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3 Der europäische Politik-Zyklus 3.1 Zur Verwendung des Konzepts vom Politik-Zyklus Als konstituierender Bestandteil des politischen Systems bietet der Politik-Zyklus („Policy cycle“) ein Konzept, mit dem die Gesamtheit politischen Handelns theoretisch erfasst und in den Kontext des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft gesetzt werden kann (Nelson 1996: 567). Er stellt ein operatives Grundgerüst der Politik dar und bezieht sich auf „Anfänge, Fortsetzungen und Abschlüsse, die wiederum zu neuen Anfängen führen kön- nen“ (May/Wildavsky 1978: 13). 1 Damit ist der Politik-Zyklus vorrangig über Phasen defi- niert; in einem der substanziellsten theoretischen Beiträge zum Thema werden im Einzel- nen Agenda-Setting, Issue-Analyse, Leistungserbringung („service delivery system“), Im- plementation, Evaluation und Beendigung genannt (ebd.). Institutionen oder auch Organisa- tionen wie z.B. Interessengruppen oder Parteien finden im Politik-Zyklus zunächst keinen systematischen Platz, sondern sind indirekt über Funktionen erfasst, die in jedem politi- schen System erfüllt sein müssen. In der von Gabriel Almond und Bingham Powell (vgl. Almond/Powell/Mundt 1996) entwickelten Diktion handelt es sich um die Interessenartiku- lation und -aggregation, die Entscheidungsfindung („policy-making“) sowie die Implemen- tation und Überwachung („adjudication“). Diese Terminologie wird auch von vielen ande- ren Grundlagenwerken der Politikanalyse übernommen (z.B. Héritier 1999; Anderson 2000). Obwohl sich das Konstrukt des politischen Systems so schon früh zu einer Basiskate- gorie der politischen Analyse entwickelt hatte, wurde es für die Untersuchung der gesamt- europäischen Politik lange Jahre fast gar nicht herangezogen. Leon Lindberg und Stuart Scheingolds Konzipierung eines „EC political system model“ (Lindberg/Scheingold 1970: 113) wurde rezipiert, hatte jedoch letztlich begrenzte Auswirkungen auf die Fortentwick- lung der Europawissenschaft. Erst nach den substanziellen Vertiefungsschritten der 1990er- Jahre (Maastricht, Amsterdam, Nizza) wurde und wird das Systemparadigma zunehmend zur Analyse von EU-Politik verwendet (z.B. Hix 1999; Hartmann 2002). Die Gründe für diese späte Rezipierung sind überwiegend forschungshistorischer Art. Als das Paradigma des politischen Systems in der Hochphase des Systemdenkens den 1950er-Jahren entwickelt wurde (Easton 1953; Parsons 1991 (1951)), dominierte das Mo- dell des politisch mehr oder minder in sich geschlossenen Nationalstaats. Selbst in Westeu- ropa als der integrationsfreundlichsten Weltregion scheiterten in jenen Jahren die Europä- ische Politische Gemeinschaft (EPG) mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Der gemeinsame politische Kern der europäischen Integration blieb auch nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 zunächst be- scheiden (siehe Dinan 1999: 9-102; Dinan 2004). Die Inter- oder erst recht Supranationali- sierung eines politischen Systems lag daher zunächst nicht im Zentrum des Konzepts und fungierte lediglich als Kontext- oder Rahmenbedingung mit möglichem, aber letztlich be- grenzten Einfluss auf nationale politische Prozesse. 1 Bei May/Wildavsky heißt es an entsprechender Stelle: „beginnings, middles, and endings that may lead to new beginnings“.

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3 Der europäische Politik-Zyklus

3.1 Zur Verwendung des Konzepts vom Politik-Zyklus

Als konstituierender Bestandteil des politischen Systems bietet der Politik-Zyklus („Policy cycle“) ein Konzept, mit dem die Gesamtheit politischen Handelns theoretisch erfasst und in den Kontext des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft gesetzt werden kann (Nelson 1996: 567). Er stellt ein operatives Grundgerüst der Politik dar und bezieht sich auf „Anfänge, Fortsetzungen und Abschlüsse, die wiederum zu neuen Anfängen führen kön-nen“ (May/Wildavsky 1978: 13).1 Damit ist der Politik-Zyklus vorrangig über Phasen defi-niert; in einem der substanziellsten theoretischen Beiträge zum Thema werden im Einzel-nen Agenda-Setting, Issue-Analyse, Leistungserbringung („service delivery system“), Im-plementation, Evaluation und Beendigung genannt (ebd.). Institutionen oder auch Organisa-tionen wie z.B. Interessengruppen oder Parteien finden im Politik-Zyklus zunächst keinen systematischen Platz, sondern sind indirekt über Funktionen erfasst, die in jedem politi-schen System erfüllt sein müssen. In der von Gabriel Almond und Bingham Powell (vgl. Almond/Powell/Mundt 1996) entwickelten Diktion handelt es sich um die Interessenartiku-lation und -aggregation, die Entscheidungsfindung („policy-making“) sowie die Implemen-tation und Überwachung („adjudication“). Diese Terminologie wird auch von vielen ande-ren Grundlagenwerken der Politikanalyse übernommen (z.B. Héritier 1999; Anderson 2000).

Obwohl sich das Konstrukt des politischen Systems so schon früh zu einer Basiskate-gorie der politischen Analyse entwickelt hatte, wurde es für die Untersuchung der gesamt-europäischen Politik lange Jahre fast gar nicht herangezogen. Leon Lindberg und Stuart Scheingolds Konzipierung eines „EC political system model“ (Lindberg/Scheingold 1970: 113) wurde rezipiert, hatte jedoch letztlich begrenzte Auswirkungen auf die Fortentwick-lung der Europawissenschaft. Erst nach den substanziellen Vertiefungsschritten der 1990er-Jahre (Maastricht, Amsterdam, Nizza) wurde und wird das Systemparadigma zunehmend zur Analyse von EU-Politik verwendet (z.B. Hix 1999; Hartmann 2002).

Die Gründe für diese späte Rezipierung sind überwiegend forschungshistorischer Art. Als das Paradigma des politischen Systems in der Hochphase des Systemdenkens den 1950er-Jahren entwickelt wurde (Easton 1953; Parsons 1991 (1951)), dominierte das Mo-dell des politisch mehr oder minder in sich geschlossenen Nationalstaats. Selbst in Westeu-ropa als der integrationsfreundlichsten Weltregion scheiterten in jenen Jahren die Europä-ische Politische Gemeinschaft (EPG) mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Der gemeinsame politische Kern der europäischen Integration blieb auch nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1957 zunächst be-scheiden (siehe Dinan 1999: 9-102; Dinan 2004). Die Inter- oder erst recht Supranationali-sierung eines politischen Systems lag daher zunächst nicht im Zentrum des Konzepts und fungierte lediglich als Kontext- oder Rahmenbedingung mit möglichem, aber letztlich be-grenzten Einfluss auf nationale politische Prozesse.

1 Bei May/Wildavsky heißt es an entsprechender Stelle: „beginnings, middles, and endings that may lead to new beginnings“.

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Zu Beginn des Integrationsschubs der letzten zwanzig Jahre – seit der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) – war die Integrationsforschung dann vom Gegensatz zwischen Neofunktionalismus und Neorealismus beherrscht. Beide Konzepte waren mit dem Sys-temkonzept wenig kompatibel. Während ersteres sich mit Logik einer Integrationsdynamik (und nicht einer Systemdynamik) auseinandersetzte, versuchte das zweite den europäischen Einigungsprozess in die Logik der Internationalen Staatenwelt einzuordnen. Erst die Fort-entwicklungen zum Intergouvernementalismus sowie zum Supranationalismus (vgl. respek-tive Bieling 2005; Nölke 2005) beschäftigten sich als EG/EU-bezogene Ansätze vorrangig mit der internen Funktionsweise der europäischen Politik. Während der Supranationalismus sowohl beim Vertiefungsprozess wie auch im Hinblick auf das alltägliche Funktionieren die Gemeinschaftsinstitutionen – vor allem die Kommission und den EuGH, zunehmend auch das EP – in einer treibenden Position sahen, bestanden Vertreter des Intergouverne-mentalismus auf der prägenden Kraft der nationalen Regierungen. In dieser Lage erwies sich der neu entwickelte Begriff des Mehrebenensystems bzw. des Multi level system (Jach-tenfuchs 1996; Marks u.a. 1996) als produktiv, denn beide Ansätze konnten sich in ihm wieder finden. Einerseits konnte das Gewicht der supranationalen Institutionen auf der „oberen“ Ebene vielfach nachgewiesen werden. Andererseits hatten die Regierungen als vielleicht wichtigste Institutionen der mittleren Ebene über Ministerrat und Europäischen Rat einen maßgeblichen Einfluss auf den Fortgang der Integration gewahrt.

