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Grisebach — Herbst 2019 Franziska Schmidt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ – Porträts als „Antlitz der Zeit“ 1 Alfred Döblin schrieb 1929 in seinem Vorwort zu August San- ders erster und bis heute legendärer Publikation „Antlitz der Zeit“: „Die Gesellschaft ist in der Umwälzung, die Großstädte sind riesig angewachsen, einzelne Originale sind noch vorhan- den, aber schon bereiten sich neue Typen vor. So sieht also der junge Kaufmann von heute aus, dies ist der Gymnasiast von heute, wer hätte das vor zwanzig Jahren für möglich gehalten, so haben sich die Altersmerkmale vermischt, so ist die Jugend auf dem Marsch“ 2 . Bei so manchen konnte damals das Gefühl entstehen, „in einem halben Jahrhundert ungeheure Wandlun- gen erlebt zu haben“ 3 . Das im renommierten Kurt Wolff Verlag erschienene Buch eröffnete ästhetisch und konzeptuell völlig neue Maßstäbe, indem es einen ersten Einblick in Sanders epo- chalen Porträtzyklus „Menschen des 20. Jahrhunderts“ bot. Sanders „Gesellschaftskunde in Photographien“ verschob den Schwerpunkt „vom Land, vom Bauern, in die Stadt, zum Fabrik- proletarier. Die proletarische Mutter, der Kohlenträger. Diese Verschiebung bedeutet auch eine politische Wandlung. Mächte von gestern schwinden, neue verlangen ans Licht. [...] Eine neue Welt will sich bilden. Werkstudenten, Menschen einer neuen Zeit“ 4 . An seinem Monumentalwerk sollte Sander fast ein halbes Jahrhundert von 1911 bis zu seinem Tod 1964 arbeiten und die- ses während seines gesamten Schaffens immer weiter entwi- ckeln. Eine Kulturgeschichte, besser gesagt „Soziologie ohne Text“ nannte Döblin Sanders photographisches Sozialporträt, welches zu den großen Vermächtnissen der Weimarer Epoche zählt. Im Umfang und in der Bedeutung gilt es bis heute inner- halb der Photographiegeschichte als einzigartig. „Durch Sehen, Beobachten und Denken und mit Hilfe des photographischen Apparates [...] können wir Weltgeschichte bannen [...]“ – hat Sander selbst einst seine große Aufgabe formuliert. Zu einem einzigen „Zeitbild“ mögen sich zahlreiche repräsentative Einzelporträts der unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammensetzen, nach jeweils beruflichen, familiären und sozialen Gesichtspunk- ten sortiert. Man „beginne hierbei mit dem Bauer und ende bei den Vertretern der Geistesaristokratie“, so hatte Sander erklärt. Das Urkonzept von 1925-1927 sah ausgehend von einer Stammmappe die Einteilung seiner Photographien „in sieben Gruppen, nach Ständen geordnet und umfassend 45 Mappen mit je 12 Lichtbil- dern“ vor, insgesamt etwa 500-600 Photos, kategorisiert nach: „Der Bauer“, „Der Handwerker“, „Die Frau“, „Die Stände“, „Die Künstler“, „Die Großstadt“ und „Die letzten Menschen“, die Alter, Krankheit und Tod umfassen. Sanders Aufnahmen bedeuten Verdichtung, Konzentration, Unmittelbar- und Sachlichkeit. „Man sieht die Arbeiterfamilien, Generationen, Bauernköpfe mit prachtvoll markanten Zügen, die moderne Frau in den verschiedensten Ausgaben vom Bürgermädchen bis zur selbstbewussten Dame; den Großstadtjüngling, ver- lebt, feminin. Hervorragende Kölner Köpfe, Dichter, Musiker, Gelehrte und endlich Bilder der Straße, Typen der Großstadt: Bettler, Hofmusikanten und Menschenan- sammlungen. Beim Beschauen aller dieser individuell erfaßten Menschen wachsen Gymnasiast Bild rechte Seite: Konditor

