1952 und 1996 – in ihrem Bestand etwas
gelitten hat, soweit wie möglich geschont
werden. Deshalb wurden auch nur von aus-
gewählten Geweben kleinformatige Proben
mit der größtmöglichen Sorgfalt nach vorhe-
riger Dokumentation des heute vorliegenden
Befundes genommen. Im Einzelnen wurden
für die lichtmikroskopische Untersuchung
je eine Probe aus der Gesichts- und der
Bauchhaut, mehrere Haarproben (beinhal-
tet ein kleines Büschel von 27 sehr kurzen
Haarbruchstücken, die quergeschliffen wur-
den, und drei Einzelhaare, die längsgeschlif-
fen wurden, sowie drei Haare für die raster-
elektronenmikroskopische Analyse) und eine
Probe aus etwa der Schaftmitte des linken
Einleitung
Die mikroskopische Untersuchung von
Moorleichengeweben ist ein vergleichswei-
se neues Arbeitsfeld, zu dem aber schon
einige sehr informative Veröffentlichungen
vorliegen (z. B. BECHARA 2001). Da Skelette
von Moorleichen in der Regel stark demine-
ralisiert aufgefunden werden und Weichge-
websstrukturen – und hier vor allem die Haut
– den Umständen entsprechend sehr gut
erhalten sein können, müssen andere Maß-
stäbe an die Anfertigung mikroskopischer
Präparate (z. B. Mikrotom-Schnitte, Dünn-
schliffe) und deren Auswertung angelegt
werden, als es bei der mikroskopischen
Befundung archäologischer Skelette und
Mumien der Fall ist. Der Fall des „Jungen
von Kayhausen“ beinhaltet aber auch noch
aus einem anderen Grund eine zusätzliche
Schwierigkeit: Die Leiche des Jungen wur-
de bis vor kurzem jahrzehntelang, genauer
gesagt seit 1922, in einer wässerigen For-
malinlösung zwecks besserer Konservie-
rung der bei ihrer Auffindung hervorragend
erhaltenen Weichgewebsstrukturen (z. B.
Haut, Muskeln, Blutgefäße, mehrere innere
Organe) aufbewahrt. Diese Art der Konser-
vierung hat natürlich die Demineralisierung
des ebenfalls ursprünglich fast vollständig
erhaltenen Skeletts erheblich gefördert, so
dass heute von vielen Knochen nur noch
Reste und dann meist nur noch das Kno-
chenkollagen erhalten geblieben sind (vgl.
ZUSTIN und SCHULTZ 2011, in diesem Band).
Deshalb stellte die licht- und rasterelektro-
nenmikroskopische Untersuchung verschie-
dener Gewebe, die der Moorleiche des „Jun-
gen von Kayhausen“ entnommen worden
waren, eine gewisse Herausforderung dar.
Ziel der Untersuchung war es, den Erhal-
tungszustand der verschiedenen Gewebe
– 124 |
Schienbeins (ganzer Querschnitt) entnom-
men. Nach dem von Schultz und Brandt ent-
wickelten Verfahren (SCHULTZ 1988; SCHULTZ
und DROMMER 1983) wurden von den vier
Proben Knochendünnschliffe in den Stärken
von 50µm und 70µm hergestellt, die im ein-
fachen und polarisierten Durchlicht, teilwei-
se unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot
1. Ordnung (Quarz) als Kompensator, analy-
siert wurden. Alle Proben wurden nicht ge-
färbt, die Schienbeinproben nicht entkalkt.
Der Schienbeinquerschnitt wurde auch für
die histomorphologische und die histomor-
phometrische Untersuchung herangezogen
(KERLEY und UBELAKER 1978; NOVÁČEK 2011 im
Druck; NOVÁČEK et al. 2008; SCHULTZ 1986,
1997; SCHULTZ et al. 2003; STOUT et al. 1996;
WOLF 1999). Die für die rasterelektronenmi-
kroskopische Untersuchung vorgesehenen
Haarfragmente wurden mit Gold-Palladium
bedampft und mit dem Rasterelektronen-
mikroskop DSM-960 der Firma ZEISS un-
tersucht.
Ergebnisse zum mikromorphologi-
schen Erhaltungszustand (Haut,
Haare und Knochen)
Hier sollen die verschiedenen mikroskopisch
erhobenen Befunde zur Morphologie (ein-
schließlich der Pathologie) sowie zur Tapho-
nomie und Diagenese der verschiedenen
untersuchten Organgewebe (einschließlich
der lagerungsbedingten Demineralisation
des Knochengewebes) vorgestellt werden.
Hautgewebe und Haare sind an der Moor-
leiche des „Jungen von Kayhausen“ in der
Regel gut erhalten, auch unter Berücksich-
tigung der Tatsache, dass an Moorleichen-
haut offenbar immer die äußerste Haut-
schicht, die Epidermis fehlt. Obwohl bei der
makropathologischen Untersuchung des
Knochens der Erhaltungszustand des Ske-
letts als nicht gut beschrieben wurde (OP-
LESCH et al. 2011, in diesem Band), stellt sich
der Erhalt des Knochengewebes auf der mi-
kroskopischen Ebene als recht gut bis sehr
gut dar. Spuren von während der Boden-
lagerung aufgetretenem Pilzbefall in Form
so genannter „Bohrkanälchen“ konnten am
Knochen (linkes Schienbein) nicht nachge-
wiesen werden.
Haut
Ergebnisse zur Dünnschnittmikroskopie von
Hautproben an der Moorleiche des „Jungen
von Kayhausen“ haben bereits M. P. Schön
und Mitarbeiter vorgelegt (SCHÖN et al. 2011,
in diesem Band). Hier sollen im Detail die Er-
gebnisse der Dünnschliffmikroskopie vorge-
legt werden, die bei M. P. Schön und Mitar-
beitern (SCHÖN et al. 2011, in diesem Band)
nur angerissen werden konnten. Der Dünn-
schliff aus der Bauchhaut zeigt eine über-
wiegend gut erhaltene und gleichmäßig be-
grenzte Struktur, die eine gegenüber der
Innenschicht etwas dickere Außenschicht
erkennen lässt (Abb. 1: oben). Am rechten
Bildrand ist das Präparat ausgefranst und
die Strukturkontinuität gestört. Kleinere,
meist länglich ausgebildete, spindelförmige
Spalten zwischen den zum Teil verklump-
ten Kollagenfaserbündeln sind als Schrump-
fungsspalten zu interpretieren und gehen
auf einen Trocknungsprozess zurück. Sie
sind also lediglich als ein taphonomisches
Produkt anzusehen. In der mittleren Vergrö-
ßerung (100x) stellen sich die kollagenen
Faserzüge, welche die Zerreißfestigkeit der
Haut bedingen, hervorragend dar (Abb. 2).
Hier wird auch ersichtlich, dass sich von der
gesamten Bauchhaut (Cutis) nur noch die
Dermis, also die Lederhaut erhalten hat und
| 125 –
die äußeren Hautschichten (Epidermis mit
ihren vier Schichten) – offenbar schon wäh-
rend der Moorlagerung – vollständig verlo-
ren gingen. Deshalb wurden Schweißdrüsen
oder deren Ausführungsgänge, Talgdrüsen
und Haarfollikel nicht nachgewiesen. Auch
das Unterhautgewebe (Subcutis) hat sich an
keiner Stelle erhalten. Die Verdichtung der
Kollagenzüge besonders in der Außen-, aber
auch in der Innenzone bedingt die bereits in
der schwachen Vergrößerung (16x) deutlich
sichtbare Strukturbegrenzung (Abb. 1). In
der starken Vergrößerung (400x) sind im ein-
fachen (Abb. 3a) und polarisierten Durchlicht
unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1.
Ordnung (Abb. 3c) allerdings zwischen den
Kollagenfaserzügen sehr kleine Partikel zu
erkennen, die auf den ersten Blick an se-
kundär – beispielsweise aus dem Moorbo-
den – eingewanderte Pflanzenreste denken
Abb. 1: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 50µm). Betrachtung mit dem Mikroskop im einfachen Durch-
licht. Übersicht: Vergr. 16x.
Abb. 2: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 1. Kollagene Faserbündel der Dermis. Vergr. 100x. Betrachtung mit dem
Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung
(Quarz).
– 126 |
lassen. Bei der Betrachtung im einfachen
polarisierten Durchlicht (Abb. 3b) sind die-
se Strukturen nicht mehr so deutlich nach-
weisbar. Tatsächlich dürfte es sich bei die-
sen Strukturen um ursprünglich körpereige-
ne Gewebsreste – also um zusammengesin-
terte Bindegewebszellen bzw. Zelltrümmer
– handeln und nicht um sekundär während
der Liegezeit im Moor in die Leiche einge-
wanderte pflanzliche Reste. Dieser Befund
entspricht auch der normalen Anatomie der
Haut, da in der Dermis außer den netzar-
Abb. 3: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 2. Kollagene Faserbündel der
Dermis. Pfeile: fragliche Zelltrümmer. Vergr. 400x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durch-
licht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot
1. Ordnung (Quarz).
Abb. 4: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Gestauchte kollagene Faserbündel der Dermis. Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a)
im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
| 127 –
tig angeordneten kollagenen Faserbündeln
auch zahlreiche Zellen (z. B. Bindegewebs-
zellen, z. B. Fibroblasten) zu finden sind. In
der mittleren Vergrößerung (100x) ist anhand
der Anordnung der Kollagenfaserzüge zu er-
kennen, dass die Haut bei der Bergung der
Leiche, aber sicherlich auch während der
verschiedenen Umlagerungen im Museum,
erheblich gestaucht und auseinander gezo-
gen wurde (Abb. 4).
Wie bei der Bauchhaut hat sich auch im Ge-
sichtsbereich nur die Dermis erhalten. Der
Dünnschliff durch die Gesichtshaut, die sich
etwas dünner als die zuvor beschriebene
Bauchhaut darstellt (Abbildungen 1 und 5
weisen nicht denselben Maßstab auf: s. Le-
gende), zeigt eine deutliche Gliederung der
Haut in drei Schichten (Abb. 5). In der Mitte
trennt eine „zusammengebackene Schicht“
kollagener Faserbündel zwei weniger dichte,
geradezu lockere Schichten gegeneinander
ab. Die oberflächliche dieser beiden Schich-
ten (Abb. 6: oben) weist einen etwas locke-
Abb. 5: Dünnschliff der Gesichtshaut (Stärke 50µm). Betrachtung mit dem Mikroskop im ein-
fachen Durchlicht. Übersicht: Vergr. 25x.
Abb. 6: Dünnschliff der Gesichtshaut (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 5. Kollagene Faserbündel der
Dermis. 1 = Schicht mit lockerem Aufbau (fragliches Stratum papillare), 2 = „zusammengebackene Schicht“
kollagener Faserbündel, 3 = Schicht mit dichterem Aufbau (fragliches Stratum reticulare) Vergr. 100x. Be-
trachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten
Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
– 128 |
reren Aufbau auf als die tiefe Schicht (Abb.
6: unten). Dieser morphologische Befund
lässt sich möglicherweise mit der Schich-
tung der Lederhaut erklären (vgl. SCHÖN et al.
2011, in diesem Band): Die äußere Schicht
der Dermis, das Stratum papillare, ist etwas
feiner und lockerer aufgebaut (Abb. 7) als
das tiefer gelegene Stratum reticulare, das
sich mehr aus dichteren Kollagenfaserbün-
deln zusammensetzt.
Haare
Von einzelnen Haaren und einem kleinen
Haarbüschel wurden Längs- und Quer-
schliffe angefertigt und rasterelektronenmi-
kroskopische Präparate hergestellt. Schon
in der Übersicht im Lichtmikroskop (100x)
ist zu erkennen, dass die Haarquerschnit-
te unterschiedlich groß und unterschiedlich
geformt sind (Abb. 8). Dies bestätigt sich
auch in der stärkeren Vergrößerung (400x),
in der auffällt, dass die normale anatomische
Haarstruktur teilweise verschwunden ist
bzw. sich nur verwaschen darstellt (Abb. 9).
Längsschliffe durch zwei Haare belegen die
schon im Querschliff gemachten Beobach-
tungen (Abb. 10-12). Das Haarinnere ent-
spricht nicht dem morphologischen Zustand
wie es bei einem Kinderhaar zu erwarten
wäre: Der Aufbau von Mark und Rinde erin-
nern eher an das Haar eines alten Menschen
(Abb. 10c, Abb. 11c). Auch die rasterelektro-
nenmikroskopische Begutachtung verstärkt
diesen Befund (Abb. 13). Diese Einflüsse der
Haarstruktur kann aber möglicherweise auf
taphonomische Veränderungen zurückge-
führt werden, die sich mit der Lagerung im
Moorboden erklären lassen. Einige Haare
besitzten einen Haarschaft, der an seiner Au-
Abb. 7: Dünnschliff der Gesichtshaut (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 6. Kollagene Faserbündel der
locker aufgebauten Schicht (fragliches Stratum papillare). Vergr. 400x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a)
im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung
(Quarz).
Abb. 8: Dünnschliff (quer) durch ein kleines Haarbüschel (Stärke 50µm). Betrachtung mit dem
Mikroskop im einfachen Durchlicht. Übersicht: Vergr. 100x.
| 129 –
ßenfläche nicht mehr die charakteristische
Schuppenstruktur erkennen lässt (Abb.
13a), was wohl als Taphonomie-bedingtes
Zeichen angesehen werden kann, während
andere Haare eine völlig normale Oberfläche
mit der charakteristischen Schuppenaus-
bildung aufweisen (Abb. 13b). Querschnitte
von Haaren des „Jungen von Kayhausen“
Abb. 10: Dünnschliff (längs) durch ein Haar (Stärke 50µm). Haarschaft mit abschilfernden Schuppen (Pfei-
le). Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht. Vergr. 100x; b) im polarisierten Durchlicht
unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz). Vergr. 100x; c) im polarisierten Durchlicht
unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz). Vergr. 200x.
Abb. 9: Dünnschliff (quer) durch ein kleines Haarbüschel (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 8. Haar-
schäfte unterschiedlicher Größe, Form und Erhaltung. Vergr. 400x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im
einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung
(Quarz).
– 130 |
zeigen im Rasterelektronenmikroskop eben-
falls ein zusammengesintertes Inneres (Abb.
14) und zwar, ohne dass ein Zusammenhang
zwischen schlecht (Abb. 14a) und gut erhal-
tener Außenfläche (Abb. 14b) besteht. Eine
vermehrte Loslösung von Schuppen an der
Haaroberfläche kann sowohl im Licht- (Abb.
10a-11b) als auch im Rasterelektronenmi-
kroskop (Abb. 15) beobachtet werden (vgl.
Abb. 13b: Normalbefund mit eng dem Haar-
schaft anliegenden Schuppen). Es konnten
auch in einigen Fällen die Haarenden unter-
sucht werden, während Haarwurzeln nicht
nachgewiesen wurden. So fanden sich post-
mortal beschädigte Haarspitzen (Abb. 16a),
aber auch Haarenden, die wohl im Zuge
früherer wissenschaftlichen Bearbeitung
durch Schnittspuren (Messer, Schere) ge-
kennzeichnet wurden (Abb. 16b).
Es fällt auf, dass die Haare sehr unterschied-
lich starke Spuren einer Beschädigung auf-
weisen, die sicherlich zum Teil auf die Lage-
rung im Moorboden, aber zum Teil auch auf
Schädigungen während der verschiedenen
Untersuchungsgänge in den letzten Jahr-
zehnten zurückzuführen sind. Eine sichere
Zuordnung der Beschädigungen ist nur in
einigen Fällen möglich: Kleine Höhlende-
fekte im Haarschaft infolge von Pilzwachs-
tum oder vielleicht auch anderen Mikroorga-
nismen (Abb. 12) und rezente Schnittspuren
(Abb. 16b).
Abb. 11: Dünnschliff (längs) durch ein Haar (Stärke 70µm). Haarschaft mit abschilfernden Schuppen (Pfeile). Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikro-
skop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
Abb. 12: Dünnschliff (längs) durch ein Haar (Stärke 70µm). Haarschaft mit durch Pilzwuchs verursachten Höhlen (Pfeile). Vergr. 100x. Betrachtung mit
dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
| 131 –
Abb. 13: Rasterelektronenmikroskopische Präparate. a) diagenetisch geschädigter Haarschaft (Schuppen
nicht mehr sichtbar). Vergr. 1.000x; b) gut erhaltener Haarschaft (Schuppen sichtbar). Vergr. 500x.
Abb. 14: Rasterelektronenmikroskopische Präparate. Haarquerschnitt mit zusammengesintertem Inneren:
a) bei schlecht erhaltener Oberfläche (Schuppen fehlen). Vergr. 2.000x; b) bei gut erhaltener Außenfläche
(Schuppen vorhanden). Vergr. 700x.
Abb. 15: Rasterelektronenmikroskopische Präparate. Haarschaft mit teilweiser Schuppenablösung und
Resten organischer Auflagerung: a) Vergr. 500x; b) Vergr. 3.000x.
– 132 |
Knochen
Es wurde eine Probe aus dem linken Schien-
beinschaft für die lichtmikroskopische Un-
tersuchung entnommen, aus der zwei Dünn-
schliffe unterschiedlicher Stärken angefer-
tigt wurden (Abb. 17 und Abb. 18). Das Kno-
chengewebe ist sehr stark demineralisiert.
Die organische Knochenmatrix – und hier
vor allem das Knochenkollagen – hat sich
aber hervorragend erhalten. Die beim Absä-
gen der noch nicht eingebetteten Probe vom
Knochenschaft erfolgten Risse und Absplei-
ßungen der äußeren Knochenschichten vom
kompakten Schaft (Abb. 17 und: Abb. 8 in
OPLESCH et al. 2011, in diesem Band) sind ein
sehr starker Hinweis auf die fast vollstän-
dige Demineralisation des Knochens. Diese
faserartigen Abspaltungen sind in der Re-
gel bei vollständig mineralisiertem Knochen
nicht zu beobachten. Ganz entsprechend
sind die sich nur in den stärkeren Vergrö-
ßerungen (ab 100x) im Querschliff darstel-
lenden, relativ diskreten Oberflächenverän-
derungen zu bewerten (Abb. 17, Abb. 18a
und Abb. 19): Besonders die äußeren Ober-
flächen weisen ein leicht gebrochenes bis
ausgefranstes Aussehen auf. Diese relativ
diskreten Veränderungen an den Außenflä-
chen des Schaftes haben sich wohl erst in-
folge einer mechanischen Beanspruchung
nach der Bergung des Fundes aufgrund
der fehlenden Knochenfestigkeit entwickelt
(z. B. bei der intensiven Untersuchung der
Leiche). Bedingt durch den Demineralisa-
tionsprozess, bei dem die feste Knochen-
substanz (Knochenapatit) schwindet, wird
der Knochen weich. Da durch die Demine-
ralisation die kollagenen Faserbündel nicht
mehr in der schützenden Mineralschicht ein-
gebettet waren, konnten – schon bei ver-
gleichsweise geringer mechanischer Be-
lastung – die Knochenoberflächen relativ
Abb. 16: Rasterelektronenmikroskopische Präparate. a) leicht postmortal beschädigte Haarspitze. Vergr.