Vielleicht mehr noch als das funktionalistische politische System wies das Mehrebe-nensystem indes eine konzeptionelle Ferne zu Institutionen als analytischer Basiskategorie auf. Vom Beginn seines Auftauchens war der Begriff an das Konzept von Governance gekoppelt (Marks 1993). Im Gegensatz zur traditionellen Analyse von Government lautete das zentrale Theorem dieses Ansatzes, dass sich die Ressourcen zur Ausübung politischer Macht von (nationalstaatlichen) Regierungen auf transnational agierende Akteure und Insti-tutionen – von denen die Regierungen allerdings ein Teil bleiben – verschoben haben. Na-tionale Regierungen stehen demnach vor der Aufgabe, zusätzliche Herrschaftsinstitutionen in ihr Handeln mit einzubeziehen und so auf die letztinstanzliche Kontrolle zu verzichten. In der Vielfalt des Mehrebenensystems lässt sich zwar auch dann noch regieren, aber nur unter Hinnahme und Nutzung internationaler politikfeldspezifischer Netzwerke, die ihrer-seits von den Institutionen zu abstrahieren sind (vgl. Héritier 1993b; Behrens 2005).

Gleichfalls quer zu diesem Denken stand das Paradigma des politischen Systems. Der Governance-Ansatz geht davon aus, dass – nicht zuletzt aufgrund trans- bzw. internationa-ler Problemlagen – keine der bestehenden Institutionen eine letztentscheidende Regelungs-gewalt aufbringen kann:

Regieren und Verwalten im Sinne von Governance (...) überschreite[t] heute mehr und mehr die territorial und funktional definierten Kompetenzbereiche des Staates, weshalb ihre Ziele ohne dessen Anordnungs- und Durchsetzungsmacht verwirklicht werden müssen“ (Benz 2004: 18).

Der Ansatz des politischen Systems verzichtet dagegen aus einem anderen Grund auf konk-rete Institutionen, weil die invarianten Funktionen von kontingenten Instanzen erbracht werden können. Auch staatliche Institutionen spielen dabei eine Rolle:

Political systems do many things. They wage or encourage peace; cultivate international trade or restrict it open their borders to the exchange of ideas and artistic experiences or close them; tax their populations heavily or lightly, equitably or inequitably; regulate behaviour more or less

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strictly; allocate resources for education, health, and welfare, or fail to do so; pay due regard to the interdependence of humanity and nature, or permit nature's capital to be depleted or misused (Almond/Powell/Mundt 1996: 29).

In der EU nach Maastricht, in der sich die politische Macht klar erkennbar auf viele Institu-tionen verteilte, erwies sich der Mehrebenenansatz als anschlussfähiger. Gerade der ver-meintliche Verlust an Steuerungspotenzial animierte einen Teil der politischen Akteure zu einer fortdauernden Debatte über die Restrukturierung und Rekonfiguration der europä-ischen Institutionen. Dagegen war das Konzept des europäischen politischen Systems nicht in eine Richtung weiterentwickelt worden, die eine Auseinandersetzung mit der zunehmen-den Entgrenzung in der europäischen Polity erlaubt hätte. Folglich dominierte der Mehre-benenansatz in jener historischen Phase, in der aus dem eher symbolischen Souveränitäts-transfer der EWG/EG eine echte Verschiebung des politischen Machtzentrums aus den Hauptstädten nach Brüssel resultierte. Die Funktion des Policy-Making wurde nicht (mehr) von einer Regierung oder wenigstens einem eindeutigen funktionalen Äquivalent erfüllt. Gesprochen wurde daher von Formen des „Regieren[s] im Mehrebenensystem“ (Jachten-fuchs/Kohler-Koch 1996). Das Verb war an die Stelle des Substantivs gerückt, das transna-tionale Netzwerk – oder besser: ein Geflecht von Netzwerken – an die Stelle des nationalen Regierungssystems.

Wenn also in dieser Studie Vokabeln wie politisches System, Regierungssystem oder Politik-Zyklus im Vordergrund stehen, weist dies auf eine gegenüber dem zuletzt dominie-renden Ansatz der EU- und Europäisierungsforschung wenigstens in Teilen alternative Vorgehensweise hin. Hinter der Entscheidung für den geschlossenen Systemansatz steht die Hypothese, dass viele Politikbereiche nach einer Phase beträchtlicher Integrationsdynamik in eine Phase der Konsolidierung eingetreten sind. Mit Ausnahmen – eine davon ist die Außen- und Sicherheitspolitik – hat die Vertiefung der meisten Politikfelder mit den Ver-trägen von Nizza und Lissabon zunächst ihren Abschluss gefunden. Der Auftrag an den Verfassungskonvent hatte bekanntlich gelautet, die bestehenden Verträge zu vereinfachen, aber nicht inhaltlich zu verändern.2 Deshalb hatte auch der Verfassungsentwurf letztlich begrenzten Einfluss auf einzelne Politikfelder, und daher verfügt der Lissabon-Vertrag gegenüber demjenigen von Nizza nur auf begrenzte Neuerungen. Während also über länge-re Zeit eine ständige Vertiefungsdynamik von den Akteuren eine kontinuierliche Neube-wertung von Institutionen abverlangte hatte, sind viele der regulären Politikfelder um den Gemeinsamen Markt in dem Sinne konsolidiert, dass Politik auf der Ebene von Richtlinien und Verordnungen und nicht mehr auf der primärrechtlichen Ebene betrieben wird. Damit haben ressourcenreiche Institutionen wie Kommission oder Rat auch wieder erhöhte Mög-lichkeiten, in den politischen Prozess um sie herum steuernd einzugreifen.

Wenn europäische Politik durch die Linse von Europäisierungsmodellen betrachtet wird, gilt dies in noch erhöhtem Maße. Die explorative Offenheit des Netzwerkansatzes reibt sich mit den institutionell verfestigten Politikabläufen, wie wir sie in Nationalstaaten i.d.R. vorfinden.3 Auch dort existieren in den einzelnen Politikfeldern unterschiedliche

2 Der Auftrag geht auf die Erklärung Nr. 23 zur Zukunft der Union des Nizza-Vertrags zurück; veröffentlicht im Amtsblatt der EG am 10.3.2001. 3 Es finden sich auch Ansätze, Netzwerke gewissermaßen als Regelstruktur der meisten Politikfelder zu begreifen. Rainer Eising und Beate Kohler-Koch (1999: 285) identifizieren „generelle Charakteristika“, die den Modi von

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Regimes. Keine mitgliedstaatliche Verfassung der EU-27 weist jedoch denselben Grad an Zerklüftung auf wie die europäischen Verträge. Politikanalyse kann sich daher im nationa-len ungleich stärker darauf verlassen, dass die Prozessfunktionen des politischen Systems über viele Politikfelder hinweg an bestimmte Institutionen gebunden sind. Bei allen inner-systemischen Dynamiken ist nationale Politik also durch eingefrorene institutionelle Abläu-fe gekennzeichnet – allein der von fast allen EU-Akteuren als notwendig erachtete Verfas-sungsprozess belegt, dass davon auf der europäischen Ebene nicht die Rede sein kann.

All dies legt nahe, für die Analyse von innerstaatlichem Wandel zunächst auf ein sol-ches Instrumentarium zurückzugreifen, welches den status quo ante auch begrifflich zu erfassen in der Lage ist. Anders als im Mehrebenenansatz geht es dabei nicht vorrangig um Erklärungen für „Erscheinungsformen des Regierens wie 'Netzwerke' oder 'lose gekoppelte Systeme'„ (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2003: 41). Vielmehr erfordert die Europäisierungs-perspektive das explizite Aufeinanderbeziehen von nationalen und transnationalen Politik-abläufen, von denen ein guter Teil nicht nur durch „lose Kopplungen“, sondern durch ein-gespielte Erwartungshorizonte der politischen Akteure gekennzeichnet sind. Das entspre-chende Konzept stellt das theoretische Konstrukt des Politik-Zyklus dar, welches im Fol-genden mit Anlehnungen an den Netzwerk- und Mehrebenenansatz verwendet wird.

