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8. Der kulturelle Raum: Europa
Die Interpretation der Räumlichkeit, die die Welt für den Menschen hat, bildet die
Grundlage einer Vielzahl imaginativer Zugriffe auf Abstrakta der kulturellen Umwelt. Im
Diskurs werden komplexe gesellschaftliche Strukturen u.a. als Räume metaphorisiert: Die
durch ein Gesetzeswesen organisierte Gemeinschaft wird als ein Rechtsraum bezeichnet, sich
neu ergebende ökonomische Möglichkeiten als neue Wirtschaftsräume etc. Auf einer
allgemeineren Ebene werden auch Staaten oder deren institutionelle Zusammenarbeit als
politische Räume verstanden. Ein solcher politischer Raum ist das sich einigende Europa.
Die Interpretation dieses Raumes in der deutschen Presse soll in diesem Kapitel in
zwei Abschnitten kontrastiv untersucht werden. Zunächst möchte ich untersuchen, wie die in
der Fachliteratur mehrfach behandelte Haus-Metaphorik im deutschen Diskurs zu einem
Verständnis Europas beiträgt. Als Kontrast dient der russische Diskurs, in dem diese
Metapher ebenfalls eine Rolle spielt (Chilton/Ilyin 1993; Zybatow 1995). Im zweiten
Abschnitt wird untersucht, wie der Wandel dieses Raumes Europa durch die Europäische
Integration, die Einbindung der mitteleuropäischen Staaten in die EU, interpretiert wird. Zur
Gegenüberstellung wird hier der polnische Diskurs herangezogen, so dass die Perspektive
eines EU-Staates der eines noch nicht der EU angehörenden Staates gegenübergestellt wird.
8.1 Europa und das metaphorische Modell BAUWESEN1
Die Vorstellung von Europa als einem Gebäude ist in der linguistischen Literatur
einige Male behandelt worden (Chilton/Ilyin 1993; Zybatow 1995). Das Hauptaugenmerk hat
dabei auf dem von Gorbatschow verwendeten Schlagwort des "gemeinsamen europäischen
Hauses" (obščeevropejskij dom) gelegen. Chilton und Ilyin (1993) interessieren sich v.a. für
die Rolle, die diese Metapher im transnationalen Diskurs gespielt hat. Sie verweisen darauf,
dass Westeuropäer, die diese Metapher gerne aufgenommen haben, unter einem Haus
typischerweise etwas Anderes verstehen als Russen. Für einen Westeuropäer ist das typische
Haus ein Ein-Familien-Haus, in dem sich jeder frei zwischen allen Zimmern bewegen kann.
Für einen Russen ist der Wohnblock das typische Haus. In einem Wohnblock kann der
Besuch unter verschiedenen Bewohnern durchaus ungewollt sein. Die Implikationen dieser
1 Die in diesem Abschnitt präsentierten Analysen sind eine Momentaufnahme aus der Arbeit im PKV. Die konkreten Daten sind vorläufig und zeigen gewisse Tendenzen auf.
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Unterschiede für das Verständnis vom Zusammenleben der Staaten in Europa sind offen
ersichtlich.
Zybatow (1995) beschäftigt sich mit der weiteren Entwicklung der Gorbatschow'schen
Metapher innerhalb des russischen Diskurses. Während liberale Milieus die Metapher
aufgenommen und als Modell für verschiedene Ableitungen genutzt haben, ist die Metapher
bei Konservativen auf Ablehnung gestoßen. Sie argumentieren, Russland sei zu groß, um eine
Wohnung innerhalb eines gemeinsamen europäischen Hauses zu beziehen.
Die Vorstellung von Europa als einem Haus geht aber keineswegs auf Gorbatschow
zurück. Sie wurde auch vor ihm bereits verwendet (Chilton/Ilyin 1993). Gebäude-Metaphorik
ist insgesamt im politischen Diskurs stark ausgearbeitet, und keineswegs auf den Zielbereich
EUROPA beschränkt. Vielmehr scheinen Institutionen i.A. als Gebäude verstanden zu
werden.
Der Signifikative Deskriptor, der in der Datenbank des PKV sprachliche Gebäude-
Metaphern zu metaphorischen Modellen bündelt, heißt BAUWESEN, im Russischen
STROITEL'STVO. In der deutschen Datenbank gibt es mehrere diesem Modell
zuzurechnende Metaphern, die nie in bezug auf Europa verwendet werden. Auf lexikalischer
Ebene scheint hier ein Prozess der Differenzierung stattzufinden: Die Gebrauchsregeln
verschiedener lexikalischer Ausprägungen des BAUWESEN-Modells werden tendenziell auf
bestimmte Kontexte eingeschränkt. So werden Handelsbeziehungen ausgebaut, nicht jedoch
Europa. Die einzelnen europäischen Nationen werden als Bastionen verstanden, nicht jedoch
ganz Europa. Erschüttert werden in der deutschen DB Stereotype, aber nicht etwa die
Mauern des europäischen Hauses. (1) „Europa und Asien wollen ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen weiter ausbauen.“
(Rheinische Post, 21.10.2000) ?“Europa muss weiter ausgebaut werden.“
(2) „Und wer wagt den ersten Schritt, damit auch die anderen ihre nationalen Bastionen verlassen.“ (FAZ,
9.12.2000) ?„Europa sollte keine Bastion gegenüber anderen Ländern sein.“
(3) „Lieb gewordene Stereotype werden erschüttert, vor allem im Verhältnis zum unmittelbaren westlichen
Nachbarn.“ (taz, 14.10.2000) ?“Das europäische Haus wird durch diese Probleme unnötig erschüttert.“
Diese Beispiele können sich z.T. als Zufallsergebnisse erweisen, das Phänomen der
funktionalen Differenzierung auf lexikalischer Ebene ist jedoch z.B. für
Übersetzungsdienstleistungen und interkulturelle Kommunikation bedeutend und wird in der
kognitiven Metapherntheorie vernachlässigt. Die Erklärung dieser Phänomene muss wohl in
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erster Linie eine linguistische, weniger eine allgemein kognitive sein. Die Festigung von
Kollokationen scheint z.B. eine Rolle zu spielen. In der deutschen Datenbank interpretieren
70% der Metaphern, die dem Modell BAUWESEN zugerechnet werden, Europa im
geographischen, kulturellen, oder institutionellen Sinn.2
8.1.1 Unterschiede und Gemeinsamkeiten im russischen und im deutschen Diskurs
Die folgende Analyse ist eingeschränkt auf die Signifikativen Deskriptoren des
BAUWESEN-Modells, über die Europa bzw. ein Aspekt Europas interpretiert wird. Für eine
Analyse der Datenbanken ist es aber sinvoll, dieses Modell weiter aufzufächern. Ich möchte
die folgende Klassifizierung vorschlagen: Zunächst lässt sich die BAUWESEN-Metaphorik
unterteilen in gebäudebetonende und baubetonende Metaphern. Gebäudebetonende
Metaphern wären solche, die von etwas als von einem fertigen Gebäude sprechen,
baubetonende Metaphern wären solche, die von etwas als von etwas zu Bauendem sprechen.
In beiden Gruppen möchte ich des weiteren unterscheiden zwischen unterschiedlichen
Benennungen eines Gebäudes bzw. Baus sowie vier das entsprechend benannte Phänomen (x)
betreffenden Aspekten, die in der Interpretation versprachlicht werden: 1) Menschen, die
etwas mit x zu tun haben; 2) Texte, die sich auf x beziehen; 3) Struktur von x 4) Prozesse, die
in bzw. an x vor sich gehen. Das folgende Schaubild illustriert diese Klassifizierung:
BAUWESEN Gebäudebetonend Baubetonend Benennung Benennung Menschen Menschen Texte Texte Struktur Struktur Prozesse Prozesse
Schaubild 1: Aspekte des Metaphorischen Modells BAUWESEN
Das Modell BAUWESEN scheint zu den leistungsstärksten Modellen in der
Interpretation Europas zu gehören. In der russischen Datenbank ist es das zweithäufigste, in
2 Auf die Profile Europas gehe ich in 8.1.2 ein.
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der deutschen Datenbank das dritthäufigste metaphorische Modell, das in entsprechenden
Kontexten sprachlich gebildet wird. Dies zeigt das folgende Schaubild:
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PERSONIFIZIERUNG BAUWESEN RAUM
Schaubild 2: Metaphorische Modelle in der Interpretation des Begriffs Europa. Anmerkungen: hell = russische DB; dunkel = deutsche DB.