1.000x; b) rezentes, mit Messer oder Schere unvollständig durchtrenntes Haar. Vergr. 1.000x.
Abb. 17: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des
linken Schienbeins (Stärke 70µm). Ganzer Dünn-
schliff auf gläsernem Objektträger. Größe s. Maß-
stab: 1 = 16,6mm, 2 = 12mm.
| 133 –
schnell aufgescheuert werden und „ausfran-
sen“. Der Kollagenbestand der gesamten
Compacta ist hervorragend erhalten (Abb.
18b, Abb. 18c und Abb. 20).
Hinweise auf Krankheitsspuren am
linken Schienbeinfragment
Schon bei der makroskopischen Begutach-
tung (OPLESCH et al. 2011, in diesem Band)
fiel auf, dass sich an dem Fragment des
linken Schienbeins diskrete Spuren ver-
schiedener Krankheiten manifestiert haben
könnten. Diesen Spuren wurden mithilfe
der lichtmikroskopischen Diagnostik nach-
gegangen.
Hinweis auf Anämie
Während der makroskopischen Untersu-
chung wurde eine geringgradige Verdickung
der oberen bzw. unteren Schaftenden ver-
schiedener Langknochen beobachtet, die
mit einer möglichen Blutarmut (Anämie) in
Verbindung gebracht wurden (OPLESCH et al.
2011, in diesem Band). Deshalb sollte ei-
ner der am besten erhaltenen Langknochen,
das linke Schienbein, das schon seit mehre-
ren Jahrzehnten nur in einem Präparateglas
in wässeriger Ethanollösung liegt und des-
halb nicht so stark demineralisiert ist wie die
sich noch im Leichenverband befindlichen
Skelettteile, mikroskopisch auf Merkmale
der Anämie untersucht werden.
Abb. 18: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 70µm). Ausschnitt aus Abb. 17. Ganze Schaftwandung. Oben links:
äußere Schaftoberfläche mit äußerer Generallamelle, unten rechts: innere Markröhrenoberfläche mit innerer Generallamelle. Vergr. 100x. Betrachtung
mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1.
Ordnung (Quarz).
Abb. 19: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins mit der äußeren Oberfläche der in-
nenseitlichen Schaftwandung (Stärke 70µm). Mehrere Resorptionshöhlen (Sterne). Wenige HOWSHIPsche
Lakunen (Pfeile). Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop im einfachen Durchlicht.
– 134 |
In der Tat sind in der Schliffübersicht (Abb.
17) ausgedehnte Areale von Schwammkno-
chen (Spongiosa) zu erkennen, die eventu-
ell als Merkmal einer krankhaften Knochen-
markvergrößerung (Knochenmarkhypertro-
phie) bei Anämie gewertet werden können.
In den schwächeren Vergrößerungen (16x
und 25x) lassen sich die eine größere Fläche
einnehmenden Räume des roten Knochen-
marks als regelrechte Spongiosastrukturen
beschreiben (Abb. 21). Allerdings muss da-
ran erinnert werden, dass sich bei Kindern
in den oberen und unteren Abschnitten der
Markröhren (Metaphysen) häufig noch rest-
liches rotes Knochenmark nachweisen lässt.
Im Fall des „Jungen von Kayhausen“ ist aber
– gemessen am Alter dieses Kindes – die
Menge an Spongiosa doch ein wenig zu
groß, um diesen Befund allein mit der phy-
siologischen Situation eines älteren Kindes
zu erklären. Der Verdacht auf das Vorliegen
einer chronischen Anämie muss deshalb be-
stehen bleiben, kann aber auch nicht – vom
mikroskopischen Standpunkt aus – in eine
verlässliche Diagnose „Anämie“ verwandelt
werden.
Abb. 20: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins mit der äußeren Oberfläche der
innenseitlichen Schaftwandung (Stärke 50µm). Sehr gut entwickelte äußere Generallamelle. Vergr. 100x.
Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im polarisierten Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht unter Verwen-
dung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
Abb. 21: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 70µm). Ausschnitt aus
Abb. 17. Ganze Schaftwandung. Ausgeprägte Spongiosierung des vorderen Markröhrenabschnittes. Be-
reich der innenseitlichen Schaftfläche mit dem Schaftvorderrand. a) Vergr. 16x; b) Vergr. 25x. Betrachtung
mit dem Mikroskop im einfachen Durchlicht.
| 135 –
Hinweis auf Skorbut oder auf einen unbe-
stimmten Entzündungsprozess
Bei der lupenmikroskopischen Betrachtung
(OPLESCH et al. 2011, in diesem Band) wur-
den auf der innenseitlichen Schaftoberflä-
che des linken Schienbeins zahlreiche fei-
ne, streifenartige Impressionen und eine
über die Norm vermehrt poröse Oberfläche
beobachtet. Diese Veränderungen gehen
klar auf eine Gefäßvermehrung (Hypervas-
kularisation) zurück. Eine Hypervaskularisa-
tion tritt bei einem chronischen Vitamin-C-
Mangel, aber auch bei einem unspezifischen
Entzündungsprozess des Knochens auf. Al-
lerdings ist eine Gefäßvermehrung bei Indi-
viduen im gesteigerten Wachstum auch un-
ter physiologischen, das heißt normalen Be-
dingungen, anzutreffen. Eine diagenetisch
bedingte Veränderung im Sinne der Moor-
lagerung bzw. der Demineralisation kann
anhand der Ergebnisse der lichtmikrosko-
pischen Untersuchung ausgeschlossen
werden (Abb. 22). Da keine charakteristi-
schen Spuren eines ehemaligen, unter der
Knochenhaut gelegenen Blutergusses (sub-
periostales Hämatom) nachgewiesen wer-
den konnten (Abb. 22), ist die Wahrschein-
lichkeit für das Vorliegen eines Skorbuts
nicht sehr groß – kann aber natürlich nicht
gänzlich ausgeschlossen werden.
Ein wenig anders sieht es mit dem Verdacht
auf einen Entzündungsprozess des Kno-
chens aus. Auch zu einem solchen Krank-
heitsbild passt das Vorliegen von vermehrt
auftretenden Blutgefäßimpressionen auf
der Oberfläche des Knochens (Abb. 22),
Abb. 22: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 50µm). Äußere innenseitliche
Schaftoberfläche mit Blutgefäßimpressionen: Pfeile. Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im
einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines
Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
– 136 |
weil ein Entzündungsprozess in der Regel
mit einer Hypervaskularisation einhergeht.
Allerdings wäre bei einer Knochenentzün-
dung auch mit einer Reaktion im Inneren des
Knochens zu rechnen. Tatsächlich ist dies
auch der Fall: Der kompakte Bereich des
Knochens (Compacta) ist mit einer Vielzahl
von Einschmelzungshöhlen, so genannten
Resorptionshöhlen, übersät (Abb. 23). Diese
treten in relativ gleichmäßiger Verteilung im
gesamten Bereich der Compacta auf, finden
sich aber gehäuft in der Außenzone des vor-
deren Schienbeinrandes (Abb. 21) und der
innenseitlichen Schaftfläche (Abb. 19). Die
Grundbaueinheit des kompakten Knochen-
gewebes ist das nach seinem wissenschaft-
lichen Erstbeschreiber benannte HAVERS-
system, das auch als Osteon bezeichnet
wird (vgl. ZUSTIN et al. 2011, in diesem Band).
Ein HAVERSsystem ist im Querschnittsbild ein
rundliches Gebilde, das aus einem Blutge-
fäßkanal, dem HAVERSschen Kanal, und zir-
kulär um das Kanallumen, also konzentrisch
gewickelten kollagenen Faserzügen be-
steht, die auch als zirkuläre Speziallamellen
bezeichnet werden (Abb. 24). Auf den ersten
Blick lassen sich – besonders im kindlichen
Knochen – die im Knochenquerschnitt sicht-
baren HAVERSschen Kanäle (Abb. 24) nicht
immer leicht gegen die Resorptionshöhlen
(Abb. 25) abgrenzen. Den Resorptionshöh-
len, die meistens auch ein wenig größer
als die üblichen Gefäßkanäle sind, fehlen
diese zirkulären Speziallamellen (Abb. 25).
Über dieses morphologische Merkmal las-
sen sich beide Strukturen gut voneinander
Abb. 23: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 50µm). Äußere hintere
Schaftoberfläche mit überwiegend glattwandigen Resorptionshöhlen (Sterne). Vergr. 100x. Betrachtung
mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht
unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
| 137 –
unterscheiden. Nun treten Resorptionshöh-
len – auch in vergleichsweise großer Zahl
– immer bei Kindern und Jugendlichen auf,
da diese sich noch im Wachstum befinden
und der Knochen in der Wachstumsphase
vermehrt umgebaut wird. Die meisten der
aufgrund des Knochenwachstums entstan-
denen Resorptionshöhlen besitzen eine
glatte Innenwandung (Abb. 25, vgl. Abb. 19).
Diese belegt, dass die Resorptionshöhlen
einen längeren Bestand hatten bzw. nicht
schnell und überstürzt durch einen raschen
Einschmelzungsprozess entstanden sind.
Resorptionshöhlen, die schnell entstehen
bzw. noch keinen längeren Bestand hatten,
zeigen eine gebuchtete Wandung (Abb. 26,
vgl. Abb. 19). Diese Buchten werden nach
dem wissenschaftlichen Erstbeschreiber als
HOWSHIPsche Lakunen bezeichnet und von
Knochenfresszellen, den Osteoklasten, ge-
schaffen (Abb. 26).
Nun finden sich in der innenseitlichen Wan-
dung und dem Vorderrand des Schienbeins
– also gerade dort, wo der Knochen ver-
mehrt in der Querschnittsfläche („Dicke“)
wächst – deutlich vermehrt Resorptions-
höhlen (Abb. 17, Abb. 19). Dies ist durchaus
physiologisch. Auffällig ist nur, dass auch
Abb. 24: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 50µm). HAVERSsches Sys-
tem. Vergr. 320x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im polarisierten Durchlicht, b) im polarisierten Durch-
licht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
Abb. 25: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 50µm). Glattwandige Resorp-
tionshöhle. Vergr. 320x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im polarisierten Durchlicht, b) im polarisierten
Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
– 138 |
dort deutlich vermehrt gebuchtete Resorp-
tionshöhlen zu finden sind (Abb. 19, Abb. 26)
und zwar an der Stelle, an der sich auf der
Außenfläche auch vermehrt Gefäßabdrü-
cke nachweisen lassen (Abb. 22). Offenbar
besteht also eine kausale Verbindung zwi-
schen der Zunahme der in der Knochenhaut-
zone gelegenen Gefäßimpressionen und
den schnell entstandenen Resorptionshöh-
len. Es ist zu bezweifeln, ob dies nur auf ein
gesteigertes physiologisches Dickenwachs-
tum zurückgeführt werden kann. Vielmehr ist
daran zu denken, dass hier vielleicht doch
ein beginnender pathologischer Prozess im
Bereich der Knochenhaut lokalisiert war. Ob
es sich hierbei um einen bakteriellen Entzün-
dungsprozess (z. B. „Periostitis“) oder nur
um die Organisation eines subperiostalen
Hämatoms bei Skorbut (z. B. „Periostose“)
gehandelt hat, lässt sich nicht mehr über-
zeugend nachweisen. Ein solcher Prozess
geht in der Regel mit einer heftigen knöcher-
nen Neubildung im Knochenhautbereich
einher (Periostitis/Periostose). Sicherlich
hat es sich – wenn wir von einem patholo-
gischen Geschehen ausgehen – um einen
beginnenden Krankheitsprozess gehandelt.
Eine bei einem solchen Prozess begleitend
auftretende knöcherne Neubildung, die im
frischen Zustand in der Regel immer aus
Faserknochen besteht, hätte sich aber im
sauren Moorboden über die Jahrhunderte
nicht erhalten und kann somit nicht bewei-
send herangezogen werden. Hingegen wer-
den die Impressionen der im Basisbereich
dieser knöchernen Neubildung auf der origi-
Abb. 26: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 70µm). Ausgebuchtete Re-
sorptionshöhlen mit HOWSHIPschen Lakunen (Pfeile) im Bereich der innenseitlichen Schaftwandung. a) große
Resorptionshöhlen. Vergr. 400x; b) kleine Resorptionshöhle. Vergr. 600x. Betrachtung mit dem Mikroskop
im einfachen Durchlicht.
| 139 –
nalen Knochenoberfläche angelegten Blut-
gefäße, die typisch für einen solchen Pro-
zess sind, erhalten bleiben – und dies ist hier
der Fall. Somit ist letztlich wohl doch von
einem Krankheitsgeschehen auszugehen,
das sich aber nicht näher beschreiben lässt
und lediglich im Sinne eines Stressmarkers
zu vermerken ist.
Andere Spuren einer Erkrankung haben sich
mikroskopisch nicht an den verschiedenen
Proben der Leiche des „Jungen von Kay-
hausen“ nachweisen lassen.
Mikroskopische Altersbestimmung
am linken Schienbeinfragment
Abschließend sollen noch die Ergebnisse
zweier mikroskopischer Methoden zur Le-
bensaltersbestimmung vorgestellt werden.
Es ist vorauszuschicken, dass die mikrosko-
pische Bestimmung des Lebensalters bei
subadulten Individuen schwieriger als bei
adulten Individuen ist, einer gewissen Erfah-
rung bedarf und nur einen Näherungswert
darstellt bzw. eine Alterspanne präsentiert,
in welcher der Tod wohl eingetreten ist. Prin-
zipiell stehen zwei Methoden zur Verfügung:
1.) die histomorphologische Altersbestim-
mung (HML) und 2.) die histomorphomet-
rische Altersbestimmung (HMM).
Bei beiden Methoden kamen jeweils zwei
Schliffpräparate zur Anwendung, die von
zwei Untersuchern (Jan Nováček [J.N.] und
Michael Schultz [M.S.]) unabhängig vonei-
nander zur Schätzung des erreichten Le-
bensalters des „Jungen von Kayhausen“
angewandt wurden.
Histomorphologische Altersbestimmung
Die Befunde im 50µm- und 70µm-Schliff
entsprechen sich. Im Rahmen dieser Me-
thode werden das Vorhandensein und die
Größe der äußeren und der inneren Gene-
rallamelle, die Zahl und Größe der HAVERS-
schen Systeme und die Größe ihrer Kanäle
sowie die Größe und Verbreitung von Re-
sorptionshöhlen beurteilt. Basis dieses Ver-
fahrens sind Erfahrungswerte.
Beim „Jungen von Kayhausen“ sind die äu-
ßere (Abb. 20) wie die innere Generallamelle
(Abb. 18, Abb. 22) sehr gut entwickelt und
relativ breit angelegt (Alter: jünger als 30-
40 Jahre bzw. jünger als 25-30 Jahre); al-
lerdings hat sich die äußere Generallamelle
aufgrund des Demineralisationsprozesses
bei der Probenentnahme teilweise abge-
hoben (s. a. Ergebnis der histomorphome-
trischen Lebensaltersbestimmung). Die HA-
VERSschen Systeme (Abb. 18, Abb. 23) sind
von unregelmäßiger Form und variieren von
mittelgroßer bis zu sehr großer Größe (Al-
ter: ca. zwischen 10-30 Jahren). Nur wenige
Primärosteone sind sicher nachweisbar (Al-
ter: ca. 5-20 Jahre). Die HAVERSschen Kanäle
(Abb. 18) sind in ihrem Lumen unterschied-
lich weit gestaltet (Alter: ca. zwischen 10-
30 Jahre). Die zahlreichen in ihrer inneren
Begrenzung glattwandigen Resorptionshöh-
len (Abb. 23) belegen eine rege Umbauak-
tivität, die im Sinne eines physiologischen
Knochenwachstums anzusehen sind (Al-
ter: ca. 10-20 Jahre). Fragmentierte Oste-
one bzw. Zwischenlamellen (Abb. 18, Abb.
20) sind nachweisbar (Alter: ca. 5-15 Jahre).
Obwohl – ohne dass Spuren einer Inaktivi-
tätsatrophie (= Schwund infolge von Inaktivi-
tät) beobachtet werden können – zahlreiche
Tangentiallamellen (= in der Compacta gele-
gene, parallele zur Oberfläche angeordnete
kollagene Fibrillenbündel) zwischen den
HAVERSschen Systemen ausgebildet sind
(Abb. 18, Abb. 23), können diese nicht si-
cher als Reste des kindlichen Schalenkno-
– 140 |
chens nachgewiesen werden (Alter: ca. älter
als 5-7 Jahre). – Nach Schätzung mit der
histomorphologischen Bestimmung hat der
„Junge von Kayhausen“ ein Lebensalter von
etwa 10-15 Jahren erreicht.
Histomorphometrische Altersbestimmung
Die Befunde im 50µm- und 70µm-Schliff
entsprechen sich. Bei dieser Methoden
wird die Zahl der HAVERSschen Systeme,
die Zahl der fragmentierten HAVERSsysteme
( = fragmentierte Osteone = Zwischenla-
mellen = Interstitiallamellen = interstitielle
Lamellen), die Zahl der nicht-HAVERSschen
Kanäle und der Prozentsatz der äußeren Ge-
nerallamelle an vier etwa gleichweit vonei-
nander entfernt liegenden Stellen in der Pe-
ripherie des gesamten Knochenquerschnitt-
bildes nach der von KERLEY und UBELAKER im
Jahre 1978 publizierten Methode bewertet:
An beiden Schienbeinquerschnitten (50µm
und 70µm) wurden von zwei verschiedenen
Personen (J.N. mit Zeiss-Pol-Mikroskop-
Faktor, M.S. mit Leica-Pol-Mikroskop-Fak-
tor) jeweils in vier Durchläufen an vier defi-
nierten Stellen (s. KERLEY und UBELAKER 1978)
die entsprechenden Merkmale ausgezählt
(Tabellen 1 und 2):
Jeweils zwei Durchläufe an 50µm und 70µm
Schliffen mit Zeiss-Pol-Mikroskop-Faktor
(J.N.) – (Tabelle 1)
a) HAVERSsche Systeme:
17,1 Jahre
b) fragmentierte HAVERSsche Systeme :
26,2 Jahre
c) nicht-HAVERSsche Kanäle
36,5 Jahre
d) äußere Generallamelle
15,3 (18,5) Jahre
Geschätztes Alter (HMM):
23,8 (24,6) ± 6 Jahre
Tab. 1: Ergebnisse der histomorphometrischen Lebensaltersbestimmung. Untersucher J.N. – Frag-
mente = fragmentierte HAVERSsche Systeme; nicht-Havers = nicht-HAVERSsche Kanäle; GL = äußere Gene-
rallamelle; li = links.