3.2 Der Referenzrahmen des europäischen Politik-Zyklus

Mit dem Politik-Zyklus wird die Europäisierung der Grundstrukturen, Prozesse und Politik-inhalte der deutschen Politik mittels eines doppelten Zugriffs analysiert. Einerseits stehen die funktionalen Kategorien im Vordergrund, d.h. Inputs und Outputs sowie Agenda-Setting, Implementation, Überprüfung und (erfolgreiche oder vorzeitige) Beendigung. Im Einzelnen lassen sich die Funktionen indes nur mit Hilfe der real existierenden Hardware des Zyklus erfassen, mithin mit dessen Institutionen oder institutionenähnlichen Instanzen (z.B politischen Parteien) auf zwei und mehr Ebenen. Unvermeidlich vermengt sich daher das Fachvokabular der Systemanalyse mit den im Zweifelsfalle breit verwendeten Begriff-lichkeiten des akteurszentrierten Institutionalismus. Wo die Policy-Analyse von Agenda-Setting, Interessenartikulation und -aggregation, Decision-making, Implementation und Adjudication spricht, sieht die Institutionenanalyse Willensbildung, Verhandlung, Koopera-tion und Koordination sowie Gesetzgebung und Umsetzung durch die Verwaltung. Beide Perspektiven werden durch den Policy-Zyklus miteinander verbunden.

Tabelle 2 zeigt die entsprechenden Bezüge übersichtsartig. Die entscheidende Ände-rung gegenüber der herkömmlichen Systemanalyse besteht in der Vernetzung der EU- und binnenpolitischen Willensbildung. Gegenüber der Netzwerkanalyse besteht der Unterschied dagegen in der Beibehaltung der in sich geschlossenen – aber nicht nach außen isolierten – Willensbildung im nationalen politischen System. Darauf weist die in der ersten Spalte abgetragene Abfolge der Willensbildungsprozesse hin; zunächst auf der EU-Ebene, an-schließend im Nationalstaat. In der anschließenden Umsetzungsphase dominiert die natio-nalstaatliche Ebene bei der Implementation. Die zugehörige rechtliche Überwachung geht indes entsprechend der europäischen Verträge von der EU-Ebene aus. Die nächsten beiden

Governance innerhalb der EU unterliegen. Der Schritt zu einer explizit strukturgebundenen Analyse erfolgt dann, wenn nach den Regelmäßigkeiten jener Charakteristika gefragt wird.

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Spalten markieren die wichtigsten Begriffe der unterschiedlichen Analyseebenen. An-schließend markiert die Auflistung der beteiligten Institutionen die reale Verflechtung der Institutionen, die in der Praxis keineswegs auf eine Aneinanderreihung der Willensbil-dungsprozesse hinausläuft, denn die Institutionen der mitgliedstaatlichen Ebene sind im gesamten Policy-Zyklus involviert. Die Merkmale des europäischen politischen Prozesses bestehen daher in der gleichzeitigen Synchronizität und Trennung der Politikebenen.

Tabelle 1: Zusammenspiel von EU- und nationaler Ebene im politischen Prozess Phase und zugehö-

rige Systembegriffe Dominante Prozesse der

jeweiligen Phase Beteiligte Institutionen im politischen Prozess

EU-Ebene Mitgliedstaatliche Ebene

Will

ensb

ildun

g au

f EU

-Ebe

ne

Interessen-artikulation

Agenda-Setting Vorfeld einer KOM-Initiative

Interessengruppen Kommission EP

Interessengruppen Regierungen (EU-Botschaften)

Interessen-aggregation

Bargaining, Problemlösen, Koordination Vorfeld einer Entschei-dungsvorlage für den Rat

Interessengruppen Ministerrat (Ar-beitsgruppen) Kommission EP

Interessengruppen Regierungen

Decision-Making / Entscheidungsfin-dung

Entscheidung Beschlussfassung in Brüs-sel und Straßburg

Interessengruppen Ministerrat EP

Interessengruppen Regierungen

Will

ensb

ildun

g au

f na

tiona

ler E

bene

Interessen-aggregation

Bargaining, Problemlösen, Koordination, Steuerung Erstellen eines Gesetzent-wurfs

Interessengruppen Regierungen

Decision-Making / Entscheidungsfin-dung

Entscheidung Beschlussfassung in Berlin

Regierungen Parlamente

Um

setz

ung

(in D

euts

chla

nd)

Implementation Umsetzung durch Administration und Verwaltung

Regierungen Regionale Körper-schaften

Adjudication / Überprüfung

Überwachung Prüfung hinsichtlich frist- und sachgerechter Umset-zung

Kommission EuGH nach Anru-fung

Regierungen Justiz Gesellschaftliche Akteure (über Klagen)

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Beim Zusammenspiel zwischen der mitgliedstaatlichen und der EU-Ebene ergeben sich drei interdependente Phasen. Erstens ist der Prozess der Willensbildung auf der EU-Ebene zu beachten, der sich auf die Entstehung von EU-Legislativakten – Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen – bezieht. In der Ersten Säule gehen bekanntlich alle Initiati-ven von Kommission aus, die ihrerseits allerdings nicht im luftleeren Raum agiert, sondern von Mitgliedstaaten, Interessengruppen und anderen Akteuren in ihrem Agenda setting beeinflusst wird. Auf der EU-Ebene werden die Initiativen der Kommission anschließend auch behandelt und entschieden; es findet also ein vollständiger Zyklus der Willensbildung statt, an dem sowohl EU-Institutionen wie auch die nationale Ebene beteiligt sind. Die auf der EU-Ebene getroffenen politischen Entscheidungen müssen zweitens – im Falle von Richtlinien – auf der nationalen Ebene konkretisiert und in politische Outputs umgesetzt werden. Aus dem Prozess der nationalen Willensbildung bleiben die EU-Institutionen for-mal weitgehend ausgeschlossen. Allerdings bleiben sie ideell präsent: dieselben Regierun-gen, die im Rahmen der EU-Willensbildung federführend in Brüssel und Straßburg verhan-delt haben, werden beim Entwerfen der Gesetze auf der nationalen Ebene wieder tätig. Die während des EU-Verhandlungsprozesses erfahrenen Restriktionen gehen also in den natio-nalen Willensbildungsprozess ein, um der in der dritten Phase anstehenden Implementation und Überprüfung standzuhalten. Die Kontrolle, ob auf der nationalen Ebene das vorab in Brüssel Beschlossene auch eingehalten wird, findet dann auch wieder formal in einem Wechselspiel von EU- und nationaler Ebene statt, wobei hier nicht nur legislative und exe-kutive Akteure, sondern in einer späten Umsetzungsphase auch der EuGH eine Rolle spie-len.

Über die Ebenen hinweg stellt sich dabei die Frage nach der Homogenität der in Ta-belle 2 aufgeführten Akteure. Kommission und Ministerrat sowie Bundesregierung, Bun-destag und Bundesrat tauchen jeweils an mehreren Instanzen des europäischen Policy-Zyklus auf. Handeln sie jedoch auch über die Ebenen hinweg konsistent? Mit dem Weber-schen Bürokratiekonzept lässt sich die Frage zweifellos bejahen. Allein die Vorstellung einer festen Verbindung von „Amtsdisziplin und Kontrolle“ (Weber 1980: 127) unters-treicht die Annahme, bürokratische Apparate im legalen Herrschaftskontext handelten nicht nur rational, sondern „nach allen Erfahrungen [mit] (...) Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verlässlichkeit: also Berechenbarkeit“ (ebd: 128). Allerdings stehen ver-schiedene Argumente bereit, um die Konsistenzthese zu bezweifeln. Besonders Anthony Downs hat darauf hingewiesen, dass innerhalb einer Bürokratie verschiedene Motivlagen für administratives Handeln versammelt sind, die keineswegs alle auf das gesamtgesell-schaftliche Wohl gerichtet sind (Downs 1967). Auch Weber selbst weist auf wichtige Vor-aussetzungsbedingungen einer rationalen Bürokratie hin: Hierarchie und Einzelbeamtentum („Monokratie“), feste Amtskompetenzen, einheitliche Amtsdisziplin und Kontrolle (ebd.: 126-127).

Nicht alles davon ist auf Seiten der EU-Bürokratie gegeben. Die Kommission ent-scheidet in aller Regel als Kolleg, die Amtskompetenzen sind über die lange Phase der sukzessiven Vertiefungen häufig interpretationsfähig gewesen, die Beamtenschaft ist über-aus heterogen zusammengesetzt, und mögliche Kontrolleure wie das EP oder Mitgliedstaat-regierungen sind zu einem guten Teil auf eine funktionierende Selbstkontrolle der Kom-mission angewiesen. Im Hinblick auf die Kommission wird daher an einschlägiger Stelle festgestellt: „(...) any analytical view of the Commission as a unitary entity is problematic“ (McDonald 2000: 71). Mithin können von der Kommission angestoßene und unterstützte

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Initiativen inhaltlich nur in begrenztem Maße als homogen angesehen werden. In einem „Haus mit voneinander abweichenden Meinungen“ (Hooghe 2000) sind inhaltliche Diffe-renzen zu erwarten; die Homogenitätsannahme bezüglich der Policy-Funktionen von Agen-da-Setting und Überwachung ist mit einem Fragezeichen zu versehen.

