a - walter biemel - die entscheidenden phasen der entfaltung von husserls philosophie
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Die entscheidenden Phasen der Entfaltung von Husserls Philosophie Author(s): Walter Biemel Source: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 13, H. 2, Erweitertes Heft zum 100.
Geburtstag von Edmund Husserl (Apr. - Jun., 1959), pp. 187-213Published by: Vittorio Klostermann GmbHStable URL: http://www.jstor.org/stable/20481048Accessed: 12-03-2015 16:35 UTC
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN DER ENTFALTUNG
VON HUSSERLS PHILOSOPHIE1)
Von Walter B i e m Ke IKoln
Versuchen wollen, die entscheidenden Phasen des Philosophierens
Husserls aufzuzeigen, ist ein anmaBendes Unterfangen. Es setzt nam
lich voraus, daB wir wissen, woraufhin letzten Endes Husserls Denken
hinauswollte. Es setzt voraus, daB wir Husserls Denkweg nicht nur
nachzuvollziehen im Stande sind, sondern daB wir gleichsam an Hus
serls Stelle zu sagen vermogen, welches die geheime Intention war, die sein ganzes Denken beseelte, es trug, ihm den Schwung verlieh,
daB es nie erlahmte und sich am Ende des Weges gerade an einem
neuen Anfang sehen konnte.
Aber all diese Pratentionen konnen wir nicht wahrmachen - das
sei gleich zu Beginn eingestanden. Dann milBte also der Titel der Aus
fiihrungen bescheidener formuliert werden. Etwa so: Welches sind die
mir personlich am bedeutungsvollsten erscheinenden Entfaltungssta
dien des Philosophieren Husserls? Aber solche Ausfuhrungen haben
wiederum wenig Interesse, denn was einem Einzelnen gerade als das
Entscheidende vorkommt, auf das hatte Husserl dem Pathos seines
Denkens zufolge wenig Wert gelegt und es als nebensachlidh angesehen.
Wenn es so nicht geht, was bleibt uns iiberhaupt noch ubrig? Ein
viel bescheidenerer Versuch. Namlich der, eine zusammenhangende
Entfaltung im Philosophieren Husserls aufzuzeigen und dabei beson
ders auf die Genese seines Philosophierens einzugehen. Also bei jeder
Phase nicht zu versuchen einen Uberblick fiber das Gesamte zu geben,
sondern gerade darauf hinzuweisen, was sich nun gewandelt hat, bzw.
was dazugekommen ist, so sein Philosophieren weiter- und umbildend.
Dabe'i bleibt es wiederum fraglich, ob das, was als Entfaltungsgang
seines Philosophierens aufzuzeigen versucht wird, tatsachlich das Ent
scheidende ist, das wodurch Husserl gewirkt hat, das wodurch er
heute als zeitgenossischer Denker unter uns lebendig bleibt.
Diese Vorbehalte auszusprechen ist keineswegs nebensachlich. Es
soll nicht der Eindruck erweckt werden, daB sozusagen vorgeschrieben
wird, in welcher Weise Husserl verstan;den werden muB. Das liegt
1) Der vorliegende Text wurde in verk?rzter Form beim internationalen ph?nomenologischen Kolloquium in Royaumont (April 1957) vorgetragen.
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uns ferne. Jeder echte Philosoph ist nicht eingleisig und laBt sich nicht
auf eine bestimmte Interpretation festnageln und einschr&nken.
Es muB schlieBlich noch ein letzter Vorbehalt gemacht werden,
selbst auf die Gefahr hin, daB er enttauschend wirkt. Die folgenden
Ausfiihrungen sind im strengen Sinne des Wortes gar keine Interpre tation. Denn zur Interpretation gehort die Auseinandersetzung. Es ge
hort die Spannung des Abstandes, das Ringen darum, was uns als das
Eigentliche des Philosophen anspricht. Es geh6rt dazu das frudhtbare
Zwiegesprach, in dem nicht nur der Philosoph zu Wort kommt, sondern
auch derjenige, der an ihn Fragen stellt. Es gehbrt dazu das Weiter
denken, selbst auf die Gefahr der Vergewaltigung hin, des Unrecht
tuns, der Ubertreibung im guten wie im schlechten Sinne. Auf all das
soll hier verzichtet werden. Bleibt dann aber uiberhaupt noch etwas
iibrig? Sehr wohl - namlich der Versuch, der eigentlich jeder Inter
pretation vorausgehen muB, den Denker sich selbst aussprechen zu
lassen - in der Auslegung.
Aber nun ist es wiederum nicht so einfach, daB man zunachst den
Philosophen sich auslegen lIBt, um dann die Interpretation, den Dialog mit ihm zu beginnen. Die Auslegung ist ja audh notwendig immer
schon eine Art Auswahl und folglich audh eine Vergewaltigung. Was
soll als MaBstab fur die Auslegung dienen? DaB in der Entfaltung des
Philosophierens ein einheitlicher Zug aufgewiesen wird, ein Zug, der aber nicht in der puren Aufzahlung der Fakten besteht, sondern viel
mehr darin, daB die Fakten ihre Faktizitat verlieren und sich als Not
wendigkeit entpuppen. Wenn wir so etwas aufzuzeigen verm6gen, dann haben wir eine Art Leitfaden gefunden. Es muB allerdings gleidh hinzugefugt werden, daB nicht etwa der Ansprudh erhoben wird, dieser Leitfaden sei der einzig richtige und gar entscheidende.
Wori liegt die Berechtigung eines Anspruches, Leitfaden zu sein?
Darin, daB die Entwidclung als Ganzes vor den Blick gelangt. Natiirlidc
zundchst nur auf sdhematisdhe, vereinfachende, verarmende Weise. Wenn aber der Faden zum Band -wird, das das Ganze zusammenbindet und jeder Stelle innerhalb des Ganzen ihre Berechtigung versdhafft, dann haben wir die eigentlidhe Beredhtigung des Leitfadens erfahren.
Vielleidht ist so ein Versuch bei Husserl besonders gerechtfertigt, da bei ihm gewohnlich irgendein Element seines Philosophierens her
ausgegriffen und eine Auseinandersetzung damit versudht wird. Nur in den seltensten Fallen ist man bemuht, seine Gedanken in ihrem
Entstehen zu begreifen und das heiBt, sie auf ihre innere Folgeridhtig keit hin anzuspredhen und in die Prulfung zu nehmen. Nun hat Husserl selbst solch ein Verstehen erschwert, da er seinen Schriften immer den Ansdhein verlieh, als ob er damit ein abgeschlossenes Ganzes vor
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 189
legen wiirde, so daB wir weder zuruck noch nadc vorne sehen mussen,
um es zu verstehen, da es im Grunde genommen alles Wesentlidie ent
halte (was gewisse Erganzungen nicht aussdclieBt). So soll er es z. B.
nicit gerne gesehen haben, wenn man ihm in den zwanziger Jahren
mit Interpretationen der Logischen Untersuchungen kam. Die Lo
gischen Untersuchungen waren in gewissem Sinne fur ihn abgetan.und
duTrd die spateren Schriften uberwunden. An dies Spatere sollte man
sidc nun halten. Andererseits finden wir aber audc das merkwurdige
Phanomen, daB er beginnt, sidh selbst zu interpretieren und sich fiber
seine Entwiddlung Rechenschaft zu geben.
Der vorliegende Versuch kann sidc auf Husserl selbst berufen und
seine Forderung einer genetisdhen Phanomenologie, die nicht nur die
feststehenden Sinngebilde untersucht sondern gerade ihr Entstehen
selbst. Die genetiscie Betracitung der Phanomenologie selbst wirft
vielleicht ein Lidct auf ihr eigentliches Anliegen. (Es sei voraus
gesdcidct, daB die Entfaltung von Husserls Denken bis zur eigent
lichen Konstitution der Phanomenologie ausfuhrlicier behandelt wird
als der Teil von ihrer Konstitution an, der ja der bekanntere ist.)
Die Phanomenologie ist seit ihrem Entstehen so reidh gewadcsen,
ich m6dite beinahe sagen, hat so reich gewuchert, daB heute fast jeder sich irgend etwas aussudien kann aus dem phanomenologischen Ur.
wald, ohne dadurch die Phanomenologie dem Budcstaben nach zu ver
raten oder ihr untreu zu werden. Gerade.diese Fulle der Entfaltung
lMBt es aber geraten sein, uns auf Grund einer genetisdcen Betraditung auf das zu besinnen, was Husserls urspriinglidces Anliegen war und
wie e.s sich entfaltet hat. Denn es ist ja keineswegs so, dal3 die Phano
menologie gerfistet und gewappnet mit einem Schilag aus dem Haupte Husserls geboren wurde, sondern vielmehr so, daB er sich schrittweise zu ihr durchrang.
Wenn wir die Genese der Phanomenologie aufspuiren wollen, so
muissen wir ziemlidc weit zurfickgehen, namlich auf Husserls Arbeit
Philosophie der Arithmetik von 1891, bzw. auf die noch fruhere ge
drudcte Ausarbeitung des ersten Kapitels dieser Arbeit, die unter dem
Titel Uber den Begriff der Zahl im Jahre 11887 ersdhienen ist.
Im Vorwort zu dieser Sdirift heiBt es, als Reditfertigung der Absidct des Verfassers, fiber den Begriff der Zahl zu arbeiten: n . seitdem die
neuere Logik im Gegensatz zu der alteren ihre wahre Aufgabe als die
einer praktischen Disziplin (einer Kunstlehre des richtigen Urteilens)
erfaBt hatte, und einer allgemeinen Methodenlehre der Wissens.dhaften
als einem ihrer vorzuiglichsten Ziele zustrebte, fand sie mannigfadhe und dringende Anlasse, auf die Fragen nach dem Charakter der mathe
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matischen Methoden und der logischen Natur ihrer Grundbegriffe und
Grundsatze ihr besonderes Augenmerk zu richten." (Begriff der Zahl,
S. 4) Gleich anschlieBend wird darauf hingewiesen, daB auch die neuere Psychologie sich diesem Gebiet zugewendet habe und besonders den
,,psychologischen Ursprung der Vorstellungen von Raum, Zeit, Zahl,
Continuumu zum Theema gestellt habe, und es wird als selbstverstand
lich angenommen, daB ,,die Ergebnisse derselben (Psychologie) auch
fur die Metaphysik und Logik von Bedeutung sein mrssen." (S. 5) Es
ist nidht unwesentlich, sich diesen Ausgangspunkt einen Augenblick zu
vergegenwartigen. Er zeigt namlich, daB Husserl anfanglich keines
wegs auf eine Wandlung und einen Umsturz oder eine Neugruindung
der Logik und Psychologie aus war, sondern sich vielmehr von der
bestehenden Logik und Psychologie die Rechtfertigung fiir seine Unter
suchung lieh, was um so weniger erstaunlich ist, als es sich ja im vor
liegenden Fall um eine Habilitationsschrift handelte2).
Beide Wis.senschaften, auf die Husserl sich stiitzt, Logik und Psy
chologie, geben aber noch nidct den AnlaB fuir die Art der Unter
sudhung, sie wird von Husserl darin gesehen, daB es an der Zeit sei,
in der Mathematik nach einer Periode groBartiger Entdeckungen und
Auswertungen derselben zurUckzufragen nach der Natur ihrer Grund
begriffe3). Die Ruckfrage nach diesen Grundbegriffen, genauer gespro
chen nach dem Grundbegriff der Arithmetik - der Zahl, ist also der
eigentliche AnstoB fur Husserls Philosophieren, hat den Stein ins Rol
len gebracht. Deswegen sei ein wesentlicher Gedanke aus dieser ersten
Arbeit dargelegt.