38% aller Metaphern für Europa im deutschen Teil sind Personifizierungs-Metaphern,
11% sind Raum-Metaphern, 8% sind Bauwesen-Metaphern. In der russischen Datenbank sind
22% aller Metaphern in der Interpretation Europas Personifizierungs-Metaphern, 13% sind
Bauwesen-Metaphern, und 7% sind Raum-Metaphern.3
Welche Vorstellungen von Europa werden im russischen und im deutschen
Zeitungsdiskurs des Jahres 2000 mit Hilfe des metaphorischen Modells BAUWESEN
gebildet? Ich möchte mich in der Analyse darauf konzentrieren, wie dieses Modell in den
beiden Sprachen ausgearbeitet wird, d.h. welche mit dem Bauwesen zusammenhängenden
Elemente der Welt in der metaphorischen Interpretation Europas versprachlicht werden.
Ich werde nun zunächst die Ausarbeitung gebäudebetonender Metaphorik im
russischen und im deutschen Diskurs erläutern. Schaubild (3) zeigt die Benennungen Europas
als Gebäude in der russischen und deutschen Datenbank sowie die Versprachlichungen
einzelner Aspekte des Lebens in einem Haus4:
3 Die russischen Daten in 8.1 sind von meiner Mitarbeiterin im PKV Elena Bolotova gesammelt worden. 4 Die Angaben in Klammern sind Fremdzitate von Politikern aus anderen Ländern und somit nur begrenzt aussagekräftig.
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BENENNUNG TEXTE MENSCHEN Haus Haus Hausordnung Nachbarn Nachbarn (Zuhause) Mietvertrag Gäste Hausmieter Hausbewohner (Hausherrin) (Mieter)
STRUKTUR Tür Tür Schwelle (Kacheln) PROZESSE Dach umzäunen Wand s. einleben (Arbeitszimmer) Flur Pfahlzaun
Schaubild 3: Gebäudebetonende Metaphorik im russischen und im deutschen Diskurs. Anmerkungen: Fettdruck = russische Metaphern; Normaldruck = deutsche Metaphern. Die Pfeile deuten die übergeordnete Bedeutung der Benennung an, die festlegt, was sich sinnvollerweise auf ein so benanntes Phänomen beziehen kann.
Das „Haus“ ist die häufigste Benennung für einen Begriff, über den Europa
interpretiert wird, wobei diese Metapher im Russischen gebräuchlicher zu sein scheint als im
Deutschen. Aber auch im Deutschen sind immerhin 8,82% aller BAUWESEN-Metaphern
Haus-Metaphern, womit diese Metapher als Prototyp des Gebäudes im Modell BAUWESEN
betrachtet werden kann. Neben dem Haus wurde das emotionalere Zuhause gefunden,
allerdings als Fremdzitat. (4) „Wie sie [EU] ihr eigenes Haus in Ordnung bringen muß, wenn sie zwölf (und später mehr) neue
Mitglieder aufnehmen will, wird seit vielen Jahren diskutiert“ (FAZ, 9.12.2000) (5) „So oder so - daran lässt keiner der Gesprächspartner in Warschau Zweifel aufkommen - wird das Haus
Europa nach Polens Beitritt ein weiteres Mal umgebaut werden.“ (taz, 31.10.2000) (6) "[...]machte es seinen Gastgebern um so leichter, den Serben, wie es der französische Präsident Chirac
überschwenglich formulierte, auf ihrem Weg "ins europäische Zuhause" jede Unterstützung zuzusagen." (FAZ 16.0.2000)
(7) "Или их хотят изгнать из Европы, чтобы русский медведь, не видя достойной противосилы, мог,
когда сочтет нужным, сокрушить в европейском доме все перегородки и объявить его по итогу не общим, а своим?" (UK)
"Oder will man sie aus Europa vertreiben, damit der russische Bär, ohne einen würdigen Gegenpol, alle Trennwände im europäischen Haus, wenn er es für nötig hält, zerschlagen und es letztendlich zu seinem, statt zum gemeinsamen Haus erklären kann?"
(8) "Совет Европы не заглотил резонную и вроде бы очевидную трактовку чеченских событий:
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Россия как умеет защищает единую Европу от исламских ультра. Пусть криво и грубо - но ради общего европейского дома стараемся." (Og 13)
Der Europarat hat die vernünftige und scheinbar offensichtliche Deutung der Ereignisse in Tschetschenien nicht geschluckt: Russland verteidigt so gut es kann das gemeinsame Europa vor islamischen Ultras. Vielleicht falsch und grob – aber für das gemeinsame europäische Haus strengen wir uns an.
Es fällt auf, dass der Aspekt der Texte nur im Deutschen ausgearbeitet ist.
(9) "Die Nachbarn in der geographischen Mitte des Kontinents möchten so bald wie möglich ihren
Mietvertrag unterschrieben haben. Ihr Problem ist, dass - abgesehen von genauer informiertem Führungspersonal - die Öffentlichkeit zwar den Hochglanzprospekt des Westflügels kennt, den Zustand des sie betreffenden Teils der Baustelle aber nicht so genau und das Kleingedruckte (Kosten, Umlagen, Hausordnung) nur in groben Zügen." (Frankfurter Rundschau, 2.3.2000)
(10) "Das Dokument beschreibt also - wie das Grundgesetz - die "Hausordnung", an der sich nicht zuletzt
die derzeitige Diskussion über die Zuwanderung orientieren könnte." (FAZ, 6.12.2000)
Die Metapher der Hausordnung tritt im deutschen Korpus immerhin dreimal auf,
womit sie 4,41% der BAUWESEN-Metaphorik ausmacht. Einmal erscheint sie sogar im
Titel. Wie könnte ein Erklärungsversuch für diese Vorliebe für Texte auf Seiten deutscher
Journalisten bei völliger Abwesenheit solcher Metaphorik im Russischen aussehen? Die
Vermutung, deutsche Diskutanten hätten eine besondere Neigung zum Normativen klingt so
stereotyp, dass sie als Kandidat für eine Erklärung direkt ungeeignet scheint. Zunächst möchte
ich mich mit der negativen Erklärung begnügen, dass die Abwesenheit einer solchen
Metaphorik im Russischen z.T. mit der Abwesenheit der entsprechenden Realien
(Mietvertrag) im russischen Alltag zu begründen ist.5 Ich werde in der Interpretation in 8.1.2
auf dieses Thema zurückkommen.
Bezüglich der Metaphorisierung von Aspekten der Europapolitik über Menschen, die
mit einem fertigen Gebäude zu tun haben, lassen sich zwischen dem Russischen und dem
Deutschen keine großen Unterschiede feststellen. In beiden Diskursen wird die gut gefestigte
Metapher des Nachbarn verwendet. Im Deutschen treffen wir außerdem auf Hausmieter und
Hausbewohner, im Russischen auf die Gäste. Im Russischen wird also die Frage der
Legitimität bzw. der unterschiedlichen Eingebundenheit verschiedener Länder in die
europäischen Machtstrukturen stärker über die Hausbewohner-Metaphorik interpretiert. (11) "Vielmehr geht es darum, sich nicht gegenüber den östlichen Nachbarn abzuschotten, den Einwohnern
der Ukraine und Weißrusslands Reisemöglichkeiten zu erhalten, die demokratische Kultur in diesen Ländern zu fördern, finanziell Mittel der Europäischen Union für die Nachbarn bereitzustellen und vieles mehr." (taz, 14.10.2000)
(12) "Daran zu arbeiten kann sich nicht in Konferenzen und gedrechselten Kommuniques erschöpfen. Das ist
ein Gemeinschaftsprojekt aller Hausmieter von heute und morgen." (Frankfurter Rundschau, 02.03.2000)
5 Der Hinweis hierauf stammt von meiner Mitarbeiterin E. Bolotova.
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(13) "Was den letzten Punkt angeht, so ist der neue Umgang der älteren Hausbewohner (West) mit dem
Haider-Syndrom ganz lehrreich." (Frankfurter Rundschau, 02.03.2000) (14) "На Запад Россия приглашается лишь в гости, как бедный и непредсказуемый сосед." (NG 6) "In den Westen wird Russland nur als Gast eingeladen, als armer, unvorhergesehener Nachbar." (15) "БЕЛОРУССИЮ В ГОСТИ НЕ ПРИГЛАСИЛИ. Совет Европы, к которому Россия
присоединилась в прошлом году, пока не слишком расположен к принятию в свои ряды другой славянской страны - Белоруссии." (MN 26)
"WEIßRUSSLAND IST NICHT ALS GAST GELADEN. Der Europarat, dem Russland letztes Jahr beigetreten ist, ist bisher nicht besonders geneigt, Weißrussland als weiteren slawisches Land in seine Reihen aufzunehmen."