Die Bedingungen für konsistentes politisches Handeln auf der Seite der mitgliedstaat-lichen Akteure sind ebenfalls gezielt erforscht worden (Kassim/Peters/Wright 2000; Wes-sels/Maurer/Mittag 2003). Die Bundesrepublik ist dabei als eines der Länder mit vergleich-sweise großen Anforderungen an eine innere EU-Koordinierung identifiziert worden (vgl. z.B. Derlien 2000; Maurer 2003). Für Deutschland wie in den übrigen Mitgliedstaaten gilt jedoch gleichermaßen, dass innerstaatliche Konflikte die Wahrscheinlichkeit divergenten Verhaltens mitgliedstaatlicher Akteure in Brüssel erhöhen. Auch für die nationalstaatliche Seite des Willensbildungsprozesses kann daher nicht ungeprüft von einer ebenenübergrei-fenden Homogenität der europapolitisch handelnden Akteure ausgegangen werden.

3.3 Willensbildung auf EU-Ebene: nationale Akteure zwischen Einflussnahme und Steuerungsverlust

3.3.1 Interessenartikulation

Formal besteht bei den europäisierten Teilen der deutschen Politik fast stets ein aus Art. 211 EGV abgeleitetes Initiativrecht der Europäischen Kommission, welches dieser Ge-meinschaftsinstitution die Funktion des Agenda-Setting zuweist („Initiativmonopol“). Dies gilt für die regulären Rechtsakte – d.h. Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen – wie für die weicheren, aber häufig grundsätzlicheren Planungsinstrumente der Weiß- und Grün-bücher sowie sonstiger Mitteilungen und Berichte. Allerdings bedeutet das Initiativmono-pol nicht, dass die Kommission vollständig autonom bei der Setzung von EU-Dossiers han-deln kann und handelt. Sowohl das EP (Art. 192 EGV) als auch der Rat (Art. 208 EGV) können die Kommission zu Vorschlägen für die Vorlage von Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen auffordern. Angekündigt werden die meisten Kommissionsinitiativen über das Arbeitsprogramm der Kommission, welches den Mitgliedstaaten und den Organen der EU mit einem etwa einjährigen Vorlauf zur Verfügung gestellt wird.4

Aus Sicht eines Mitgliedstaats bestehen damit insgesamt begrenzte, aber in ihrer Be-schränktheit vielfältige Möglichkeiten zum Einfluss auf das Agenda-Setting. Formal kann er eine Legislativinitiative lediglich über eine Ratsmehrheit initiieren. Allerdings stehen einer Mitgliedstaatsregierung natürlich auch informelle Wege der Beeinflussung zur Verfü-gung. Das Weißbuch der Kommission zum „Europäischen Regieren“ aus dem Jahr 2001 nennt die nationalen Regierungen sogar als mögliche Inputgeber von europäischen Geset-zesakten (Commission 2001: 6). Daraus ergibt sich zwar kein offizieller Anspruch einer Mitgliedsregierung zur Einflussnahme auf die Kommission, aber anders als in der Frühzeit der Gemeinschaft können mitgliedstaatliche Präferenzen im Hinblick auf europäische Ge-setzesakte auf direkten und indirekten Kanälen kundgetan werden.

4 Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages stellt der Öffentlichkeit in der Regel eine Übersicht über die Jahresplanung der Kommission zur Verfügung, siehe z.B. Wissenschaftliche Dienste (2006c).

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Hinsichtlich der Kommission kann allerdings nur auf eine begrenzte Aufnahmefähig-keit gehofft werden. Die „Hüterin der Verträge“ – eine Ableitung aus Art. 226 EGV, der der Kommission im Falle von Vertragspflichtverletzungen die Anrufung des EuGH ermög-licht – achtet gegenüber den Mitgliedstaat peinlich auf ihre Unabhängigkeit, um nicht den Anschein der Parteinahme für partikulare Interessen zu erwecken. Gegenpositionen müssen daher nach außen in gleichem Maße berücksichtigt werden, solange sie den in den Verträ-gen festgeschriebenen Zielen in gleichem Maße entsprechen. Genau wie im innenpoliti-schen Prozess besteht daher die Gefahr des vorzeitigen „Zerredens“ von Initiativen, die zu einem zu frühen Zeitpunkt öffentlich oder offiziell gemacht werden (Althaus 2002).

Auf der sichtbaren politischen Ebene müssen die Einflusswege der Regierungen auf die Politikentwicklung durch die Kommission daher als begrenzt bezeichnet werden. An-ders sieht die Sache allerdings auf der rein administrativen Ebene aus, wo nationale Ver-waltungen – so auch die deutsche (Thomas/Wessels 2006: 86) – intensiv mitwirken. Hat sich die Kommission aus diesen oder jenen Gründen dafür entschieden, eine Initiative vor-zubereiten, ist sie in aller Regel auf eine weitaus größere Zahl an Informationen angewiesen als sie selbst zu generieren in der Lage ist. Für die Vorbereitung von Gesetzesakten, aber darüber hinaus auch gleich im Hinblick auf deren spätere Implementation, ist sie daher auf die Mitwirkung der nationalen Exekutiven angewiesen. Dies geschieht über Sachverständi-gengruppen, die von der Kommission als „groupes d'experts“ sachbezogen zur Vorberei-tung der Initiativgebung eingeladen werden (siehe Tabelle 2).5 Dabei sollen mögliche Prob-leme vorab identifiziert und die weitere Gesetzgebung erleichtert werden. Deutsche Fach-beamte verschiedener Ebenen nehmen auf diesen insgesamt etwa 1.700 Expertengruppen als nicht weisungsgebundene Sachverständige, die einerseits Mitwirkungsmöglichkeiten nutzen, andererseits jedoch als Vertreter von Ministerien in Bund und Ländern für eine in die Entwicklungszeit von Initiativen reichende Kontinuität sorgen (ebd.: 85-86).

Tabelle 2: Expertengruppen der Kommission in der Vorbereitung von Initiativen (Stand: 2004)6

Generaldirektion Formal durch Beschluss

der Kommis-sion

Permanent Temporär Gesamt

GD Forschung 1 13 174 188 GD Umwelt 2 55 106 163 GD Gesundheit und Verbraucher-schutz

63 46 47 156

GD Beschäftigung, soziale Ange- 13 87 56 156 5 Die Expertengruppen dürfen nicht mit den Komitologieausschüssen verwechselt werden, die – ebenfalls auf Einladung der Kommission – die Umsetzung und Durchführung der EU-Gesetzgebung vorbereiten und sichern. 6 Besser als viele andere Statistiken gibt die Tabelle eine Übersicht über den Charakter der Kommissionsarbeit: Ein großer Teil der notwenigen Verhandlungen findet nicht in solchen Bereichen statt, in denen die EU-Ebene aufgrund vorhergegangener Supranationalisierung die Kompetenzen bei den Gemeinschaftsinstitutionen bündeln kann. Umfangreiche Abstimmungsmaßnahmen sind vielmehr dort notwendig, wo Kompetenzen auf mehrere geographische (Nationalstaat, Regionen, etc.) sowie funktionale (organisierte Interessen und Gegeninteressen) Ebenen verteilt sind.

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legenheiten und Chancengleich-heit GD Unternehmen und Industrie 9 39 89 137 GD Bildung und Kultur - 51 62 113 GD Steuern und Zollunion - 23 86 109 GD Verkehr und Energie 12 45 49 106 GD Landwirtschaft und ländliche Entwicklung

30 27 8 65

GD Regionalpolitik - 5 53 58 Andere (21 weitere Dienststellen der Kommission)

46 151 254 451

Summe 176 542 984 1702 Quelle: Europäische Kommission, zitiert nach Thomas/Wessels (2006: 87).

Zusätzlich zu diesen formalisierten Beziehungen lassen sich zwei weitere informelle

Einflusswege von den Mitgliedstaaten zur Kommission ausmachen. Erstens bestehen Kon-takte zwischen Fachministerien in den Mitgliedstaaten sowie der Arbeitsebene der Kom-mission in den Generaldirektionen oder den Kabinetten der Kommissare. Genutzt wird der kurze Draht zu regulären Kommissionsbeamten der gleichen Nationalität, etwa beim Schreiben eines Referentenentwurfs oder bei Informationswünschen. Darüber hinaus stellen viele Mitgliedstaaten der Kommission eine begrenzte Zahl eigener Beamter zur Verfügung. Diese „Entsendebeamten“ sind einerseits dem Arbeitskodex der Kommission – der u.a. die Unparteilichkeit gegenüber den Mitgliedstaaten vorsieht – verpflichtet. Andererseits wird jedoch die daraus resultierende Vernetzung zwischen den EU-Hauptstädten und Brüssel von allen Seiten akzeptiert. Nicht nur wird die von der Kommission im White Paper an-gesprochene Input-Funktion gestärkt. Auch ist die Kommission wegen ihrer knappen Res-sourcen erneut auf Kapazitäten aus den Mitgliedstaaten angewiesen (vgl. Nugent 2001: 196-198).