Zunachst ist es erstaunlich, daB Husserl den Begriff der Zahl ver
mittelst psychologi.scher Untersuchungen zu klaren versucht. Man
sollte annehmen, daB dazu mathematisdie oder logische Erorterungen
viel angebrachter seien. Der Zahlbegriff und das Zahlen wird als einer
der einfachsten psychischen Denkvorgange angesehen, die es zuerst zu
klaren gilt, wenn wir zu den komplizierten fortschreiten wollen. (S. 9)
Die Untersuchung des Zahlbegriffs ist also schon in Hinsicht darauf an
gelegt, ein urspriingliches Denkphanomen zu analysieren, un1 so etwas
wie das Wesen des BewuBtseins zu erfahren.
2) A. D. Osborne verweist in seiner Arbeit ?Edmund Husserl and his Logical Investigations" mit Recht auf den Einflu? Stumpfs, besonders seiner Tonpsychologie. (S. 41) vgl. auch Marwin Farber: The Foundation of Phaenomenology", Marvard, 1943.
3) ?Erst sp?ter, als die haupts?chlichsten oder n?chstliegenden Consequenzen der neuen Prinzi
pien gezogen waren, als die Fehler, welche in Folge der Unklarheit ?ber die Natur der ver wendeten Hilfsmittel und die Grenzen der Zuverl?ssigkeit der Operationen entstanden, immer
h?ufiger wurden, da erwachte stets lebhafter und endlich unabweisbar das Bed?rfnis nach
logischer Kl?rung, Sichtung und Sicherung des Gewonnenen; nach einer scharfen Analyse der zu Grunde liegenden und der vermittelnden Begriffe; nach logischer Einsicht in die Abh?ngig keit der verschiedenen, da nur lose zusammenh?ngenden, dort wieder unentwirrbar verschlun
genen mathematischen Disciplinen ..." Begr. der Zahl, S. 3.
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 191
Wie geht Husserl vor? Zundchst wird die euklidische Definition der Zahl angefuihrt. nDie Zahl ist eine Vielheit von Einheiten.U Aber Hus
serl sieht gleich, daB diese Definition solange nichtssagend bleibt, als der Begriff der Vielheit nkht eigens gedacht und analysiert ist. Wir ge
langen zum Begriff der Vielheit nicht etwa, indem einfach von den In
halten, die gegeben sind, abstrahiert wird, denn so eine Abstraktion
gibt nie den Begriff der Vielheit, sondern indem darauf geachtet wird,
wie einzelne Elemente zu einem Ganzen verbunden werden. Diese Ver
bindung ist das Entscheidende. Durch gleichartige Verbindungen ge
langen wir zu den entscheidenden Phanomenen der Vielheit. Es komrt
also auf die Verbindungsweise an. Husserl verdeutlicht das an einem
anderen Begriff, dem des Kontinuums. Worauf es beim Kontinuum an
kommt, das ist die Weise der kontinuierlichen Verbindung, z. B. Punkt
Linie, Momente einer Dauer etc. Beim konkreten Fall bemerken wir
einerseits die Elemente, Punkte z. B., und die ausgedehnten Teile, die
aus den Momenten zusammengesetzt sind und dann ,,die eigentliche
Verbindung derselbenu. Sprechen wir von einem Kontinuum, so
kommt es nicht auf die Art der Elemente an (diese konnen gerade va
riieren), sondern auf die Weise der Zusammensetzung, die allen Kon
tinuen gemeinsam ist. Nur wenn wir diese Weise der Verbindung in
den Blick bekommen, erfahren wir das Eigentiimliche der Kontinua.
Aber diese Weise der Verbindung zeigt sich uns nicht im unmittelbaren
Erfassen des Sidh-darbietenden, sondern in der Reflexion auf das, was
vorausgesetzt wird, damit die Teile sich so verhalten, wie es fur ein
Kontinuum entscheidend ist.
Um zu dem Begriff einer Klasse von Ganzen zu gelangen, ist es - das ist Husserls Theorie - immer n6tig, daB wir durci Reflexion in
den Blick bekommen die Weise, wie Teile in dieser Klasse zum Ganzen geeinigt sind, da die Verbindungsweise derTeile das entscheidende ist.
Welches ist nun die Verbindungsweise, die den Inbegriff (Vielheit) bestimmt? Husserl sagt: die kollektive Verbindung. Die kollektive
Verbindung ist gegenuiber 'den anderen Weisen der Verbindung eine
sehr lose Verbindung, aber es ist doch eine Verbindung und ihr Re
sultat der Begriff der Vielheit. Um zu dem Begriff der Vielheit zu ge
langen, ist eine spontane Tatigkeit des BewuBtseins erforderlich. Zu
so etwas wie Vielheit gelangen wir nie auf passive Weise4).
4) ?Je nach Willk?r und Interesse k?nnen wir discrete Inhalte zusammenfassen, von den eben
zusammengefa?ten wiederum Inhalte fortlassen oder neue hinzuf?gen. Ein auf die s?mtlichen Inhalte gerichtetes einigendes Interesse und zugleich mit und in ihm ... ein Akt des Bemer kens heben die Inhalte heraus, und das intentionale Object dieses Actes ist eben die Vor
stellung der Vielheit oder des Inbegriffs jener Inhalte. In dieser Weise sind die Inhalte zugleich und zusammen gegenw?rtig, sind sie Eins, und mit Reflexion auf diese Einigung gesonderter Inhalte durch jene psychischen Akte entstehen die Allgemeinbegriffe Vielheit und (bestimmte) Zabi." (S. 36)
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Was die Seinsweise der Zahlen anbetrifft, sagt Husserl: ,,Geistige
Schopfungen sind die Zahlen, sofern sie Resultate von Tatigkeiten bil den, die wir an concreten Inhalten uiben; aber was diese Tatigkeiten
sdiaffen, das sind nicht neue absolute Inhalte, die wir dann irgendwo
im Raume oder in der ,AuBenwelt' wiederfinden k6nnten; sondern es
sind eigentumlidhe Relationsbegriffe, die immer wieder nur erzeugt,
aber keineswegs irgendwo fertig vorgefunden werden konnen. " (Begr.
der Zahl, S. 37) Das ist ridhtig fiir diese Phase seines Denkens: Die
Zahlen sind Relationsbegriffe, sie sind nur, insofern eine bestimmte Art der Relation hergestellt wird. Sie sind eigentlich nur, insofern sie er
zeugt werden.
Man konnte nun einwenden, wenn wir eine Mehrzahl von Gegen st&nden im Raum vorfinden, so haben wir so etwas wie Anzahl. Dem
widerspricht Husserl mit Recit. Selbst wenn mehrere Gegenstande im
Raum zueinander in Bezug gesetzt werden, so ist dies Zusammensein
nod nidct die kollektive Einigung, die im BewuBtsein vollzogen wird
.durdh jenen einheitlich heraushebenden Act des Interesses und des
Bemerkens.- (S. 37)
Ist das Entscieidende beim Begriff der Vielheit die besondere
Weise der Relation, in der die Teile zueinander stehen, so muB diese
erortert werden. Husserl weist vorbereitend darauf hin, daB es zwei
Klassen von Relationen gibt, physiscie und psydcische Relationen. Die
physisdcen nennt er auch Inhaltsrelationen, z. B. die Relation der Ahn
lichkeit, Gleidcheit und dgl. mehr. Diese Relation ist im betreffenden
Seienden selbst begriindet (mag dies ein physischdes oder psychisches sein). Bei den psychischen Relationen ist die Relation nicht in der Sache
fundiert, sondern in unserer Weise die Sadhe, bzw. die Sachen zu be
tradcten; deswegen ist die Relation audc nidit anschaulich aufweisbar sondern nur im Denken vollziehbar. Nun ist das Entscheidende, daB
die kollektive Verbindung von dieser Art ist. Deswegen kann Husserl
sagen: ,,Wahrend ... bei allen Inhaltsrelationen die Verinderlichkeit der Fundamente, weldie zulassig ist, um die Relation der Art nadh zu
erhalten, eine besdhrankte ist, kann bei der kollektiven Verbindung
jedes Fundament vollig unbeschrankt und willkuirlich variiert werden,
wahrend die Relation dodh bestehen bleibt.... Nicht jeder Inhalt kann
mit jedem anderen als ahnlich, kontinuierlidi verbunden usf. gedadit werden (= Inhaltsrelation); immer aber als verschieden und als collec
tivisdi geeinigt. Es liegt eben in beiden (letzteren) Fallen die Relation
nidit unmittelbar in den Phanomenen selbst, sondern ist ihnen gewis
sermaBen auBerlidh.' (S. 57) Dies AuBerlich-sein besagt gerade, daB es von gewissen psydiischen Akten abhangt, ob sie gegebene Inhalte
kollektivisdi zusammenfassen oder nidit, wahrend es keineswegs
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN IN HUSSERIS PHILOSOPHIE 193
allein vom BewuBtsein abhangt, ob zwei Gegenstande als fhnlich oder
un&hnlich angesehen werden. Husserl faBt zusammen: REin Inbegriff
entsteht, indem ein einheitliches Interesse und in und mit ihm zugleidh
ein einheitliches Bemerken versdhiedene Inhalte fur sich heraushebt
und umfal3t.u (S. 58)5)
Um die kollektive Verbindung in ihrem Verbindungsdcarakter zu
erfassen, bedarf es der Reflexion auf den psychsc.hen Akt, durch wel
chien sie zustande kommt.
Wie stehen diese Ausfuhrungen aber zum Begriff der Zahl? ,Eine
Vorstellung, welche Inhalte als bloB collectivisch verbundene be
faBt... das ist der Begriff der Vielheit." (S. 59f.) Etwas und Etwas und
Etwas sind zusammengefaBt - oder irgend Eines und irgend Eines
und irgend Eines usw. Etwas meint hier irgendeinen Vorstellungs
inhalt, in Etwas spricht sidh die Gleichgiltigkeit zum Inhalt aus, es
kommt bloB darauf an, daB es irgendein Inhalt ist. Das Und deutet auf
die Weise der Verbindung der Relata, namlich daB es ein bloBes Zu
sammenfassen ist und sonst nichts. Wird die Unbestimmtheit, die dem
Vielheitsbegriff anhaftet, beseitigt, wird bestimmt, aus wie viel. Glie
dern (Etwasen), aus wie viel Einheiten oder Einsen die Vielheit zu
sammengestetzt ist, so gelangen wir zum Begriff der Zahl. Dabei wird
also die Vielheit spezialisiert. Wenn Husserl sagt, daB zum Denken
des Inbegriffes das zusammenfassende Interesse und Bemerken er
forderlich sei, so heiBt das, daB immer ein Fassen von Einheiten als
Einheiten und ein Zusammenfassen der Einheiten, die als solche be
merkt sind, n6tig ist. ,,Wir konnen keine collective Einigung denken
ohne geeinigte Inhalte und wollen wir sie in abstracto vorstellen, dann miissen die Inhalte als irgendwelche Etwas gedacht werden.u (S. 63)
Diese etwas ausfiihrlichere Darlegung von Husserls Gedanken war
notig, da einerseits diese Friihschrift wenig bekannt ist und wir an
deferseits meinen, daB sich hier schon der Keim fur die spatere Ph&
nomenologie aufzeigen I&Bt, obgleich Husserl selbst - vor allem in
folge der Kritik Freges6) - dieisen Standpunkt als psydhologistischen
aufgab. Es ging also nicht etwa darum zu zeigen, daB Husserls Inter
pretation des Zahlbegriffs der einzig richtige und erschopfende ist,
5) Husserl ist aber gegen die besonders von Jevons vertretene Auffassung, da? zum Inbegriff sowohl die Vorstellung des Unterschiedes wie der Identit?t geh?re. Zwar werden die Teile des Inbegriffs voneinander geschieden aufgefa?t, sonst k?me es gar nicht zu einer, Vielheit, aber sie werden nicht als verschiedene aufgefa?t, bzw. wenn sie dies werden, dann haben wir eine Unterschiedsvorstellung und nicht einen Inbegriff. ?Unsere Auffassung geht da, wo
ein Inbegriff gegeben ist, zun?chst blo? auf absolute Inhalte (n?mlich die, die ihn zu
sammensetzen) ; hingegen da, wo eine Unterschieds Vorstellung (oder ein Complex solcher) gegeben ist, auf Verh?ltnisse zwischen Inhalten." (S. 44)
6) Vgl. dazu auch Osborne, op. cit., S. 43 ff.