Osteone Fragmente nicht-Havers GL Alter
Tibia li 50 µm Zahl Alter Zahl Alter Zahl Alter Zahl Alter Mittel-wert
1. Durchgang 38 15,7 16 20,4 8 33,1 50 14,0 20,8
2. Durchgang 39 16,1 20 25,4 7 35,7 60 8,7 21,5
3. Durchgang 54 24,1 22 28,0 6 38,4 30 n.a. (31,6) 30,2 (30,5)
4. Durchgang 35 14,3 14 18,0 4 44,4 50 n.a. (14,0) 25,6 (22,7)
durchschnitt-liches Alter
17,6 23,0 37,9 11,4 (17,1)
Tibia li 70 µm
1 40 16,6 29 37,6 8 33,1 40 n.a. (21,7) 29,1 (27,3)
2 38 15,7 17 21,6 6 38,4 50 14,0 22,4
3 36 14,7 16 20,4 8 33,1 40 21,7 22,5
4 45 19,2 29 37,6 7 35,7 40 21,7 28,6
durchschnitt-liches Alter
16,6 29,3 35,1 19,1 (19,8)
| 141 –
Jeweils zwei Durchläufe an 50µm und 70µm
Schliffen mit Leica Pol Mikroskop Faktor
(M.S.) – (Tabelle 2)
a) HAVERSsche Systeme:
15,1 Jahre
b) fragmentierte HAVERSsche Systeme :
21,6 Jahre
c) nicht-HAVERSsche Kanäle
21,1 Jahre
d) äußere Generallamelle
19,8 Jahre
Geschätztes Alter (HMM):
19,4 ± 1 Jahre
Die Teilergebnisse beider Untersucher zur
Lebensaltersschätzung mit der histomor-
phometrischen Methode (HMM) lassen fol-
gende Altersspannen zu: (17,8) 18,6 – 29,8
(30,6) Jahre (J.N.) bzw. (18,4) – 19,4 – (20,4)
Jahre (M.S.). Diese Teilergebnisse lassen
sich zusammenfassen: wahrscheinlich er-
reichte Altersspanne von 19-22 Jahren. Ein
zusammenfassendes mittleres Alter lässt
sich für alle vier Merkmale [a) – d)] über alle
vier Untersuchungsgänge beider Untersu-
cher mit 21,6 Jahren angeben.
Die histomorphologische Untersuchung
(HMM) ergab ein erreichtes Lebensalter von
etwa 10-15 Jahren. Das Ergebnis der histo-
morphometrischen Untersuchung (HMM)
liegt mit 19-22 Jahren deutlich darüber.
Diese Diskrepanz ist auffällig, kann aber mit
dem erheblichen Schrumpfungsprozess
des Knochens infolge der Demineralisati-
on befriedigend erklärt werden. Auch an-
dere Untersuchungen haben gezeigt, dass
die histomorphologische Methode für die
Bestimmung des subadulten Alters besser
geeignet ist (s. NOVÁČEK 2011, im Druck) als
die histomorphometrische Methode. Dies
gilt besonders für Moorleichen, da infolge
des Schrumpfungsprozesses die morpho-
logischen Strukturen (HAVERSsche Systeme,
fragmentierte HAVERSsche Systeme, nicht-
HAVERSsche Kanäle) räumlich näher zusam-
menrücken und es dadurch bei Anwendung
Tab. 2: Ergebnisse der histomorphometrischen Lebensaltersbestimmung. Untersucher M.S. – Frag-
mente = fragmentierte HAVERSsche Systeme; nicht-Havers = nicht-HAVERSsche Kanäle; GL = äußere Gene-
rallamelle; li = links.
Osteone Fragmente nicht-Havers GL Alter
Tibia li 50 µm Zahl Alter Zahl Alter Zahl Alter Zahl Alter Mittel-wert
1. Durchgang 56 11,0 27 13,1 12 20,6 40 21,7 16,6
2. Durchgang 52 9,2 31 18,3 15 15,2 50 14,0 14,2
3. Durchgang 75 19,2 35 23,3 18 11,8 18,1
4. Durchgang 77 20,1 39 28,1 8 31,3 26,5
durchschnitt-liches Alter
14,9 20,7 19,7 17,9
Tibia li 70 µm
1 65 14,9 36 24,5 11 22,8 40 21,7 21,0
2 59 12,3 32 19,6 9 28,2 40 21,7 20,5
3 69 16,5 33 20,8 12 20,6 19,3
4 71 17,5 36 24,5 13 18,5 20,2
durchschnitt-liches Alter
15,3 22,4 22,5 21,7
– 142 |
der nur für den nicht geschrumpften Kno-
chen geeigneten Formeln nach KERLEY und
UBELAKER (1978) zu einer Überschätzung des
erreichten Lebensalters kommt.
Mithilfe der kombinierten histologischen Le-
bensaltersbestimmung (HML/HMM) lässt
sich für das erreichte Lebensalter des „Jun-
gen von Kayhausen“ folgende vorsichtige
Schätzung abgeben: zweite Hälfte der Al-
tersstufe „Infans-II“ bis Mitte der Altersstufe
„Juvenis“, also etwa 10-17 Jahre.
Nachtrag zur makroskopischen
Lebensaltersbestimmung am linken
Schienbeinfragment
Ergänzend zur Schätzung des erreichten
Lebensalters des „Jungen von Kayhausen“
wurde noch versucht, das Mindestalter die-
ses Kindes über die Größen der mittleren
Schaftumfänge der messbaren Langkno-
chen und das Maß einer Metaphysenplatte
eines Langknochens zu bestimmen.
Am rechten Oberschenkelbein beträgt der
Umfang in etwa Schaftmitte 64 mm. An bei-
den Schienbeinen wurden ebenfalls in etwa
Schaftmitte folgende Umfänge gemessen:
rechtes Schienbein 58 mm, linkes Schien-
bein 60 mm. Weiterhin wurde noch an der
körpernahen Metaphysenplatte des linken
Schienbeins das Maß in der Frontalebene
(Breite) mit 51,4 mm genommen.
Anhand von Vergleichsmessungen an Kin-
der- und Juvenilenskeletten (SCHULTZ 2012,
in Vorbereitung) können nachfolgende An-
gaben gemacht werden.
Da die Vergleichsdaten nicht an Moorlei-
chen, also an nicht geschrumpften Knochen
erhoben wurden, kann das errechnete Alter
als Mindestalter angesehen werden.
Der in Schaftmitte gemessene Oberschen-
kelumfang von 64 mm des „Jungen von
Kayhausen“ passt sich in die Altersgruppe
der 14-16-jährigen vor- und frühgeschicht-
licher Individuen ein. Die Durchschnittswer-
te der verschiedenen, in Frage kommenden
subadulten Altersgruppen weisen folgende
Variationsbreiten für den in Schaftmitte ge-
messenen Oberschenkelumfang auf:
6-8-Jährige: 43-52 mm
8-10-Jährige: 49-55 mm
10-12-Jährige: 49-56 mm
12-14-Jährige: 57-60 mm
14-16-Jährige: 63-71 mm
17-19-Jährige: 72-75 mm
Entsprechendes ist für den in Schaftmitte
gemessenen Schienbeinumfang zu beo-
bachten:
Der in Schaftmitte gemessene Umfang des
rechten Schienbeins beträgt 58 mm, der
des linken 60 mm. Der „Junge von Kayhau-
sen“ passt sich somit in die Altersgruppe
der 12-14-jährigen bzw. der 14-16-jährigen
vor- und frühgeschichtlicher Individuen ein.
Die Durchschnittswerte der verschiedenen,
in Frage kommenden subadulten Alters-
gruppen weisen folgende Variationsbreiten
für den in Schaftmitte gemessenen Schien-
beinumfang auf:
6-8-Jährige: 43-50 mm
8-10-Jährige: 44-50 mm
10-12-Jährige: 50-54 mm
12-14-Jährige: 57-58 mm
14-16-Jährige: 60-68 mm
17-19-Jährige: 68-71 mm
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die
Auswertung des Breitenmaßes der körper-
| 143 –
nahen Metaphysenplatte des linken Schien-
beins, die etwas über 51 mm misst. Auch
hier fällt der Wert in die Altersgruppe der 12-
14 (15)-Jährigen.
Da die Knochen – und somit auch das linke
Schienbein – des „Jungen von Kayhausen“
infolge der Demineralisation während der
Lagerung im Moorboden und der nachfol-
genden Aufbewahrung in wässeriger Forma-
linlösung im Museum auch in ihrer Dicke und
somit in ihrem Umfang geschrumpft sein
dürften, ist aufgrund der Umfangsmaße mit
einem Mindestalter von (12) 14-16 Jahren
zu rechnen.
Zusammenfassung
Es wurden ausgewählte Proben der Moor-
leiche des „Jungen von Kayhausen“ (Haut,
Haare und Knochen: linkes Schienbein)
licht- und rasterelektronenmikroskopisch
untersucht, um den mikromorphologischen
Aufbau der Gewebe zu überprüfen und Hin-
weise auf den Zustand der analysierten Ge-
webe sowie spezieller Faktoren der Diage-
nese (z. B. Demineralisation) zu erhalten.
Von der Haut hatte sich nur die Lederhaut
– diese aber besonders gut – konserviert.
Haare lagen in unterschiedlichem morpho-
logischem Zustand vor und wiesen Spuren
der Diagenese auf. Die organische Kno-
chensubstanz des linken Schienbeins (Kno-
chenkollagen) hat sich hervorragend erhal-
ten und wies keine nennenswerten Spuren
der Diagenese auf (z. B. Pilzwachstum).
Die paläohistopathologische Untersuchung
erbrachte für den Todeszeitpunkt einen
schwachen Verdacht auf das Vorliegen ei-
ner chronischen Anämie, die sich unter Um-
ständen auf eine chronische Malaria zurück-
führen ließe. Der Hinweis auf Skorbut oder
auf einen unbestimmten Entzündungspro-
zess konnte ebenfalls nicht sicher bestätigt
werden, darf aber nicht vernachlässigt wer-
den, so dass die mikromorphologisch nach-
gewiesenen Veränderungen zumindest als
unspezifische Stressmarker zu werten sind.
Die mikroskopische Altersbestimmung (his-
tomorphologisch und histomorphometrisch)
an Dünnschliffen aus dem linken Schienbein
lieferte – vor allem bei der histomorpholo-
gischen Methode – ein verlässliches Ster-
bealter von etwa 10-15 Jahren, das durch
die Auswertung von am Oberschenkelbein
und Schienbein genommenen Maßen be-
stätigt wurde.
Danksagung
Die Autoren danken Herrn Michael Brandt
und Frau Ingrid Hettwer-Steeger, beide
Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin
Göttingen, für die Anfertigung der Knochen-
dünnschliffe bzw. der rasterelektronenmi-
kroskopischen Präparate.
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– 144 |
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ZUSTIN, J., SCHULTZ, M. 2011: Histopathologische
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Anschriften der Verfasser
Eilin Jopp, M.A.
Institut für Rechtsmedizin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Butenfeld 34
22529 Hamburg
E-Mail: e.jopp@uke.uni-hamburg.de
E-Mail: eilin.jopp@web.de
Dipl. Biol. Susan Klingner
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: Susan.Klingner@medizin.uni-goet-
tingen.de
| 145 –
RNDr. Jan Nováček
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: jannovacek@yahoo.com
Dipl. Biol. Edith Oplesch
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: edzzo@web.de
Prof. Dr. med. Klaus Püschel
Institut für Rechtsmedizin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Butenfeld 34
22529 Hamburg
E-Mail: pueschel@uke.uni-hamburg.de
Priv. Doz. Dr. med. Jozef Zustin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut für Pathologie
Haus 0, 26 Raum 275
Martinistr. 52
20246 Hamburg
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
und
Universität Hildesheim
Institut für Biologie und Chemie
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
E-Mail: mschult1@gwdg.de
| 147 –
Ergebnisse der paläopathologischen Untersuchung an der
Moorleiche aus dem Kayhausener Moor
E. Oplesch, S. Klingner, J. Mißbach-Güntner, E. Jopp, K. Püschel,
M. Schultz
1988a), so dass wesentliche Informationen
durch den Konservierungs- und Lagerungs-
prozess verloren gegangen sind. Die Erhal-
tung ist – für die paläopathologische Unter-
suchung – daher als schlecht einzustufen.
Zusätzlich zum schlechten Erhaltungszu-
stand war die paläopathologische Unter-
suchung auch durch die Tatsache limitiert,
dass sich der Hauptanteil des Skeletts im
Weichgewebsverband befindet und somit
viele diagnostisch wichtige Strukturen ver-
borgen blieben. Folglich beziehen sich die
Befundbeschreibungen lediglich auf die
Skelettelemente, die isoliert vorliegen oder
sichtbar aus dem Hautschlauch herausra-
gen (Abb. 1).
Einleitung
Paläopathologie ist ein vergleichsweise neu-
er Arbeitsbereich, der sich mit der Art, den
Ursachen und Häufigkeiten sowie der Ver-
breitung der Krankheiten der Angehörigen
vergangener Gesellschaften befasst. Die Er-
gebnisse einer paläopathologischen Unter-
suchung leisten einen wesentlichen Beitrag
zur Rekonstruktion damaliger Lebenswei-
se. Auf der Individualebene ist es innerhalb
gewisser Grenzen möglich, aufgrund der
Krankheitsbelastung und der Ausprägung
bestimmter morphologischer Merkmale
auf die damaligen Lebensbedingungen zu
schließen und sogar biographische Daten zu
erheben (SCHULTZ 2011).
Mit dieser Zielsetzung wurde die 1922 ent-
deckte Moorleiche des Jungen von Kayhau-
sen einer eingehenden paläopathologischen
Untersuchung unterzogen. Dabei wurden
neben der makroskopischen Befunderhe-
bung aller zugänglichen Skelettelemente
auch röntgenologische sowie licht- und ras-
terelektronenmikroskopische Verfahren an
ausgewählten Strukturen eingesetzt.
Erhaltung
Durch die jahrzehntelange Konservierung
der Moorleiche (seit 1922) in wässeriger
Formalinlösung (seit einiger Zeit nun in
70%igem Ethanol) wurde die Knochenober-
fläche, die ohnehin schon durch die im Moor
enthaltenen Säuren im Sinne einer Entkal-
kung verändert worden war, stark angegrif-
fen. Gerade die Knochenoberfläche ist für
viele paläopathologischen Fragestellungen
ein diagnostisch wichtiger Bereich (SCHULTZ
Abb. 1: Skelettschema des Jungen von Kayhau-
sen. Untersuchbare Skelettelemente in der Restlei-
che und in isolierten Aufbewahrungsgefäßen sind
im Schema mit grauer Farbe eingetragen.
– 148 |
Material und Methoden
Die Leiche des Jungen von Kayhausen
wurde – zusammen mit den in Gläsern ar-
chivierten Feuchtpräparaten der inneren
Organe – von den Autoren vor Ort im Nie-
dersächsischen Landesmuseum Natur und
Mensch in Oldenburg paläopathologisch,
das heißt makroskopisch und lupenmikro-
skopisch im Auf- und Streiflicht nach den
Vorschlägen von Schultz (SCHULTZ 1988a)
untersucht. Skelettelemente wurden – so-
weit für die paläopathologische Befundung
notwendig – nach anthropologischen Stan-
dards vermessen. Alle Befunde wurden fo-
tografisch bzw. zeichnerisch dokumentiert.
Von der Haut wurden zwei sehr kleine Pro-
ben genommen.
Da das linke Schienbeinfragment für eine
eingehende paläopathologische Analyse
an das Zentrum Anatomie der UMG ver-
bracht werden konnte, bestand nach Pro-
benentnahme die Möglichkeit zur Nutzung
verschiedener Untersuchungstechniken.
Neben der makroskopischen und lupenmi-
kroskopischen Untersuchung wurden kon-
ventionelle digitale und analoge Röntgen-
aufnahmen mit dem Vollschutzröntgengerät
Faxitron (Hewlett & Packard), einem Indus-
trieröntgengerät mit hochauflösendem Fo-
cus, auf folienlosen Filmen (AGFA Structu-
rix D7) angefertigt. Computertomographien
wurden in der Abteilung Radiologische Dia-
gnostik der UMG durchgeführt (s. MISSBACH-
GÜNTNER et al., in diesem Band). Nach dem
von SCHULTZ und BRANDT entwickelten Ver-
fahren (SCHULTZ 1988b; SCHULTZ und DROM-
MER 1983) wurden zwei Knochendünnschliffe
in den Stärken von 50µm und 70µm herge-
stellt, die im einfachen Durchlicht analysiert
wurden (s. a. Beiträge in diesem Band von
Schön et al. und Schultz et al.).
Makromorphologische Skelettanalyse
Der erste Schritt einer paläopathologischen
Begutachtung sollte immer eine sorgfältige
Besichtigung der Knochen auf Form- und
Oberflächenveränderungen sein. Dabei ist
die Lupenbetrachtung der Knochenoberflä-
chen unter Schräglicht ein wichtiger Unter-
suchungsschritt.
Ausgrabungsartefakte
Bekanntlich wurde die Moorleiche des Jun-
gen von Kayhausen bei der Ausgrabung bzw.
der Bergung erheblich beschädigt. Zu die-
sen Beschädigungen gehören auch Schnitt-
spuren, die offenbar durch den Torfstechs-
paten verursacht wurden. So finden sich
an dem linken Schienbein typische, frische
Schnittspuren, deren glatte Schnittflächen
zweifelsfrei auf eine rezente Verletzung hin-
deuten (Abb. 2): Ein Schnitt liegt – von vor-
ne-außenseitlich auftreffend – an der Schien-
beinvorderkante (C: oberer Pfeil). Ein zweiter
Schnitt (C: unterer Pfeil) hat – aus der glei-
chen Richtung auftreffend – fast vollständig
den Schaft durchtrennt (im hinteren Schaft-
bereich zerbrach der Knochen beim Auftref-
fen des Spatens).