Auf einer höheren Ebene werden zweitens die Kontakte von Kommissaren und ihren nationalen Herkunftsräumen genutzt. Hier geht es weniger um die Verankerung von Text-bausteinen in Kommissionsentwürfen – immerhin steht dem die Formulierung des EGV entgegen, jeder Mitgliedstaat habe nicht zu versuchen, „die Mitglieder der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beeinflussen“ (Art. 213 EGV). Allerdings gilt als unge-schriebenes Gesetz, dass die Kommissare eines Mitgliedslandes grundsätzliche politische Leitlinien ihres Entsendungslandes teilen. Auch ist empirisch gezeigt worden, dass die Po-sitionen von EU-Kommissaren häufig mit denjenigen ihrer nationalen Regierungen über-einstimmen (Thomson 2008). Das hat seinen Grund darin, dass die Mitglieder der Kommis-sion vom Kommissionspräsident häufig in Übereinstimmung mit besonderen mitgliedstaat-lichen Interessen ausgewählt werden. Mitgliedstaaten werden gewissermaßen „bedient“. So sah z.B. die Bundesregierung in der Phase der Barroso-Kommission ihr Interesse an einer zügigen Osterweiterung durch den Erweiterungskommissar Verheugen gewahrt. Trotz sei-ner formellen Unabhängigkeit wusste der ehemalige SPD-Generalsekretär um die Erwar-tungen der Bundesregierung an die Erweiterungspolitik. Bei vollständiger Wahrung der Unabhängigkeit des Kommissars war so gewährleistet, dass die Positionen der Regierung von SPD und Grünen zur Erweiterung sehr nahe an denen des Erweiterungskommissars

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lagen. Analoges gilt für das Amt des Kommissars für Wettbewerbsfähigkeit, welches häu-fig von britischen und niederländischen Mandatsträgern mit einer Tendenz zur umfassen-den Definition des Binnenmarktkonzepts besetzt wurde.

Das Präsentieren einer europäischen Gesetzesinitiative muss als Ergebnis eines länge-ren Vorlaufs bezeichnet werden, deren Zustandekommen weder durch ein genuines Eigen-interesse der Kommission noch möglichen Einflussmöglichkeiten nationaler Akteure adä-quat beschrieben ist. Die europäische Verbändeforschung spricht von verschiedenen „Rou-ten“ des Einflusses zu den europäischen Institutionen (Greenwood 2003: 32-35), vor allem zur Kommission und den Fachbeamten („rapporteurs“), die für die Vorbereitung von Initia-tiven verantwortlich sind. Dieser Prozess folgt keinen einheitlichen Regeln, sondern hängt stark von der Konfigurierung des jeweiligen Politikfelds, von der Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Kommission und von der Dringlichkeit eines Vorhabens ab (Nugent 2001: 242-253). In ihrem oben zitierten Weißbuch nennt die Kommission die Neuordnung des Telekommunikationsmarkts aus den späten 1990er-Jahren als Beispiel für die vielfältigen Konsultationsmechanismen im Vorfeld einer Richtlinieninitiative (Commission 2001: 16). Dort wird ein mehrstufiges Wechselspiel zwischen der Kommission und externen Akteuren aufgeführt: (1) von der Kommission in Auftrag gegebene Studien und deren externe Dis-kussion auf Workshops; (2) ein daraus entstehendes Arbeitspapier und dessen Kommentie-rung auf einem Hearing externer Experten; (3) ein revidierter Vorschlag mit externen Än-derungsvorschlägen; (4) erst als Reaktion darauf kommt es zu einer Richtlinieninitiative zur Beratung in Rat und EP.

Die Auflistung zeigt, dass von einer hermetisch abgeschlossenen Beamtenwelt in der Kommission nicht die Rede sein kann. Im Gegenteil steht die Brüsseler Bürokratie mit zwei Typen von gesellschaftlichen Akteuren in einer symbiotischen Verbindung: (meist ökono-misch orientierten) Interessengruppen bzw. Verbänden und (meist ideell orientierten) zivil-gesellschaftlichen Gruppen. Eine eindeutige normative Beurteilung dieses Sachverhalts wird dadurch erschwert, dass unterschiedliche theoretische Ansätze den Einfluss solcher Gruppen auf politische Entscheidungsprozesse unterschiedlich bewerten. Während der Pluralismus generell die Beteiligung der Gesellschaft und deren notwendigerweise partiku-lären Interessen befürwortet (Truman 1951; Steffani 1980), sehen verschiedene Zweige der Kritischen Theorie in einer engen Verflechtung staatlicher und wirtschaftlicher Akteure ein beträchtliches Problem für die Produktion rationaler und gerechter politischer Entscheidun-gen (Habermas 1962; Agnoli 2004 (1968)). Immerhin besteht jedoch ein beträchtliche Of-fenheit des Systems. Für eine internationale Organisation mit ihrem prinzipiell größeren Wirkungsraum und – daraus folgend – größeren Integrationserfordernissen stellt dies keine geringe Leistung dar.

Freilich bestehen damit auch ähnlich demokratietheoretische Probleme wie in nationa-len Kontexten. Das technokratische Zusammenwirken von Bürokratie und Experten aus Interessengruppen und Zivilgesellschaft steht in einem „Spannungsverhältnis zur Politik im Allgemeinen und zur Demokratie im Besonderen“ (Schmidt 2004a: 709). Mithin trägt die politische Praxis der Artikulierungsphase mit zum, wie es Robert Dahl (1998: 115) aus-drückt, „'gigantischen' Demokratiedefizit“ der EU bei. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass das europäische System der gesellschaftlichen Interessenvermittlung nicht einfach mit den Messlatten eines nationalen Regierungssystems zu messen ist. Unabhängig von der theoretischen Positionierung – Pluralismus vs. Kritische Theorie – trägt eine europäische Interessenvermittlung auch zu einer europäischen Sinnstiftung bei, mit der nationale Para-

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digmen durch eine europäische Ebene angereichert oder mitunter sogar überwunden wer-den. Das ermöglicht es auch rein ökonomisch orientierten Interessengruppen, ihre partiku-laren Interessen als Dienst an der europäischen Integration hinzustellen.7

Neben zivilgesellschaftlichen und Interessengruppen spielt auch die politische Öffent-lichkeit eine Rolle beim europäischen Agenda-Setting. Dies tut sie allerdings nur selten in jenem nationalgesellschaftlich hergebrachten Sinne, dass über transnationale Debatten Er-wartungen an die europäischen Institutionen herangetragen würden. Wenn dies doch ge-schieht, dann über die Rezeption kumulierter nationaler Öffentlichkeiten, etwa wenn die Kommission auf zustimmende Meinungsumfragen zu einer gemeinsamen Außen- und Si-cherheitspolitik verweist oder Demonstration in verschiedenen Hauptstädten eine gemein-same europäische Stimme gegen die Irak-Politik der zweiten Administration von George W. Bush darstellen sollen (so die vielfache Interpretation von Derrida/Habermas 2003).

Im politischen Alltagsgeschäft kommt indes stärker die Besonderheit eines Kommuni-kationsraums zum Tragen, der ohne eine geteilte „Idee eines Souveräns“ auskommen muss. Der europäische Raum politischer Kommunikation lebt weniger von transnationalen Debat-ten der populären Öffentlichkeit als von der beginnenden Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft (so Eder 2003, Zitat S. 89). Diese begünstigt indes wieder ein elitäres Element des europäischen Agenda-Setting. Forderungen an die politische Sphäre entstehen in Teilöffentlichkeiten, die zum einen eine voraussetzungsvolle transnationale Kommunika-tionsfähigkeit erfordern und zum anderen sektoral organisiert sind. In einer optimistischen Wendung lassen sich diese als Simultanexistenz mehrerer „Demoi“ innerhalb Europas ver-stehen (Abromeit/Schmidt 1998: 315). Pessimistischer lässt sich jedoch auch von einem Ungleichgewicht bei der Repräsentationsfähigkeit gesellschaftlicher Interessen zugunsten solcher Akteure sprechen, die über eine überdurchschnittliche Kombination kultureller und finanzieller Ressourcen verfügen.

Insgesamt stellt die Interessenartikulation eine der komplexesten Phasen der politi-schen Willensbildung auf der EU-Ebene dar. Beteiligt sind nationale und transnationale Öffentlichkeiten, nationale und transnationale Zivilgesellschaften bzw. Vertreter von Inter-essengruppen, regionale Akteure sowie nationale und transnationale Institutionen mit den Regierungen im Zentrum der nationalen und der Kommission im Zentrum der EU-Arena.