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sondern nur darum, zu zeigen, inwiefern in ihr der erste Ansatz zur
ph&nomenologisdhen Betrachtungsweise aufspuirbar ist.
Welches sind die Elemente, die wirklich fundamental sind? Es ist
der Begriff der Erzeugung - es ist der Begriff der Reflexion - es ist
die Methode des Aufweisens des Wesens einer Sache durch den Ruck
gang zu ihrem Sinn-Ursprung im Bewu3tsein und die Beschreibung
dieses Ursprungs. In diesen Elementen meinen wir den Keim zu finden
fiur die Begriffe der Konstitution - der Redukiion - der Aufweisung
des Ursprungs der Sinngebung, der phanomenologischen Deskription
und Wesensschau. Ja hier ist auch der Keim dafuir, daB Husserl Zeit
seines Lebens die Psychologie als eine ganz entscheidende Wissen
schaft betradc-ten wird, allerdings nicht die traditionelle Psychologie,
sei es als experimentelle oder AuBenpsychologie, sondern im Ausgang
von Brentano -die introspektive Psychologie, deren Struktur und Sinn
er immer deutlicher umreil3en wird, ibis zur Krisis-Arbeit. DaB etwas
verstanden ist, wenn die psychischen Akte in der Reflexion erfaBt sind
als intentionale, die fuir den Ursprung des Sinnes unerlaBlidch sind, das
ist eine Grundeinsicht der Phanomenologie. Man mag ihre Berechti
gung in Frage stellen, man mag die metaphysische Voraussetzung der
Position der Subjektivitat, die ihr zugrundeliegt, erortern und kriti
sieren - das sind Momente einer Interpretation, die hier bewuBt noch
nicht versucht werden soll.
Ein Beleg noch fur die Bedeutung der Reflexion. Husserl sagt: ,,Es
kann also die collective Verbindung auch nur erfaBt werden durch
Reflexion auf den psychischen Act, durch welchen der Inbegriff zu
Stande kommt.u (Begr. d. Z., S. 58, Phil. d. Arith., S. 79) Der Satz steht
unverandert in beiden Fassungen, der ersten, von 1887, und der zwei
ten, d. h. der Phil. d. Arith. von 1891. In der ersten Fassung war er ge
sperrt. Das ist nicht nebensdchlich, denn Husserl erkennt, daB es sich
hier um eine prinzipielle Aussage handelt, eine Aussage, die entschei
dend wird fur sein ganzes spateres Philos6phieren. In der Reflexion
sollen die psychischen Akte erfaBt werden, durch die eine Bedeutung,
ein Sinn zustande kommt. GewiB werden sich im Laufe der Zeit die so
erfaBten Akte differenzieren und in ihrer Zahl vermehren, aber das
andert nichts am Umstand, daB Husserl hier - vermutlich durch den
EinfluB der Psychologievorlesung Brentanos - diese Einstellung ent
deckt und bezieht. (Inwiefern audh ein EinfluB3 Meinongs hier im Spiel
ist, kann jetzt nicht er6rtert werden. In der Ausgabe von 11891 befin
det sich an dieser Stelle e;ine Randbemerkung mit dem Verweis auf
Meinong: Ps. Anal. 27.)
Noch ein Hinweis zur These, daB der Gedanke der Konstitution hier entspringt. Nach der Erlauterung des Ursprungs des Begriffs der
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Vielheit vom einigenden Interesse her und dem Akt des Bemerkens
- wodurch die Inhalte zugleich zusammen gegenwartig sind - lehnt
Husserl es ab, die Zahlen als ,,rein geistige Schdpfungen einer inneren
Anschauung" zu bezeichnen, weil fur ihn Sch6pfung das Hervorbrin
gen eines Seienden bedeutet, das als Hervorgebrachtes eine vom Her
vorbringen unabhangige Existenz besitzt, wie etwa ein Kunstwerk.
Andererseits gibt er zu, daB sie als geistige Sdiopfungen angesehen
werden diirfen, insofern sie das Resultat einer geistigen Tatigkeit
sind. ,Geistige Schopfungen sind die Zahlen, sofern sie Resultate von
Thatigkeiten bilden, die wir an concreten Inhalten uiben; aber was
diese Th&tigkeiten schaffen, das sind nicht neue absolute Inhalte, die
wir dann irgendwo im Raume oder in der ,AuBenwelt' wiederfinden
k6nnten, sondern es sind eigenthiimlidce Relationsbegriffe, die immer
wieder nur erzeugt, aber keineswegs irgendwo fertig gefunden wer
den konnen." (S. 37) DaB es iGebilde gibt, die im Denken erzeugt wer
den miissen, um zu existieren, die also-. ,ur existieren, insofern sie,
erzeugt werden, d. h. insofern bestimmte Denkprozesse in Gang ge
setzt werden, das ist eigentlich in nuce der Konstitutionsgedanke, der
Husserl am Versuch des Fassens des Wesens der Zahl aufgegangen
ist. In dieser Form vorgebracht ist der Gedanke natuirlich der Gefahr
des Psychologismus ausgesetzt, ist noch psychologistisch verstanden.
Diese Gefahr zu beseitigen, sich von sich selbst zu distanzieren inso
fern er selbst dem Psydiologismus verfallen war, das ist konsequenter
weise der n&chste entscheidende Schritt seines Philosophierens. Dabei
wird aber gerade auch in gelauterter Form festgehalten, was der Psy
dcologismus an Berechtigung in sich tragt.
Der Ubergang von Husserls Arbeit an der Philosophie der Arith
metik zu den Logischen Untersuchungen, in denen die bekannte Stel
lungnahme zum Psychologismus erfolgt, ist aber zunachst nicht durch
sichtig, erscheint vielmehr als ein willkurlicher Sprung, allerdings ein
Sprung, der insofern gerechtfertigt ist, als die logischen Gebilde zwei
fellos eine gewisse Verwandtschaft haben mit den mathematischen
Gegenstanden, sdhon rein vom Formalen her. Aber wenn wir so spre
clen, dann bleiben wir zu allgemein -statt wirklich einen neuen Schritt
in der Entfaltung aufzuweisen. Ein vor kurzem aufgefundener Brief
Husserls aus dem Jahre 1890 bringt Licht in diese Entfaltung, die dann
fur Husserl definitiv wurde. (Brief Husserl;s an Carl Stumpf vom
13. II. 11890). Wir konnen genau sehen, wodurch der Umschlag bzw. die
Fortbildung auf die Logik zu erfolgt ist. Husserl stellt namlidh seine
Auffassung in Frage, daI3 der Anzahlbegriff das Fundament der allge
meinen Arithmetik bilde. ,Die Meinung, von der idi noch bei der Aus
arbeitung der Habilitationsschrift geleitet wurde, daB der Anzahl
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begriff das Fundament der allgemeinen Arithmetik bilde, erwies sich
bald als falsdi. (Schon die Analyse der Ordnungszahl fuihrte mich dar
auf.) Durch keinerlei Kunststiicde, durch kein ,uneigentlidhes Vorstel
len' kann man die negativen, rationalen, irrationalen und die mannig
fachen complexen Zahlen aus dem Anzahlbegriff herleiten. Dasselbe
gilt vom Ordnungszahlbegriffe, dasselbe vom GrbBenbegniffe usw.
Und diese Begriffe selbst sind keine logischen Spezialisierungen der
Anzahlbegriffe. Thatsache ist, daB die ,allgemeine Arithmetik' (incl.
Analysis, Functionentheorie etc.) Anwendung findet auf Anzahlen
(,Zahlentheorie'), desgleichen auf Ordnungszahlen.. ." (S. 2) Und Hus
serl stellt sich die Frage ,,Da nun diesen verschiedenen Anwendungen
der Arithmetik kein gemeinsamer Begriff zu Grunde liegt, aus dem
sich diese Wissensdiaft herleiten lieBe, was madit ihren Inhalt aus,
auf weldcerlei begriffliche Objekte gehen ihre Satze?" Auf ein System
von Zeichen. Und zwar: ,Das Zeichensystem der arithmetica univer
salis gliedert sich in eine gewisse Stufenfolge, vergleichbar derjenigen
eines Systems konzentrischer Kreise. Die tiefste Stufe (der innerste
Kreis) fullen die Zeidhen 1, 2 = 1 + 1, 3 = 2 + 1 usw., die n&dhste die
Bruchzeidcen usw. Die Zeichen der untersten Stufe und nur sie allein
sind independent; die der hoheren sind von den der tieferen und
sdclieBlich den der untersten Stufe formal abhangig. Jedem Kreise
kommen Rechenregeln (,formale Gesetze') zu, die der hoheren sind
abhangig von denen des tieferen, schlieBen sie formell ein." (S. 5) Der
SdhluB, den Husserl aus dieser Erkenntnis zieht, ist: ,,die arithmetica
universalis ist keine Wissensdhaft, sondern ein Stuck formaler Logik,
diese selbst wiirde ich definieren als Kunst der Zeichen ... und sie als
ein besonderes, und eines der wichtigsten Kapitel der Logik als
K-unstlehre der Erkenntnis bezeichnen." (S. 6) Es ist aufschluBreidc
darauf hinzuweisen, daB Husserls Gedanke der Schichten eigentlich
auf Grund der Uberlegungen im Gebiet der Arithmetik entsprungen
ist. Zugleich sehen wir, wie die Schwierigkeiten, in die Husserl durdc
die Bestimmung der Arithmetik als Zeichenlehre gelangt, ihn zur Lo
gik bringt. In den 9Oer Jahren studierte er eingehend die zeitgenos
sische Logik-Literatur und ver6ffentlicht im Jahre 1897 im Ardhiv fur
systematische Philosophie, Bd. 3 einen Bericht uber deutsche Schrif ten
zur Logik in dem Jahre 1894. Im Jahre 1903 erschien der Bericht uber
die Schriften zur Logik aus den Jahren 1895-99 (Bd. 9 des Archivs fur
systematische Philosophie).
Das Interesse fur die Logik, der Ubergang zur Logik ist also keines
wegs willkiirlidh sondern das Resultat einer koharenten Entwidclung.