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Page 1: „Menschen des 20. Jahrhunderts“ – Porträts als „Ant litz der …...Franziska Schmidt„Menschen des 20. Jahrhunderts“ – Porträts als „Ant litz der Zeit“. 1. Alfred

Grisebach — Herbst 2019

Franziska Schmidt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ – Porträts als „Antlitz der Zeit“1

Alfred Döblin schrieb 1929 in seinem Vorwort zu August San-ders erster und bis heute legendärer Publikation „Antlitz der Zeit“: „Die Gesellschaft ist in der Umwälzung, die Großstädte sind riesig angewachsen, einzelne Originale sind noch vorhan-den, aber schon bereiten sich neue Typen vor. So sieht also der junge Kaufmann von heute aus, dies ist der Gymnasiast von heute, wer hätte das vor zwanzig Jahren für möglich gehalten, so haben sich die Altersmerkmale vermischt, so ist die Jugend auf dem Marsch“2. Bei so manchen konnte damals das Gefühl entstehen, „in einem halben Jahrhundert ungeheure Wandlun-gen erlebt zu haben“3. Das im renommierten Kurt Wolff Verlag erschienene Buch eröffnete ästhetisch und konzeptuell völlig neue Maßstäbe, indem es einen ersten Einblick in Sanders epo-chalen Porträtzyklus „Menschen des 20. Jahrhunderts“ bot. Sanders „Gesellschaftskunde in Photographien“ verschob den Schwerpunkt „vom Land, vom Bauern, in die Stadt, zum Fabrik-proletarier. Die proletarische Mutter, der Kohlenträger. Diese Verschiebung bedeutet auch eine politische Wandlung. Mächte von gestern schwinden, neue verlangen ans Licht. [...] Eine neue Welt will sich bilden. Werkstudenten, Menschen einer neuen Zeit“4.

An seinem Monumentalwerk sollte Sander fast ein halbes Jahrhundert von 1911 bis zu seinem Tod 1964 arbeiten und die-ses während seines gesamten Schaffens immer weiter entwi-ckeln. Eine Kulturgeschichte, besser gesagt „Soziologie ohne Text“ nannte Döblin Sanders photographisches Sozialporträt, welches zu den großen Vermächtnissen der Weimarer Epoche zählt. Im Umfang und in der Bedeutung gilt es bis heute inner-halb der Photographiegeschichte als einzigartig.

„Durch Sehen, Beobachten und Denken und mit Hilfe des photographischen Apparates [...] können wir Weltgeschichte bannen [...]“ – hat Sander selbst einst seine große Aufgabe formuliert. Zu einem einzigen „Zeitbild“ mögen sich zahlreiche

repräsentative Einzelporträts der unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammensetzen, nach jeweils beruflichen, familiären und sozialen Gesichtspunk-ten sortiert. Man „beginne hierbei mit dem Bauer und ende bei den Vertretern der Geistesaristokratie“, so hatte Sander erklärt. Das Urkonzept von 1925-1927 sah ausgehend von einer Stammmappe die Einteilung seiner Photographien „in sieben Gruppen, nach Ständen geordnet und umfassend 45 Mappen mit je 12 Lichtbil-dern“ vor, insgesamt etwa 500-600 Photos, kategorisiert nach: „Der Bauer“, „Der Handwerker“, „Die Frau“, „Die Stände“, „Die Künstler“, „Die Großstadt“ und „Die letzten Menschen“, die Alter, Krankheit und Tod umfassen.Sanders Aufnahmen bedeuten Verdichtung, Konzentration, Unmittelbar- und Sachlichkeit. „Man sieht die Arbeiterfamilien, Generationen, Bauernköpfe mit prachtvoll markanten Zügen, die moderne Frau in den verschiedensten Ausgaben vom Bürgermädchen bis zur selbstbewussten Dame; den Großstadtjüngling, ver-lebt, feminin. Hervorragende Kölner Köpfe, Dichter, Musiker, Gelehrte und endlich Bilder der Straße, Typen der Großstadt: Bettler, Hofmusikanten und Menschenan-sammlungen. Beim Beschauen aller dieser individuell erfaßten Menschen wachsen