3.3.2 Interessenaggregation

Hat ein Legislativvorhaben die Schwelle einer Kommissionsinitiative überschritten, beginnt die nächste Phase des Policy-Zyklus. Gegenüber der Phase der Interessenartikulation ver-einfacht sich die Struktur der formal beteiligten Akteure, denn zunächst wird die Initiative an den Rat überstellt, der je nach Einschlägigkeit des Verfahrens (Mitentscheidung nach Art. 251 EGV, Zusammenarbeit nach Art. 252 EGV oder Konsultation nach Art. 190 Abs. 5 EGV) unter Einbeziehung des EP über deren Fortgang verfügt.8 „Interessenaggregation“ steht also im EU-Zusammenhang für die Verdichtung von (kontingent entstandenen) Initia-

7 Der Bund der Deutschen Industrie (BDI) beispielsweise streicht im Rahmen seiner europapolitischen Tätigkeiten die Orientierung am „Gemeinwohl“ explizit heraus (siehe http://www.bdi-online.de/de/international/ start_Europapolitik.htm, download am 13.3.2007). 8 Im Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EGV) geht der Vorschlag der Kommission zunächst an das EP.

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tiven der Kommission zu Entscheidungsvorlagen des Ministerrates (und des EP). In funk-tionaler Hinsicht bestehen viele Überlappungen nicht nur mit der nachgelagerten Entschei-dungsphase, sondern auch mit der vorgelagerten Artikulationsphase. Dies hängt vor allem mit dem Mehrebenencharakter der EU selbst zusammen, denn die Mitgliedstaaten treten der mit Initiativrecht ausgestatteten Kommission gleichzeitig als Agent mit Partikularinter-essen und als Verkörperung einer unangefochtenen Volkssouveränität gegenüber. Das Handeln von Regierungen im Vorfeld einer Kommissionsinitiative muss daher nicht zuletzt im Kontext der späteren Beratungsphase gesehen werden. Ein frühzeitiges Verankern eige-ner Interessen im Entscheidungsdurchlauf liegt im Interesse einer jeden Mitgliedsregierung, und dabei ist die Zuordnung zu den Phasen der Artikulation und Aggregation letztlich nachrangig.

Im Gegensatz zur Artikulationsphase liegt der Schwerpunkt mitgliedstaatlichen Han-delns indes nicht im vorsorglichen Antichambrieren, sondern in der prinzipiell gleichrangi-gen und gleichberechtigten Auseinandersetzung zwischen den nationalen Regierungen, wobei die Koordinierung von Positionen innerhalb der einzelnen Regierungen ein eigenes Problem darstellt (siehe unten, vor allem auch Kap. 6). Die wichtigste Arena der Aggregie-rungsphase stellt der Ministerrat in seinen seit Juni 2002 auf neun begrenzten möglichen Zusammensetzungen.9 Aus dieser Differenzierung leitet sich auch die Vielfalt möglicher Interaktionsmodi wie Bargaining, Problemlösen oder Koordination ab. Im Entscheidungs-dickicht der EU muss nicht nur zwischen Verfahren wie Konsultation, Zusammenarbeit und Mitentscheidung unterschieden werden, sondern auch – und quer dazu – zwischen den Ab-stimmungsregeln im Rat. Laut Nizza-Vertrag entscheidet der Rat bei etwa 33% aller EG-Entscheidungen einstimmig, bei etwa 60% per Qualifiziertem Mehrheitsentscheid. In der EU, also in der Zweiten und in Teilen der Dritten Säule, entfallen ebenfalls etwa 33% der Entscheidungen auf Einstimmigkeit, mehr als 65% auf Qualifizierte oder besondere Mehr-heiten zwischen Einstimmigkeit und einfacher Mehrheit (Daten bei Maurer 2001: 139, weitere Ausführungen siehe unten).

Von den jeweiligen Regeln hängt dann auch ab, auf welche Weise Regierungsvertreter miteinander interagieren. Der akteurszentrierte Institutionalismus nach Fritz Scharpf und Renate Mayntz (siehe insbesondere Scharpf 2000) trifft zwischen den Modi der Verhand-lung und der Mehrheitsentscheidung eine deutliche Unterscheidung. In Verhandlungssitua-tionen verfügen alle an einer Entscheidung Beteiligten nicht nur über eine Mitsprache- und Problemlösungskompetenz, sondern auch einen Zugriff auf das Entscheidungsergebnis – ohne Zustimmung keine Entscheidung. Das Finden einer Verhandlungslösung hängt dann vor allem davon ab, ob alle Verhandlungsbeteiligten von einem nachteiligen Status Quo überzeugt sind. Mehrheitsentscheidungen sind dagegen stärker darauf zugeschnitten, wenig befriedigende Zustände durch Dezisionen zu überwinden. Allerdings erfordern sie von allen Teilnehmern als legitim anerkannte Regeln, setzen eine starke und identifizierbare kollekti-ve Identität voraus und sind für die Lösung von Konflikten mit einer Verteilungsdimension nur unter bestimmten, im Bereich der EU eher nicht gegebenen, Bedingungen geeignet (ebd.: 251-280).

9 Sie lauten: 1. Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen (Allgemeiner Rat), 2. Wirtschaft und Finan-zen (ECOFIN), 3. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (Justiz- und Innenministerrat), 4. Beschäf-tigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucher, 5. Wettbewerbsfähigkeit, 6. Verkehr, Telekommunikation und Energie, 7. Landwirtschaft und Fischerei, 8. Umwelt, 9. Bildung, Jugend und Kultur. Siehe http://europe.eu.int., aufgesucht am 13.3.2007.

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Die Interessenaggregation auf EU-Ebene findet also in einem Möglichkeitsraum zwi-schen zwei Prinzipien statt: dem qualifizierten Mehrheitsentscheid und einstimmigen Be-schlüssen. Die Implikationen der jeweiligen Entscheidungsregel sind durchaus nicht ein-deutig. Spieltheorie und Neue Institutionenökonomie unterstellen den beiden Prinzipien – in Abstraktion von Legitimitätsüberlegungen – unterschiedliche Handlungslogiken. Der Mehrheitsentscheid senkt zunächst die Transaktionskosten, da die an einer Verhandlung beteiligten sich per se mit einer geringeren Zahl an Betroffenen einigen müssen, um zu einer Entscheidung zu gelangen (Scharpf 2000: 259). Weiterhin, und für Spieltheoretiker noch zentraler, induzieren institutionelle Regeln von Anbeginn einer Verhandlung ein Ver-halten, das auf eben jene Regeln abzielt. Vollziehen Akteure diesen Gedankenschritt der „backward induction“ (Hargreaves Heap/Varoufakis 1995: 80-110), antizipieren sie von Anbeginn die Überstimmbarkeit von Verhandlungsteilnehmern. Handeln und denken sie rational, eliminieren sie also bereits vorab solche Verhandlungspositionen, die nicht mehr-heitsfähig sind und passen damit ihre Präferenzen an die Verfahrensregeln an.10 Da auch ein solches Verhalten die Transaktionskosten verringert, sehen Spieltheorie und Institutio-nenökonomie in der Einführung von Mehrheitsentscheidungen einen gewissermaßen dis-ziplinierenden Weg zur Verhinderung von Verhandlungsblockaden (Buchanan/Tullock 1962: Teil III).

In einem neueren Strang der am Paradigma von Rational Choice ausgerichteten Poli-tikwissenschaft werden diese Thesen allerdings im Hinblick auf die für die EU typischen Entscheidungssituationen deutlich eingeschränkt. Die Theorie der Veto-Spieler (Tsebelis 2002) schreibt dem Mehrheitsentscheid zwar eine höhere Entscheidungseffizienz zu als Einstimmigkeitssituationen, in denen jeder einzelne Verhandlungsteilnehmer eine Lösung blockieren kann. Allerdings differenziert Tsebelis zwischen den Grundsituationen einer einfachen und einer qualifizierten Mehrheit (ebd.: 52). Wie soeben angedeutet wurde, sehen die europäischen Verträge in allen drei Säulen der EU etwa bei zwei Drittel der Entschei-dungen einen Qualifizierten Mehrheitsentscheid vor; nur eine Minderheit von Dossiers unterliegt einer einfachen Mehrheit. Für die Analyse der Verhandlungsvorgänge während der ersten Ratsphase sind daher Tsebelis' theoretische Überlegungen hinsichtlich des Quali-fizierten Mehrheitsentscheids einschlägig (Tsebelis 2002: 38-63). Diese besagen, dass das Winset – die Bandbreite von Entscheidungen, in der alle Beteiligten gegenüber dem Status Quo einen Vorteil erzielen – eines Qualifizierten Mehrheitsentscheids kleiner ist als das Winset eines einfachen Mehrheitsentscheids. Das Spektrum möglicher Entscheidungen zur Überwindung eines unbefriedigenden Status Quo sinkt also mit der Erhöhung des Quo-rums. Als Folge konstatiert Tsebelis eine Erhöhung von „Policy-Stabilität“, die eine Ände-rung des Status Quo erschwert (ebd.: 54).