Verdacht auf Anämie
Im Hinblick auf Formveränderungen konn-
ten einige Auffälligkeiten im Bereich der
Extremitätenknochen beobachtet werden.
Dabei ist aber zu beachten, dass nur we-
nige Teile des Skeletts untersuchbar waren
(s. Abb. 1) und diese untersuchbaren Ske-
lettelemente in ihrer Größe und Konsistenz
sehr wohl auch noch durch den Konservie-
rungs- und Lagerungsprozess (Formalin/
Ethanol) verändert sein könnten. Deshalb
werden die nachfolgend beschriebenen
Veränderungen, die möglicherweise auf
| 149 –
eine sich systemisch äußernde chronische
Erkrankung, nämlich die Blutarmut (Anämie)
hindeuten, nur unter einem gewissen Vorbe-
halt vorgestellt. Erkranken Kinder an einer
chronischen Anämie kommt es in der Regel
zu einer Vergrößerung der Räume des roten
Knochenmarks, das sich in allen kurzen und
platten Knochen, aber auch in den Metaphy-
sen, das heißt in den oberen und unteren
Enden der Langknochenschäfte befindet,
also in den Regionen, in denen keine Mark-
röhre, sondern nur der Schwammknochen
(Spongiosa) ausgebildet ist. Diese Knochen-
markvergrößerung (Knochenmarkhypertro-
phie) bedingt eine geringgradige Verdickung
der oberen und unteren Enden der Lang-
knochen, die dem Skelettelement ein ver-
gleichsweise plumpes Aussehen verleiht.
Die distalen Metaphysen, d. h. die körperfer-
nen Enden der Schäfte der beiden Speichen,
sind etwas über die Norm verdickt (rechte
Speiche: Frontaldurchmesser 22,5 mm, Sa-
gittaldurchmesser 17,4 mm) und deuten eine
Vermehrung des im Inneren des Knochen-
schaftes gelegenen roten Knochenmarkes
an (Abb. 3). Dies kann unter Umständen als
ein schwacher Hinweis auf eine chronische
Anämie gewertet werden. Ganz ähnlich ist die
rundlich aufgequollene Metaphysenplatte am
unteren Ende der rechten Elle zu bewerten.
Auch das untere, noch nicht mit dem Schaft
verwachsene Knochenende der rechten Elle,
die distale Epiphyse, ist geringgradig über
die Norm verbreitert. Somit wird der an den
Speichen erhobene Befund gestützt. Auch
an beiden Schienbeinen lassen sich ent-
sprechende morphologische Merkmale be-
obachten: Besonders das untere Schaftende
des rechten Schienbeins (Abb. 4-6), aber
auch das obere Ende des linken Schienbeins
(Abb. 7) erwecken den Eindruck, geringgra-
dig verdickt bzw. „verplumpt“ zu sein. Wei-
terhin sind offenbar die noch erhaltenen Me-
taphysenplatten beider Schienbeine etwas
über die Norm vergrößert (untere Metaphy-
senplatte des rechten Schienbeins: Frontal-
durchmesser 38 mm, Sagittaldurchmesser
Abb. 2: Computertomographische Rekonstrukti-
on des linken Schienbeins. Die Pfeile markieren die
rezenten, offenbar durch den Torfspaten verursach-
ten Schnitte.
Abb. 3: Unteres, leicht verdicktes Ende der rechten Speiche des Jungen von Kayhausen.
– 150 |
34 mm; obere Metaphysenplatte des linken
Schienbeins: Frontaldurchmesser 51,4 mm,
Sagittaldurchmesser 39,1 mm) und gering-
gradig aufgewölbt (Abb. 4-7).
Die Markröhre in Höhe des zweiten Schaft-
viertels (von oben gezählt) des linken
Schienbeins weist im Querschnittsbild nur
wenige Knochenbälkchen auf (Abb. 8); die-
ser Teil der Markröhre ist nahezu frei von
Schwammknochen, der das rote Knochen-
mark repräsentiert. Dieser Befund spricht
zwar nicht überzeugend für eine Knochen-
markvergrößerung, schließt diese aber nicht
vollständig aus, da ein postmortaler und
somit lagerungsbedingter Verlust eventuell
vorhanden gewesener Knochenbälkchen
letzten Endes nicht vollständig ausgeschlos-
sen werden kann. Allerdings ist auch in der
computertomographischen Darstellung
eine, wenn auch nur schwache Schwamm-
knochenausbildung im zweiten Viertel des
Schienbeinschaftes im Sinne einer leich-
ten „Spongiosierung“ zu beobachten (vgl.
MISSBACH-GÜNTNER et al., in diesem Band:
Abb. 6), die sich bei der makroskopischen
Begutachtung und der Darstellung im kon-
servativen Röntgenbild (Abb. 9) in dieser In-
tensität nicht so zu erkennen gegeben hat.
Im dritten Schaftviertel (von oben gezählt)
des rechten Oberschenkelbeins ist makros-
kopisch keine Vermehrung des Schwamm-
knochen zu erkennen; hier ist die Markröhre
offenbar nicht mit Schwammknochen ver-
füllt und somit vollkommen regelrecht ge-
staltet, so dass dieser Befund gegen das
Vorliegen einer chronischen Anämie spricht.
Abb. 4: Untere zwei Drittel des
rechten Schienbeins des Jungen von
Kayhausen mit geringgradig verdick-
tem Schaftende von vorne.
Abb. 5: Unteres, geringgradig verdicktes
Schaftende des rechten Schienbeins des Jungen
von Kayhausen.
Abb. 6: Untere, geringgradig aufgewölbte und
vergrößerte Metaphysenplatte des rechten Schien-
beins des Jungen von Kayhausen.
Abb. 7: Obere, geringgradig aufgewölbte und
vergrößerte Metaphysenplatte des linken Schien-
beins des Jungen von Kayhausen.
| 151 –
Allerdings ist auch hier – ähnlich wie an dem
Schienbeinschaft - ein gewisser postmortal
bedingter Verlust des Schwammknochens
nicht sicher auszuschließen.
Am rechten Oberschenkelbein ist im vorde-
ren-innenseitlichen Halsbereich ein fleckar-
tiges, grobporöses Areal zu erkennen (Abb.
10), dass sagittal etwa 27 mm und frontal
16 mm misst und an die ALLEN’SCHE Fossa
erinnert (FINNEGAN 1978). Diese flache Grube
gibt sich in der lichtmikroskopischen Unter-
suchung als Auflösungsbereich der äußeren
Knochenschicht (Corticalis) zu erkennen, in
dem die daruntergelegene Schwammkno-
chenschicht (Spongiosa) äußerlich sichtbar
wird und das grobporöse Aussehen bedingt.
Möglicherweise handelt es sich bei diesem
morphologischen Merkmal um eine Spongi-
osahypertrophie und somit um ein Symptom
der chronischen Anämie.
Verdacht auf einen unbestimmten Entzün-
dungsprozess oder auf Skorbut
Die innenseitliche Schaftoberfläche des lin-
ken Schienbeins weist bei der lupenmikro-
skopischen Betrachtung zahlreiche feine,
streifenartige Impressionen und eine über
die Norm vermehrt poröse Oberfläche auf.
Diese Veränderungen gehen offenbar auf
eine verstärkte Blutgefäßbildung zurück
(Hypervaskularisation), könnten unter Um-
ständen aber auch durch eine oberflächlich
erfolgte Erosion über die Einwirkung der im
Moorboden enthaltenen Säuren (Diagene-
se) und das während des Aufbewahrungs-
prozesses einwirkende Formalin im Sinne
einer postmortalen Auflösung der äußeren
Rindenschicht des Knochen erklärt werden.
Die lichtmikroskopische Untersuchung einer
Probe aus dem Schaft des linken Schien-
beins zeigt aber, dass nur sehr geringgradi-
ge diagenetische Veränderungen vorliegen
(Abb. 8) und dass somit die Merkmale der
diskreten Hypervaskularisation intravitalen
Ursprungs sind.
In der Regel weist eine gesteigerte Ver-
sorgung der äußeren Knochenoberfläche
mit feinsten Blutgefäßen auf einen Ent-
zündungsprozess oder das Vorliegen einer
chronischen Vitamin-C-Mangelerkrankung
(Skorbut) hin. Allerdings lässt sich das in-
travital bestandene Ausmaß dieser Ge-
fäßvermehrung aufgrund der – wenn auch
nur geringgradigen – postmortalen Ober-
flächenveränderungen nicht mehr genau
feststellen. Aufgrund der makroskopischen
Untersuchungsergebnisse kann also nur
ein unbestimmter Verdacht auf einen mög-
licherweise entzündlich bedingten Prozess
bzw. auf einen chronischen Skorbut geäu-
ßert werden.
Abb. 8: Knochendünnschliff durch
das linke Schienbein des Jungen
von Kayhausen (Stärke 70µm). Mar-
kierungen: * = postmortale bedingte
Risse; ** = postmortal bedingte Ab-
sprengungen der oberflächlichen
Knochenschicht; 1 = Reste ursprüng-
licher Knochenbälkchen (Spongiosa);
2 = Schwammknochen (Spongiosa).
– 152 |
Muskel-Sehnenzerrung
Im Ursprungsbereich des Schollenmuskels
(Musculus soleus), eines Bauches des drei-
köpfigen oberflächlichen Wadenbeugers
(Musculus triceps surae), findet sich eine
für ein solch subadultes Individuum rela-
tiv kräftig ausgebildete Grube (Abb. 11 und
12), die 45 mm in der Länge, 6 mm in der
Breite und etwa 1-2 mm in der Tiefe misst.
Derartige Veränderungen an Muskelbefesti-
gungsstellen sind in der Regel Zeichen einer
durch körperliche Überlastung hervorgeru-
fenen Muskel-Sehnen-Reizung (Myotendo-
pathie), die meist als Zerrung zu interpre-
tieren ist (z. B. bei Kinderarbeit) und über
Knochennekrosen zur Grubenbildung führt.
Differentialdiagnostisch kann besonders
bei Subadulten eine solche Läsion auch im
Zusammenhang mit einer chronischen Vi-
tamin-C-Mangelerkrankung (Skorbut) ge-
sehen werden, da bei einem chronischen
Skorbut die Qualität des Knochenkollagens
nicht der Norm entspricht und deshalb eher
Schädigungen im Sehnen- und Bandbefes-
tigungsbereich auftreten können. Für eine
gesicherte Beurteilung fehlen allerdings hier
weitere Anhaltspunkte, so dass dieser Be-
fund nicht weiter interpretiert werden kann.
Röntgenuntersuchung des linken
Schienbeins auf Wachstumsstill-
standslinien
Die Röntgenuntersuchung belegt durch den
Nachweis der so genannten HARRIS-Linien den
Verdacht auf unspezifische Stresszustände.
Diese röntgendichten, quer zur Längsachse
des Schienbeins angeordneten, relativ dün-
nen und in der Regel nicht den ganzen Kno-
chenschaft in seiner Breite durchziehenden
Linien, die sich im körpernahen und körper-
Abb. 9: Konventionell erstellte Röntgenbilder des
linken Schienbeins der Kindermoorleiche von Kay-
hausen. Links: anterior-posteriorer Strahlengang,
Belichtung: 2,5 min, 40 kV; rechts: medio-lateraler
Strahlengang, Belichtung: 2 min, 40 kV. Pfeile: be-
sonders kräftig ausgebildete HARRIS-Linien.
Abb. 10: Vorderansicht des Halses des rechten
Oberschenkelbeins. Klammern: grobporöses Are-
al.
| 153 –
fernen Ende der Röhrenknochen (Metaphy-
sen) nachweisen lassen, repräsentieren Zo-
nen eines verzögerten Längenwachstums.
Als Ursache gelten hauptsächlich Mange-
lernährung („Hungerlinien“) oder länger an-
dauernde Infektionskrankheiten. Ist der kind-
liche Organismus hohen physischen, aber
auch psychischen Belastungen ausgesetzt,
kommt es aus kompensatorischen Gründen
zu einem Stillstand bzw. einer Verzögerung
des Wachstums. Da besonders das Län-
genwachstum der langen Röhrenknochen
betroffen ist, manifestiert sich der Wachs-
tumsstillstand – beispielsweise am Schien-
bein – an den quer zur Knochenlängsachse
angeordneten Wachstumsfugen, d. h. den
Epiphysenfugen. Die ursächlichen Faktoren
sind vielfältiger Natur. Darunter fallen vor
allem Hungerzustände und Infektionskrank-
heiten, aber auch Traumata, Schwanger-
schaft und perinatale Ereignisse sowie psy-
chologischer Stress.
Abb. 11: Dorsale Ansicht des linken Schienbein-
fragments des Jungen von Kayhausen. Pfeile:
Grubenförmige Ursprungstelle des Schollenmus-
kels (Musculus soleus) wohl aufgrund körperlicher
Überbelastung (Myotendopathie).
Abb. 12: Detailaufnahme des nekrotischen Be-
reiches der Muskelursprungsstelle (Klammer) aus
Abbildung 11. Die durch übermäßige Muskelbean-
spruchung entstandene Grube ist 45 mm lang und
bis zu 6 mm breit.
– 154 |
Bereits 1874, vor Erfindung der Röntgen-
technik, wurden HARRIS-Linien von Weg-
ner beschrieben (WEGNER 1874) und später
von Harris genau untersucht (HARRIS 1926;
1933). In der Folgezeit befassten sich zahl-
reiche Autoren mit dem Phänomen (z. B.
PARK 1954, WELLS 1964, ALLISON et al. 1974,
SCHULTZ 1978, HUNT & HATCH 1981, ODGEN
1984, MAAT 1984, MAYS 1985, BYERS 1991).
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass
HARRIS-Linien, die auch als „Wachstums-
stillstandslinien“ (OGDEN 1984) oder „Erho-
lungslinien“ (PARK 1954) bezeichnet werden,
zu den wichtigsten unspezifischen Stressin-
dikatoren zählen.
Am linken Schienbein des Jungen von Kay-
hausen lassen sich im körpernahen Bereich
(der körperferne Bereich ist nicht erhalten)
mehrere HARRIS-Linien unterschiedlicher
Stärke beobachten (Abb. 9). Es handelt
sich hier um die typischen, horizontal ver-
laufenden, linien- bis balkenartigen Struk-
turen im Bereich der Langknochenmetaphy-
sen. Die Linien sind zwar auch an anderen
Knochen zu beobachten, doch lassen sie
sich am besten am körpernahen und kör-
perfernen Ende der Schienbeine beurteilen
(vgl. z. B. SCHULTZ 1978).
Die Auswertung einer HARRIS-Linie ermögli-
cht auch die Bestimmung des Zeitpunkts,
zu dem sich ein Kind in einer solchen Peri-
ode der Überbeanspruchung befand. Die-
ser lässt sich berechnen (z. B. BYERS 1991,
FADJASCH 2008, HUNT & HATCH 1981, MAAT
1984), so dass es möglich ist, zu bestim-
men, in welchem Alter die Belastungspha-
sen stattfanden. G. Bolle und M. Schultz
entwickelten ein Skalensystem zur Bestim-
mung des Entstehungsalters der Linien am
Röntgenbild (s. FADJASCH 2008), bei dem der
Auswertungsmodus von SCHULTZ (1978) und
TEMPLIN (1993) mit herangezogen wurde. Bei
dem Fragment des linken Schienbeins des
Jungen von Kayhausen ergaben sich im an-
terior-posterior aufgenommenen Röntgen-
bild (Abb. 9: links) für den körpernahen Me-
taphysenbereich wenigstens sieben Linien,
die als HARRIS-Linien angesprochen werden
können. Diese lassen sich nach dem zuvor
beschriebenen Bestimmungsmodus in das
fünfte bis sechste, das sechste, das sieb-
te, das neunte, das zehnte und das elfte
Lebensjahr datieren. Im medio-lateral auf-
genommenen Röntgenbild (Abb. 9: rechts)
entfallen HARRIS-Linien auf das fünfte bis
sechste, das sechste bis siebte, das siebte
bis achte, das neunte, das zehnte und das
elfte Lebensjahr. Somit kam es vom fünften
bis zum elften Lebensjahr des Kindes we-
nigsten zu sechs Stresszuständen, die sich
in Wachstumsstillständen äußerten.
Schlussfolgerungen und Zusammen-
fassung
Die paläopathologische Untersuchung ei-
ner Moorleiche liefert häufig keine zufrie-
denstellenden Ergebnisse, da aufgrund der
destruktiven Lagerung im säurehaltigen
Moorboden das für die paläopathologische
Untersuchung diagnostisch besonders in-
formative Knochengewebe sehr stark ange-
griffen wird. Im Fall des Jungen von Kayhau-
sen lag noch ein weiterer, den Knochenerhalt
einschränkender Faktor vor: Die jahrelange
Lagerung des Körpers in einer wässerigen
Formalinlösung, welche die ursprünglich
sehr gut erhaltenen Weichgewebe konser-
vieren sollte, trug zusätzlich noch erheblich
zur Entkalkung des Skeletts bei.
Aus paläopathologischer Sicht ergab daher
die Untersuchung der Kayhausener Moorlei-
che nur wenige Ergebnisse, die zudem meist
| 155 –
nur als Verdachtsdiagnosen zu betrachten
sind, da in einigen Fällen keine ausreichend
aussagekräftigen Befunde erhoben wer-
den konnten. Doch selbst unter diesen er-
schwerten Umständen können Ergebnisse
vorgelegt werden, die zur Kenntnis der Le-
bensbedingungen des Jungen von Kayhau-
sen beitragen.
An einigen Stellen – beispielsweise beson-
ders ausgeprägt am linken Schienbein –
lassen sich rezente Schnittspuren im Sinne
eines Ausgrabungs- bzw. Bergungsarte-
faktes nachweisen.
Auf der Rückseite des linken Schienbeins
befindet sich im Ursprungsbereich des
Schollenmuskels (Musculus soleus) eine
deutlich ausgeprägte Grube, die aufgrund
eines nekrotischen Abbaus des Schaftkno-
chens infolge einer ausgeprägten Muskel-
Sehnenzerrung entstanden ist. Dieses mor-
phologische Merkmal ist als Hinweis auf
starken physischen Stress im Bereich der
Wadenmuskulatur anzusehen.
Die makroskopisch untersuchten Skelett-
überreste weisen – bei vorsichtiger Inter-
pretation – offenbar morphologische Spu-
ren einer Anämie auf, die möglicherweise
auf Mangelernährung (z. B. Proteinmangel,
Eisenmangel) oder auch auf Parasiten (z. B.