GymnasiastBild rechte Seite: Konditor

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diese [...] zu einem Ganzen zusammen, zu den Menschentypen des 20. Jahrhunderts und zu dem Gesicht unserer Zeit“. So rezensierte 1927 die Rheinische Tageszeitung eine erste Ausstellung Sanders im Kölnischen Kunstverein mit rund 100 Porträt-photographien5. Von einer „Bestandsaufnahme des Kollektivs“ schrieb bei einer anderen Gelegenheit Walther Benjamin, und weiter: „Hat die Photographie sich aus Zusammenhängen herausbegeben, wie sie ein Sander, eine Germaine Krull, ein Blossfeldt geben, vom physiognomischen, politischen, wissenschaftlichen Interes-

se sich emanzipiert, so wird sie ‚schöpferisch’“6. Kurt Tuchols-ky empfahl 1930 in einer Besprechung seinem Freund George Grosz das Buch „Antlitz der Zeit“, um hinzuzufügen: „Sander hat keine Menschen, sondern Typen photographiert. Men-schen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste reprä-sentieren, daß das Individuum für die Gruppe genommen wer-den darf [...] Fast auf allen Bildern erscheint der Typus; so sehr haben Stand, Beruf, Wohnort, Klasse und Kaste den Menschen imprägniert und durchtränkt“7.Viele Einzelaufnahmen sind inzwischen zu Inkunabeln der Pho-tographie geworden. Das berühmteste Bild zeigt drei „Jung-bauern“, die eigentlich Bergmänner waren, lässig und drauf-gängerisch. Diese Momentaufnahme aus dem Vorkrieg, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstanden, wird im Nachhinein zum ikonischen „Porträt von drei Angehöri-gen der sogenannten ‚Frontgeneration’“8. Symbolfiguren in Sanders Œuvre gibt es viele, wie der hier prominent herausge-stellte eindrucksvolle „Konditor“ sowie der selbstbewusst auf-tretende „Handlanger“ und die beiden eher untypisch wirken-den „Boxer“. Seine Arbeit hat Sander letztendlich in zahlreiche Kreise geführt und ihn unter anderem mit der „Gruppe pro-gressiver Künstler“ in Kontakt gebracht. Sander holte die ver-schiedenen Protagonisten vor seine Kamera wie die Maler Gottfried Brockmann, Willi Bongard oder Anton Räderscheidt, ebenso den Architekten Hans Poelzig, die Bildhauerin Ingeborg von Rath, den Tenor Leonardo Aramesco, weiter den jungen Musiker Paul Hindemith, ein Anhänger der freien Tonalität, den Düsseldorfer Surrealisten Jankel Adler, aber auch den jungen Kommunisten Paul Fröhlich oder den Berliner Mediziner Schley-er und viele andere mehr. Sander begegnete Heilkundigen, Großindustriellen, Arbeitern und Seelsorgern, Zirkusartisten, Bauern und Hausfrauen, Studenten und Arbeitslosen. Seine „Photo graphie der Maske“ wie Roland Barthes die Arbeiten Sanders beschrieb, war „hinreichend kritisch, um zu beunruhi-gen“. Im November 1936 wurde das Buch „Antlitz der Zeit“ von den National sozialisten zensiert9.