Tsebelis Analyse liefert Hinweise darauf, dass sich unter Qualifiziertem Mehrheitsent-scheid die Entscheidungsbedingungen in Richtung der Bedingungen einstimmigen Ent-scheidens verschieben. Diese werden in der Theorie von Gremienentscheidungen diskutiert; dort wird ein starker Zusammenhang zwischen der Größe eines Gremiums und der Höhe von Entscheidungskosten hergestellt wird (Sartori 1984). Kolportiert wird dabei eine Gre-miengröße von etwa 15 stimmberechtigten Mitgliedern, jenseits derer Entscheidungskosten exponentiell wachsen und im Extremfall sogar prohibitiv werden können (siehe z.B. 10 Technisch gesprochen ermöglichen die Verfahrensregeln damit ein neues Nash-Gleichgewicht, da alle Akteure nur noch dasjenige Ergebnis erreichen können, das von keiner Blockademinderheit als Verschlechterung des Status Quo angesehen wird.

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Pfetsch 2006: 144). Da der Ministerrat diese Gremiengröße seit 2004 überschritten hat, geben die jüngsten Erweiterungsrunden der EU auf zunächst 25, dann sogar 27 Mitglieder der theoretischen Vermutung neuen Auftrieb, die wachsende Heterogenität der Mitglieds-regierungen könne zu stetig „kleineren Winsets gegenüber dem Status Quo“ (Tsebelis 2002: 282) und damit zu verstärkten Blockademöglichkeiten im Rat führen.

Die Quintessenz der theoretischen Diskussion lässt sich wie folgt zusammenfassen: Zwischen Qualifiziertem Mehrheitsentscheid und der Einstimmigkeitsregel bestehen im Detail deutliche Unterschiede, etwa hinsichtlich der Möglichkeit zur leichteren Kompro-missfindung bei strittigen Themen. Allerdings ist auch auf deutliche strukturelle Ähnlich-keiten zu verweisen, und zwar vor allem im Hinblick auf eine – gegenüber einem kleinen Gremium und gegenüber dem reinen Mehrheitsentscheid – stark verengtes Spektrum er-reichbarer Entscheidungen zur Verbesserung des Status-Quo. Die bei Tsebelis so genannte hohe Policy-Stabilität ist ebenfalls bei beiden Entscheidungsregeln gegeben und favorisiert den Status Quo gegenüber Regelungen, die nur für Minderheiten oder einfache Mehrheiten der EU-Regierungen ein Problem darstellen. Nicht zuletzt deshalb überwiegt im Rat selbst in Feldern mit möglichem Mehrheitsentscheid das Prinzip einvernehmlichen Entscheidens: Es wird so lange weiter verhandelt, bis alle Entscheidungsbeteiligten mit der gefundenen Lösung einverstanden sind (Mattila 2004; Hayes-Renshaw/van Aken/Wallace 2006).

All dies spricht dafür, sich bei der Analyse der Interessenaggregation im Ministerrat nicht allein auf die Dimension des Verhandelns, also des Bargaining, zu beschränken. Vielmehr ist das fortdauernde Funktionieren des Rates trotz der theoretischen Prognosen gar nicht anders zu erklären, als dass sich die Akteure neben einem präferenzbasierten Ver-handeln der Strategien des Problemlösens und der Koordination bedienen. „Problemlösen“ ist dabei definiert durch „das zentrale Ziel“ der „gemeinsame[n] Realisierung besserer Pro-jekte“; es geht „ausschließlich“ um „Nutzenproduktion“ im Gegensatz zur Konzentration auf die Verteilung von Nutzen und Kosten wie beim Bargaining (Scharpf 2000: 221). Wenn dagegen „zur gleichen Zeit distributives Bargaining und Problemlösen praktiziert [werden] müssen“, also gleichzeitig Verteilungs- und Produktionsprobleme betroffen sind, ist der Begriff der „positiven Koordination“ einschlägig (ebd.: 225).

Existieren Mechanismen, die den nutzenorientierten Interaktionsmodi Vorschub leis-ten und/oder das Element des distributiven Bargaining zurückdrängen? Ein erstes Element findet sich zunächst erneut in der Spieltheorie selbst, wenn der Rat als dauerhaft tagendes Verhandlungssystem angesehen wird und daher iterative Spiele als eigentlicher Kern des EU-Verhandelns gelten müssen. Relevant wird dann die These der „Evolution der Koopera-tion“ (Axelrod 1987), die für auf Dauer angelegte Verhandlungssysteme ein Gleichgewicht bei nutzenorientierter Zusammenarbeit sieht. Allerdings bezieht sich das Theorem auf Spie-le vom Typ des Gefangenendilemmas, die keineswegs als typisch für politische Entschei-dungen im Allgemeinen und alltägliche Ratsentscheidungen im Besonderen gelten können (Scharpf 2000: 89-91).

Die Betonung des iterativen Charakters des Ratsprozesses verweist dennoch ganz all-gemein auf die große Bedeutung der Arbeitsgruppen und anderer Gremien des Rates im Willensbildungsprozess. Die hier stattfindende Arbeit ist weitgehend „technischer“ Natur, d.h. es werden Beschlussvorlagen für die Ausschüsse der Ständigen Vertreter (AStVs bzw. COREPER), die ihrerseits den verschiedenen Ratsformationen zuarbeiten, vorbereitet.11 In 11 Hayes-Renshaw und Wallace charakterisieren die Rolle der beiden AStVs folgendermaßen: „As a general rule, (...) we can say that COREPER intervenes on issues that have proved too political for agreement to be reached at

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der Regel entsendet jeder Mitgliedstaat einen Vertreter in die insgesamt etwa 300 Arbeits-gruppen des Rates (Kassim 2001a: 17). Da selbst die deutsche als größte der Ständigen Vertretungen lediglich über etwa 100 Mitglieder verfügt (Maurer 2003: 126), sind einzelne Botschaftsreferenten häufig Mitglied mehrerer Arbeitsgruppen. Häufig werden auch Vertre-ter aus den Hauptstädten oder – im Falle der Bundesrepublik – aus den Bundesländern ent-sandt. All dies schafft ein breit gefächertes Netzwerk, in dem neben persönlichen Be-kanntschaften einigermaßen gefestigte Erwartungshorizonte bezüglich der Haltung der für einen Politikbereich wichtigen Mitgliedstaaten entstehen. Manche Autoren gehen so weit, in diesem ausgeprägten Gremienwesen ein Element der deliberativen Demokratie zu sehen, das die Produktion gesamteuropäisch rationaler Entscheidungen fördert (Joerges/Neyer 1998). Als gesichert gelten kann jedenfalls, dass in den Gremien des Rates – bis hinein in die Ausschüsse der Ständigen Vertreter – der Modus des Problemlösens neben das Ver-handlungselement tritt, dass mithin für das Wirken des Ministerrats wenigstens teilweise von positiver Koordination gesprochen werden kann.

Ein wichtiges Charakteristikum dieses problemorientierten Gremienwesens lautet, dass fachübergreifend ausgerichtete (=„politische“) Ratsgremien erst spät – und je nach Entscheidung mitunter gar nicht – in den Entscheidungsfindungsprozess eingreifen können. Schließlich bestehen die Ratsarbeitsgruppen und selbst die Ministerräte fast ausschließlich aus Fachbeamten bzw. Fachpolitikern. In nationalen politischen Systemen wirken Kabinet-te als Gesamtrepräsentanten von Regierungen als Korrektoren für Gesetzgebung. Dort kön-nen ressortübergreifende Interessen noch einmal aufeinander prallen, bevor fertige Gesetze präsentiert werden. Auf der Brüsseler Bühne wirken jedoch die beiden AStVs als einzige Filter zum Abgleichen von Interessen, falls ein Vorhaben nicht kontrovers ist und daher in den Allgemeinen Rat oder (wenn es zusätzlich „wichtig genug“ ist) sogar den Europäischen Rat weitergereicht wird. In den AStVs, die sich etwa ein bis drei Mal pro Woche immer mit 27 Delegationen sowie der Kommission treffen, steht indes nur eine sehr begrenzte Zeit zur Diskussion zur Grundierung technischer Dossiers an allgemeine politische Leitlinien zur Verfügung. Außerdem handelt es sich beim COREPER auch nur um ein supranationales Organ, in dem Verhandlungsmargen nicht ressortübergreifend bestehen. Das Gremium ist also zu Enttechnisierung von Entscheidungen strukturell kaum in der Lage. Als Charakte-ristikum des Aggregierungsprozesses im Rat ist daher eine politische Segmentierung des Entscheidungswesens zu vermerken, die der Akzeptanz und Legitimität der EU als ganzer entgegenwirkt.