In beiden Diskursen wird über diesen Aspekt der Haus-Metapher das institutionelle
Europa interpretiert, dem nur der Westen des Kontinents angehört. Die osteuropäischen
Staaten tauchen nur als Gäste oder Nachbarn auf.
Insgesamt wird die gebäudebetonende Metaphorik im russischen Diskurs viel stärker
ausgearbeitet als im deutschen. Eine Vielzahl von Elementen eines Gebäudes wird im
Russischen herangezogen, um verschiedene Aspekte Europas und der Rolle Russlands in
Europa zu interpretieren: Tür, Schwelle, Dach, Wand, Flur, Pfahlzaun. Im Deutschen habe
ich nur die Tür gefunden, sowie die Kacheln als Zitat eines polnischen Politikers. Die Tür als
Metapher für (politische, wirtschaftliche etc.) Möglichkeiten wiederum ist eine der besonders
gut gefestigten Metaphern des deutschen Diskurses. (16) „Er hoffe aber, dass es nicht wie Spanien sieben Jahre würde verhandeln müssen, bis die Tür zur EU
aufgehe.“ (taz, 31.10.2000) (17) „So soll für die übrigen Partner die Tür jederzeit offen stehen.“ (FAZ, 17.01.2000) (18) "Es dürfen Russland gegenüber keine Türen geschlossen werden - nicht die NATO-Türen, nicht die EU-
Türen", sagte Clinton am Freitag in einer Rede zur Verleihung des Karlspreises in Aachen.“ (Rheinische Post, 02.06.2000)
(19) "[...] если мы не хотим стать в ряд с политическими малышами Латинской Америки или Средней
Европы (вроде Гватемалы или Македонии) у дверей Международного валютного фонда, [...]" (NG 6)
"[...] wenn wir nicht mit den politischen Zwergen Lateinamerikas und Mitteleuropas (vom typ Guatemala oder Mazedonien) in einer Reihe an der Tür des IWF stehen wollen, [...]"
(20) "А Екатерина II, которая поставила Россию на пороге Европы?" (LG 2) "Und Katarina II., die Russland auf die Schwelle zu Europa gestellt hat?" (21) "На самом деле Россия стремится стать своеобразной крышей Европы [...]" (NG) "Tatsächlich strebt Russland an, eine Art Dach Europas zu werden [...]" (22) "Добившиеся своего Вена и Рим используют каждую возможность, чтобы хоть чуть-чуть, но
надстроить ту стену, которая отделяет их и весь Европейский союз от Восточной Европы." (LG) "Nachdem sie das Ihre erreicht haben, nutzen Wien und Rom jede Möglichkeit, um wenigstens ein
Stückchen die Wand aufzustocken, die sie und die gesamte Europäische Union von Osteuropa trennt."
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(23) "Сегодня Россию пустили в прихожую Европы." (NG 6) "Heute wurde Russland in den Flur Europas eingelassen." (24) "А ведь было время, когда деятели стран, расположенных к западу от Эльбы, упорно стремились
построить свой собственный - полуевропейский - дом, отгородившись высоким частоколом от социалистических стран Европы." (UK)
"Dabei gab es doch eine Zeit, als die Politiker der Staaten westlich der Elbe hartnäckig bemüht waren, ihr eigenes – halbeuropäisches – Haus zu bauen, nachdem sie sich mit einem hohen Pfahlzaun von den sozialistischen Ländern Europas abgegrenzt hatten."
Während im Deutschen das Gebäude, das durch die Tür impliziert wird, wiederum
eine Institution, die Europäische Union, ist, lässt sich im Russischen, bis auf (19), keine solch
eindeutige Zuordnung treffen. Die zitierten russischen Metaphern artikulieren eher ein Gefühl
der Ausgeschlossenheit aus einem allgemeiner, z.T. historisch-zivilisatorisch verstandenen
Europa.
Prozesse, die ein fertiges Gebäude betreffen, werden im Deutschen überhaupt nicht für
die Interpretation Europas herangezogen. Im Russischen lassen sich die Metaphern des
Umzäunens und des sich Einlebens finden. (25) "Это будет не столько раскол Европы, сколько огораживание России." (NG 20) "Das wird nicht so sehr eine Spaltung Europas, als vielmehr ein Umzäunen Russlands sein." (26) "В общем, несмотря на все трудности, Россия входит, внедряется, начинает
обживаться в Европе, в европейском демократическом пространстве. Европе "войти" в Россию, вовлечь ее в указанное демократическое пространство будет труднее." (I 6)
"Insgesamt dringt Russland, ungeachtet aller Schwierigkeiten, nach Europa ein, fängt an sich einzuleben in Europa, im europäischen demokratischen Raum. Europa wird es schwerer fallen, in Russland "hineinzugehen", es in den gezeigten demokratischen Raum einzubinden."
Beispiel (26) verweist, was selten ist, explizit darauf, was mit diesem Gebäude Europa
gemeint ist: ein zivilisatorisch durch die Demokratie bestimmter Raum.
Ich wende mich nun der baubetonenden Metaphorik in beiden Diskursen zu. Diese
wird im deutschen Europa-Diskurs besonders stark ausgearbeitet, wie das folgende Schaubild
zeigt:
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BENENNUNG TEXTE MENSCHEN Baustelle Bauanleitung (Baupartner) Bauleute Konstruktion Konstruktion Bauplan Konstrukteure ELEMENTE PROZESSE Fundament Fundament bauen bauen Bausteine Bau mitbauen Statik umbauen Gefüge aufbauen Grundlage Konstruktion Schaubild 4: Baubetonende Metaphorik im russischen und im deutschen Diskurs.
Weder der Aspekt der Menschen, noch der der Texte, die das Bauen eines Gebäudes
betreffen, ist im russischen Korpus präsent. Zudem ist das, was an baubetonender Metaphorik
im Russischen Verwendung findet, recht vage. Es ist allgemein vom Konstruieren und
Bauen die Rede. Im deutschen Diskurs gibt es hingegen eine starke Baustellen-Metaphorik,
die alle fünf hier unterschiedenen Aspekte umfasst: (27) "Die Erweiterung nach Osten ist kaum noch aufzuschieben. Tritt sie ein, ohne dass zuvor Europa festere
politische Gestalt annimmt und die "finalité" vom leeren Begriff zur verpflichtenden Vision wird, dann bleibt Europa ungeordnete Baustelle." (Welt, 27.06.2000)
(28) "Bauanleitung für Europa (Titel)" (FAZ 19.05.2000) (29) "Gerade wegen ihres Erfolges steht die Europäische Union heute vor der größten Herausforderung ihrer
Geschichte. Welches Ziel soll sie haben, welcher Bauplan soll Europa zu Grunde liegen?" (Welt, 06.10.2000)
(30) "Anders als vor acht Jahren, als das erste Maastricht-Refrendum in Dänemark den Bauleuten der EU
vorübergehend die Blaupausen durcheinanderwirbelte, ging es jetzt um die Dänen selbst." (FAZ, 13.10.2000)
(31) "Trotz dieser ernüchternden Erfahrungen wollen die Regionalisten die Hoffnung nicht aufgeben. Sie
betrachten die Regionen als übersichtliche "Bausteine Europas", als Grundlage für die notwendige Integration "von unten"." (Frankfurter Rundschau, 22.12.2000)
(32) "Differenzierung, aufruhend auf einem Grundbestand an Gemeinsamkeiten, wird das organisierende
Prinzip der Zukunft werden. Europa zu bauen, indem man es über einen Leisten schlägt, führt geradewegs zu dänischen Ergebnissen." (FAZ, 13.10.2000)
(33) "При этом Россия психологически готова пойти в западноевропейскую школу социально
рыночного хозяйства и признать ведущую роль Европейского союза в деле создания общеконтинентальной конструкции" (NG 8)
"Dabei ist Russland psychologisch darauf vorbereitet, in die westeuropäische Schule der sozialen Marktwirtschaft zu gehen und die führende Rolle der Europäischen Union in der Zusammenfügung einer gesamtkontinentalen Konstruktion zuzugestehen."