Husserl macht dabei den Unterschied zwischen der Logik als Kunst
lehre und der Logik als Wissenschaftslehre. In der Logik-Vorlesung
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DIE ENTSCHEIiDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 197
von 1906-7 (Signatur F I 25) wird dieser Unterschied ausfiihrlich be
handelt. Der Gedanke der Logik als Wissenschaftslehre wird in der
Formalen und transzendentalen Logik wieder aufgenommen. In den
Logischen Untersuchungen erlautert Husserl, wie die Logik die lo
gischen Grundbegriffe in Frage stellt und ihren Ursprung und ihre Be
deutung zu klaren versucht7). Es handelt sich al.so, wie man auch sagen
kann, um eine Phanomenologie der logischen Erlebnisse. ,,Die Phano
menologie der logischen Erlebnisse hat den Zweck, uns ein so weit
reichendes deskriptives Verstandnis dieser psychischen Erlebnisse
und des ihnen einwohnenden Sinnes zu verschaffen, als notig ist, um
allen logischen Fundamentalbegriffen feste Bedeutungen zu geben,
... kurzum Bedeutungen, wie sie das Interesse der reinen Logik selbst
und vor allem das Interesse der erkenntniskritischen Einsicht in das
Wesen dieser Disziplin erfordert.u8)
In ganz konsequenter Fortbildung der Idee der Reflexion, wie sie
schon im Begriff der Zahl auftauchte, wird die ph&nomenologische For
schung definiert als durch ,,Reflexionu bestimmte und insofern wider
natiirliche Denkrichtung, da nicht auf die Gegenst&nde gesehen wer
den soll sondern auf die Akte, durch die sie gegeben werdeng). Im
Unterschied zur Philosophie der Arithmetik wird aber die Reflexion, bzw. die in der reflektiven Einstellung vollzogene Untersuchung deut
licher von der Innenpsychologie abgehoben. GewiB, diese Forschung
ist eine Forschung, die mit der Introspektion der Psychologie ver
glichen werden kann, aber im Unterschied zu ihr soll sie nicht un
mittelbare Deskription sein, sondern abstrahierende, ideierende Des
kription, Deskription, bei der es auf die Herausstellung des Wesens, des eidos ankommt.
In der Vorlesung des S. S. 1925 (F I 36) gibt Husserl eine Selbst
interpretation dessen, was er in den L. U. leisten wollte. ,,Es handelte sich in den einzelnen Untersuchungen des zweiten Bandes um eine
Riickwendung der Intuition auf die logischen Erlebnisse, die sich in uns, wenn wir denken, abspielen, die wir aber gerade dann nicht sehen,
nicht im aufmerkenden Blick haben, wenn wir die Denktatigkeit in
nattirlich ursprtinglicher Weise vollziehen. - Es gilt dieses verborgen
sich abspielende Denkleben durch nachkommende Reflexion in den
Griff zu bringen und sie in getreuen deskriptiven Begriffen zu fixieren;
7) ?Die logischen Begriffe als geltende Denkeinheiten m?ssen ihren Ursprung in der Anschauung haben; sie m?ssen durch' ideierende Abstraktion auf Grund gewisser Erlebnisse erwachsen."
(L. U., Bd. II, S. 5) 8) L. U., Bd. II, 1, S. 6
9) ?Anstatt im Vollzuge der mannigfaltig aufeinandergebauten Akte aufzugehen und somit die in ihrem Sinn gemeinten Gegenst?nde sozusagen naiv als seiend zu setzen und zu be stimmen . . . sollen wir vielmehr .reflektieren', d. h. diese Akte selbst und ihren immanenten
Sinnesgehalt zu Gegenst?nden machen." o p. cit., S. 9.
13 Ztft. f. philosoph. Forschung XIII/2
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198 WALTER BIEMEL
es galt ferner, das neu sich ergebende Problem zu l6sen, n&mlich ver
standlich zu machen, wie sich in der Leistung dieses inneren logischer
Erlebens die Gestaltung all jener geistigen Gebilde vollzieht, die im
aussagend urteilenden Denken hervortreten als mannigfach sich for
mende Begriffe, Urteile, Schlisse usw. und die in den Grundbegriffen
und Grundsatzen der Logik ihren generellen Ausdruck, ihre allgemein
objektiv geistige Pragung finden.u (Bi. 16a)10)
Es ist hier nicht der Ort, eine Interpretation der L. U. zu versuchen,
es soll vielmehr bloB fe.stgehalten werden, welches der entscheidende
Schritt ist, den Husserl mit diesem Werk getan hat, durch den ja die
Phanomenologie inauguriert wurde und zu wirken begann. Husserls
Kampf gegen den Psychologismus ist geniigend bekannt. Es muB aber
noch ein Wort gesa.gt werden uiber den Umschwung, den er selbst voll
zogen hat, da ja seine Untersuchungen in der Philosophie der Arith
metik durchaus nodh als psychologistische angesprochen werden kon
nen. Schon bei der Analyse des Begriffs der Zahl qualte es Husserl,
daB in der Reflexion auf den Akt, der dem Inbegriff entspricht, zwar, wie wir sahen, das Kolligieren aufgewiesen wurde, aber daB das Kolli
gieren ja schlieBlich und endlich nicht mit dem Begriff der Anzahl
identisch ist. Der Versuch, aus dieser Schwierigkeit herauszukommen
wird deutlich in dem von Fink in der Tijdschrift voor Philosophie, 1939
herausgegebenen Entwurf einer Vorrede zu den Logischen Unter suchungen. Da sagt Husserl, wie sich die Abl6sung vom Psychologis
mus durch seine Leibnizstudien vorbereitet und dann durch idas Stu
dium von Lotzes Logik und Bolzanos Wissenschaftslehre vollzugen
hat. ,,So wenig Lotze selbst uiber widerspruchsvolle Inkonse
quenzen und tiber den Psychologismus hinausgekommen war, so steckte seine geniale Interpretation der platonischen Ideenlehre mir ein erstes groBes Licht auf und bestimmte alile weiteren Studien. Schon
Lotze sprach von Wahrheiten an sich, und so lag der Gedanke nahe,
alles Mathematische und ein Hauptsttick des traditionell Logischen in
das Reich der Idealitat zu versetzen." (S. 128f.) Und uber Bolzano sagt
Husserl: ,,Nun ging es mir aber mit einem Male, zundchst fur die tra
ditionell-logische Sphare auf, daB Bolzano's Wissenschaftslehre in
10) L. U., Bd. II, 1. Teil, S. 18 ?Die Ph?nom?nologie aber spricht von keinen Zust?nden anima
lischer Wesen, sie spricht von Wahrnehmungen, Urteilen, Gef?hlen usw. als solchen, von dem, was ihnen a priori, in unbedingter Allgemeinheit, eben als reinen Einzelheiten
der reinen Arten zukommt (und er f?hrt fort mit einem f?r uns interessanten Vergleich, der, wie wir jetzt verstehen, nicht von ungef?hr vorgenommen wird, da sich in ihm H. eigene
Entwicklung ausspricht) ganz analog wie die reine Arithmetik ?ber Zahlen, die Geometrie
?ber Raumgestalten spricht, auf Grund reiner Anschauung in ideativer Allgemeinheit." Dies
Zitat ist allerdings ein Zusatz, der in der I. Aufl. noch fehlt, da H. in dem Augenblick das
Ziel noch nicht soweit gesteckt hatte, da? Wahrnehmungen und Gef?hle auch als Themen der
Untersuchung angef?hrt werden konnten.
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 199
ihren beiden ersten Banden unter den Titeln einer Lehre von den
Vorstellungen an sich und Satzen an sich als ein erster Versuch einer
geschlos.senen Darstellung des Gebietes rein idealer Doktrinen anzu
sehen sei, daB also hier schon ein voll-standiger Entwurf einer ,reinen'
Logik vorliege.' (S. 1219)
Husserl war also nun darauf aus, ein Reich von idealen Gegen
standen freizulegen (das der Zahlen, der logischen Allgemeinheiten),
ein Reich, dessen Geltung unabhingig war von dem psychischen Voll
zug, durch den die idealen Gegenst&nde begriffen wurden. Zugleidh
damit war aber auch die Frage zu l6sen, wie die idealen Gegenstande
zur Gegebenheit kommen, mit anderen Worten: die Frage nadc der
Korrelation von Subjekt und Gegenstand. ,Wenn nun iauch evident
gemacht wurde, daB ideale Gegenstande, trotzdem sie zur Bildung im
BewuBtsein kommen, ihr eigenes Sein, Ansichsein haben, so bestand
hier doch eine groBe und nie ernstlich gesehen und in Angriff genom
mene Aufgabe: namlich die, diese eigentiimliche Korrelation zwischen
idealen Gegenstdnden der rein logis.chen Sphare und subjektiv psy
chigchem Erleben als bildendem Tun zum Forschungsthema zu machen.
Wenn ein psychisches Subjekt, etwa ich, dieser denkende Mensch, in
meinem psychischen Leben gewisse (und sicherlich nicht beliebige,
sondern ganz besonders geartete) psychische Tatigkeiten vo)llziehe,
dann vollzieht sich darin ein sukzessives Sinnbilden und Erzeugen,
wonach als das sukzessiv werdende Erzeugnis das betreffende Zahl
gebilde, die betreffende Wahrheit, der betreffende SchluB und Be
weis ... hervortritt." (F I 36, B1. 19a f.)
In diesem Zitat ist ausgesprochen, worum es Husserl eigentlich
geht und was das eigentliche Thema der Ph&nomenologie ist. Bedeutet
das aber nicht einen Riicfall in den Psychologismus? Im selben Ms.
sagt Husserl, beina(he wortwortlich einen Satz aus der PhiIosophie der
Arithmetik aufnehmend: ,,Wir sehen uns sogar gedrangt zu sagen: er
zeugt werden die Zahlen im Zahlen, erzeugt werden die Urteilssatze
im urteilenden Tun.' (F. I 36, 1'8b) Ist das nicht gerade die psycholo
gistische These? Aus dem Zusammenhang herausgerissen hat diese
Aussage in der Tat einen verddchtigen Anschein. Der entscheidende
Passus ist von Husserl gerade in die Klammer gesetzt, es heiBt in der
Klammer von den psychischen Tatigkeiten (,,und sicherlich nicht etwa
beliebige, sondern ganz besonders gearteteu) - das. ist der springende
Punkt. Das Subjekt kann nicht beliebig Sinn konstituieren (es geht ja
hier um die Frage der Konstitution), sondern die konstitutiven Akte
sind abhangig von dem Wesen der Gegenstande, um die es geht. Um
ein einfaches Beispiel heranzuziehen: Was das Wesen der Zahl drei
ist, hangt nicht davon ab, welche psychischen Tatigkeiten notig sind,
13*
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200 WALTER BIEMEL
um die Zahl drei zu bilden, das Wesen der Zahl drei ist durch ihr Zahl sein bestimmt und d. h. durch ihre Stelle im Zahlensystem. Um aber den Sinn der Zahl drei zu verstehen, miissen wir bestimmte kolli gierende Akte des Verbindens vollziehen, sonst bleibt uns verschlos sen, was 3 uiberhaupt besagt. Fur uns beginnt es also so etwas wie die
Zahl drei zu geben, wenn wir die versammelnd-einigende Tatigkeit zu vollziehen vermogen, in der drei uns vorstellig wird. Das heiBt aber keineswegs, daB durch diese Tatigkeit beliebig das Wesen der Zahl drei bestimmbar ware, daB sich also die Zahl andere, je nachdem wie ich sie konstituiere. Entweder ich vollziehe die Akte, die das Wesen der Zahl drei erschlieBen und dann gibt es fiir mich so etwas wie die drei, oder ich vollziehe sie nicht und dann gibt es fur mich keine 3,
wohl aber fuir diejenigen, die diese Tatigkeit vollzogen haben.