Würmer) bzw. Infektionskrankheiten, die
durch Einzeller verursacht werden (z. B. Mala-
ria), zurückgeführt werden können. Aufgrund
des auch schon in damaliger Zeit feuchten
Biotops und der historischen Überlieferung
bzw. Beobachtungen im Verlauf der letzten
zweihundert Jahre ist durchaus an eine chro-
nische Malaria zu denken, die bekanntlich bei
Kindern zu einer Knochenmarkhypertrophie
führen kann (vgl. SCHULTZ 1990).
Diskrete makromorphologische Hinweise
auf einen Entzündungsprozess im Bereich
des linken Schienbeins oder auch auf einen
chronischen Vitamin-C-Mangel (Skorbut)
lassen sich nicht zu einer verlässlichen Dia-
gnose verdichten, sollten aber zumindest als
„Stressmarker“ Beachtung finden.
In diesem Sinne sind auch die bei der Rönt-
genuntersuchung nachgewiesenen HARRIS-
Linien zu werten, die zu den aussagekräfti-
gsten unspezifischen Stressmarkern gehö-
ren. Sie liefern Informationen über die Stress-
situationen eines Kindes, die sich nicht nur
auf den Todeszeitpunkt, sondern auf die ge-
samte Kindheitsphase erstrecken. Der Junge
von Kayhausen war in seinem Leben (im Alter
zwischen fünf und elf) wenigstens sechs sol-
cher Stresssituationen ausgesetzt.
Abschließend ist zu bemerken, dass die ak-
tuelle Ergebnislage eine Revision früherer
Untersuchungen erlaubt. Die von H. Hayen
erwähnte Deformation des rechten Hüftge-
lenks (HAYEN 1964) kann nicht bestätigt wer-
den. Die beschriebene auffällige Formverän-
derung des rechten Oberschenkelknochens
ist nicht nachvollziehbar.
Danksagung
Die Autoren danken für die Anfertigung des
Knochendünnschliffs Herrn Michael Brandt,
Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin
Göttingen.
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Anschriften der Verfasser
Dipl. Biol. Edith Oplesch
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: edzzo@web.de
| 157 –
Dipl. Biol. Susan Klingner
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: Susan.Klingner@medizin.uni-goet-
tingen.de
Dr. rer. nat. Jeannine Mißbach-Güntner
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Diagnostische Radiologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
und
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Hämatologie und Onkologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: j.missbach@med.uni-goettingen.de
Eilin Jopp, M.A.
Institut für Rechtsmedizin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Butenfeld 34
22529 Hamburg
E-Mail: e.jopp@uke.uni-hamburg.de
E-Mail: eilin.jopp@web.de
Prof. Dr. med. Klaus Püschel
Institut für Rechtsmedizin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Butenfeld 34
22529 Hamburg
E-Mail: pueschel@uke.uni-hamburg.de
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
und
Universität Hildesheim
Institut für Biologie und Chemie
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
E-Mail: mschult1@gwdg.de
| 159 –
Untersuchung der sog. „Brusthaut“ der Moorleiche
„Mädchen aus dem Bareler Moor“
J. Zustin, I. Moll, J. Mißbach-Güntner, M. Schultz, K. Püschel, E. Jopp
schauungsmaterial an zahlreiche Institute,
Museen und Privatsammler (Königliche
Kunstkammer in Kopenhagen, Museum in
Clausthal, Gesellschaft zur Beförderung der
Künste und nützlichen Gewerbe in Hamburg,
Institute in Göttingen und St. Petersburg). Im
Laufe der Zeit sind die Asservate offenbar
fast alle verloren gegangen. Lediglich ein
Stück Haut – nach HAYEN (1961; 1987) die
rechte Brust – die sich ehemals in Kelps Pri-
vatbesitz befand und später an die Olden-
burger Apothekerin Dugend vererbt wurde,
wurde 1883 zum Teil an das Museum in Ol-
denburg übergeben.
Befund
Amtsarzt Kelp beschrieb die frisch gefun-
denen Leichenteile 1784 (PITISCUS 1791) als
„weich wie Lumpen, von brauner Farbe und
ohne Fäulnisgeruch, die sich mit einem Mes-
ser glatt schneiden ließen“. Fett- und Mus-
kelgewebe waren vergangen. Die Knochen
waren weich und entkalkt, lagen aber noch
in ihrer natürlichen Form vor. Haare, Finger-
nägel, Knorpel und Sehnen waren gut erhal-
ten. Das Lebensalter des Mädchens schätzte
Kelp aufgrund der anatomischen Merkmale
und erfahrungsbedingter Vergleiche auf etwa
14 bis 16 Jahre, ohne jedoch möglicherwei-
se die durch die Lagerung erfolgte Schrump-
fung des Gewebes zu berücksichtigen.
HAYEN (1987) zitiert aus PITISCUS (1791), dass
Ahlers beim nachgraben u. a. „die Haut der
Brust und des Leibes in einem Stück bis an
den Nabel“ fand und „die Haut des Brust-
stücks … fängt über den Schultern an und
gehet bis zum Nabel, … die Warzen der Brü-
ste sind deutlich sichtbar, und das ganze
Stück seihet beynahe wie eine Schürbrust
aus.“ (s. o.)
Das „Mädchen aus dem Bareler Moor“ (auch
Frau aus dem Bareler Moor) wurde 1784 im
Bareler Moor bei Dötlingen im niedersäch-
sischen Landkreis Oldenburg gefunden. Sie
zählt zu den frühesten Moorleichenfunden
von der noch Teile des Körpers vorhanden
sind. Eine 14C-Untersuchung ergab eine Da-
tierung in den Zeitraum zwischen 260 und
395 nach Chr. (Römischen Kaiserzeit, VAN DER
PLICHT et al. 2004).
Fund
Erste Überreste der Leiche – Teile des
Rumpfes, ein Bein mit Fuß sowie einen Un-
terarm mit der Hand – wurden von einem
Torfarbeiter in einer Tiefe von ca. 70-80 cm
entdeckt, freigelegt und in der Sonne ge-
trocknet. Die Leichenschau übernahm der
Oldenburger Amtsarzt Kelp. Ein Verbrechen
wurde ausgeschlossen, „da zur Zeit und
auch aus absehbarer Vergangenheit keine
vermisste Person aus der Umgebung gemel-
det oder bekannt war“ (HAYEN 1987). Amts-
arzt Kelp bewahrte daraufhin die Leichen-
teile in seiner privaten Kuriositätensamm-
lung in Oldenburg auf.
Die restlichen Teile der Moorleiche verblie-
ben zunächst im Moor bis sie etwas später
von dem Forstmeister Ahlers ausgegraben
wurden. Darunter der Hinterkopf, die Haut
des oberen Rumpfes bis zum Bauchnabel
sowie ein halbes Lenden- und Beinstück.
Diese Teile waren in der Zwischenzeit von
den Arbeitern und neugierigen Bauern völlig
zerstückelt worden. Auch Ahlers nahm alle
Teile mit zu sich nach Hause.
Da das Hauptinteresse damals vor allem
den konservierenden und gerbenden Ei-
genschaften des Moores galt, sandte Ah-
lers die lederartig gegerbten Stücke als An-
– 160 |
Untersuchung 1994 (Gutachten von Prof.
W. Bonte, IfR Düsseldorf, BOTH, FANSA 2011,
97 f.).
„Vorgelegt wird ein ungefähr trapezförmiges
Moorleichen-Hautstück mit den Ausmaßen
33 x 18 x 7 cm und maximal 1mm Dicke. Das
Hautstück hat eine tief-dunkelbraune Farbe
und erinnert an Leder. Die Konsistenz ist
aber nicht geschmeidig oder biegsam, son-
dern völlig steif und trocken. Der Rand ist
an der einen Längsseite geradlinig und glatt
und wirkt wie abgeschnitten, ähnlich auch
an der kürzeren Schmalseite und einem Teil
der längeren.
Das Hautstück ist im Zentrum ziemlich plan,
in den randlichen Bereichen auch teilweise
leicht gefältelt, besonders deutlich auf der
der glatt abgesetzten Längsseite gegenü-
berliegenden Seite, wo sich halbkreisför-
mig um das Zentrum herum angeordnete
Falten darstellen. Eine etwaige Vorwölbung
der zentralen Partie (vgl. Vorgeschichte) ist
jetzt nicht zu erkennen.
Die Oberseite ist relativ glatt, leicht glänzend,
mit feiner Narbung. Der Narben hat eine cha-
rakteristische plattenförmige Struktur. In der
Nähe des Zentrums vermeint man an einer
Stelle eine knapp linsengroße, deutlicher
glänzende und sich von der umgebenden
Narbung etwas abhebende Struktur zu er-
kennen. Es könnte sich um eine Brustwarze
handeln (vgl. Vorgeschichte). Sicher ist die-
ser Befund nicht, zumal ein Warzenvorhof
nicht auszumachen ist.“
Die histologische Untersuchung einer
kleineren Gewebeprobe von der kürzeren
Schmalseite ergibt, dass Epidermis und
subcutanes Fettgewebe vollständig fehlen.
„Erhalten ist ausschließlich das kollagene
Faserwerk des Coriums. In der äußeren (su-
bepithelialen) Schicht liegen die kollagenen
Faserbündel dicht gepackt. Die Einzelfa-
sern wirken verdickt und verquollen, teil-
weise verbacken, fast verschmolzen. In den
tieferen Schichten wirkt die Fasertextur lo-
ckerer, aber doch verdichteter, als im Frisch-
präparat. Eindeutig zu erkennen ist, dass die
Faserbündel räumlich unterschiedlich orien-
tiert sind und sich kreuzen.
Die Anfärbung der kollagenen Fasern ist in-
homogen und entspricht auch farblich nicht
ganz dem gewohnten Bild am Frischpräpa-
rat. In der HE-Färbung sieht man nur teil-
weise das klassische Rot. Manche Fasern
sind dunkelrot, andere fast lehmgelb. Mit
van Gieson stellt sich anstelle von Rot eher
ein leuchtendes Orange dar.
In der Elastica- und der Kombinationsfär-
bung sind elastische Fasern nicht auszu-
machen. Zellen oder Zellkerne stellen sich
in keiner Färbung dar. In den tieferen Schich-
ten sieht man vereinzelt nicht ganz vollstän-
dig zusammengedrückte Gefäße. Die Gefäß-
wände sind in den verschiedenen Färbungen
etwas dunkler angefärbt, als die kollagenen
Abb. 1: Rekonstruktion des erhaltenen Hautfragments (1: van der Sanden 1996, S. 40; 2:
Foto W. Kehmeier, 3: Zeichnung HAYEN 1987).
| 161 –
Fasern. Sie erhalten manchmal scholliges,
tiefbraunes Material, welches sich bereits im
ungefärbten Schnitt darstellt. Dieses Mate-
rial reagiert nicht auf die Eisenfärbung. Die
Gefäßlichtungen sind meist optisch leer.
Manchmal sieht man feinscholliges, bräun-
liches Material, welches sich in den ver-
schiedenen Färbungen wie das der Gefäß-
wände verhält.“
Bonte fasst zusammen, dass es sich bei
dem untersuchten Hautstück eindeutig um
menschliche Haut handelt.
„Daß es menschliche Haut ist, ergibt sich aus
der charakteristischen Narbung der Oberflä-
che. Speziell am Rumpf ist das Stratum reti-
culare plattförmig, allenfalls kammförmig ge-
staltet; entsprechend sind die Papillen des
Coriums wenig prominent, fast regelmäßig
verteilt. Genau dieser eher gleichmäßige und
feinstrukturierte Narben liegt vor.“
Bonte führt aus, dass es allein aufgrund
der morphologischen Befunde nicht sicher
zu entscheiden sei, von welchem Teil des
Rumpfes das Hautstück stammt. Eine ein-
wandfreie Identifizierung einer Brustwarze
ist nicht gelungen. Die halbkreisförmige Fäl-
telung könnte ein Hinweis auf eine weibliche
Brust oder die Schrumpfung des Präparats
sein. Eine mikromorphologische Identifizie-
rung wurde nicht durchgeführt, um das Prä-
parat nicht zu zerstören.
Auch bei späteren histologischen, elektro-
nenmikroskopischen und immunhistolo-
gischen Untersuchungen (BECHARA 2001,
STÜCKER et al. 2001) konnte keine Brustwar-
ze mehr erkannt werden.
Abschließend stellt Bonte – etwas fragwür-
dig – fest:
„ Unterstellt man einmal die Richtigkeit der
früheren Beschreibungen, dann ist der Re-
konstruktionsversuch von Hayen tatsächlich
überzeugend. Die Haut soll ja ursprünglich
bis etwa zum Bauchnabel gereicht haben. Die
größte Länge des Präparats legt nahe, daß
es teilweise Haut vom Hals includiert. Diese
dürfte durch die kürzere Schmalseite markiert
sein. Da das Präparat, welches bei Auffindung
noch die gesamte Brusthaut dargestellt ha-
ben soll, andererseits unzweifelhaft mit einem
geradlinigen Schnitt gezweiteilt wurde, kann
der geradlinige Rand nur der Brustmitte ent-
sprechen. Folglich kann es sich nur um die
rechte Hälfte der Brusthaut handeln.“
Untersuchung 2010
(Gutachten von Prof. I. Moll, UKE)
„Es handelt sich um ein fünfeckiges Haut-
stück mit einer Länge von 32 cm und einer
maximalen Breite von 20 cm mit zwei Nähten,
mehreren Sprüngen und feinen Löchern. Die
Farbe ist braun-schwarz, das Hautstück ist
von sehr harter und trockener Konsistenz. Es
ist unregelmäßig, teils stark gewellt. Die Ober-
fläche ist glatt, chagrinartig mit deutlichen
kleinen Unebenheiten, teils faltigen Verwer-
fungen und von einer netzartigen Zeichnung
überzogen. Diese Musterung reflektiert am
ehesten den retikulären Aufbau der Dermis.
Die Unterseite ist ebenfalls schwarz-braun,
stumpf und weist eine mehr rauhe Oberflä-
che auf. Hautadnexe oder andere Strukturen
lassen sich nicht erkennen.
Mikroskopisch zeigen sich nach verschie-
denen Färbungen Fasern, die verplumten
Kollagenfasern entsprechen. Dazwischen
sind Bindegewebszellen nicht erkennbar,
ebenso wenig die Epidermis und Adnexe
oder andere Epithelien. Zwischen den Kol-
lagenfasern sind verschieden wahrschein-
lich pflanzliche Anteile als myzelartige Struk-
turen oder Pflanzenzellreste zu erkennen
(Pfeilspitzen, Abb. 2E).
– 162 |
Insgesamt entspricht das Hautstück ver-
gerbten, dermalen kollagenen Fasern. Es
stammt aufgrund seiner Größe und Mono-
morphie am ehesten vom Körperstamm.
Eine genauere Lokalisation ist nicht auszu-
machen.“
Untersuchung 2010
(Gutachten von Dr. J Zustin, UKE)
Zur histopathologischen Untersuchung
wurde eine 6x3x3 mm große Gewebeprobe
vom Rand des vermeintlichen Hautpräpa-
rates eingesandt. Das Gewebe hatte eine
derbe elastische bis harte Konsistenz war
zudem sehr trocken. Es wies eine gleich-
mäßige dunkel braune bis schwarze Farbe
auf und es ließen sich darin keine charak-
teristischen Strukturen der menschlichen
Körperoberfläche wie Nägel, Wimpern oder
Haare erkennen. Die gesamte Oberfläche
des Teilstückes war unregelmäßig. Das Ge-
webe wurde vollständig eingebettet und
geschnitten mit Anfertigung von mikrosko-
pischen Präparaten mit Hämatoxylin-Eosin,
Elastika van Gieson, Toluidin Blau und Peri-
odic acid Schiff (PAS) Spezialfärbungen.
Mikroskopisch lassen sich lediglich unre-
gelmäßig durchflochtene, breite Fasern er-
kennen. Keine Hinweise für Reste von Blut-
gefäßen oder anderen morphologisch gut
Abb. 2: Bareler Moor. (A) Hautstück mit Falten und Nähten. (B) Netzartiges Muster der Oberfläche (Detail). (C) Verplumpte Fasern mit pflanzlichen
Bestandteilen (Pfeile; Goldner Färbung, kleine Vergrößerung). (D) Keine weiteren Gewebetypen (Blutgefäße, Epithelien) sind nachweisbar (Goldner
Färbung, stärkere Vergrößerung). (E) Befund von feingranulärem Detritus und braunen pflanzlichen Partikeln zwischen den Kollagenfasern (Pfeile, PAS
Färbung, Vergrößerung 400x). (F) Fokaler Nachweis von Pilzorganismen (Pfeile, PAS Färbung, Vergrößerung 400x).
| 163 –
definierten Hautstrukturen. Stattdessen
kommen zwischen den Kollagenfasern fein-
granuläre und kompakte Detritusfragmente
(Abb. 2E) und fokale Pilzkolonien (Abb. 2F)
zur Darstellung. Bei der Untersuchung un-
ter polarisiertem Licht zeigten sich zusätz-
lich mehrere kristalline Fremdpartikel.
Zusammenfassend würde das untersuchte
Gewebe gut zu vergerbten Kollagenfasern,
wie sie in der Unterhaut des Körperstammes
vorkommen, passen. Andere Strukturen
wie Blutgefäße, elastische Fasern und
Hautadnexe oder gar Oberflächenepithel
sind im vorliegenden Gewebestück nicht
mehr nachweisbar. Zusätzlich sieht man
zwischen den Kollagenfasern immer wieder
feingranulären Detritus und Pilzkolonien.
Untersuchung im März 2011
(Gutachten von Prof. Dr. Dr. M. Schultz
und Dr. J. Mißbach-Güntner, UMG)
Ergänzend zu den bisher vorliegenden Be-
gutachtungen wurden makroskopische, lu-
penmikroskopische, rasterelektronen- und
lichtmikroskopische (einschließlich Histo-
chemie und Polarisationsoptik) sowie vo-
lumen-computertomographische Untersu-
chungen vorgenommen. Da noch nicht alle
Befunde vorliegen, können zurzeit nur weni-
ge Ergebnisse vorgestellt werden.
Makroskopie und Lupenmikroskopie
Zweifelsfrei handelt es sich um ein Stück
Haut aus dem Körperstamm, wahrschein-
lich dem oberen ventralen Thoraxbereich:
Eine Brustwarze (Mamilla, Areola mammae)
war nicht erkennbar, obwohl sich der für eine
Brustdrüse verdächtige Bereich ein wenig
vorwölbt. Das könnte aber auch auf tapho-
nomische Ursachen zurückzuführen sein.