(34) "Не будет единства Европы, пока не будет она общностью духа. Этот самый глубокий
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фундамент единения принесло Европе и веками его укрепляло христианство, [...]" (MN 4) "Es wird keine Einheit Europas geben, solange diese keine Gemeinschaft des Geistes ist. Das
Christentum hat Europa dieses tiefste Fundament gebracht und es über Jahrhunderte gefestigt." (35) "Я считаю, что амбиции могут быть направлены на стратегические цели, такие, как
строительство Европы, действительно более ориентированной на европейские интересы." (LG 2) "Ich denke, dass die Ambitionen auf strategische Ziele gerichtet werden können, solche wie den Bau
Europas, welches sich stärker an europäischen Interessen orientiert." (36) "А ведь было время, когда деятели стран, расположенных к западу от Эльбы, упорно стремились
построить свой собственный - полуевропейский - дом, отгородившись высоким частоколом от социалистических стран Европы." (UK)
"Dabei gab es doch eine Zeit, als die Politiker der Staaten westlich der Elbe hartnäckig bemüht waren, ihr eigenes – halbeuropäisches – Haus zu bauen, nachdem sie sich mit einem hohen Pfahlzaun von den sozialistischen Ländern Europas abgegrenzt hatten."
Die Baustelle ist mit 5,88% der Bauwesen-Metaphern eine ebenfalls gefestigte
Benennung, wenngleich sie nicht so stark zu sein scheint wie das Haus. Bei den russischen
Beispielen fällt auf, dass die für den deutschen Diskurs auch in der Baustellen-Metaphorik
typische Einschränkung Europas auf den institutionell geeinigten Teil, die Europäische
Union, im Russischen nicht nur nicht feststellbar ist, sondern es sogar deutlich wird, dass ein
anderes als das momentan politisch geeinte Europa gemeint ist, wenn vom Bau Europas die
Rede ist.
8.1.2 Interpretation
Welche Vorstellungen von Europa werden zur Zeit im russischen und im deutschen
Diskurs mit Hilfe des BAUWESEN-Modells gebildet? Kann angesichts der Anwendung von
Metaphern, die dem Bereich des BAUWESENS zugerechnet werden, sowohl im russischen
wie im deutschen Diskurs von gleichen oder ähnlichen Vorstellungen zu Europa ausgegangen
werden? Ich möchte in der Interpretation der präsentierten Daten zeigen, warum dies nicht der
Fall ist, und die Abbildungsstereotypen formulieren, die als Zugangsweisen für die
Interpretation Europas in den beiden Diskursen typisch sind.
Die BAUWESEN-Metaphorik und das Problem der richtigen Ebene
Das russische und das deutsche Korpus unterscheiden sich stark in bezug darauf,
welche Teilbereiche dessen, was unter dem allgemeinen Deskriptor BAUWESEN
zusammengefasst wird, zur Interpretation Europas herangezogen wird. Diese Unterschiede
sind sowohl quantitativer als auch qualitativer Art. Das, was in beiden Sprachen zu finden ist,
etwa die Metaphorik des Hauses, der Konstruktion, oder der Tür, wird in unterschiedlichem
Maße genutzt. Vor allem aber werden die Schwerpunkte dessen, welche Projektionen für ein
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Verständnis Europas als sinnvoll erachtet werden, unterschiedlich gesetzt. Im deutschen
Diskurs wird Europa als etwas betrachtet, das erst im Entstehen begriffen ist. Diskutiert wird,
wie auf diese Entstehung Einfluss genommen werden soll, und was letztendlich das Ziel
dieses Prozesses sein soll. Im russischen Diskurs hingegen wird Europa als etwas Gegebenes
betrachtet. Die Diskussion geht darum, wer im existierenden Europa welche Rolle spielen,
welche Bedeutung innehaben soll.
Es ist daher sicher unangemessen zu behaupten, im russischen wie im deutschen
Diskurs würde eine Metaphorik ausgebildet, die zu einer Vorstellung von Europa als einem
Objekt des Bauwesens einlädt. Der Deskriptor BAUWESEN wäre hier zu allgemein, würde
zu viel behaupten und bestehende Unterschiede verwischen. Das typische Modell Europas im
russischen Diskurs scheint eher das Haus zu sein, das des deutschen Diskurses die Baustelle.
Profile Europas
Die naheliegende Antwort auf die Frage, warum sich die Ausarbeitungen der
BAUWESEN-Metaphorik im russischen und im deutschen Diskurs so unterscheiden, scheint
die zu sein, dass unterschiedliche Aspekte des sehr weiten Begriffs Europa diskursiv
verhandelt werden. Die Lektüre der präsentierten Beispiele nährt eine solche Vermutung.
Während es in den deutschen Beispielen um die Aufnahme neuer Staaten in die EU oder um
deren Verfasstheit geht, wird im russischen Diskurs über die Rolle Russlands in Europa
diskutiert.
Um festhalten zu können, was ein Autor meint, wenn er das Wort "Europa" benutzt,
habe ich drei Deskriptoren in die Datenbank eingeführt, die verschiedene Profile Europas
benennen.
Europa als EuropaGeo: „Europa“, das ist die Halbinsel westlich des Urals.
Europa als EuropaInst: „Europa“, das ist die Teilsumme der Staaten in (a), die
institutionell zusammen arbeiten.
Europa als EuropaKult: "Europa", das ist die Teilsumme der Staaten in (a), deren
(religiöse, zivilisatorische) Werte und Aspirationen sich ähneln.
Eine quantitative Analyse der Europa-Datenbanken zeigt, dass im russischen und im
deutschen Diskurs von unterschiedlichen "Europas" die Rede ist. Die Unterschiede
verdeutlicht das folgende Schaubild
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4,42%
66,29%
23,89%
71,68%
13,48%
20,22%
"Europa" undEuropaInst
"Europa" undEuropaKult
"Europa" undEuropaGeo
DeutschRussisch
Schaubild 5: Das russische und das deutsche Profil Europas.
Wenn im deutschen Korpus das Wort "Europa" in einer Metapher verwendet wurde,
dann wurde in 71,68% der Fälle der Denotative Deskriptor EuropaInst gebraucht. Im
russischen Korpus geschah dies nur in 13,48% der Fälle. Im russischen Diskurs ist mit
"Europa" meistens das geographische Europa gemeint (66,29%), im deutschen Diskurs ist
dies sehr selten der Fall (4,42%). Ein kulturelles Verständnis von Europa beschwören
russische (23,89%) und deutsche (20,22%) Journalisten fast gleich häufig.
Auch bezüglich des Zielbereichs unterscheidet sich also die Metaphorik der beiden
Zeitungsdiskurse. Welche Vorstellungen, welche Abbildungsstereotypen bilden die beiden
Diskurse?
Abbildungsstereotypen zu Europa im russischen und im deutschen Diskurs
In Anlehnung an die Ausarbeitung des Begriffs der Abbildungsstereotypen in Kapitel
5 möchte ich nun überlegen, welche Abbildungsstereotypen Europas sich für den russischen
und den deutschen Zeitungsdiskurs formulieren lassen. Ein Abbildungsstereotyp wurde
beschrieben als diskursspezifische, relativ stabile kulturelle Vorstellung zu einem
Objektbereich, die in der Interaktion von allgemeinen, aus erlebter Korrelation erworbenen
und subjektgebundeneren, durch semiotisches Erfahren erworbenen Wissensbeständen
gebildet wird.
Die Metaphorisierungen unterschiedlicher Begriffe, die in diesem Abschnitt als
Realisierung von BAUWESEN-Metaphorik präsentiert wurden, entstammen
unterschiedlichen Kontexten und Kommunikationsbedürfnissen. Jeweils ein
Abbildungsstereotyp für den gesamten deutschen und den gesamten russischen Diskurs zu
formulieren heißt nicht, zu behaupten, dass all die hier erwähnten sprachlichen Metaphern
Funktionen eines einheitlichen Denkprinzips aller deutschen bzw. russischen Journalisten
seien. Abbildungsstereotype existieren in Texten, sie sind kulturelle Modelle, über ihre
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Existenz in individuellen Köpfen soll keine Aussage getroffen werden. Es handelt sich um
relativ stabile sprachlich-textuelle Manifestationen von in einer Gemeinschaft typischen
subjektiv-kognitiven Perspektivensetzungen.
Betrachtet man die deutsche Zeitungsberichterstattung als einen Diskurs in Kontrast
zum russischen Diskurs, so scheinen die folgenden korrelativen und intertextuellen Metaphern
besonders prägnant. Das Empfinden, dass über die institutionelle Einigung insbesondere im
Rahmen der Europäischen Union ein neues Europa im Entstehen begriffen ist, und dass dieses
Entstehen kein selbsttragender Prozess ist, sondern sich durch Handeln vollzieht, wird
diskursiv in erster Linie über die Metaphorik des Bauens verhandelt. Diese Metapher kann im
Sinne der Kognitiven Semantik als Realisierung eines allgemeinen imaginativen Schemas
verstanden werden, das Johnson (1987) als Bildschema BINDUNG bezeichnet. Dieses
Bildschema beruht im Sinne Gradys (1999) auf der erlebten Korrelation von (a) körperlicher
Verbundenheit und (b) einer positiven kognitiven Reaktion, dem Empfinden von Sicherheit,
psychischer "Stabilität", Zuneigung. Dieses allgemeine Vorstellungsschema, nach dem
Verbindung etwas positives Neues herstellt, kann als Grundlage der Baumetaphorik betrachtet
werden, denn ein Gebäude entsteht durch die "Verbindung" von Bausteinen.