Es gibt viele MiBverst&ndnisse in Bezug auf dieses Problem der Konstitution. Im gew6hnlichen Sprachgebrauch wird Konstitution mit
beliebigem Erzeugen gleichgesetzt, mit Produktion identifiziert, aber
die Konstitution ist im strengen Sinne des Wortes keine Konstitution, eher eine Restitution, insofern als vom Subjekt restituiert wird, was schon da ist, wozu es aber des Vollzugs gewisser Aktivitaten bedarf. Es gibt diesbeziiglich eine aufschluBreiche Stelle in einem Brief Hus serls an Hocking, vom 25. I. 1903. Husserl sagt da tiber die Bedeutung des Begriffes Konstitution in den L. U.: ,,Der wiederholt vorkommende
Ausdruck, daB sich in einem Akte ,Gegenstdnde constituieren', besagt immer die Eigenschaft des Actes, den Gegenstand vorstellig zu madhen:
nicht ,constituieren' im eigentlichen Sinn!u Das ist eigentlich die beste Erlauterung zum Begriff der Konstitution: das Vorstellig-werden-des Gegenstandes. Die Akte, die das Vorstelligwerden erm6glichen und in Gang bringen, das sind die konstituierenden Akte. Ein viertel Jahr
hundert spater wird Husserl das in der Formalen und transzendentalen Logik folgendermaBlen formulieren: die idealen Gegenstande ,,sind, was sie sind, nur ,aus' ursprfinglicher Erzeugung. Das sagt aber keines wegs, sie sind, was sie sind, nur in und wahrend der ursprunglichen Erzeugung. Sind sie in der urspriinglichen Erzeugung, so sagt das, sie sind in ihr als einer gewissen Intentionalitat von der Form spontaner
Aktivitdt bewuBt, und zwar im Modus des originalen Selbst. Diese Ge gebenheitsweise aus solcher urspriinglichen Aktivitdt ist nidcts anders als die ihr eigene Art der ,Wahrnehmung'. Oder, was dasselbe, diese urspruinglich erwerbende Aktivitat ist die ,Evidenz' fuir diese Ideali t&ten." (S. 150) Das ist dem Wesen nach die selbe Auslegung wie im
Brief, bloB expliziter formuliert.
In der Dingvorlesung von 1907 wird der Terminus ,Sich-konstitu ieren' gleithgesetzt mit ,,Sich-bbkunden" (F I 13, Bl. 9, Transkr. S. 17),
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 201
was den Sachverhalt auch gut beleuchtet. Die Konstitution besagt
nichts anderes als das dem Seienden Entgegenkommen, dergestalt, daB
es in diesem Entgegenkommen sich zu bekunden vermag. DaB dadurch
keineswegs alle Schwierigkeiten dieser Fragestellung beseitigt und
erst recht nicht ihre Voraussetzungen aufgehellt sind, braucht nicht
eigens gesagt zu werden, aber zumindest kann schon jetzt der zwei
deutige Terminus des ,,Idealismu,s", mit dem Husserl sich selbst ge
kennzeichnet hat, in gewisse Schranken gewiesen werden.
Mit den Logischen Untersuchungen tritt das Konstitutionsproblem
auf den Plan und wird von nun an eines der Grundprobleme der Pha
nomenologie bleiben. Das Leitmotiv der Logischen Untersuchungen ist nach Husserls Selbstinterpretation der zwanziger Jahre: ,Wie sehen
die verborgenen psychischen Erlebnisse aus, die zu den jeweiligen
Idealitaten in Korrelation stehen und die in der Art von ganz bestimmt
zugeh6rigen Erzeugungen ablaufen muissen, damit das Subjekt Be
wuBtsein und evident erkennendes BewuBtsein von diesen Idealitaten
als Gegenstanden haben kann?' (F I 36, Bi, 19b) Hier ist wieder durch
das ,,miissen' ausgesprochen, daB es eine Gesetzlichkeit des Ablaufs
gibt, der das Subjekt unterworfen ist1t).
In den Logischen Untersuchungen ging es Husserl um die Konsti
tution der idealen Gegenstdnde12). Der ndchste entscheidende Schritt
wird darin bestehen, die Konstitution auch auf andere Gegenstands
bereiche zu erweitern, was sich ja keineswegs von selbst versteht. Der
erste Ansatz dazu sind die Vorlesungen zur Phdnomenologie des in
neren ZeitbewuBtseins von 1904/5, die 1928 von Heidegger heraus gegeben wurden13). Die Zeitvorlesung geh6rt zu einer vierstuindigen
Gottinger Vorlesung, die Husserl unter dem Titel: HauptstiJcke einer Phdnomenologie und Theorie der Erkenntnis gehalten hat. Worum es
11) F I 36, Bl. 20b: ?Einerseits war neu die Aufgabe, bzw. der Versuch, radikal und konsequent von den betreffenden Kategorien von Gegenst?ndlichkeiten zur?ckzutragen nach den bestimmt ihnen zugeh?rigen Bewu?tseins weisen, nach den subjektiven Akten, Aktstrukturen, Erleb
nisunterlagen, in denen so geartete Gegenst?ndlichkeiten bewu?t werden und zuh?chst zu evidenter Gegebenheit kommen."
12) Ms. cit., Bl. 26a: ... ob wir als denkende Subjekte uns Menschen nehmen, oder ob wir Engel oder Teufel oder G?tter usw. fingieren, irgendwelche Wesen, die da z?hlen, rechnen, mathe matisieren ? das z?hlende, mathematisierende innere Tun und Leben ist, wenn Logisch mathematisches herauskommen soll, in apriorischer Notwendigkeit ?berall wesentlich das selbe. Dem Apriori der reinen Logik und reinen Mathematik selbst, diesem Reich unbedingt notwendiger und allgemeiner Wahrheiten, entspricht korrelativ ein Apriori psychi scher Art, n?mlich ein Reich unbedingt notwendiger und allgemeiner Wahrheiten, die sich auf das mathematische E r-4 e b e n , das mathematische Vorstellen, Denken, Verkn?pfen usw. beziehen, n?mlich als ein mannigfaltiges psychisches Leben eines Subjektes ?ber
haupt ..."
13) Die von Zeit zu Zeit auftauchende Meinung, dieser ver?ffentlichte Text d?rfte nicht als
authentisch angesehen werden, da er von Heidegger bearbeitet sei, mu? ein f?r alle mal
widerlegt werden. Heidegger hat sich ganz streng an das Original gehalten und nur leichte stilistische Gl?ttungen vorgenommen.
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202 WALTER BIEMEL
Husserl in dieser Vorlesung geht, ist gerade die phanomenologische
Untersuchung der einfachen, jeder h6heren Erkenntnis zugrunde liegenden Akte und zwar in erster Linie der Wahrrehmung. Sie wer
den in Hinblick auf die Zeitlichkeit untersucht. Husserl weist dabei auf,
wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft konstituiert werden
durch Wahrnehmung, Retention und Protention. Die Wahrnehmung
als Urimpression ist das standig Jetzt entspringen Lassende. Ohne
Wahrnehmung gabe es kein Jetzt, keine Gegenwart und folglich auch
keine Vergangenheit und Zukunft.
Ware die Wahrnehmung nicht in der reflektiven Einstellung in den Blick gefaBt, so ware es unmdglich, ihr die Rolle bei der Zeitigung zu
zuerkennen, die Husserl ihr gibt, da ja gewohnlich in der Wahrneh
mung auf das Wahrgenommene, das in ihr Gegebene geblickt und nicht auf das Geben selbst, das einem standigen Entspringen gleich
gesetzt werden kann, ja als Entspringen gefaBt werden kann.
Die zentralen Einsichten der Zeitvorlesungen scheinen mir in den
?? 35 und 36 ausgesprochen, wobei Husserl eigentlich den Ruckgang
vollzieht von den konstituierten Gegenstdndlichkeiten, oder wie ersagt,
den konstituierten Einheiten zu dem konstituierenden FluB, als wel
cier sich das BewuBtsein nun enthiillt. Kaum hatte sich Husserl die
Tragweite der Konstitutionsproblematik erschlossen, nachdem er den
Schritt von der Konstitution der idealen Gegenstinde zu der der uibri gen Gegenstande eben in Angriff genommen hatte, da st6Bt er - das
ist das Erstaunliche - so radikal vor, daB3 sich ihm das Bewul3tsein als das aller Konstitution Vorausliegende enthuillt, das in seiner Selbst konstitution tiberhaupt die Konstitution aller Gegenst&nde ermbglicht.
Es darf uns dann auch nicht iiberraschen, wenn er im entscheidenden
Paragraphen eingesteht, daB uns die Namen fehlen (vgl. S. 429), um das
Geschehen zu fassen, das allen Vorg'angen zugrundeliegt und voraus
geht; aber er weist zumindest die Dimension auf, in die zuruckgedacht werden muB. Die Zeitvorlesung ist also ein entscheidender Schritt in
der Phase der Konstitutionsproblematik. Der erste entscheidende
Schritt nach den L. U., wobei Husserl es unternimmt, die Selbstkonsti tution der Einheit nachzuweisen, die allen anderen, gegebenen Ein heiten zugrundeliegt.
Der folgende Schritt wird in der Dingvorlesung von 1907 vollzogen.
Diese Vorlesung ist in verschiedenen Hinsichten bedeutsam. In der
Einleitung dazu entfaltet Husserl erstmals thematisch den Gedanken der phanomenologichen Reduktion. (Diese Einleitung ist unter dem Titel: Die Idee der Phanomenologie, 5 Vorlesungen, als Bd. II der Hus serliana ver6ffentlicht worden.) Im Grunde genommen ist der Ge danke der phanomenologischen Reduktion nur eine konsequente
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DIE ENTSCHIEIDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 203
Fortbildung der reflexiven Einstellung, die Husserl schon in der Phi
losophie der Arithmetik als entscheidend herausgestellt hat. Wenn
die Blickrichtung aus der naiven Geradeauseinstellung herausgedreht
und -gehoben werden muB3, damit das BewuBtsein zu seinem eigenen
Betrachter wird und gerade die konstitutive Leistung zu sehen be
kommt, ist die Reduktion das geeignete Werkzeug dazu. Und zwar
zun&chst die ph&nomenologische Reduktion, also die Reduktion, die
das Seiende als Phanomen faBt, in seiner Bekundung als Vorgestell
tes14). Von nun an bleibt die Reduktion ein Leitmotiv des Husserlschen
Denkens, das bis ans Ende seines Lebens wiederkehren wird und in
den 20er Jahren eine besondere Entfaltung finrdet. Die Reduktion ist
kein Ziel voni Husserls Philosophieren sondern ein methodischer
Grundbegriff, durch den - wie wir sahen - das verborgene, das
anonyme Leben des BewuBtseins vor den Blick gelangen soll.
Wichtig ist ferner, daB hier Husserl nach der Zeitkonstitution zum
erstenmal den Konstitutionsgedanken auf die Konstitution des Dinges
erstrect. In der Vorlesung von 1925 sagt Husserl riickblickend
folgendes: ,,Was sich im dringenden und schon von der formalen Universalitat
der mathesis universalis erweckten Beduirfnis nach universeller Er
weiterung von den Logischen Untersuchungen aus darbieten muBte,
war die Erweiterung der apriorischen und formalen Logik und Mathe
matik zur Idee des Gesamtsystems apriorischer Wissenschaften fur
jede erdenkliche Kategorie von objektiven Gegenstanden, also zu
h6chst die Forderung eines universalen Apriori mbglicher Welten
uiberhaupt neben dem der formalen Mathematik, andererseits aber und korrelativ die Erweiterung der rein apriorischen Betrachtung des
nur formale Allgemeinheiten beriicksichtigenden erkennenden Be
wuBtseins auf das inhaltlich bestimmtere erkennende BewuBtsein, be
zogen auf jede Kategorie von Gegenstandlichkeiten. iberhaupt; und
sdilieBlich mufte von da aus eine apriorisch reine Bewul3tseinslehre
in voller Universalitat erwachsen, die auch jederle,i wertendes, stre
bendes, wollendes und so uiberhaupt BewuBtsein jedes Typus um
spannte, also das ganze konkrete subjektive Leben in allen Gestalten
seiner Intentionalitat erfaBte und die Totalitatsprobleme der Konsti
tution der Welt und der Einheit der BewuBtseinssubjektivitat, der
einzelpersonalen und vergemeinschafteten, erbffnete. " (F I 36, 29a)
Solange es sich bei der Kons,titution um ideale Gegenstandlich
keiten handelte, konnte immer gesagt werden, sie seien eigentlich nur
von gnaden:desSubjekts, insofern sie imNacherzeugenhervorgebracht
14) Vgl. den Aufsatz des Vf.: Husserls Encyclopaedia Britannica-Artikel und Heideggers An
merkungen dazu, in Tijdsdirift voor Philosophie, 1950
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204 WALTER BIEMEL
werden, und bestanden nicht unabhangig vom Denken, aber bei den
Dingen, den raumlich ausgedehnten Gegenstanden, ist doch der Sach
verhalt ein anderer. Kann hier uberhaupt noch von Konstitution ge
sprochen werden? Sehr wohi, wenn dieser Begriff in der fur Husserl
eigentiimlichen Bedeutung genommen wird, auf die schon hlfngewiesen
wurde, namlich als ,Sich-bekunden des Gegenstandes". Wird der Be
griff der Konstitution so genommen, so ist es durchaus sinnvoll da
nach zu fragen, welche Leistungen des Subjekts erforderlich seien, da
mit ein raumlicher Korper einem Subjekt vorstellig werden konne.