Die Haut ist trotz des Fehlens der äußeren
Schicht der Epidermis (auf jeden Fall des
Stratum corneum) sehr gut erhalten. Auf der
Hautunterfläche lassen sich lupenmikrosko-
pisch etwa in der Mitte des großen Haut-
lappens Weichgewebsreste beobachten, die
offenbar der Subcutis zuzuordnen sind. Hier
erhebt sich nun die Frage, ob es sich nicht
doch um Reste einer Brustdrüse handeln
könnte. Aufgrund der gut bestimmbaren
äußeren Hautfelderung und den porenähn-
lichen Vertiefungen, die makroskopisch und
lupenmikroskopisch mit der Anordnung der
Schweißdrüsenausführungsgänge oder ehe-
maliger Körperhaare in Verbindung gebracht
werden können, handelt es sich anatomisch,
d. h. makromorphologisch ganz sicher nicht
um Rückenhaut der Region zwischen dem
achten Brustwirbelkörper und dem Kreuz-
bein und wohl auch nicht um Bauchhaut. Es
ist also sehr wohl vorstellbar, dass hier Haut
aus der ventralen Thoraxregion – wohl ober-
halb der Brustwarze, da diese offenbar fehlt
– oder eventuell auch Haut aus der Leisten-
bzw. proximalen ventralen Oberschenkelre-
gion vorliegt. Noch weniger wahrscheinlich,
aber durchaus möglich, ist eine Zuordnung
der Haut in den dorsalen Schulterbereich.
Volumen-Computertomographie
Es ist eine deutliche Differenzierung der relativ
dicken Haut in drei Schichten zu beobachten.
Dies belegt – wenn man den lagerungsbe-
dingten Schrumpfungszustand berücksich-
tigt –, dass es sich nicht um einen Abschnitt
der Haut aus der Leisten- oder Oberschen-
kelregion handeln kann. Die dreidimensionale
Rekonstruktion der Haut über den volumen-
computertomographisch gewonnenen Da-
tensatz bringt die Hautmorphologie mit ihrer
Felderung und den porenähnlichen Vertie-
fungen hervorragend zur Darstellung.
– 164 |
Literatur
BECHARA, F. G. 2001: Histologische, elektronen-
mikroskopische, immunhistologische und IR-
spektroskopische Untersuchungen an der Haut
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STÜCKER, M., BECHARA F.-G., BACHARACH-BUHLES, M,
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root/2004/JArchaeolScivdPlicht/2004JArchaeol
ScivdPlicht.pdf).
Anschriften der Verfasser
Priv. Doz. Dr. Jozef ZustinUniversitätsklinikum Hamburg-EppendorfInstitut für Pathologie,Haus O, 26 Raum 275Martinistr. 5220246 Hamburg
Prof. Dr. J. MollUniversitätsklinikum Hamburg-EppendorfInstitut für RechtsmedizinFachbereich Forensische AnthropologieButenfeld 3422529 Hamburg
Dr. rer. nat. Jeannine Mißbach-GüntnerUniversitätsmedizin GöttingenAbteilung Diagnostische Radiologie Robert-Koch-Str. 4037075 GöttingenundUniversitätsmedizin GöttingenAbteilung Hämatologie und Onkologie Robert-Koch-Str. 4037075 GöttingenE-Mail: j.missbach@med.uni-goettingen.de
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael SchultzUniversitätsmedizin GöttingenZentrum AnatomieAG PaläopathologieKreuzbergring 3637075 GöttingenundUniversität HildesheimInstitut für Biologie und ChemieMarienburger Platz 2231141 HildesheimE-Mail: mschult1@gwdg.de
Prof. Dr. K. PüschelEilin Jopp, M.A.Universitätsklinikum Hamburg-EppendorfInstitut für RechtsmedizinArbeitsbereich Forensische AnthropologieButenfeld 3422529 Hamburg
| 165 –
Analyse des Hautfragments der Moorleiche „Bareler Moor“
mittels hochauflösender Computertomographie
J. Mißbach-Güntner, Chr. Dullin, J. Schirmer, F. Alves, M. Schultz
Hochaufgelöste Mikro-CT-Aufnahmen eines
ausgesägten ca. 1 cm3 großen Knochen-
stücks der rechten Tibia der Moorleiche
„Esterweger Dose“ dokumentierten eine
fortgeschrittene Osteomyelitis mit ausge-
prägten osteolytischen Veränderungen, re-
aktiven Knochenneubildungen und einem
typischen Fistelgang. Diese Erkrankung
in ihrer Schwere kann am ehesten für den
frühen Tod des jugendlichen Individuums
verantwortlich gemacht werden (MISSBACH-
GÜNTNER et al. 2010).
Die hohe Auflösung des Mikro-CT Daten-
satzes von bis zu 8 µm kann nur bei sehr
kleinen Präparaten erreicht werden, die sich
in einer entsprechend kleinen Objektkammer
befinden. Wie im Falle der „Esterweger Dose“
müssen die zu analysierenden Knochen dafür
zersägt werden. Damit ist ein wichtiges Krite-
rium für die röntgenologische Untersuchung
– die zerstörungsfreie Analyse des Knochen-
materials – nicht mehr gegeben.
Um aber auch größere Objekte scannen zu
können und dabei nicht auf eine hervorra-
gende Ortsauflösung verzichten zu müssen,
wird der Prototyp eines hochauflösenden,
präklinischen Flächendetektor-Volumen-
Computertomographen (fpVCT) eingesetzt,
der innerhalb weniger Sekunden auch grö-
ßere Objekte wie Schädel scannt und dabei
eine Ortsauflösung von 150 bis 200 µm er-
reicht. Mit Hilfe dieses fpVCT konnte unter
anderem die nahezu vollständig erhaltene
linke Tibia des „Jungen von Kayhausen“,
einer juvenilen, eisenzeitlichen Moorleiche
des Weser-Ems-Gebietes vollständig darge-
stellt und befundet werden. Besonders ein-
drucksvoll konnten bei dieser Untersuchung
Sedimenteinschlüsse im dorsalen Bereich
des Tibiakopfes festgestellt werden, die auf
eine mögliche Rückenlage der Moorleiche
unter der Liegezeit hinweisen. Aber auch so
Einleitung
Die moderne, nicht invasive Schnittbilddia-
gnostik stellt immer wieder einen lohnenden
interdisziplinären Ansatz bei paläopatholo-
gischen Fragestellungen dar, sowohl in der
Forensik als auch in der historischen An-
thropologie. Dabei eignet sich besonders
die hochauflösende Computertomographie
(CT) zur Darstellung von (prä)historischem
Knochenmaterial aufgrund des großen Kon-
trastes zwischen röntgendichten Hartgewe-
ben wie Knochen und Zähnen und der um-
gebenden Luft. CT generierte Datensätze
gestatten im Gegensatz zu konventionellen
Röntgenbildern zwei- und dreidimensionale
Abbildungen des Untersuchungsgutes in al-
len möglichen Betrachtungswinkeln ohne
die typischen Informationsüberlagerungen,
wie sie im klassischen Summationsbild
zwangsläufig entstehen.
Desweiteren können verschiedene Schnitt-
ebenen in verschiedenen Schichtdicken
festgelegt werden, die eine zerstörungs-
freie Analyse des Knochens ermöglichen.
Die gewonnene Informationsfülle bedingt
allerdings auch eine erhöhte Röntgendosis,
die bei der in vivo Bildgebung durchaus zu
bedenken, jedoch bei der Analyse archäo-
logischer Skelette und Mumienfunde zu ver-
nachlässigen ist.
Innovative Rekonstruktions- und Darstel-
lungs-Algorithmen erheben die Computer-
tomographie weiterhin von der einfachen
Abbildung des Untersuchungsgutes in den
Stand funktioneller Analysen, etwa bei der
Bestimmung der Knochenmineraldichte
beider Humeri der 800 Jahre alten Skelett-
Moorleiche „Esterweger Dose“. Hier deutete
die unterschiedliche Mineraldichte im Sei-
tenvergleich auf eine Rechtshändigkeit hin
(BARVENCIK et al. 2010).
– 166 |
genannte HARRISsche Linien als Merkmale
eines verzögerten Längenwachstums konn-
ten im Anschnitt erstmalig dreidimensional
als kräftig ausgebildete, röntgendichte und
damit von der übrigen Spongiosa gut diffe-
renzierbare Trabekelzüge abgebildet werden
(MISSBACH-GÜNTNER et al. 2011).
Während die CT-basierte Darstellung von
Knochen auch für historisches Material gut
etabliert ist, stellt die Abbildung von Haut
mittels CT-Technologien auch im klinischen
Kontext eine größere Herausforderung dar.
Die Haut selbst reichert kein Kontrastmit-
tel an und bietet durch die geringe Rönt-
gendichte des Weichgewebes auch kaum
eigenen Kontrast. Einige Tumore der Haut,
wie beispielsweise die so genannten Pilo-
matrikome, gutartige subkutane, mitunter
mineralisierende Neoplasien, die aus Haar-
Cortex-Zellen hervorgehen, lassen sich im
CT gut darstellen und werden auch mit die-
ser Technik diagnostiziert (LIM et al. 2007).
Häufiger sind allerdings dystope „Kalzifizie-
rungen“ (tatsächlich dürfte es sich um Mine-
ralisationserscheinungen handeln) der Cutis
und Subcutis im Zuge nicht heilender Ulce-
ra der Extremitäten. Auch hier entsteht ein
im CT-Bild gut sichtbarer Kontrast der Haut
durch mitunter massive „Kalkablagerungen“
(HEINIG und WOLLINA 2010).
Die Untersuchung der so genannten „Brust-
haut“ der Moorleiche „Bareler Moor“, die
in situ als lederig gegerbtes, völlig steifes,
schwarzes Hautstück imponiert, stellt somit
ein Novum in der röntgenologischen Analy-
se eines historischen Moorleichenfundes dar.
Der CT-Scan mittels fpVCT sollte dabei vor
allem die Frage klären, ob es sich bei dem
Hautstück tatsächlich um Brusthaut handelt.
2. Untersuchungsgut und Methode
Für die CT-Analyse stand das einzig, heu-
te noch erhaltene Fragment der im Bareler
Moor bei Dötlingen, Landkreis Oldenburg,
gefundenen Moorleiche zur Verfügung, die
aufgrund einer 14C-Untersuchung in die Rö-
mische Kaiserzeit datiert wurde (VAN DER
PLICHT et al. 2004). Dieses Hautfragment
(Abb. 1) der Größe von 35 x 20 x 2 mm wur-
Abb. 1: Links : Mit dem Darstellungsprotokoll „Moor“ kann der fpVCT-generierte Datensatz der Haut virtuell heller und damit besonders ihr struk-
turelles Relief hervorragend dargestellt und auch die grob vernähten Risse/Schnitte (Pfeile) kenntlich gemacht werden. Maßstab = 2 cm. In höheren
Auflösungen ist der netzartige Charakter einer typischen Felderhaut gut erkennbar. Mitte: Maßstab = 1 cm, rechts: Maßstab = 0,5 cm.
| 167 –
de nun im Zwei-Detektor-Betrieb zur größt-
möglichen Abdeckung des gesamten Frag-
mentes mit dem fpVCT gescannt, der eine
Entwicklung des General Electric Global Re-
search Centers (Niskayuna, NY, USA) ist.
Bei dem hier beschriebenen fpVCT führen die
Röntgenröhre und die Flächendetektoren in
einer geschlossenen Abtasteinheit (Gantry)
eine miteinander gekoppelte Drehbewegung
um ein gemeinsames Rotationszentrum aus.
Das fpVCT-System wird als Axialsystem
betrieben, d. h. die Datenerfassung erfolgt
längs der Systemachse in voneinander un-
abhängigen Einzelschritten jeweils während
einer 360° umfassenden Rotation der Rönt-
genröhre und des Detektorsystems um das
stationäre Untersuchungsobjekt. Anschlie-
ßend wird bis zur vollständigen Erfassung
des zu untersuchenden Objektvolumens
der Patientenlagerungstisch schrittweise
vorwärts bewegt. Während des Tischvor-
schubs erfolgt keine Exposition.
Der Scan mit einer Ortsauflösung von ca.
200 µm erfolgte mit folgenden Parametern:
Einzeldetektormodus, 80 kVp, 100 mA, 1000
Projektionen pro Rotation in vier Sekunden
und insgesamt fünf Schritte zur vollstän-
digen Abdeckung des Hautfragmentes. An-
schließend wurde der Datensatz mittels vox-
tools 3.0.64 Advantage Workstation 4.2 (GE
Healthcare) analysiert.
Da keine etablierten Darstellungsprotokol-
le für Auswertung von CT-Datensätzen der
Haut existieren, wurde ein eigenes Darstel-
lungsprotokoll „Moor“ etabliert, welches die
in situ schwarz verfärbte Haut virtuelle hell
abbildet. Desweiteren wurden auf bekann-
te Weichgewebsprotokolle wie „BW Lung“,
„Air Structure“ oder „BW Colon“ zurückge-
griffen, um einen sichtbaren Kontrast der
lederigen, röntgenschwachen Hautstruktur
zu erzeugen.
3. Beurteilung der Morphologie und
des Erhaltungszustandes
Trotz des 2-Detektor-Betriebs des fpVCT
konnte keine vollständige Abbildung des ge-
samten Hautstücks erreicht werden (Abb. 1).
Dennoch gibt die dreidimensionale Darstel-
lung des zentralen Hautbereiches mit Hil-
fe des Protokolls „Moor“ hervorragend die
Morphologie und das strukturelle Relief des
per se sehr röntgenschwachen Hautstücks
mit völlig integerer Oberfläche wieder. Die
Schnitt- respektive Risskanten des Objektes
sowie die groben Nähte zum Verschließen
dieser Risse, sind gut sichtbar. In der größt-
möglichen Auflösung wird die Feinstruktur
der Haut sichtbar: Kleine Poren ehemaliger
Haarbalgkanäle und Ausgänge von Talgdrü-
sen überziehen in dichter Formation die ge-
samte Haut, die dadurch einen netzartigen
Charakter aufweist (Abb. 1). Um die Näh-
te der Haut besser beurteilen zu können,
wurden auf einen dreidimensionalen Aus-
schnitt verschiedene Darstellungsprotokol-
le angewendet, die sowohl das Nahtmaterial
selbst, als auch den Hautriss unterschied-
lich kontrastieren (Abb. 2). So suggeriert in
diesem Zusammenhang das Protokoll „Air
Structure“, dass es sich bei dem benutzten
Nahtmaterial um einen innen hohlen, groben
Faden handelt.
Das Protokoll „Air Structure“ erlaubt wei-
terhin einen Blick in das Innere der Haut,
indem luftgefüllte Areale virtuell heller dar-
gestellt werden. „Bohrlöcher“ oder auch
„Bohrkanäle“, die im Zuge der Diagenese
durch Pflanzenwurzeln oder Pilzmyzelien in-
nerhalb der Haut entstanden sein können,
werden so als zusammenhängende hel-
le Linien abgebildet (Abb. 3). Eine Durch-
musterung des Objektes ergab prominente
Aufhellungen im Bereich der vermutlichen
– 168 |
Talgdrüsen- und Haarbalgausgänge, aber
auch großflächigere luftgefüllte Areale, die
am ehesten als leicht abgehobene Haut-
schichten angesprochen werden können
(Abb. 3). Ein möglicher, ca. 10 cm langer,
so genannter Bohrkanal, der sich parallel zu
einem vernähten Riss am Rand des Präpa-
rates befindet, konnte ebenfalls nachgewie-
sen werden. Kleine diskrete Kanälchen wa-
ren jedoch, möglicherweise aufgrund der für
diese Untersuchung zu geringen Auflösung
des Datensatzes, nicht sichtbar.
Um der Frage nach dem topographischen
Ursprung des Hautstücks als möglicher Teil
der Brusthaut nachzugehen, wurde das Prä-
parat von der äußeren Seite her in mehreren
Winkeln dreidimensional virtuell so darge-
stellt, dass die der Form der Brust durchaus
entsprechende Aufwölbung genau definiert
werden konnte (Abb. 4).
Im dreidimensionalen Anschnitt dieser kon-
vexen Struktur von der Innenseite aus be-
trachtet erscheint die Oberfläche nicht glatt-
Abb. 2: Unterschiedliche Darstellungsprotokolle kontrastieren verschieden Aspekte des Hautstücks: Links: Das Protokoll „BW Lung“ gibt nur wenig
Information über die Struktur der Haut, stellt aber das Nahtmaterial und den Schnitt (Pfeil) deutlich dar. Mitte: Das Darstellungsprotokoll „Colon“ kontras-
tiert im besonderen Maße die felderartige Oberfläche der Haut und verstärkt den Schnitt (Pfeile). Rechts: Das Darstellungsprotokoll „Air Structure“ erlaubt
einen Blick in die Haut und stellt luftgefüllte Bereiche hell dar (Pfeile). In dieser Darstellung erscheint das Nahtmaterial hohl (Pfeile). Maßstab = 1 cm.
Abb. 3: Die Durchmusterung des Hautstücks mit dem Protokoll „Air Structure“ erlaubt die
Beurteilung des Inneren des Präparates. Helle Bereiche können dabei als mit Luft gefüllt an-
gesprochen werden. Im Bereich der Talgdrüsen, respektive Haarbalgkanäle finden sich kleine,
luftgefüllte Strukturen (Sterne) aber auch im Bereich der Nähte verliert die Haut an Integrität und
ist belüftet (schwarze Pfeile). Sich heller abhebende, faserartige Bereiche suggerieren dagegen
das Ablösen ganzer Hautschichten (weiße Pfeile). Zusammenhängende, luftgefüllte Linien in der
Haut, die an großlumige „Bohrkanäle“ denken lassen (Pfeilspitzen), können ebenfalls beobachtet
werden. Maßstab = 1 cm.
| 169 –
wandig wie auf der Außenfläche, sondern
es imponieren einzelne, leicht abgehobene
Stränge, die möglicherweise Reste des sub-
kutanen Trägergewebes der Brustdrüse bzw.
eventuell sogar des Drüsengewebes reprä-
sentieren (Abb. 5). Sollte es sich tatsäch-
lich um Reste einzelner, konservierter Drü-
senläppchen handeln, wäre dies ein starkes
Indiz für die topographische Zugehörigkeit
des Hautstücks zur Brust. Zweidimensio-
Abb. 4: Die dreidimensionale Darstellung des Hautstücks in beliebigen Winkeln mit dem Protokoll „Moor“ zeigt deutlich die konvexe Aufwölbung
(Pfeile), die die Zugehörigkeit zur Brust suggeriert. Mamille und Areola dagegen sind nicht nachweisbar. Maßstab = 2 cm.