Eine interessante intertextuelle Metaphorik im untersuchten Teil des deutschen
Korpus' ist die des Bauplans bzw. der Bauanleitung, wie auch die der Hausordnung und
des Mietvertrags. All diese Metaphern interpretieren die Problematik der Finalität des
europäischen Einigungsprozesses: Was soll das institutionell geeinte Europa letztendlich sein,
welche Kompetenzen sollen von der nationalen auf die europäische Ebene übertragen werden,
welche Verpflichtungen werden übernommen etc. Diese Metaphorik hat neben einer
kognitiven eine stärkere ideologische Funktion. Sie fordert die verantwortlichen Politiker auf,
Ideen und Vorschläge zu einer Europapolitik zu formulieren und vorzustellen. Es lässt sich
aber m.E. zum gegenwärtigen Zeitpunkt im deutschen Zeitungsdiskurs kein wirklich
prägnantes Bild von einem zukünftigen Europa finden, das als Abbildungsstereotyp eine klare
Vorstellung von Europa ermöglichen würde. Das gegenwärtig stabilste Abbildungsstereotyp
des deutschen Zeitungsdiskurs im Rahmen der BAUWESEN-Metaphorik ließe sich
folgendermaßen formulieren: "Europa ist die Europäische Union, und diese ist eine
Baustelle".
Im russischen Europa-Diskurs bestehen andere Kommunikationsbedürfnisse als im
deutschen. Eine Mitgliedschaft in der EU beispielsweise ist kein wirkliches Thema, sondern
taucht lediglich ab und zu als relativ kuriose Idee auf. Im russischen Diskurs geht es darum,
den eigenen Platz in Europa zu bestimmen bzw. einen solchen Platz zu finden. Institutionelle
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Strukturen, die in einer solchen Standortbestimmung als Orientierungshilfe dienen könnten,
existieren nicht. Es wird allgemein über die Rolle Russlands in einem eher amorphen Raum
Europa diskutiert. Als allgemeines kognitives Schema ist daher das Bildschema BEHÄLTER
geeigneter, das als Grundlage der Haus-Metaphorik betrachtet werden kann. Dieses Schema
erlaubt die Diskussion grundsätzlicher, im russischen Diskurs wichtiger Fragen, wie der, ob
Russland in oder außerhalb von Europa ist bzw. sein sollte. Typische intertextuelle
Metaphern scheinen im russischen Diskurs solche zu sein, die der Unsicherheit über die
Machtverhältnisse im zukünftigen Europa Ausdruck verleihen. Dazu zählen die Metaphern
der Gäste und des Flurs. Zur Bedeutung des Flurs gehört es im Russischen, dass potentielle
Besucher dort warten, bis entschieden wird, ob man sie einlässt oder wieder aus der Wohnung
verweist. Das russische Abbildungsstereotyp im Rahmen der BAUWESEN-Metaphorik
könnte daher wohl lauten: "Europa ist ein Haus, und dieses ist fremdes Eigentum".
8.2 Metaphorische Modelle der Europäischen Integration im polnischen und im deutschen
Zeitungsdiskurs
In Kapitel 8.1 ist deutlich geworden, dass im deutschen Zeitungsdiskurs Europa als
das Gebiet der Europäischen Union verstanden wird, und dass in der Wahrnehmung Europas
der Aspekt des Wandels desselben heraussticht. Insbesondere wird die Aufnahme neuer
Mitglieder sowie die innere Einigung der Mitgliedsländer der EU thematisiert. Ich möchte
mich nun der Frage zuwenden, wie die Europäische Integration im polnischen und im
deutschen Zeitungsdiskurs konzeptualisiert werden, und welche Vorstellungen vom Raum
Europa hier eine Rolle spielen.6 Das Korpus enthält Metaphern aus Artikeln zur Europäischen
Integration, die in polnischen und deutschen Zeitungen und Zeitschriften im Zeitraum Januar
bis März 2000 veröffentlicht wurden. Der Analyse wurden auf polnischer Seite fünf der
auflagestärksten überregionalen Tageszeitungen unterzogen. Auf deutscher Seite wurden die
im "Pressespiegel Polen" erfassten Zeitungen genutzt. Vier der polnischen Zeitungen, nämlich
Gazeta Wyborcza, Rzeczpospolita, Trybuna und Życie, stehen dem EU-Beitritt Polens positiv
gegenüber, wobei sie sich an unterschiedliche Leserkreise richten, von sozialistischen bis zu
konservativen. Nur der “national-katholische“ (Łubienski 1999, 290ff.) Nasz Dziennik spricht
sich grundsätzlich gegen den Integrationsprozess aus. In den untersuchten deutschen
Zeitungen gibt es keine offene Ablehnug der EU-Erweiterung, es werden hauptsächlich
6 8.2 beruht z.T. auf Mikołajczyk/Zinken (2000). Die polnischen Belege sind von Beata Mikołajczyk gesammelt worden.
193
landwirtschaftliche Probleme der Realisierung thematisiert. Insgesamt ist der EU-Beitritt in
polnischen Zeitungen ein wichtigeres Thema als in deutschen Zeitungen. In der deutschen
Presse ist zudem selten ein einzelnes Land wie Polen Gegenstand der Betrachtung. Meistens
ist von "den Kandidaten" die Rede.
In den beiden Korpora lassen sich drei allgemeine Schemata ausmachen, die in der
Interpretation der Europäischen Integration eine Rolle spielen. Diese drei Schemata illustriert
Schaubild 6:
194
Europäische Integration
QUELLE – WEG – ZIEL
Polen
EU
Beitritt
Prozess ist Aktivität Polens:
- Weg - Wettrennen, Marsch Ziel: Europäische Union - Behälter
- geschlossenes System - Festung, Klub
- strenger Lehrer Polen: - Europameister oder Nachzügler - Schüler: Zeugnisse, Aufnahmeprüfung - bedrohliches Naturelement: überschwemmt die EU
AUSDEHNUNG
Polen
EU
Erweiterung
Prozess ist Aktivität der EU:
- Erweiterung, Expansion - Bevormundung - Dominante Kraft
EU ist: - Organismus: sucht nach seinen Wurzeln - anonyme Masse von Bürokraten: Brüssel Polen: - Opfer der Expansion
- Sklave/Halbsklave
VERBINDUNG
neue EU
Polen Westen
Gestaltung (Bauen, Familie)
Prozess ist Aktivität beider Beteiligten:
- Bauen: gemeinsames Gestalten - Familie/Eheschließung EU plus Polen = Europa = westliche Zivilisation ist: - neues, gemeinsames Haus
- Christentum als solides, gemeinsames Fundament
- Gemeinschaft, Bund - gegenseitiger Respekt - Verlobter, ältere reiche, geizige Dame
Polen: - ärmere Vettern - Heiratswillige, sich aufdrängende Dame; junger
armer Kavalier Schaubild 6: Modelle der europäischen Integration im polnischen und deutschen Diskurs
195
1) Das Bildschemata QUELLE-WEG-ZIEL. Dieses Bildschema korrespondiert mit einer
reichen Bewegungsmetaphorik. Die EU ist hier das Ziel der Reise, die Kandidaten
sind Reisende, Verhandlungen sind der Weg, Probleme sind Blockaden und
Unwegsamkeiten etc.
2) Das Bildschema AUSDEHNUNG. Dieses Bildschema ermöglicht eine Metaphorik der
EU als lebender Organismus, der sich andere Organismen einverleibt.
3) Das Bildschema BINDUNG. Dieses Bildschema erlaubt eine Vorstellung der
Europäische Integration als Gestaltung durch die Verbindung unterscheidbarer
Teile. Zum einen fällt hierunter die Metaphorik des Bauens, in der die EU ein
Gebäude ist, das aus den Kandidaten und Westeuropa zusammengesetzt wird, und
das eines stabilen Fundamentes bedarf. Aber auch die Metaphorik des Heiratens und
der Zusammenführung einer Familie entspricht diesem Schema.