Husserl verkiindet, gleichsam in der Nachfolge seines Lieblingsphilo
sophen Descartes, als Prinzip des Vorgehens, daB vom Einfachen zum
Komplizierten fortgeschritten werden soll, vom Oberfladchlichen zum
Tiefen. Die niederste Form der Erfahrung soll aufgekl&rt werden, um
dann - von ihr ausgehend - zu den hoheren Formen fortschreiten zu
k6nnen. Es wird also vorausgesetzt, daB die niedere Form nicht nur
die einfachere ist, sondern zugleich auch die fundierende (wie Husserl
das im Zusammenhang der Philosophie der Arithmetik dargelegt
hatte.) Insofern Husserl als die niedere Form das unmittelbare Erfas
sen des Gegenstandes, die Wahrnehmung, ansieht, so ist das fur ihn
durchaus zutreffend, da ja die Wahrnehmung fur ihn die Form der Ur
gegebenheit darstellt. Es ist unm6glich, eine genaue Analyse der gro
Ben vierstiindigen Vorlesung zu geben, die in der Transkription 750 Seiten umfaBt, bloB einige Elemente mogen herausgestellt werden. Die wesentlichen Einsichten sind dann spater in die Ideen II aufgenom men worden. Husserl zeigt, welche Aktvollzuge selbst in der niederen
Sphare notig sind, um so etwas wie ein einheitliches Ding zu erhalten, was jeweils in der Sphare der Subjektivitat dem entsprechenden
Dingcharakter entspricht - der Qualitat der Eigenschaften, der Aus
dehnung, der Dauer, der Einheit und was dergl. mehr ist. Dabei ubt er standig phanomenologische Beschreibung in dem Sinne, daB er sich die Vorgange im Subjekt geben lIBt, bei der Beschreibung aber darauf
aus ist, keine Einzelgegebenheit in ihrer Unmittelbarkeit festzuhalten,
sondern nur die Wesenskorrelationen, die fulr die Wahrnehmung
ulberhaupt konstitutiv sind.
Aber die Dingvorlesung ist nicht nur wegen der Erweiterung der
Konstitutionsforschung bedeutsam, sondern auch weil Husserl hier er
6rtert, worauf er eigentlich hinaus will. ,,Es handelt sich um die
grundlegenden Partien einer kiinftigen Phanomenologie der Erfalh
rung, um eine von den nachstliegenden und ersten Anfangen aus
gehende und von da aus m6glichst tief und weit gefiuhrte Aufklarung
des Wesens der Erfahrungsgegebenheit, mindestens in ihren niederen
Formen und Stufen." (F 113, S. 162) Husserl gibt hier erstmals eine
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DIE ENTSCHEI'DENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 205
Analyse der Erfahrungswelt - das ist wieder ein entscheidendes Mo
ment, das sich bis zum Ende durchhalten wird15) und gerade in der
Krisis-Arbeit in den Vordergrund tritt - als Lebenswelt. Er verweist schon hier darauf, daB die wissenschaftliche Welt die Erfahrungswelt voraussetzt und sich nicht entfalten konnte ohne die Vorgegebenheit
der Erfahrungsweltl6). Aber im Unterschied zu der spateren Stellung nahme, deren Anfange Ende der zwanziger Jahre aufzuweisen sind, geht es nichi darum, die Wissenschaft auf die zugrundeliegende Le
benswelt zuriickzufuhren und so uberhaupt die in der Wissensdiaft liegende verborgene Fragwurdigkeit aufzudecken, sondern durch die
Analyse der Erfahrungswelt den Boden zu bereiten ffir das hochste
Problem der Konstitution der wissenschaftlichen Wirklicikeitnim wis
sensdiaftlichen Erkennen." (F I 13, S. 170) In dieser Phase von Hus serls Denken reprasentieren die.Kenntnisse der Naturwissenschaften einen Wahrheitsfond, dessen eigentlidce Aneignung durdh die Kon
stitutionsforsciung erst eigentlidh vollzogen werden soll. Wir finden hier die Vorbereitung dafur, was Husserl einige Jahre spater im Logos Artikel ausgesprodcen hat: die These von der Philosophie als strengen Wissenschaft17).
Um die Spannung, die Husserl zu dieser Zeit beherrscht, begreifen zu konnen, namlich die Spannung, die ihm daraus entspringt, daB er
sieht, wie sidh die Konstitutionsproblematik auf jederlei Art von Be
wuBtseinsgegenst&nden erstrecken muB, wobei oft komplizierte und
schwer zu entwirrende Implikationen zu analysieren sind, sei noch auf
eine Briefstelle aus einem Sdireiben an seinen Freund Albrecht hin
gewiesen (vom 1. 7. 1908): ,Ich sehe goldene Friidhte, die keiner sieht und greifbar nahe habe ich sie vor Augen. Aber ich bin Sisyphus, dem sie wieder entschwinden, wenn er nach ihnen greift. Und dieses Grei fen ist harte und harteste Arbeit. Ich mache best&ndig Fortschritte und groBe Fortschritte. Aber der Umfang der zu vollendenden Unter suchungen und die Verwirklichung der Probleme, die keines fur sidh
15) Vgl. Formale u. transzendentale Logik, ? 86
16) F I 13, ?Mag die Weltauffassung der Wissenschaft sich noch so sehr entfernen von derjenigen des verwissenschaftlichen Erfahrens, mag sie auch lehren, die Sinnesqualit?ten haben keine so unmittelbare Bedeutung, wie die nat?rliche Erfahrung ihnen zumi?t: es bleibt doch dabei, da? die schlichte Erfahrung, die unmittelbare Wahrnehmung, Erinnerung usw. ihr die Dinge gibt, die sie nur abweichend von der gew?hnlichen Denkweise theoretisch bestimmt. . . Alle
Wirklichkeitsurteile, die der Naturwissenschaftler begr?ndet, gehen zur?ck auf schlichte
Wahrnehmungen, Erinnerungen und beziehen sich auf die Welt, die in dieser schlichten
Erfahrung zu einer ersten Gegebenheit kommt. Alle mittelbare Begr?ndung, wie sie Wissen schaft vollzieht, beruht auf unmittelbarer Gegebenheit, und die Erlebnisse, in denen Realit?t zu unmittelbarer Gegebenheit kommt, sind Wahrnehmung, Erinnerung und, in gewisser Un
mittelbarkeit genommen, Erwartung und erwartungs?hnliche Akte." (S. 168 ff.) 17) Husserl spricht in dieser Zeit immer wieder davon (vgl. auch die Tagebuchaufzeichnungen,
die im Journal of Philosophy, Bd. XVI, no 3 ver?ffentlicht wurden), da? er eine Kritik der Vernunft schreiben m?sse.
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206 WALTER BIEMEL
(sich) abschlieBen und abgrenzen lfBt, ist beispiellos. Es geht mir also wieder wie im vorigen Jahrzehnt und mit dem Alter bin ich nicht be
quemer geworden... Natuirlich handelt es sich also wieder um groBe Publikationen mit dem letzten Ziel einer vollig neuen Kritik der Ver nunft, zu der schon meine Logischen Untersuchungen Fundamente enthalten.'
DaB dies Ringen mit Schwierigkeiten kein Gerede ist, davon zeugt gerade auch die Dingvorlesung. Hier sollten sozusagen die einfachsten
Untersuchungen dargeboten werden, in Bezug auf die raumlich aus
gedehnten Dinge in der Wahrnehmung und schon hier, also noch weit
entfernt von der eigentlich wissenschaftlichen Erfassung der Welt
die ja Husserl in dieser Zeit als die wahre weil intersubjektiv guiltige, gegenuber der bloB subjektiv-relativen, wandelbaren der unmittel baren Erfahrung ansetzt - haufen sich die Schwierigkeiten, so daB der
Vollzug des ndchsten Schrittes wieder in weite Ferne riickt.
Die themati'sche Formulierung der Phanomenologie auf Grund der
Entwicklung der letzten zehn Jahre nach den L. U. findet ihren Nieder
schlag im Logos-Artikel. Es sei hier nur an die Hauptthesen erinnert, die Forderung, daB die Philosophie ihren Sinn als Philosophie nur zu
erfiillen vermag, wenn sie zur strengen Wissenschaft wird. Das soll nun keineswegs besagen, daB die Philosophie der Wissenschaft unter
geordnet werden muisse, oder gar nach dem Vorbild der mathema tisdhen Naturwissenschaft mathematisiert, auf mathematische Formeln gebracht werden miisse. Im Gegenteil, Husserl weist darauf hin, daB die Naturwissen-schaften nicht im Stande sind ,die Wirklichkeit, in der
wir leben, weben unid sind" zu entratseln, und daB das nicht nur ein faktisches Unvermogen ist, das einmal uiberwunden werden konnte, sondern ein wesentliches Unverm6gen18). Worin besteht aber dann der Charakter der Wissenschaftlichkeit der Philosophie, worin be steht eigentlich die Strenge, an der nicht zu ruitteln ist und die selbst die mathematisch exakten Berechnungen und Forschungen uibertreffen soll?
Zundchst darin, daB ni.chts Vorgegebenes hingenommen, nichts Uberliefertes als geltend anerkannt werden soll und sei es audh mit noch so bedeutenden Namen der Geschichte verbunden (340). Aber das ist bloB ein negatives Kriterium fur den Radikalismus Husserls. Das positive besteht im Riickgang zu den Urspruingen. sie darf nicht
18) Logos, Bd. I, S. 330 ?Die Naturwissenschaften haben uns die aktuelle Wirklichkeit, die Wirklichkeit in der wir leben, weben und sind, nicht entr?tselt, an keinem einzigen Punkte. Der allgemeine Glaube, da? dies zu leisten ihre Funktion und sie nur noch nicht genug weit seien, die Meinung, da? sie dies prinzipiell leisten k?nnen, hat sich Tieferblickenden als Aberglaube enth?llt. Die notwendige Sonderung zwischen Naturwissenschaft und Philo
sophie ?als prinzipiell anders tendierter, obschon auf Naturwissenschaft in einigen Gebieten wesentlich bezogener Wissenschaft ? ist auf dem Wege sich durchzusetzen und zu kl?ren."