Abb. 5: Links: Betrachtung des Präparates von der Innenseite: Hier finden sich im dreidimensionalen Anschnitt des konvexen Areals einzelne Stränge
(Pfeile) locker assoziierten Materials, das an eingetrocknetes Drüsengewebe erinnert. Rechts: Die Abbildung verschiedener zweidimensionaler Schnitt-
ebenen zeigt die Stratifizierung der Haut mit einzelnen abgehobenen oder nur gering verbundenen Schichten (Pfeile), die der subkutanen Trägerschicht
der Brustdrüse oder sogar glandulärem Gewebe entsprechen könnten. Maßstab = 1 cm.
– 170 |
nale Anschnitte durch das konvexe Areal
lassen die sehr feine Stratifizierung der Haut
gut erkennen, wobei auch hier wieder auf
der Innenseite nur locker assoziierte Haut-
schichten auffallen, die eingetrocknetes,
glanduläres Gewebe darstellen könnten.
Letztendlich fehlt aber auch in den CT-ge-
nerierten Aufnahmen der überzeugendste
Hinweis auf die Brusthaut: Eine Mamille mit
umgebender Areola – beide konnten nicht
abgebildet werden.
4. Diskreter Befund einer Markierung
Nach Beurteilung von Morphologie und Er-
haltungszustand des „Bareler Hautstücks“
wurde dieses virtuell noch einmal mit ver-
schiedenen Abbildungsprotokollen durch-
mustert, um eventuelle Auffälligkeiten doku-
mentieren zu können. Bei der Betrachtung
der Innenseite des Präparates mit dem Pro-
tokoll „BW Lung“ fiel im oberen Drittel eine
unregelmäßig konfigurierte röntgendichte
Stelle auf, deren Zuordnung sich jedoch je-
der anatomischen Struktur entzog (Abb. 6).
Das röntgendichte Signal ist allein auf die
Innenseite des Objektes beschränkt und
von der Außenseite her nicht nachweis-
bar, weshalb eine Tätowierung, welche sich
aufgrund röntgendichter Farbpigmente gut
kontrastieren ließe, ausgeschlossen werden
kann. In der Vergrößerung ist eine mögliche
Beschriftung zu erkennen: Wahrscheinlich
wurde für die Aufschrift, die an die Namen
„Leah“ oder „Leni“ denken lässt, ein gra-
phithaltiger Stift verwendet, der für den gu-
ten Röntgenkontrast sorgt. Im zweidimensi-
onalen Anschnitt erkennt man deutlich die
nur auf die Innenseite beschränkten rönt-
gendichten Partikel, die der Hautoberfläche
anhaften (Abb. 6).
Diese Kennzeichnung des Hautstückes war
in der makroskopischen Betrachtung, sicher
aufgrund der dunklen Verfärbung, nicht auf-
gefallen.
Abb. 6: Links: Im oberen Drittel des Hautstücks und nur von der Innenseite aus betrachtet, imponiert mit dem Protokoll „BW Lung“ ein diskreter,
röntgendichter Bereich (Pfeil), der sich keiner anatomischen Struktur zuordnen lässt. Maßstab = 2 cm. Mitte: In der Vergrößerung findet sich ein, einer
Tätowierung ähnliches Signal (Pfeil), das sich aufgrund höherer Röntgendichte gut kontrastieren lässt. Die Lage auf der Innenseite des Präparates
schließt eine Tätowierung aus. Es handelt sich hierbei um die Inventarnummer des Landesmuseums Natur und Mensch Oldenburg, Nr. 1687. Maßstab
= 1 cm. Rechts: Der zweidimensionale Anschnitt weist durch die nur als Auflagerung imponierenden röntgendichten Partikel ebenfalls auf eine Bleistift-
markierung hin. Maßstab = 0,5 cm.
| 171 –
Die CT-Analyse erlaubte also schlussfol-
gernd eine umfassende Darstellung der
Oberflächen, aber auch einen Blick in die
Haut mit ihrer typischen Schichtung und
konnte darüber hinaus eine mögliche Be-
schriftung auf der Innenseite des Präparates
nachweisen.
Zusammenfassung
Das einzige, heute noch erhaltene Haut-
stück der Moorleiche des „Mädchens aus
dem Bareler Moor“, die in die Römische
Kaiserzeit datiert wird, wurde mittels hoch-
auflösender, nicht destruktiver Volumen-
Computertomographie untersucht. Zwei-
und dreidimensionale Aufnahmen der Haut
ermöglichten die Darstellung der Außenflä-
che der typischen Felderhaut der ventralen
Rumpfregion, aber auch der ursprünglich
mit einzelnen Strängen lockeren Gewebes
ausgekleideten Innenfläche, die an kon-
serviertes subkutanes oder gar glandu-
läres Gewebe denken lässt. Des Weiteren
gestattete der CT-Datensatz auch die Be-
urteilung luftgefüllter Areale im Inneren so-
wie eine gewisse Stratifizierung der Haut
im Querschnitt und erlaubte die Detektion
und Beurteilung diskreter, röntgendichter
Bereiche, die auf eine alte Beschriftung des
Präparates hinweisen.
Literatur
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R. P., FANSA, M., AMLING, M., PÜSCHEL, K. 2010:
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rungen. Eine Komplikation bei Ulcera crurum.
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MISSBACH-GÜNTNER, J., DULLIN, C., ALVES, F., SCHULTZ,
M. 2010: CT-Untersuchungen zur Analyse patho-
logisch bedeutsamer Alterationen der Knochen-
binnenstruktur. In: M. Fansa, E. Jopp, K. Püschel
(Hrsg.), Das Kind aus der Esterweger Dose – Do-
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MISSBACH-GÜNTNER, J., DULLIN, C., KLINGNER, S., OP-
LESCH E., ALVES, F., SCHULTZ, M. 2011: Analyse des
Schienbeinschaftes des „Jungen von Kayhausen“
mittels hochauflösender CT. In diesem Band.
VAN DER PLICHT, J., VAN DER SANDEN, W. AERTS, A. T.
STREUERMANN, H.-J. 2004: Dating boy bodies by
means of 14C-AMS. Journal of Archaeological
Science 31, 2004, 471-491.
– 172 |
Anschriften der Verfasser
Dr. rer. nat. Jeannine Mißbach-Güntner
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Diagnostische Radiologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
und
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Hämatologie und Onkologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: j.missbach@med.uni-goettingen.de
Christian Dullin
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Diagnostische Radiologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: christian.dullin@med.uni-goettin-
gen.de
Julia Schirmer
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Diagnostische Radiologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
und
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Hämatologie und Onkologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: julia.schirmer@med.uni-goettingen.de
Prof. Dr. med. Frauke Alves
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Hämatologie und Onkologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
und
MPI für experimentelle Medizin
Hermann-Rein-Str. 3
37075 Göttingen
E-Mail: falves@gwdg.de
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
und
Universität Hildesheim
Institut für Biologie und Chemie
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
E-Mail: mschult1@gwdg.de
| 173 –
Licht- und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen
an Hautproben der Moorleiche des „Mädchens Bareler Moor“
S. Klingner, E. Oplesch, M. Schön, M. Schultz
punkt der Auffindung – allerdings mit dem
bloßen Auge keine Brustwarze oder Reste
der Brustdrüse (mehr) zu erkennen waren,
galt mittlerweile die topographische Zuord-
nung der Hautstücke als unsicher. Neue Er-
kenntnisse vermitteln die von Jeannine Miß-
bach-Güntner und Mitarbeitern vorgestell-
ten Befunde, die offenbar doch den Brustbe-
reich als Herkunftsregion favorisieren (MISS-
BACH-GÜNTNER et al. 2011, in diesem Band).
Obwohl bereits andere Arbeiten über die
Untersuchungsergebnisse der Hautreste
des „Mädchens aus dem Bareler Moor“
vorgelegt wurden (MISSBACH-GÜNTNER et al.
2011, in diesem Band; ZUSTIN et al. 2011,
in diesem Band), waren die Autoren der
Meinung, dass es sich bei diesem Moorlei-
chenrest um einen besonderen Fund han-
delt, da Form, äußere und innere Oberflä-
chengestaltung sowie der als sehr gut zu
beschreibende Erhaltungszustand eine wei-
tere licht-, aber auch rasterelektronenmikro-
skopische Bearbeitung rechtfertigten. Diese
Überlegung wurde gestärkt durch die inte-
ressanten Ergebnisse der Volumen-Com-
putertomographie (MISSBACH-GÜNTNER et al.
2011, in diesem Band), denen auf dem Ge-
biet der mikroskopischen Strukturanalyse
nachgegangen werden sollte.
Material und Methoden
Vor Beginn der Untersuchung wurden bei-
de erhaltenen, anatomisch zusammen-
passenden Hautstücke (Abb. 1) – ein rela-
tiv großes (ca. 25 x 20 cm) und ein kleines
Stück (ca. 6,5 x 8,5 cm) der Rumpfwand
(vgl. MISSBACH-GÜNTNER et al. 2011, in die-
sem Band; ZUSTIN et al. 2011, in diesem
Band) – mit einem Industrieröntgengerät,
dem Vollschutzröntgengerät Faxitron (Hew-
Einleitung
Häufig ist die Haut das einzige Organ einer
Moorleiche, das bei äußerer Betrachtung
scheinbar am besten die Liegezeit überdau-
ert hat. Tatsächlich aber hat sich an Moor-
leichenfunden die äußere Hautschicht, die
Epidermis, so gut wie nie erhalten und auch
die Unterhaut (Subcutis) wurde bisher nicht
zuverlässig nachgewiesen (vgl. SCHÖN et al.
2011a, in diesem Band; ZUSTIN et al. 2011,
in diesem Band). Lediglich die Lederhaut
(Dermis) erhält sich im sauren Moorboden
in der Regel recht gut. Über den mikrosko-
pischen Aufbau der Moorleichenhaut, das
heißt der Dermis, sind – gerade in der letzten
Zeit – mehrere Beiträge erschienen, welche
die Aussagemöglichkeiten und die Grenzen
einer solchen mikroskopischen Hautunter-
suchung beleuchten (z. B. BECHARA 2001;
SCHÖN et al. 2011a, in diesem Band; SCHÖN
et. al. 2011b; SCHULTZ et al. 2011a, in die-
sem Band; SCHULTZ et al. 2011b; ZUSTIN et al.
2011, in diesem Band).
Die Moorleiche des „Mädchens aus dem Ba-
reler Moor“ ist der älteste bisher als Moorlei-
che bekanntgewordene Fund Norddeutsch-
lands (BOTH und FANSA 2011). Schon im Jah-
re 1784 wurde im Landkreis Oldenburg die-
se noch in großen Teilen nahezu vollständige
Moorleiche nördlich von Wildeshausen und
südlich von Delmenhorst im Bareler Moor
entdeckt (BOTH und FANSA 2011). Nach wech-
selvoller Geschichte sind die heute noch zur
Untersuchung vorliegenden Hautstücke, die
im Landesmuseum Natur und Mensch Ol-
denburg aufbewahrt werden, die letzten be-
kannten Reste dieser Moorleiche.
Beide erhaltenen Hautstücke, die an ihrem
Bruchrand gut aneinander passen, wurden
bisher meist der Haut der rechten Brustregi-
on zugeordnet. Da – im Gegensatz zum Zeit-
– 174 |
Abb. 1: Hautpräparate des „Mädchens aus dem Bareler Moor“: a) Außenansicht, b) Innenansicht.
a
b
| 175 –
lett & Packard), einem Gerät mit hochauf-
lösendem Focus, geröntgt, um eine Über-
sicht über die morphologische Qualität des
Fundes und seine Konsistenz zu erhalten.
Dabei fanden folienlose Filme (AGFA Struc-
turix D7) Verwendung.
Für die Probenentnahme zur Herstellung der
Schnittpräparate für die konventionelle Ge-
webeuntersuchung wurde von Seiten der
Museumspräparation Oldenburg leider nur
ein sehr kleines und schmales Hautstück
von einer Ecke des größeren Stückes ge-
nehmigt. Die Probe wurde nach der histo-
logischen Standardmethode entwässert,
in Paraffin eingebettet und mit histoche-
mischen und immunhistologischen Tech-
niken angefärbt (s. SCHÖN et al. 2011a, in
diesem Band).
Die Einbettung einer etwas größeren, eben-
falls dem großen Hautstück entnommenen
Probe sowie die Herstellung von Gewebs-
dünnschliffen erfolgte nach dem von Schultz
und Brandt entwickelten Verfahren (SCHULTZ
1988; SCHULTZ und DROMMER 1983). Wie üb-
lich wurden Gewebsdünnschliffe in den
Stärken von 50µm und 70µm angefertigt, die
im einfachen und polarisierten Durchlicht,
teilweise unter Verwendung eines Hilfsob-
jekts Rot 1. Ordnung (Quarz) als Kompen-
sator, untersucht wurden. Alle Proben wur-
den nicht gefärbt.
Die rasterelektronenmikroskopische Unter-
suchung einer dritten Probe, die von der
zweiten abgetrennt wurde, erfolgte nach der
Bedampfung mit Gold-Palladium mit dem
Rasterelektronenmikroskop DSM-960 der
Firma ZEISS.
Kurze makroskopische Beschreibung
des Fundes
In Ergänzung zu dem ausführlichen Bericht
von Frank Both und Mamoun Fansa, der den
aktuellen Stand der Forschung an der Haut
des „Mädchens aus dem Bareler Moor“ re-
präsentiert und auf den neuesten Ergebnis-
sen vor allem der Hamburger Arbeitsgrup-
pe um den Rechtsmediziner Klaus Püschel
basiert (BOTH und FANSA 2011), sollen hier
nur noch einige Ergänzungen nachgetragen
werden, soweit sie für das Verständnis und
die Interpretation der mikroskopischen Be-
funde von Belang sind.
Risse und Nähte
Das relativ brüchige Hautstück besteht
heute aus zwei Teilen: einem großen und
Abb. 2: Zwei Detailansichten der Hautaußenfläche mit „narbiger“ Oberflächengestaltung, die offenbar
die Papillenstruktur des Stratum papillare repräsentiert.
– 176 |
einem kleinen Stück, die an einigen Stellen
der Bruchflächen noch relativ gut zusam-
menpassen (Abb. 1). Die Brüchigkeit muss
schon vor geraumer Weile vorgelegen ha-
ben, da drei ehemals vorhandene Risse mit
einem mehrfach zusammengedrehten, gro-
ben, bindfadenähnlichen Faden (Hanf?) in
nicht gerade professioneller Weise vernäht
wurden (Abb. 1; vgl. MISSBACH-GÜNTNER et al.
2011, in diesem Band: Abb. 2). Keiner die-
ser alten Risse hat das ehemals einheitliche
Hautstück vollständig durchtrennt. Zusätz-
lich sind noch wenigstens sechs weitere
Risse neueren Datums zu erkennen, von
denen einer bereits in provisorischer Weise
mit einem unbekannten Klebstoff repariert (!)
wurde, während ein anderer Riss für die
bereits erwähnte Trennung der Haut in zwei
Stücke verantwortlich war.
Oberflächenveränderungen
Interessant für die Einordnung und Be-
wertung des mikroskopischen Erhaltungs-
zustandes ist die bereits von Jozef Zustin
und Mitarbeitern beschriebene äußere und
innere Oberflächengestaltung (ZUSTIN et al.
2011, in diesem Band) sowie die von Wolf-
gang Bonte in seinem Gutachten (zit. n. BOTH
und FANSA 2011) erwähnte „Narbung“ der
äußeren Oberfläche (Abb. 2 und Abb. 4b;
vgl. MISSBACH-GÜNTNER et al. 2011, in diesem
Band: Abb. 1), die offenbar unter anderem
Abb. 3: Spuren von nach der Ausgrabung erfolgten Beschädigungen auf der Hautinnenfläche: a) am
oberen Rand des großen Hautstückes (vgl. Abb. 1b), b) etwa in der Mitte des großen Hautstückes (vgl.
Abb. 1b).
Abb. 4: Röntgenaufnahme der Hautpräparate: a) Übersicht, b) Detail im Bereich der vermuteten früheren
Brustdrüse.
ba
ba
| 177 –
auch auf die Papillenbildung des Stratum
papillare zurückgeführt werden kann. Ergän-
zend ist zu vermerken, dass die Unterseite
unregelmäßig strukturiert ist, kleinere Abfet-
zungen erkennen lässt und zwei größere De-
fekte aufweist (Abb. 3), die als Spuren einer
nach der Ausgrabung erfolgten Beschädi-
gung anzusehen sind. Besonders das große
Hautstück weist in seiner äußeren Oberflä-
chengestaltung – abgesehen von den be-
reits erwähnten Papillenbildungen – ein be-
wegtes Außenrelief auf, das sich in Form
halbrund verlaufender, weitgehend parallel
angeordneter Falten (Abb. 1a und Abb. 4a)
darstellt und dem Hautstück ein geradezu
dreidimensionales Aussehen verleiht. Diese
Oberflächengestaltung ist auch im Röntgen-
bild (Abb. 4) sowie – und hier noch sehr viel
besser – in der dreidimensionalen Rekon-
struktion über den Volumen-Computerto-
mographen zu erkennen (MISSBACH-GÜNTNER
et al. 2011, in diesem Band: Abb. 5).
Nachweis einer Beschriftung
Die von Jeannine Mißbach-Güntner und Mit-
arbeitern mit dem Volumen-Computertomo-
graphen auf der Hautinnenfläche nachge-
wiesene Beschriftung (MISSBACH-GÜNTNER et
al. 2011, in diesem Band: Abb. 6), die auf
den ersten Blick an eine „Tätowierung“ er-
innert, ließ sich auch im analog angefertigten
Röntgenfoto nachweisen (Abb. 4a). Der un-
vollständige, da wohl teilweise abgeplatzte
Schriftzug wurde offenbar mit einer weißen,
röntgenstrahlendichten Farbe von pastöser
Qualität im Rahmen einer konservatorisch-
archivarischen Maßnahme auf die Hautin-
nenfläche aufgebracht (Abb. 5).*
Ergebnis der Röntgenuntersuchung
Die mit dem Faxitron analog durchge-
führte röntgenfotografische Darstellung
der Hautstücke entsprach in etwa der Qua-
Abb. 5: Reste einer Beschriftung im rechten Drit-
tel auf der Hautinnenfläche (vgl. Abb. 1b).
Abb. 6: Mikrotomschnitte durch einen Randbereich der Haut: schlechter Erhaltungszustand der Kolla-
genstruktur: a) Elastika-Färbung, Vergr. 10x; b) H.E.-Färbung, Vergr. 10x.
ba
– 178 |
lität der Bildrekonstruktion des mit dem
Volumen-Computer-Tomographen erstell-
ten Röntgenbildes (MISSBACH-GÜNTNER et al.