Diese metaphorischen Modelle setzen unterschiedliche Perspektiven in der
Interpretation der Europäischen Integration. Das folgende Schaubild illustriert dies:
Interpretation der Europäischen Integration einseitige Perspektive (c) beidseitige Perspektive (Bewegungs-Metaphorik, (Bau-Metaphorik, Heirats-Metaphorik,
Erweiterungs-Metaphorik) Familien-Metaphorik) (a) Aktivität der Beitrittsländer (b) Aktivität der EU (Bewegungs-Metaphorik) (Erweiterungs-Metaphorik) Schaubild 7: Die Perspektivität der Interpretation der Europäischen Integration
Auf einer allgemeinen Ebene lassen sich zwei Perspektiven unterscheiden. Unter der
ersten Perspektive wird die Integration als einseitige Anstrengung gesehen, in der eine Seite
aktiv, die andere passiv ist. Unter der anderen Perspektive wird die Integration als beidseitige
Anstrengung gesehen. Die das BINDUNGS-Schema bildenden Metaphern des Bauens, des
Heiratens, und der Familie setzen eine beidseitige Perspektive, beide Seiten sind gleich
wichtig und für eine Integration in gleichem Maße gefordert. Die Metaphern, die eine
einseitige Perspektive setzen, können weiter unterschieden werden in bezug darauf, welche
Seite als die aktive betrachtet wird. Wird die jetzige EU als die aktive Seite dargestellt, so
wird diese Aktivität mit der dem AUSDEHNUNGS-Schema entsprechenden Erweiterungs-
196
Metaphorik interpretiert. Ist von Polen oder anderen Beitrittsländern als aktiver Seite die
Rede, so wird deren Aktivität mit der auf dem QUELLE-WEG-ZIEL-Schema basierenden
Bewegungs-Metaphorik interpretiert.
Im Folgenden möchte ich die metaphorische Setzung der drei unterschiedenen
Perspektiven (a) – (c) im deutschen und im polnischen Zeitungsdiskurs erläutern.
Europäische Integration als Aktivität der Beitrittsländer
Das metaphorische Modell der Integration als Beitritt – mit den Kandidaten als
Läufern, der EU als Ziel etc. – ist das in den deutschen Pressetexten vorwiegende. Die
Kandidaten sind es, die sich ändern, die sich bewegen müssen, eine Veränderung in der EU
rückt in diesem Modell nicht ins Blickfeld. (37) "Der Streit um die Landwirtschaftsbeihilfen behindert Polens Weg in die Union (Untertitel) (...) Auf
ihrem Weg in die Europäische Union mussten die Polen das schon öfter erleben: jemand versperrt ihnen die Straße." (Süddeutsche Zeitung, 27.01.00)"
Die häufigste Benennung des Integrationsprozesses in diesem Modell ist der Beitritt.
Diese Metapher impliziert, dass die EU eine Art von betretbarem Raum ist. In der Diskussion
vermeintlicher Gefahren eines Beitritts wird der Raum der EU als geschlossener Behälter
verstanden, der durch den Beitritt gesprengt werden könnte. (38) "Stabilität allein genügt nicht (Zwischentitel). Damit die neuen Mitglieder die Union nicht sprengen,
muss sie zudem mehr von ihnen verlangen als politische und wirtschaftliche Stabilität." (Süddeutsche Zeitung, 12.02. 00)
In der Diskussion der Europäischen Integration spielt ein Verständnis von Europa im
Sinne der EU als einem fertigen Gebäude also durchaus eine Rolle, nämlich dann, wenn die
EU bzw. einige ihrer Aspekte in ihrem derzeitigen Zustand bewahrt werden soll und ein
Beitritt als problematisch betrachtet wird. Zwar wird im Zeitungsdiskurs die
perspektivensetzende Metaphorik selber nicht diskutiert, doch scheinen es Gegner eines u.a.
durch die Sprengungs-Metapher gekennzeichneten, die Gefahren des Beitrittsprozesses
betonenden Diskurses zu sein, die die implizite Auffassung der EU als eines geschlossenen
Raumes aufgreifen und diesen kritisch als verteidigte Festung bezeichnen. (39) "Kritiker wie die grüne EU-Abgeordnete Elisabeth Schroedter weisen darauf hin, dass die Kosten für die
Verteidigung der Festung Europa in vielen Fällen die Fördermittel auffressen, die die EU für den Beitrittsprozess bereitstellt." (taz, 04.02.00)
(40) "Brüssel hat den westeuropäischen Besitzstand verteidigt und die Dimension der osteuropäischen Probleme ignoriert." (Zeit, 16.03.00)
197
Eine ebenfalls sehr stabile Metapher, die den Integrationsprozess als einseitige
Anstrengung der Beitrittsländer interpretiert, ist die Schüler-Lehrer-Metapher. Es wird der
Eindruck vermittelt, dass es allein die Polen sind, die sich anstrengen müssen, um eine
Integration zu ermöglichen. Die Rolle der EU-Staaten besteht darin, Wissen zu vermitteln.
Diese Metapher betrachte ich als intertextuelle Metapher. Zwar können persönliche
Schulerfahrungen eine Rolle bei der individuellen Aufnahme dieser Metaphorik spielen. Die
Stabilität dieses metaphorischen Modells beruht aber nicht auf sich alltäglich wiederholender
körperlicher Erfahrung, sondern darauf, dass sie eine kulturelle Institution als Quellbereich
wählt, zu der markante stereotype Vorstellungen, etwa die vom strengen Lehrer, vom
Musterschüler, vom Sitzenbleiber etc., also semiotische Wissensbestände existieren. Polen
als Schüler bzw. Musterschüler ist ein Land, das sich bewähren muss, indem es die
Aufnahmeprüfung in die EU besteht. Das Ziel kann nur durch Übernahme von EU-Wissen
erreicht werden, so dass diese das Vorbild ist, von dem die polnische Politik lernen soll.
Diese Sichtweise gibt einen in Deutschland und vermutlich auch anderen EU-Mitgliedsstaaten
verbreiteten Standpunkt wider, und ist in polnischen Texten sehr selten zu finden. (41) "In ein paar Jahren, wenn Polen und Tschechien die Aufnahmeprüfung in die EU bestanden haben,
wird es in Blumberg noch umweltverträglicher und leiser zugehen." (taz, 04,02.00)
Die EU ist im Rahmen dieses Metaphernsystems ein strenger Lehrer, der die
Fortschritte des Kandidaten kontrolliert: (42) "Beitritt nach Noten. Brüssel überwacht penibel die Fortschritte der Anwärter" (Überschrift)
(Süddeutsche Zeitung, 12.02.00)
Der sich vollziehende Anpassungsprozess wird sowohl in polnischen als auch in
deutschen Zeitungen häufig mit einer Reihe von Hausaufgaben für die Kandidaten
gleichgesetzt. Gerade die Metapher der Hausaufgaben wird aber auch zur Kritik an einem
einseitigen Modell genutzt. Es wird darauf hingewiesen, dass es nicht reicht, wenn die Polen
ihre Hausaufgaben erledigen. (43) Jeśli chcemy integracji, a nie prostej akcesji, to musimy wymagać partnerstwa i europejskiej
wzajemności. Nie wystarczy więc sumiennie odrobić polską lekcję [...]. (Trybuna, 17.02.00) Wenn wir eine Integration wollen, und keinen bloßen Anschluss, dann müssen wir Partnerschaftlichkeit
und europäische Gegenseitigkeit verlangen. Es reicht also nicht, gewissenhaft die polnischen Hausaufgaben zu machen [...]."
Die Einseitigkeit der Schüler-Metapher bietet Integrationsgegnern die Möglichkeit,
auf vermeintliche negative Aspekte der Integration hinzuweisen. Insbesondere im Nasz
198
Dziennik ist von der bitteren Lektion die Rede, die die EU Polen erteile. Diese Metapher ist
kompatibel mit dem im Nasz Dziennik vorherrschenden Dominanz-Szenario.