„Ein Mann kam mit Kamera und Stativ...“ – so betitelte 1965 die Siegener Zeitung eine Besprechung von Sanders Ausstellung „Antlitz der Zeit“ im Herdorfer Feuer-wehrsaal beim Rathaus, seinem einstigen Geburtsort. Auf einer Ausstellungsan-sicht sieht man im Hintergrund drei ursprünglich aus dem vorliegenden Konvolut stammende und auf Karton montierte Abzüge hängen10. Bestandteil der heute vor-liegenden Gruppe ist die abgebildete Arbeit „Großindustrieller [Kommerzienrat Arnold von Guillaume]“. Die Bildnisse „Großkaufmann mit Gattin“ sowie „Papier-fabrikantenehepaar“ sind nicht mehr in dem Ausstellungssatz enthalten. Die ursprüngliche Gesamtanzahl der Exponate hat sich nicht überliefert, vermutlich dürfte das Konvolut jedoch etwas mehr als die nun zum Verkauf angebotenen 70 Porträts aus dem Zyklus „Menschen des 20. Jahrhunderts“ umfasst haben. Unzweifelhaft jedoch ist, dass die vorliegende Porträtsammlung mit jener unikaten Ausführung der Herforder Ausstellung von 1965 identisch ist, und dass diese bereits im Herbst 1964 in einer früheren Ausstellung in Siegen zu sehen gewesen sein soll. Es war August Sander, der noch 1963, ein Jahr vor seinem Tod, die Einzel-

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ausstellung selbst konzipierte. Die Idee dazu entstand wohl im Jahre 1961, anläss-lich der Verleihung des Kulturpreises der Deutschen Gesellschaft für Photogra-phie (DGPh) an August Sander. Die Abzüge dafür sollen sämtlich noch zu seinen Lebzeiten und unter seiner Aufsicht mit Hilfe seines Sohnes Gunther entstanden sein. Ein Teil dieser Porträtausstellung hat zudem 1970 zusammen mit weiteren von Gunther Sander neu erstellten Abzügen mit Motiven aus dem Siebengebirge eine Ausstellung im Bahnhof Rolandseck bestückt. Bis heute liegt das Überwältigende von August Sanders Werk in dem „universellen Charakter“ seiner Arbeiten begrün-det, und um mit den Worten von Gunther Sander zu schließen, „mit seinem [San-ders] Werk aber, das unvollendet ist, ist doch ein Werk vollendet worden, das ein-zigartig ist“11.

Wir danken Gerd Sander und dem Archiv der August Sander Stiftung in Köln für Informationen.

1 Titel nach: HOKO, „Ein Mann kam mit Kamera und Stativ... August-Sander-Ausstellung im Feuerwehrsaal – Porträts als ‚Antlitz der Zeit’, in: Siegener Zeitung, 29. Juni 1965.

2 Zit. nach: Wolfgang Brückle, „Kein Portrait mehr? Physiognomik in der deutschen Bildnis-photographie um 1930“, in: Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kultur-geschichte, Claudia Schmölders und Sander Gilmann (Hg.), Köln 2000, S. 131-155, hier S. 136

3 Vgl. „August Sander. Deutschenspiegel. Menschen des 20. Jahrhunderts“, Heinrich Lützeler (Einleitung), Gütersloh 1962, S. 22.

4 Vgl. Fritz R.: „Antlitz der Zeit. Gesellschaftskunde in Photographien“, in: Salzburger Woche, 31. Jg., Nr. 280, 6.12.1929, zit. nach: Susanne Lange, Gabriele Conrath-Scholl, „August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts – Ein Konzept in seiner Entwicklung“, in: August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts. Studienband, Photographische Sammlung/ SK Stiftung, Köln (Hg.), München 2001, S. 12-43, hier S. 18.

5 Susanne Lange, Gabriele Conrath-Scholl, ebd., S. 14.6 Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner

technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1966, S. 45-64, hier S. 62.7 Kurt Tucholsky, 1930, zit. nach: Wolfgang Brückle (wie Anm. 2), S. 139.8 Vgl. Reinhard Pabst, „Den ‚Jungbauern’ des August Sander auf der Spur“, zit. nach: https://

www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/entraetseltes-foto-wunder-august-sanders-jungbau-ern-12895300.html, abgerufen am 23.09.2019.

9 Vgl. Roland Barthes, „Bedeuten“, in: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frank-furt am Main 1985, S. 44-48, hier S. 44.

10 HOKO (wie Anm. 1).11 HOKO (wie Anm. 1).

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