2011, in diesem Band), wies aber doch zum
Teil noch feinere Details auf (Abb. 4). Weitere
Aussagen waren auch an den mit dem Fa-
xitron erstellten Röntgenfotos – abgesehen
von den bereits oben beschriebenen Befun-
den – nicht möglich.
Ergebnisse zum mikromorpholo-
gischen Strukturerhalt der Haut
Im Großen und Ganzen entspricht der über
die Lichtmikroskopie erschlossene Struk-
turerhalt der Haut des „Mädchens aus dem
Bareler Moor“ den bereits an anderen Moor-
leichen (z. B. „Junge von Kayhausen“) beob-
achteten Verhältnissen (SCHÖN et al. 2011a,
in diesem Band; SCHULTZ et al. 2011a, in die-
sem Band; SCHULTZ et al. 2011b; ZUSTIN et
al. 2011, in diesem Band) und soll deshalb
hier nicht noch einmal in Einzelheiten wie-
derholt werden. Spuren der Diagenese, das
heißt der durch Mikroorganismen (z. B. Pilze,
Algen, Bakterien) und durch andere Boden-
einwirkungen (z. B. Pflanzenwurzeln, Bo-
dendruck) während der Lagerung im Moor-
boden erfolgten Zersetzung des Gewebes,
waren nur an wenigen Stellen nachweisbar
(makroskopisch: Abb. 3; lichtmikroskopisch:
Abb. 7).
Abb. 7: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Übersicht: Hautaufbau und Stellen des Substanzver-
lustes (Pfeile). Vergr. 16x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten
Durchlicht; c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz); d)
Betrachtung mit dem Mikroskop im einfachen Durchlicht. Vergr. 25x.
ba
dc
| 179 –
Schnittmikroskopie
Die nach der konventionellen Gewebeun-
tersuchung mit dem Mikrotom hergestellten
Schnittpräparate zeigten – wider Erwarten –
keine gute Qualität des Erhaltungszustandes
(Abb. 6), obwohl die Haut makroskopisch ei-
nen hervorragenden Erhaltungszustand auf-
zuweisen schien (Abb. 1). Es ließen sich le-
diglich Reste kollagener Faserbündel erken-
nen. Dies ist sicherlich nicht auf den Erhalt
der gesamten Haut zu übertragen, da die
Dünnschliffe einen sehr guten Strukturer-
halt aufweisen, sondern auf den konserva-
torischen Umstand, dass die Probe aus dem
äußersten Randbereich des Hautstückes
entnommen werden sollte, um – wie zuvor
schon ausgeführt – möglichst wenig Mate-
rial des wertvollen Fundes zu vergeuden. Es
ist leicht nachvollziehbar, dass der Außen-
bereich eines solchen Hautstückes in der
Regel immer durch die verschiedensten
Noxen physikalisch-biochemischer Art ge-
schädigt ist (z. B. mechanisch Abreibung und
Aufspleißung der Schichten, Feuchtigkeit,
von außen erfolgte Besiedlung des Rand-
bereichs des Hautstückes durch Mikroorga-
nismen und Pflanzenwurzeln). Die hier verar-
beitete Probe führte also leider – wie erwartet
– zu keinem auswertbaren Ergebnis.
Dünnschliffmikroskopie
Sehr gute Ergebnisse hat hingegen die
Dünnschliffuntersuchung ergeben. Der
Schliff aus der Rumpfhaut zeigt eine – mit
Ausnahme der weiter unten erwähnten De-
fekte im Innenbereich der Haut – überwie-
Abb. 8: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Innerer Hautbereich mit Stellen einer erheblichen Verdi-
ckung der sehr dünnen Innenschicht (Stern). Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen
Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht; c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts
Rot 1. Ordnung (Quarz).
aa
cb
– 180 |
gend gut erhaltene Struktur. Wie bereits
bei anderen Moorleichen beobachtet (z. B.
SCHÖN et al. 2011a, in diesem Band; SCHÖN
et al. 2011b; SCHULTZ et al. 2011a, in die-
sem Band; SCHULTZ et al. 2011b; ZUSTIN et
al. 2011, in diesem Band), fehlt die äußere
Hautschicht, die Epidermis, so dass nur die
Dermis untersucht werden konnte. Schon
bei der Betrachtung des Dünnschliffes in der
Übersichtsvergrößerung (16x) ist eine rela-
tiv dünne, aber sehr dichte Außenschicht zu
erkennen (Abb. 7), der eine nach innen zu
relativ dicke, das heißt im Schliffbild breite
Zone eng gepackter kollagener Faserbündel
folgt (Abb. 7). In der mittleren Vergrößerung
(100x) stellen sich die kollagenen Faserzüge
dieser mittleren, sehr dichten Schicht, die
den Hauptanteil des gesamten Präparates
einnimmt und keine Differenzierung in ein
Stratum papillare bzw. in ein Stratum reti-
culare erlaubt, sehr gut dar (Abb. 8). Diese
mittlere Schicht weist allerdings im Schliff-
bild – wie oben schon erwähnt – an einigen
Stellen einen ganz erheblichen Substanz-
verlust auf, der sich in etwa von der Mitte
des Hautlängsschliffs bis an die innere Be-
grenzung des Präparates ausdehnt und ei-
nen fleckartigen Charakter besitzt (Abb. 7:
Pfeile). Diesen umschriebenen Zonen eines
Substanzverlustes dürften die von Jean-
nine Mißbach-Güntner und Mitarbeitern im
Volumen-Computertomogramm beschrie-
benen luftgefüllten Strukturen entsprechen
(MISSBACH-GÜNTNER et al. 2011, in diesem
Band: Abb. 3). Als Ursache sind Dekompo-
sitionsprozesse (Verwesung) anzunehmen.
Abb. 9: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Innerer Hautbereich mit Stellen einer erheblichen Ver-
dickung (Stern) der sonst sehr dünnen Innenschicht. Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im
einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht; c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines
Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
aa
cb
| 181 –
Schweißdrüsen oder deren Ausführungs-
gänge, Talgdrüsen und Haarfollikel wurden
– wie auch schon bei andern Moorleichen-
untersuchungen (z. B. SCHÖN et al. 2011a, in
diesem Band; SCHÖN et al. 2011b; SCHULTZ
et al. 2011a, in diesem Band; SCHULTZ et al.
2011b; ZUSTIN et al. 2011, in diesem Band) –
nicht beobachtet.
Eine in großen Abschnitten sehr dünne In-
nenschicht (Abb. 8), die an einigen Stellen
eine erhebliche Verdickung aufweist (Abb.
9 bis Abb. 11), beschließt die Dreigliede-
rung der Brusthaut dieser Moorleiche. Die-
se innere Schicht ist bei den Hautpräparaten
anderer Moorleichen nicht zu beobachten
(SCHÖN et al. 2011a, in diesem Band; SCHÖN
et al. 2011b; SCHULTZ et al. 2011a, in die-
sem Band; SCHULTZ et al. 2011b; ZUSTIN et al.
2011, in diesem Band). Deshalb ist zu disku-
tieren, ob diese Schicht möglicherweise der
von Jeannine Mißbach-Güntner und Mitar-
beitern beschriebenen Struktur entspricht,
die möglicherweise als Rest der Brustdrüse
oder zumindest deren bindegewebigen Trä-
gerschicht anzusehen ist (MISSBACH-GÜNTNER
et al. 2011, in diesem Band).
Ein wünschenswerter Abgleich der Ergeb-
nisse der Dünnschliffuntersuchung mit den
Ergebnissen der konventionellen histolo-
gischen Gewebeuntersuchung (Mikrotom-
schnitte) konnte aufgrund der misslichen
Probenentnahme für letzteren Untersu-
chungsschritt leider nicht durchgeführt wer-
den, hätte aber möglicherweise etwas zur
Abb. 10: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Innerer Hautbereich mit Stellen einer erheblichen
Verdickung (Stern) der sonst sehr dünnen Innenschicht; hier: mit deutlichem Trennspalt. Vergr. 100x. Be-
trachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht; c) im polarisierten
Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
aa
cb
– 182 |
Klarheit über die Herkunft bzw. die Zuord-
nung dieser inneren Schicht beitragen kön-
nen.
Rasterelektronenmikroskopie
Im Rasterelektronenmikroskop ist zu erken-
nen, dass – im Gegensatz zum lichtmikro-
skopischen Befund – die äußere Hautober-
fläche an einigen Stellen doch relativ stark
mit den Resten kleiner Lebewesen bzw. de-
ren Hinterlassenschaften (z. B. Bakterien,
Pollen, Pilzsporen) bedeckt ist (Abb. 12).
Diese Faktoren der Dekomposition und der
Diagenese haben sicherlich auch die rela-
tiv ausgeprägte und oben schon beschrie-
bene Brüchigkeit bedingt (Abb. 13) sowie
die bereits bei der Besprechung der lichtmi-
kroskopischen Ergebnisse erwähnten um-
schriebenen Zonen eines Substanzverlustes
verursacht (Abb. 7).
Abb. 11: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 50µm). Innerer Hautbereich mit Stellen einer erheblichen
Verdickung (Stern) der sonst sehr dünnen Innenschicht; hier: Verdickung eng anliegend. Vergr. 100x. Be-
trachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht; c) im polarisierten
Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).
Abb. 12: Rasterelektronenmikroskopisches Prä-
parat. Außenfläche der Haut mit aufliegenden
pflanzlichen Resten (z. B. Pilzsporen, Bakterien).
Vergr. 1.000x.
aa
cb
| 183 –
Weiterhin liefert die rasterelektronenmi-
kroskopische Untersuchung einen überra-
schenden Befund, der bisher offenbar noch
bei keiner Moorleiche beobachtet wer-
den konnte. Die Außenfläche der Haut des
„Mädchens aus dem Bareler Moor“ zeigt an
vielen Stellen die papillenförmige Oberflä-
chengestaltung (Abb. 14), die auch schon
in der lupenmikroskopischen Untersuchung
auffiel (Abb. 2) und dieser oberen Schicht
der Dermis ihren Namen gegeben hat (Stra-
tum papillare). Diese Papillenstruktur ist
letztlich auch für eine enge Verzahnung des
Stratum papillare mit der darüber liegenden
Hautschicht, der Epidermis, verantwortlich.
Zwischen den Papillen des Stratum papillare
finden sich kleine runde Löcher (Abb. 14b),
die auch schon in der schwachen Vergrö-
ßerung (Vergr. 25x) sichtbar sind und durch
die offenbar zu Lebzeiten Haare der Körper-
behaarung oder eventuell auch Blutgefäße
hindurchtraten (Abb. 15). Eine postmortal
im Zuge der Dekomposition erfolgte Ent-
stehung diese Löcher kann sicher ausge-
schlossen werden.
An einer Stelle auf der Außenfläche der Haut
konnte auch ein menschliches Haar nach-
gewiesen werden (Abb. 16), das offenbar
aus einer Hautfalte austritt und regelrecht –
wohl infolge des Dekompositionsprozesses
– mit seiner Unterfläche in die äußere Haut-
oberfläche eingesintert ist (Abb. 16b). Dieser
Umstand ist sicherlich auch dafür verant-
wortlich, dass sich das Haar an dieser Stel-
Abb. 13: Rasterelektronenmikroskopisches Prä-
parat. Randbruchfläche der Haut mit deutlicher
Stratigraphie der kollagenen Strukturen und kleine-
ren Substanzverlusten. Vergr. 60x.
Abb. 14: Rasterelektronenmikroskopische Präpa-
rate. Äußere Hautoberfläche mit papillärer Struktur
(Oberfläche des Stratum papillare): a) Übersicht.
Vergr. 10x; b) Papillen und kleine Kanaldurchtritte
(Pfeile). Vergr. 25x.
a
b
b
– 184 |
le erhalten hat. Der morphologische Erhal-
tungszustand ist als ausgezeichnet zu be-
schreiben (Abb. 16c), da alle Einzelheiten
der Haaroberfläche (z. B. Schuppen) sehr
gut zu beurteilen sind.
Zusammenfassung
Es wurden drei ausgewählte Hautproben der
Moorleiche des „Mädchens vom Bareler
Moor“ licht- und rasterelektronenmikrosko-
pisch analysiert, um den mikromorpholo-
gischen Aufbau der Gewebe zu überprüfen
und Hinweise auf den Zustand der unter-
suchten Gewebe zu erhalten.
Es haben sich nur die Abschnitte der Leder-
haut erhalten. Eine Gliederung in ein Stratum
papillare und ein Stratum reticulare konn-
te nicht durchgeführt werden. Fleckartige
Substanzverluste, die überwiegend in der
inneren Hälfte der Dermis gefunden wur-
den, gehen offenbar auf Dekompositions-
prozesse zurück, ohne dass deren typische
Verursacher wie Pflanzenwurzelreste, Pilze,
Algen oder Bakterien lichtmikroskopisch
nachgewiesen werden konnten. Allerdings
ließen sich in der rasterelektronenmikrosko-
pischen Betrachtung auf der äußeren Haut-
oberfläche Reste von Bakterien und Pilzen
(z. B. Hyphenreste und Sporen) sowie Pollen
beobachten, die möglicherweise aber erst
bei bzw. nach der Bergung auf die Haut ge-
langten bzw. sich dort entwickelten.
Abb. 15: Rasterelektronenmikroskopisches Prä-
parat. Äußere Oberfläche des Stratum papillare: Ka-
nallumen für Haardurchtritt oder Gefäß. Vergr. 80x.
Abb. 16: Rasterelektronenmikroskopisches Prä-
parat. In die äußere Hautoberfläche eingesintertes
Haar: Haarschaft mit Schuppen in sehr gutem Er-
haltungszustand: a) Haaraustritt. Vergr. 500x; b)
Haarschaftoberfläche. Vergr. 500x; c) Haarschaft-
oberfläche. Vergr. 1.000x.
a
b
c
| 185 –
Erstmals konnten mit dem Rasterelektro-
nenmikroskop an dem Hautpräparat einer
Moorleiche die Papillenstruktur des Stratum
papillare und mögliche Haardurchtrittsöff-
nungen bzw. mögliche Gefäßkanäle nach-
gewiesen werden. An einer Stelle der raster-
elektronenmikroskopischen Probe konnte
ein Haar begutachtet werden, das hervor-
ragend erhalten ist.
Die licht- und rasterelektronenmikrosko-
pische Untersuchung der Haut des „Mäd-
chens aus dem Bareler Moor“ belegt somit
einen außerordentlich guten Erhaltungszu-
stand.
Danksagung
Die Autoren danken Herrn Michael Brandt
und Frau Ingrid Hettwer-Steeger, beide
Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin
Göttingen, für die Anfertigung der Knochen-
dünnschliffe bzw. der rasterelektronenmi-
kroskopischen Präparate.
Anmerkung
* Bei der Beschriftung handelt es sich um die In-
ventarnummer des Landesmuseums Natur und
Mensch Oldenburg, Nr. 1687.
Literatur
BECHARA, F. G. 2001: Histologische, elektronenmi-
kroskopische, immunhistologische und IR-spek-
troskopische Untersuchungen an der Haut 2000
Jahre alter Moorleichen. Diss. med., Universität
Bochum.
BOTH, F., FANSA, M. 2011: Faszination Moorleichen
– 220 Jahre Moorleichenarchäologie. Landes-
museum Natur und Mensch Oldenburg, Heft
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MISSBACH-GÜNTNER, J., DULLIN, C., SCHIRMER, J., ALVES,
F., SCHULTZ, M. 2011: Analyse des Hautfragments
der Moorleiche „Bareler Moor“ mittels hochauflö-
sender Computertomographie. In diesem Band.
SCHÖN, M. P., BENNEMANN, A., EMMERT, S., SCHULTZ,
M. 2011a: Histologische Untersuchungen der
Haut der Moorleiche „Junge von Kayhausen“. In
diesem Band.
SCHÖN, M. P., BENNEMANN, A., EMMERT, S., SCHULTZ,
M. 2011b, im Druck: Ergebnisse der histolo-
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che „Moora“. In: „Moora“ – Das Mädchen aus
dem Uchter Moor. Eine Moorleiche der Eisenzeit
aus Niedersachsen II. Materialhefte zur Ur- und
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falen 2011.
SCHULTZ, M. 1988: Methoden der Licht- und Elek-
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thoden der Anthropologie. Stuttgart/New York
1988, pp. 698-730.
SCHULTZ, M., ZUSTIN, J., NOVÁČEK, J., JOPP, E., PÜ-
SCHEL, K., KLINGNER, S., OPLESCH, E. 2011a: Licht-
und rasterelektronenmikroskopische Untersu-
chungen an Gewebsproben der Moorleiche von
Kayhausen. In diesem Band.
SCHULTZ, M., JULIA GRESKY, J., NOVÁČEK, J. 2011b im
Druck: Ergebnisse der licht- und rasterelektronen-
mikroskopischen Untersuchungen an Gewebs-
proben der Moorleiche „Moora“. In: „Moora“ – Das
Mädchen aus dem Uchter Moor. Eine Moorleiche
der Eisenzeit aus Niedersachsen II. Materialhefte
zur Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens, Rah-
den/Westfalen 2011.
SCHULTZ, M., DROMMER, R. 1983: Möglichkeiten der
Präparateherstellung aus dem Gesichtsschädel-
bereich für die makroskopische und mikrosko-
pische Untersuchung unter Verwendung neuer
Kunststofftechniken. In: Hoppe, W. (Hrsg.), Fort-
schritte der Kiefer- und Gesichts-Chirurgie 28.
Experimentelle Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie.
Mikrochirurgische Eingriffe. Stuttgart / New York
1983, pp. 95-97.
ZUSTIN, J., MOLL, I., MISSBACH-GÜNTNER, J., SCHULTZ,
M., PÜSCHEL, K., JOPP, E. 2011: Untersuchung der
sog. „Brusthaut“ der Moorleiche „Mädchen aus
dem Bareler Moor“. In diesem Band.
– 186 |
Anschriften der Verfasser
Dipl. Biol. Susan Klingner
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: Susan.Klingner@medizin.uni-goet-
tingen.de
Dipl. Biol. Edith Oplesch
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
E-Mail: edzzo@web.de
Prof. Dr. med. Michael P. Schön
Universitätsmedizin Göttingen
Abteilung Dermatologie, Venerologie und
Allergologie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
E-Mail: michael.schoen@med.uni-goettin-
gen.de
Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz
Universitätsmedizin Göttingen
Zentrum Anatomie
AG Paläopathologie
Kreuzbergring 36
37075 Göttingen
und
Universität Hildesheim
Institut für Biologie und Chemie
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
E-Mail: mschult1@gwdg.de
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