In polnischen Zeitungen spielt die Beitritts-Metaphorik insgesamt eine geringere
Rolle. Als legitime Konzeptualisierung des Integrationsprozesses wird sie am ehesten in der
sozialistischen Trybuna verwendet (44 und 45). Ansonsten finden sich vor allem warnende
Stimmen vor der Abschließbarkeit des Behälters Europa, mitunter ausgedrückt in einer
Festungs-Metaphorik (46 und 47). (44) "Łącznie z pierwszą grupą, negocjującą z Brukselą od blisko dwuch lat do unijnzch bram puka obecnie
aż trzynaście państw." (Trybuna, 1.2.00) "Zusammen mit der ersten Gruppe, die seit fast zwei Jahren mit Brüssel verhandelt, klopfen derzeit
dreizehn Staaten an die Tore der EU." (45) "Coraz dalej do unii" (Trybuna, 8.3.00) Die EU rückt immer ferner. (46) "Europę trzeba otwierać, a nie zamykać – mówił Prodiemu premier." (Życie, 10.3.00) Europa muss geöffnet, nicht geschlossen werden – sagte der Premier zu Prodi. (47) "Wszysce, którzy (również w Polsce) obawiają się, że UE staje się niedostępną twierdzą, powinni się z
tej informacji ucieszyć" (Rzeczpospolita, 24.3.00) "Alle, die (auch in Polen) befürchten, die EU würde zur unzugänglichen Festung, sollten sich über
diese Nachricht freuen." Die Europäische Integration als Aktivität der EU
Das zweite häufige metaphorische Modell für die Integration Europas ist das der
Erweiterung. Hier ist die EU die aktive Seite, auch hier wird also eine einseitige Perspektive
eingenommen. Die aktive EU trägt allerdings in den deutschen Texten in dem untersuchten
Zeitraum keine Verpflichtung zu einer solchen Aktivität, die EU ist viel weniger in die Pflicht
genommen als es die "Kandidaten" durch die Schüler-Lehrer-Metapher sind. Die
Entschiedenheit des Aktanten EU scheint meist eher mittelmäßig zu sein. (48) "Dieser Forderungskatalog ist ausführlicher als bei jeder der bisherigen Aufnahmerunden, denn die EU
will das Wagnis Ost-Erweiterung berechenbar machen." (Süddeutsche Zeitung, 12.02.00)
Auch in polnischen Zeitungen ist häufig von einer Erweiterung (rozszerzenie) der EU
die Rede, vor allem in der größten polnischen Tageszeitung, der Gazeta Wyborcza. (49) "Zachód nie ma powodów bać się rozszerzenia Unii. Migracja zarobkowa ze Wschodu po rozszerzeniu
UE niemal nie wpłynie na wzrost bezrobocia w krajach Piętnastki." (Gazeta Wyborcza, 09.03.00) "Der Westen hat keinen Grund, sich vor einer Erweiterung der EU zu fürchten. Die Erwerbsmigration
aus dem Osten nach der Erweiterung beeinflusst die Arbeitslosigkeit in den jetzigen Mitgliedsländern fast überhaupt nicht."
199
Der Begriff der Erweiterung, der die Aktivität der EU impliziert, wird von polnischen
Befürwörtern der Integration übernommen; man spricht viel häufiger von Erweiterung als
von Beitritt. Das Erweiterungsmodell bietet allerdings insbesondere dem anti-
Integrationsdiskurs – vor allem dem des Nasz Dziennik – ein weites Feld für emotionale
Ableitungen. Die EU wird hier als eine starke Macht angesehen, die sich (ohne Rücksicht auf
andere) erweitert. Für polnische Gegner der Integration kann das eine Art der Versklavung
bedeuten. Polnische Bürger (vor allem Bauern) werden als Menschen, die keinen Einfluss auf
die bevorstehende EU-Osterweiterung ausüben können, als Opfer einer fremden Expansion
präsentiert: (50) "Sztuczny twór – Unia Europejska – bankrut finansowy i moralny, ratujący się przed agonią, potrzebuje
taniej i zdrowej ziemi, rynku zbytu i niewolniczej siły roboczej." (Nasz Dziennik, 10.01.00) "Das künstliche Gebilde EU, finanziell und moralisch bankrott, braucht, um sich vor der Agonie zu
retten, billige und gesunde Erde, einen Absatzmarkt und Arbeitssklaven."
Für die, die solche ‘Argumente’ verwenden, steht außer Zweifel, dass die polnischen
Bauern zukünftig als Sklaven dienen werden.: (51) Wokół rolniczych spraw mnożą się dziwne zawirowania, niedopowiedzenia, tajemnicze zdarzenia. (...)
Bo żadna grupa zawodowa nie jest tak dyskretnie oblegana przez sfory urzędników jak właśnie rolnicy. To nic, że zachodni koledzy po fachu stali się już od dawna niewolnikami biurokratów – dla polskich chłopów to żadne pocieszenie. (Nasz Dziennik, 02.02.00)
"Im Kontext der Bauernfragen mehren sich merkwürdige Verirrungen, Verschweigungen, und geheimnisvolle Ereignisse. (...) Keine Berufsgruppe wird nämlich so diskret von Beamtenhorden belagert, wie die Bauern. Es ändert nichts, dass die westlichen Berufskollegen schon seit langem Sklaven der Bürokraten sind – für die polnischen Bauern ist das kein Trost."
Neben wirtschaftlicher Sklaverei wird auch eine bevorstehende nationale Sklaverei
befürchtet: (52) Zanosi się na dalszą wielowiekową niewolę, jakby w jednym ogromnym obozie, tyle, że na skalę
państwa, gdzie będzie pasował nowoczesny i „demokratyczny” napis: „Arbeit macht frei” (Nasz Dziennik, 15.03.00)
"Es steht eine weitere, jahrhundertelange Gefangenschaft bevor, wie in einem riesigen Lager, nur für den ganzen Staat, wo die moderne, "demokratische" Aufschrift passen würde: "Arbeit macht frei"."
In diesem Kontext der EU-Debatte wird mit solchen Formulierungen auch die Rolle
Deutschlands neu – aber in Einklang mit alten Ängsten – interpretiert. Demnach nehme
Deutschland die europäische Integration als Vorwand, erneut die Vorherrschaft in Europa zu
übernehmen. Beispiel (52) zeigt einmal mehr die besondere Eignung intertextuelle Metaphern
für Ideologisierungen.
200
Die Europäische Integration als beidseitige Aktivität
Ein im polnischen Diskurs häufiges metaphorisches Modell der Integration ist das des
Bauens und der EU als Gebäude. (53) „Obecność prezydentów jest zapowiedzią budowy wspólnoty europejskiej na trwałych fundamentach
wzajemnego poszanowania, współpracy, solidarności narodów.” (Gazeta Wyborcza, 13.03.00) "Die Anwesenheit der Präsidenten ist ein Zeichen für den Bau der europäischen Gemeinschaft auf dem
dauerhaften Fundament von gegenseitigem Respekt, Zusammenarbeit, und Solidarität der Völker."
Dieses beidseitige Modell spielt im deutschen Diskurs in bezug auf die Aufnahme
neuer EU-Staaten keine Rolle. Dieser Befund passt zur starken Betonung des Beitrittsmodells
im deutschen Diskurs. Die Integration wird nicht als gemeinsame Anstrengung gesehen, es
sind lediglich die Kandidaten, für die sich etwas ändert. Es ist aber doch erstaunlich, dass die
Bau-Metaphorik, die im deutschen Europa-Diskurs insgesamt so eine wichtige Rolle spielt, in
bezug auf die Integration kaum angewendet wird, andererseits aber hier die Gebäude-
Metapher realisiert wird, die wiederum im Europa-Diskurs als Ganzem nicht besonders
ausgeprägt ist.
Neben der Metapher des Bauens findet auch die Familien- und Heirats-Metaphorik,
die ebenfalls eine beidseitige Perspektive etabliert, Anwendung. Die europäischen Staaten
werden hier als Familienmitglieder vorgestellt und durch ihre Position in der Familie
charakterisiert: (54) "Während sich viele Polen in Westeuropa noch als ärmere Vettern fühlen, können sie ihr
Selbstwertgefühl im Osten stärken." (Rheinischer Merkur, 21.01.00) (55) "Czy istnieje jeszcze rodzina państw chrześcijańskich?" (Nasz Dziennik, 09.03.00) "Gibt es die Familie christlicher Staaten noch?" (56) Nie hamowana ekspansja Zachodu do Polski już spowodowała u nas ogromne straty. (...) Jakie państwo
europejskie będzie chciało być dobrym wujkiem dla Polski rezygnując z części należnych im funduszy? (Nasz Dziennik, 04.02.00)
"Die ungezügelte Expansion des Westens nach Polen hat bei uns schon große Verluste verursacht. (...) Welcher europäische Staat wird für Polen der gute Onkel sein wollen und auf einen Teil der eigenen Fonds verzichten?"
Während die allgemeine Familien-Metapher in (55) die Wertegemeinschaft Europa
beschwört, haben die Familienmitglied-Metaphern eine ironische bis negative Wertung.