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 207
ruhen, bis sie ihre absolut klaren Anfange, d. h. ihre absolut klaren
Probleme, die im eigenen Sinn dieser Probleme vorgezeichneten Me
thoden und das unterste Arbeitsfeld absolut klar gegebener Sachen gewonnen hat." (loc. cit.) Der Charakter der Wissenschaftlichkeit be
steht weiterhin darin, daBI uber jeden Schritt, der vollzogen wird, voll
kommene Klarheit herrscht. DaB dem Philosophen sein eigenes Vor
gehen bis ins Letzte durchsichtig werde. Husserl kritisiert diesbezug lich die exakten Wissenschaften, daB sie zu sehr auf indirekte Me
thoden angewiesen seien und den Wert ,,direkter Erfassungen.... miB kennen' (341). Es fragt sich allerdings, ob Husserls Voraussetzungs losigkeit nicht doch gerade eine Ubernahme der Cartesianischen Vor
aussetzung ist, daB namlich die clara et distincta perceptio der Garant
der Wahrheit ist. Diese Voraussetzung Husserls wird besonders deut lich, wenn wir z. B. folgenden Ausspruch heranziehen: ,,daI die Phi
losophie Form und Sprache echter Wissenschaft annehme und als Un
vollkommenheit erkenne, was an ihr vielfach geriihmt und gar imi
tiert wird - den Tiefsinn. Tiefsinn ist ein Anzeichen des Chaos, das
echte Wissenschaft in einen Kosmos verwandeln will, in eine ein
fache, v6llig klare, aufgeloste Ordnung. Ecite Wissenschaft kennt, so weit ihre wirkliche Lehre reicht, keinen Tiefsinn. Jedes fertige Stuick Wissenschaft ist ein Ganzes an Denkschritten, deren jeder unmittelbar
einsichtig, also gar nicht tiefsinnig ist. Tiefsinn ist Sache der Weisheit,
begriffliche Deutlichkeit und Klarheit Sache der strengen Theorie." (op. cit. S. 339) DaB dies ein Punkt ist, an dem nachher die Trennung zwischen Husserl und Heidegger vollzogen wird, braucht wohl nicht
unterstrichen zu werden. DaB Husserls Meinung, der Tiefsinn ent spreche einer Periode des Anfangs, in der noch Unklarheit herrscht, einer Periode also, die iiberwunden werden muB, selbst fragwiirdig ist, sei immerhin nicht unerwThnt gelassen.
Husserl versteht also die Philosophia nicht von der sophia her, sondern von der Wissenschaft, im Sinne der neuzeitlichen scientia
bzw. mathesis. Aber all das Gesagte bleibt leer, wenn wir nicht vor
Augen haben, was diese Wurzeln sind, um die es Husserl geht und wie sie zu fassen sind. Denn es sind nicht die aristotelischen archai
oder aitiai, die die episteme tis in den Blick zu bekommen sucht. Was
dann? Es ist der Ursprung des Sinnes, demgemaB uns Seiendes zu
ganglich wird. Der Boden dieses Ursprungs ist aber das BewuBtsein.
Folglich muissen wir durch die ph&nomenologische Reduktion das Sei
ende als uns vorstelliges fassen und dabei vermittelst der unmittel
baren Intuition sein eidos festhalten1l).
19) Logos, Bd. I, S. 341 .Es liegt aber gerade im Wesen der Philosophie, sofern sie auf die letz ten Urspr?nge zur?ckgeht, da? ihre wissenschaftliche Arbeit sich in Sph?ren direkter Intuition
bewegt, und es ist der gr??te Schritt, den unsere Zeit zu machen hat, zu erkennen, da? mit
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Bekanntlich hat die im Logos-Aufsatz enthaltene Kritik der Welt anschauungsposition - also eigentlich Diltheys - zu einem Brief wechsel gefiihrt, wobei Husserl Dilthey mitteilte, daB er ihn nicht habe treffen wollen. Uns interessiert in diesem Zusammenhang, da.3 er im
Briefwedhsel den Ruckgang zu den Wurzeln naher bestimmt als Ruck gang auf das sinnbildende BewuB3tsein.
Husserl nennt hier seine Philosophie Metaphysik: ,,DaB es einer Metaphysik in diesem Sinne prinzipi ell bedarf, gegenuber den in der groBen Arbeit der Neuzeit *erwachsenen Natur- und Geisteswissen sdhaften, hat darin seine Quelle, daB im Wesen der Erkenntnis eine
Sdhichtung und damit zusammenhangend eine doppelte Erkenntnisein stellung beyrundet ist: die eine rein auf das Sein gerichtet, das be
wuBtseinsmdBig gemeint, so und so gedacht und erscheinungsma&fig gegeben ist, die andere aber gerichtet auf die ratselhafte Wes'ensbe ziehung zwischen Sein und BewuBtsein. Alle natuirliche Daseinser kenntnis, alle Erkenntnis innerhalb der ersten Einstellung, lMBt eine Dimension von Problemen offen, deren Losung die letzte endgiultige Sinnesbestimmung des Seins und die letzte Auswertung der in der ,natuirlichen' (ersten) Einstellung vermeintlich schon erreichten Wahr
heit abhangt. Ich glaube einsehen zu konnen, daB es hinter den voll st&ndigen, d. h. die ,Constitution' des Seins im BewuBtsein mit einbe ziehenden Seinsproblemen sinnvoll keine mehr geben kann, daB also hinter der phanomenologisch erweiterten und fundierten (universalen) Daseinswissensdiaft (die in ihre Arbeit alle naturlichen Daseinswis senschaften einbezieht) keine Wissenschaft mehr liegen kann, bzw. dal von einem noch dahinter liegenden, prinzipiell unerkennbaren Sein zu spredhen, Widersinn ist." (Brief vom 5. und 6. Juli 1911 .)20)
Durch das Aufweisen des Sinnbildens, wie es in jeder Wissenschaft vollzogen wird, ohne daselbst zur Einsicht zu gelangen, sollen gerade auch die Wissenschaften durch die Phanomenologie zum Selbstver standnis gebracht werden.
Der Logos-Aufsatz ist der Block, auf dem Husseri's Denken ruht. Die Entfaltung seines Philosophierens, bis sie sich so als Block konsti tuiert, ist ausfuhrlicher behandelt worden, weil das vom Standpunkt
der im rechten Sinne philosophischen Intuition, der ph?nomenologischen We
senserfassung, ein endloses Arbeitsfeld sich auftut und eine Wissenschaft, die ohne alle indirekt symbolisierenden und mathematisierenden Methoden, ohne den Apparat der Schl?sse und Beweise, doch eine F?lle strengster und f?r alle weitere Philosophie ent scheidender Erkenntnisse gewinnt." Es ist also keineswegs erstaunlich, wenn Husserl, wie J. Hering berichtet (La ph?nom?nologie il y a trente ans, in Revue Int. de Phil. I, no. 2), nach einem Vortrag Koyr?s ?ber Bergson in der G?ttinger Philosophischen Gesellschaft erkl?rt hat: .Die konsequenten Bergsonianer, das sind wir." (p. 368).
20) Der Briefwechsel Husserl-Dilthey aus dieser Zeit ist in Nr. 2, 1957 der Revista de Filosof?a de la Universidad de Costa Rica ver?ffentlicht.
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 209
der Genese erforderlich ist. Die folgende Entwicklung, die durch die
Veroffentlidhungen. bekannter ist, sei nur angedeutet.
Die 1913 veroffentlichten Ideer zu einer reinen Phdnomenologie
und phdnomenologischen Philosophie2l) sind der erste Versuch einer
systematischen Darstellung der Phanomenologie, ihrer Methode, ihrer
Probleme und besonders des durch sie gewonnenen Wesens des reinen
BewuBtseins. Es kann in gewisser Weise gesagt werden, daB Husserl
hier seinen alten Plan einer Kritik der Vernunft verwirklidht. Ein be
sonders groBes Gewicht erhalt die seit 1907 entfaltete Methode der
Reduktion. Der erste Band der Ideen will bloB die Einfuhrung in die
reine Ph&nomenologie geben, den Grund legen, auf dem dann die
eigentliche Arbeit, die ph&nomenologischen Konstitutionsanalysen
durchgefifhrt werden sollten, der Inhalt des 2. Bandes, dem Husserl,
die folgenden zehn Jahre seines Lebens widmete (die verschiedenen
Umarbeitungen und Uberarbeitungen dieses Bandes dauerten bis 1928,
vgl. die Einleitung zu den Ideen II, Husserliana Bd. IV, von Marly
Biemel). In den Ideen wird der Konstitutionsgedanke mit dem Sdhidct
gedanken gekoppelt, denn der Aufbau der Ideen: Konstitution der an
malischen Natur, der seelischen Realitat und der geistigen Welt soll
zugleidh eine wesentlidhe Schichtung sidctbar werden lassen. Ganz be
sonders die Konstitution der geistigen Welt besdc&ftigte Husserl bis
Ende der 20er Jahre, wie aus den versdiiedenen Mss. ersichtlidh wird,
die den Untersdcied von Naturwissenschaften und Geisteswissen
schaften zum Thema haben22).
Eigentlich sollte der 3. Band der Ideen die erste Philosophie ent
halten. Husserl schob dann allerdings dies Projekt hinaus und gab an
Stelle der Ersten Philosophie die wissenschaftstheoretischen Unter
suchungen. Die Erste Philosophie arbeitete er in den Vorlesungen von
1923/24 aus, deren Text von R. Boehm ver6ffentlicht ist, bzw. wird.
Aber meiner Meinung nach vollzieht sidh in diesen Jahren kein
eigentlicher Umschwung sondern bloB eine Ausbreitung und Vertie
fung der in den Ideen gegebenen Problemstellung. Es ist diesbeziuglidc
aufschluBreich, daB der II. Teil der Ersten Philosophie eigentlidh eine
Theorie der Reduktionen ist, der verschiedenen Reduktionen, die auf
einandergebaut sind, um schlieBlidi das fundamentale konstituierende
BewuBtsein freizulegen. Dabei kommt es Husserl besonders darauf an,
die transzendentale Reduktion klarzustellen, also die Reduktion, die
auf das transzendentale ego zuruickfuhrt, den letzten sinnkonstitu
21) Husserliana Bd. 3 enth?lt den Text der Ideen I samt den Umarbeitungen, Erg?nzungen und
Verbesserungen Husserls.
22) Es sei hier auf die beiden Psychologievorlesungen von 1925 und 1928 hingewiesen, Signatur F I 36 und F I 33. Der Text von F I 36 erscheint demn?chst unter dem Titel Ph?nomeno
logische Psychologie als Band IX der Husserliana.
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ierenden Boden. Von der Ersten Philosophie von 1923/24 bis zu den
Cartesianischen Meditationen, deren Endausarbeitung in die Jahre
1929-32 fallt, spannt sich ein Bogen, so daB mit Recht gesagt werden
kann, daB die Cartesianischen Meditationen als ,,meditationes de
prima philosophia' die erste Philosophie Husserls darstellen und
so eigentlich den 3. Band der Ideen bilden, auf den Husserl schon
1913 hinwies. Husserl litt sein ganzes Leben lang daran, daB ihm
uber der Fille der Einsichten und des Materials eigentlich so
schwer seine systematische B&ndigung gelang, nach der er beseelt
von dem Gedanken eineT Philosophie als strenger Wissenschaft
strebte. Deswegen haben wir eine Reihe von Ansatzen dazu, ange
fangen von den 5 Vorlesungen von 1907 bis zu der Krisis, uiber die Ideen, die Erste Philosophie, die Formale und transzendentale Logik
und die Cartesianischen Meditationen. Noch 1930 schreibt er an Ro
man Ingarden: ,,Uberhaupt ist es ein wahres Unglick, daB idh mit der
Ausgestaltung meiner (so muB ich leider sagen) transzendentalen Phd
nomenologie im systematischen Entwurf so spat zustande gekommen
bin....U23)
Die letzte Phase von Husserls Denken wird durch die Arbeiten an
der Krisis bestimmt. Es geh6rt zur Tragik Husserls, daB diese Arbeit
audi ein Fragment geblieben ist und es fragt sich, inwiefern das Frag mentarische nicht zum Denken Husserls gehort, insofern als er zwar
immer mit systematischen Anspriichen auftritt, aber seine Leiden
sdhaft eigentlich den Analysen in phanomenologischer Intuition gilt, so daB er von ihnen mitgerissen wird.