Dasselbe betrifft die in den meisten Fällen positiv wirkende Eheschließungs-/Heirats-
Metapher: in allen Kontexten, in denen sie in der Debatte über die EU-Erweiterung verwendet
wird, wirkt sie eher pejorativ, indem sie die Teilnehmenden veralbert. Die Integration wird als
Hochzeit dargestellt, die Verhandlungen sind deren Vorbereitungen: (57) Außenminister Bronislaw Geremek bemerkte in Helsinki bitter, die EU sei eben "wie eine Verlobte, an
201
die man keine Ansprüche stellen darf". (Süddeutsche Zeitung, 23.02.00) (58) Grabowski obrazowo porównał proces integracji: „O rękę starzejącej się bogatej i nie młodej już damy
stara się młody, lecz nie bogaty kawaler. Dama ta odpowiada, że woli wolne związki i nie chce żadnej wspólnoty majątkowej. (Nasz Dziennik, 17.02.00)
"Grabowski verglich den Integrationsprozess bildhaft: 'Um die Hand einer alternden, reichen und schon nicht mehr ganz jungen Dame hält ein junger, aber nicht reicher Junggeselle an. Die Dame antwortet, dass sie freie Beziehungen bevorzugt und keine Gütergemeinschaft möchte.'"
8.3 Interpretation: Europa im Diskurs zur Europäischen Integration
Was lässt sich anhand der untersuchten Korpora über die metaphorische Interpretation
des Ortes Europa im deutschen Zeitungsdiskurs sagen?
Europa im Sinne der Europäischen Union wird im in Kapitel 8.2 untersuchten Korpus
auf dreierlei Weise interpretiert. Aus der ersten Perspektive als eine Art von geschlossenem
Raum, als Behälter, häufig als Festung; Aus der zweiten Perspektive als wachsender
Organismus; Aus der dritten Perspektive wäre Europa der Zusammenschluss voneinander
getrennter Teile. Diese Metapher kommt aber im deutschen Korpus als eigene Interpretation
Europas nicht vor.7
Dieser Befund erscheint erstaunlich. Die Untersuchung des großen PKV-Korpus zum
Europa-Diskurs hatte ergeben, dass Europa als zu bauendes Gebäude interpretiert wird, kaum
aber als fertiges Gebäude. Im untersuchten Ausschnitt des Diskurses zur Europäischen
Integration hingegen scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein: Europa wird häufig als
Gebäude, praktisch nie als etwas zu Bauendes interpretiert.
Dieses Ergebnis stützt die Auffassung, dass der Gebrauch von Metaphern in der
Sprache je nach aktuellen Kommunikationsbedürfnissen flexibel gestaltbar ist und keine
bloße Funktion kognitiver Repräsentationen darstellt. Wenn Metaphern stabile kognitive
Abbildungen wären, dann könnte man erwarten, dass die Realisierung einer Metapher (z.B.
Europa als fertiges Gebäude), zu der eine dieser widersprechende Abbildung funktioniert
(Europa als etwas zu Bauendes), in irgendeiner Weise problematisch ist, z.B. zusätzlicher
verständnissichernder Strategien bedarf. Dies ist aber nicht der Fall, und der Gebrauch
widersprüchlicher Metaphern scheint auch intuitiv nicht besonders schwierig zu sein. Im
Gegenteil, es bedarf einer linguistischen Analyse, um diesen Widerspruch erst aufzudecken.
Die "starke" Version der These metaphorischer Repräsentation scheint somit nicht haltbar zu
sein. Haltbar wäre eine "schwache" Version dieser These, die Metaphern als kulturelle
7 Bsp. (54) gibt eine fremde Perspektive auf Europa wider, Bsp. (57) ist ein Zitat eines polnischen Politikers.
202
Modelle betrachtet, die in Abhängigkeit von Kommunikationsbedürfnissen, Perspektive etc.
gewählt werden, und die im Zuge von Automatisierungen dieser Wahl Begriffe mit gestalten.
Metaphern sind dann nicht stabile Verdrahtungen im Kopf des Einzelnen, die dessen Denken
bestimmen, sondern Möglichkeiten in der Umwelt des Einzelnen, die ihm zur Bewältigung
der alltäglichen kognitiven Arbeit zur Verfügung stehen.
Das folgende Schaubild soll in Anlehnung an die hier untersuchten sprachlichen
Metaphern noch einmal die Makroebene kultureller Vorstellungswelten beleuchten, nämlich
das Verhältnis zwischen den Topoi einer Gruppe, den konventionellen metaphorischen
Modellen einer Kulturgemeinschaft, und den (Abbildungs-) Stereotypen als sprachlich
gebildeten Elementen des Denkens von Mitgliedern derselben Kulturgemeinschaft.
Begriff 8 Kommunikationsbedürfnis Kulturelle Modelle z.B. Stereotyp Europa z.B. Artikulation eines Topos (T) z.B. Metaphorische Modelle (MM)
"Die Europäische Integration braucht Ideen"
MM1
MM3
c
a b
MM "Bau": Bauen, Bauleute, Bauanleitung...
Schaubild 8als Kontineals kulturhivon Begriffdes IndividGruppe. Dinach ArtikuDas sprachAutomatisiebegrenzter PBegriffs we
8 Die Art entsprechendeutschen D
1 1
3
2
"Die Europäische Ibirgt Gefahren"
a
: Das Verhältnis von Begriff, Kommuniknt (EuropaGeo); 2 = Europa als institutionstorisch-zivilisatorisch zusammengehörenswelt und Kommunikationsbedürfnis beduums in seiner Welt widergeben, beeinese beeinflussen aber auch meine Begrifflation einer Überzeugung, löst die Sucheliche Handeln in Folge von (b) kann rung können Implikationen der metaphlatz", "In Europa muss man sich an best
rden.
der grafischen Darstellung des Begriffde Objektbereich interpretiert wird, soliskurs dominant ist, dass aber Aspekt (1)
T1
T2
MM "Gebäude": Haus, Festung,
T4ntegration Tür, Mietvertrag, Hausordnung..
MM5
b
Tn
MMnc
ationsbedürfnis, und metaphorischen Modellen. 1 = Europa ell geeinigter Teil des Kontinents (EuropaInst); 3 = Europa der Teil des Kontinents (EuropaKult). a = Die Gestaltung ingen sich gegenseitig. Die Stereotypen, die die Situiertheit flussen die Entstehung latenter Überzeugungen in meiner swelt; b = Ein Kommunikationsbedürfnis, z.B. der Wunsch nach einer angemessenen Artikulationsmöglichkeit aus. c = kurzfristig einen Begriff mitgestalten. Bei zunehmender
orischen Abbildung (z.B. MM "Gebäude": "In Europa ist immte Regeln halten"...) stabiler Bestandteil des profilierten
s Europa als Gesamtheit der Aspekte, unter denen der l berücksichtigen, dass Aspekt (2) (=EuropaInst) zwar im (=EuropaGeo) logisch primär ist.
203
Abbildungsstereotypen benötigen in ihrer Herausbildung also die konventionellen
sprachlichen Modelle der Kulturgemeinschaft, zeigen aber eine starke Anbindung an
außersprachliche Überzeugungen einer bestimmten Gruppe. Dies zeigt sich auch im
deutschen Abbildungsstereotyp zur Integration Polens in die EU, das sich folgendermaßen
formulieren lässt: (59) "Die Integration ist körperliche und geistige Anstrengung Polens."
In dieser Realisierung der Bewegungs-Metaphorik tauchen Veränderungen in
Deutschland selbst als Voraussetzung für die Integration, wie sie etwa die Gestaltungs-
Metaphorik ins Blickfeld rückt, nicht auf. Bewegen, verändern müssen sich nur die
Kandidaten. Es spricht daher nichts dagegen, die Europäische Union als etwas Fertiges zu
betrachten. Die Gebäude-Metaphorik, die in der Vorstellungswelt des Deutschen zur
Interpretation von Institutionen gut gefestigt ist, bietet sich hierfür an. Diese ermöglicht
wiederum die Ableitung, der Beitritt neuer Ländern sei problematisch, da in einem
geschlossenen Raum nun einmal begrenzter Platz ist. Zwei sehr leistungsstarke metaphorische
Modelle, die in allen Zeitungen in der Diskussion der Europäischen Union gebraucht werden,
tragen somit bei zur Stabilisierung einer problematischen Interpretation der Europäischen
Integration, die in politologischen und ökonomischen Studien als unangemessen beurteilt
wird, und die wohl die meisten der Autoren der hier untersuchten Texte in explizit
formulierter Form selber ablehnen würden: einer Interpretation, gemäß derer die Europäische
Integration keine Veränderungen für Deutschland bedeuten muss, und in der Veränderungen
am ehesten als Gefahren, als Wandel zum Schlechteren verstehbar sind.
204