Was ist das eigentlich Neue im Entwurf der Krisis, das uns be
rechtigt fuir dieses Alterswerk eine eigene Phase anzusetzen? Wes
wegen sieht Husserl selbst in diesem Werk einen neuen Anfang, einen
neuen Weg, den er leider nicht zu Ende gehen kann?
Es ist nicht schwer, die sogenannten Leitmotive von Husserls Den
ken, die seit dem Logos-Aufsatz die Phanomenologie beherrschen, in
der Krisis aufzufinden und aufzuzahlen: die Auseinander-setzung mit
den Wissenschaften, Versuch der Abhebung der Philosophie von den
Wissenschaften, StrLben nach einer apodiktischen Wahrheit, Erorte
rung der Epoche ir I .Ilehnung an Descartes; ja es kann sogar gesagt
werden, daB zwei e-'rIttel des Werkes eigentlich der Reduktion gewid met sind - ist das aber nicht das seit 1907 bestandig aufgenommene Motiv seines Philosophierens? Weswegen also der Krisis solch eine
Bedeutung zusprechen, ja sie sogar als Wendepunkt seines Denkens
ansehen wollen? Lassen wir uns nicht mitreiBen in Husserl etwas hin
einzuinterpretieren, was in ihm gar nicht steht?
23) Vgl. Strasser, Einleitung zu den Cart. Medit., S. XXVII.
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DIE ENTSCHEIDENDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 211
Um das eigentlich Neue zu verstehen, muB man nicht nur darauf
sehen, was Husserl sagt, sondern darauf, was er macht, wie Van Breda
das einmal formuliert hat. Das ist Husserls Versuch der Deutung der
Geschichte und d. h. zugleich seine Auseinandersetzung mit der Ge
schichte. Ja es ist die Einsicht, daB es zum Wesen der Philosophie ge
h6rt, sich in so eine Auseinandersetzung einzulassen. Husserl ist diese
Einsicht nicht leicht gefallen, wir haben eine ganze Reihe von Mss. aus
der Gruppe K III, in denen Husserl sich fragt, weswegen die Philoso
phie der Geschichte bedurfe. Er wird zu dieser Fragestellung gedrangt
durch den Versuch zu verstehen, wieso es dazu kommen konnte, daB
die Wissenschaft in eine Notlage geraten ist, die darin ihren unmittel
baren Ausdruck findet, daB sie ein groBartiges, besonders tedhnisch
verwertbares Wissen von der Natur liefert, aber beim Wissen vom
Menschen versagt - wie es im Wiener Vortrag heiBt.
Um die Notlage zu verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit der
Geschichte notig - der Geschichte des Wissens als ein Ringen um ein
universales Wissen. Es muB aufgezeigt werden, wie und warum dies
Wissen sich spaltet, in die beiden Richtungen des physikalistischen
Objektivismus und des transzendentalen Subjektivismus. Husserl sieht
bei Descartes den Ansatz zu die;ser Spaltung, die einerseits zur Ent
faltung der mathematischen Naturwissenschaften gefiihrt hat - an
dererseits zur Transzendentalphilosophie. Es soll hier jedoch nicht der
Gedankengang der Krisis wiedergegeben werden, sondern bloB das
treibende Moment herausgestellt werden, der eigentliche Keim dieser
Arbeit24).
Ubertrieben ausgedruckt ist es. die Einsicht, daB das wesentliche Wissen des Menschen kein endgiiltiger, ein fur allemal erworbener Besitz ist - wie das auf Grund der phanomenologischen Wesensschau
gelehrt wurde - keine apodiktische Wahrheit im Sinne der mathema tischen Naturwissenschaften, sondern daB das Wissen nur ist als ein zu sich sellbst gelangen der Vernunft. Im Erringen des Wissens ver
wirklicht isich die Vernunft, so daB der Weg des Wissens zugleich der
Weg der Selbsterhellung der Vernunft ist, die auf dem Wege zu sich
selbst ist. Die Vernunft wird ihrem Wesen nach als geschichtlich auf
gefaBt, Geschichtlichkeit in sich bergend. Das war beim transzenden talen ego nicht der Fall, obgleich es andererseits als zeitigendes auf
gefaBt wurde. Dies Verhdltnis des transzendentalen ego zur Vernunft verdiente einmal untersudht zu werden. Die Vernunft wird von Hus
serl nicht als Strukturganzes gesehen, dessen Gliederung untersucht
werden muB, sondern als ein wesenhaftes Werden, eine standige Ent
24) Vgl. die Besprechungen von A. Gurwitsch in ?Journal of Philosophy and Phaenomenological Research" Bd. XVI, no. 3 u. XVII, no. 3.
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212 WALTER BIEMEL
faltung - wobei die Entfaltung als ein notwendiges Zu-sidh-selbst
kommen gedeutet wird; was wiederum nicht nur heiBt, daB der Mensch
Einsicht hat in das, was er ist, sondern daB er - eine fuir Husserl
selbstverst&ndliche Annahme - mit dieser Einsicht auch in Einklang
lebt, d. h. gemaB seiner Einsicht lebt, in Selbstverantwortung,. so daB
sein Wille notwendig in Einklang mit seinem Wissen ist. Es ist notig
darauf hinzuweisen, daB schon im Begriff der Evidenz, wie er in der
Formalen und transzendentalen Logik entfaltet wird (S. 143f.), ein
teleologisches Moment angelegt ist, das dann in der Krisis ganz zen
tral wird. Durch die Evidenz erhalt das BewuBtseinsleben eine teleo
logisdhe, zielgerichtete Struktur. Die Evidenz ist nicht einfach ge
geben sondern wird vielmehr schrittweise errungen. Evidenz ist eine
Grundart der Erfahrung - ihr Ziel das Selbstgegebensein des Gegen
standes, bzw. die Selbsthabe. (S. 144) Die Steigerung der Vollkommen
heit der Selbsthabe wird in der geschichtlichen Dimension die Steige
rung der Vollkommenheit des Selbstverstandnisses - worin sich das
Wesen der Vernunft erfiillt. Das ist das eigentlich Neue fur Husserl
und bezeidcnet in der Tat einen Wendepunkt in seinem Denken. Nicht
so, als ob er alle bis dahin entscheidenden Begriffe iuber Bord werfen
w-drde25), aber sie erhalten nun eine neue Bedeutung, eine neue Di
mension. Um hier nur einen zu nennen, den der Apodiktizitat. Dieser
Begriff der Apodiktizitat meint nun nicht mehr das absolut gewisse Wissen nach dem Vorbild des mathematischen Wissens, sondern er
meint das durch und durch erhellte Wissen der Vernunft, das zwin
gend ist, weil die Vernunft, sofern sie Vernunft ist, nicht unvernunftig handeln kann, sondern sich ihrer Einsidit gemaB entscheiden muB, so
daB sie durch die Entscheidung sich selbst verwirklicht. So spricht Hus
serl von einem Leben in ,,apodiktischer Freiheit", was zunachst einen
Widersinn zu bedeuten scheint, wenn man unter dem Begriff der Apo
diktizitat bloB das Moment des Zwanges sieht. Aber wenn der Be
griff der Vernunft konsequent und radikal gedacht, und der Mensch
als Vernunftwesen begriffen wird, dann ist tats&chlich die Einsicht in
die Verniinftigkeit die hochste GewiBheit, die Gewiflheit, die das Han
deln unzweideutig bestimmt.
So wird als Ziel von Husserl angesetzt ,das Selbstverstandnis als
Sein im Berufensein zu einem Leben in der Apodiktizitat' (Krisis,
S. 275).
Noch eine letzte Bemerkung uiber den fur diese Epoche entscheiden den Begriff der Lebenswelt. Es wird immer wieder behauptet, das Ent
scheidende der Krisis sei das Zurtickfiihren der wissenschaftlich
25) Wir d?rfen nicht vergessen, da? Husserl bei der Ausarbeitung der Krisis das 7. Jahrzehnt ?berschritten hatte.
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DIE ENTSCHEIDENiDEN PHASEN IN HUSSERLS PHILOSOPHIE 213
,,wahren' Welt auf die Lebenswelt, so als ob diese Gegeniiberstellung
schon ein Ziel an sich sei. Das ist keineswegs der Fall. Vielmehr er
halt diese Riickfuihrung erst dadurch ihre Bedeutung, daB nun die wis senschaftliche Welt als ,,an sich wahre Welt" in Frage gestellt wird. Die
Konstitution der wissenschaftlichen Welt setzt die primare Konsti tution der Lebenswelt voraus. Die wissenschaftliche Welt entsteht durch eine Verwandlung der Lebenswelt. Das ist ja der Sinn des zen tralen Galilei-Paragraphen, zu. zeigen, durch welche Prozesse der Idealisierung Galilei zu einer wissenschaftlichen Naturkonzeption ge langt, die durch Kausalitat durchgangig bestimmt ist, auf Formeln
gebracht und berechenbar wird. Galilei wird dadurch, daB er diese Ver
wandlung nicht als solche weiB und faBt, zugleich zum Verdecker der
urspriinglichen Welt, der Lebenswelt, die notwendig vorausgesetzt
wird. ,,Galilei ... der vollendete Entdecker der Physik, bzw. der physi
kalischen Natur ist zugleich entdeckender und verdeckender Genius.'
(Krisis, S. 53) Die idealisierte, mathematisierte und dadurch berechen
bar gewordene Natur ist fur Husserl nicht mehr die an sich wahre Natur. In den Vordergrund tritt die Erfassung der Welt als der ur
spriinglidien Lebeinswelt.
Die eigentliche Vorstufe fur die Problematik der Lebenswelt scheint mir in der Formalen und transzendentalen Logik aufweisbar. Schon 1907 fanden wir einen Hinweis auf die Notwendigkeit einer Analyse und Theorie der Erfahrungswelt, aber erst in der Formalen und tran szendentalen Logik wird dann der entscheidende Schritt gemacht, nam
lich durch die Ruickfuhrung der pradikativen Evidenz auf die nicht
pr&dikative, welche letztere der Erfahrung gleichgesetzt wird. (Vgl. ? 86, S. 186 ff) Im ? 86 heiBt es ausdrflcklich, daB ,,das Erfahrungsurteil das Urteil des Ursprungs ist' (187). Der Rtickgang zum Ursprung er fordert in der Logik eine Theorie der Erfahrung (S. 188). Landgrebe hat dann wesentliche Elemente dieser Logik der Erfahrung heraus gegeben im Band ,,Erfahrung und Urteil". Gerade die Bildsamkeit, die
Offenheit fur eine Wandlung, das In-Bewegung-sein der Erfahrungs welt ist aber eine Voraussetzung fur die Moglichkeit der Geschicht
lichkeit.
Husserl bleibt bei der Herausstellung der Strukturen der Lebens welt nicht stehen (allerdings findet sich auch keine konsequente und
systematisch erschopfende Darstellung derselben), vielmehr will er nach den konstitutiven Leistungen zuriickfragen, die die Lebenswelt selbst ermoglichen, denn nur dann nahern wir uns dem anonymen
Leisten des transzendentalen ego, das sich in der Krisis zugleich als ge schichtliche Vernunft enthillt.
14 Ztft. f. philosoph. Forschung XIII/2
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