Das Gremiensystem des Rats wird durch die sich ergänzenden Institutionen der Rats-präsidentschaft und des Ratssekretariats abgesichert. Die Ratspräsidentschaft hat sich im Laufe der Zeit zu einem immer ambitionierteren Instrument der Programmentwicklung und Richtungsgebung entwickelt. An der umfangreichen Berichterstattung über die deutsche Ratspräsidentschaft im Frühjahr 2007 (z.B. Hulsman/Techau 2007) ließ sich besichtigen, wie sich dabei partikulare und allgemeine Agenda-Aspekte überlagern. Die damalige

the level of the working parties, and too technical for discussion by the ministers“ (Hayes-Renshaw/Wallace 2006: 77). Der AStV I arbeitet vor allem den so genannten technischen Räten zu, z.B. dem Rat für Wettbewerbsfähig-keit, dem Umweltrat oder dem Verkehrsrat. Der AStV II ist hingegen dem Allgemeinen Rat (GAERC: General Affairs and External Affairs Council), dem Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN) sowie dem Rat der Innen- und Justizminister zugeordnet. Generell fallen auch politisch kontroverse Themen in den Bereich des AStV II, nicht zuletzt weil dort die EU-Botschafter und nicht deren Vertreter wie im AStV I sitzen (Thomas/Wessels 2006. 77).

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deutsche Initiative zu einer perspektivischen Zentralasien-Politik mag als Beispiel für eine punktuelle Initiative gelten, deren mittelfristiger Erfolg davon abhängt, ob andere Mitglied-staaten dem Issue eine ähnliche Prioritätsstufe einräumen. Hier war und ist also in der Tat die Kunst des Verhandelns gefragt, um die stets knappen Ressourcen anderer Mitgliedsre-gierungen auf einen neuen Bereich zu lenken. Die Mehrzahl der Themen einer Präsident-schaft sind allerdings in bestehende Dialog- und Verhandlungssituationen eingebettet. Der Präsidentschaft kommt in solchen Fällen die Aufgabe zu, bereits bestehende Ansätze zu einer Problemlösung voranzutreiben oder zu verändern. Eigene Politikziele der Präsident-schaft lassen sich bei besonnenem Vorgehen durchaus verwirklichen (Kietz/Maurer 2008). Ein eigenständiges Gewicht der Ratspräsidentschaft ergibt sich vor allem am Ende eines Verhandlungsprozesses, wenn durch eigennütziges Handeln nicht mehr der gesamte Pro-zess in Gefahr kommen kann (Schalk u.a. 2007). Die gewohnheitsmäßig verfestigte Rolle der Präsidentschaft als „package broker“ (Wallace/Edwards 1976) legt allerdings fest, dass auch solche Dossiers zu einer Lösung geführt werden müssen, die einem präsidierenden Mitgliedstaat eher zum Nachteil gereichen. Selbst Großbritannien gelang es beispielsweise während seiner Präsidentschaft nicht, im Zuge der Verhandlungen um die Finanzielle Vor-ausschau 2007-2013 den britischen Beitragsrabatt unangetastet zu lassen (Becker 2005).

Kontinuierliche Problemlösung wird weiterhin vom Ratssekretariat mit seinen etwa 3000 Beamten (Hayes-Renshaw/Wallace 2006: 108) gewährleistet. Das Sekretariat bereit nicht nur im technischen Sinne – etwa durch die Zurverfügungstellung von Drucksachen etc. – einzelne Gruppensitzungen vor, sondern hat auch inhaltliche Funktionen inne. So verlassen sich Ratspräsidentschaften besonders bei „technischen“ Dossiers gerne auf die Erfahrung des Sekretariats. Mitunter übernehmen Beamte des Ratssekretariats sogar die Aufgabe, bei strittigen Fragen zwischen Mitgliedsdelegationen zu vermitteln (ebd.: 117).

Die bisherigen Ausführungen zeigen, sich die Aggregationsphase von der Artikulati-onsphase in ihrem Charakter deutlich unterscheidet. In der letzteren wird ein bestimmtes Spektrum verbandlicher und zivilgesellschaftlicher Eliten begünstigt, bei dem technokrati-sche Beeinflussung und europäischer Integrationsgedanke Hand in Hand gehen. Eine solche Verbindung von Demokratieferne und Integrationsfreundlichkeit ist beim Ministerrat nicht gegeben. Die Aggregierung findet vielmehr in einem institutionellen Umfeld statt, in dem demokratische Verantwortlichkeit eine stärkere Rolle spielt, während allerdings die Struk-tur der Ratsentscheidungen segmentierte und „technokratische“ Entscheidungen begünsti-gen.12 Verantwortlich sind die Regierungsakteure im Rat nicht nur den Bevölkerungen ihrer jeweiligen Constituencies, sondern vor allem den nationalen Parlamenten mit ihren (unter-schiedlich ausgeprägten) Sanktionsmöglichkeiten gegenüber der Exekutive.

Unähnlich stellt sich auch die Beteiligung der mitgliedstaatlichen Akteure in Artikula-tions- und Aggregierungsphase dar. Agenda-Setting wird durch eine unübersichtliche Viel-zahl von Akteuren betrieben, die sich nur begrenzt an formale Verfahren gebunden fühlen müssen. In der Aggregationsphase treten hingegen die Mitgliedsregierungen in den Mittel-punkt des Geschehens, deren Wirken über die Geschäftsordnung des Rates formalisiert ist.13 Mitgliedsregierungen sprechen im Rat offiziell mit einer Stimme; hinter den anwesen-

12 Von einer echten Technokratie unterscheidet sich das Entscheidungssystem dadurch, dass nicht externe Exper-ten, sondern (i.d.R.) sachpolitisch eingearbeitete Beamte die Entscheidungen treffen. Deswegen verwende ich die Vokabel hier in Anführungsstrichen. 13 Zu finden unter http://europa.eu/scadplus/leg/de/lvb/o10003.htm, abgerufen am 31.8.2008.

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den Beamten oder Regierungsmitgliedern in den einzelnen Ratsformationen stehenden indes einzelne Ressorts. Deren Kohärenz ist durchaus nicht immer gegeben, da – wie im Nationalstaat – bestimmte Präferenzen in einer strukturellen Konkurrenz zueinander stehen (z.B. Arbeitgeber- vs. Arbeitnehmerinteressen, „Wirtschaft“ vs. „Umwelt“, etc.). Die Agg-regationsphase ist daher nicht nur von möglichen Interessengegensätzen zwischen Mitg-liedsregierungen geprägt, sondern findet vielfach auch im Inneren der mitgliedstaatlichen Regierungsapparate statt.

3.3.3 Entscheidungsfindung

3.3.3.1 Verfahrenstypen In die Phase der Entscheidungsfindung kommen Vorschläge für Rechtsakte auf EU-Ebene, sobald sie den Rat nach dessen erster Verhandlungs- bzw. Problemlösungsrunde verlassen haben. Die in den Verträgen EGV und EUV niedergelegten Ermächtigungsgrundlagen ge-ben darüber Auskunft, welches Verfahren für Vorschläge aus einzelnen Politikbereichen einschlägig sind. Dabei stehen zum einen die oben bereits erwähnten Verfahren der Mitent-scheidung (Art. 251 EGV), der Zusammenarbeit (Art. 252 EGV)14 oder der Konsultation (Art. 190 Abs. 5 EGV) zur Diskussion. Auf diese Verfahren wird nach dem Prinzip der Einzelermächtigung jeweils in den Verträgen hingewiesen. Zusätzlich führt der EGV zum anderen eine Reihe weiterer Verfahren. Die Regelungen durch den Vertrag von Nizza enthalten dementsprechend die folgenden Ermächtigungsarten: a. Aus der Perspektive des Rates (vgl. Tekin/Wessels 2006: 107):

Im Regelfall, d.h. für den eher seltenen Fall des Fehlens einer spezifischen Verfah-rensregel, entscheidet die einfache Mehrheit der Ratsmitglieder (Art. 205 Abs. 1 EGV).

Im Hinblick auf den Binnenmarkt (Art. 14 Abs. 3) sowie in den meisten Bereichen der Ersten Säule, d.h. der im EGV verankerten Politikfelder gilt die „einfache“ Qua-lifizierte Mehrheit (einen detaillierten Überblick bietet Hix 2005: 415-421). Nach der Erweiterung um Bulgarien und Rumänien liegt die Schwelle für einen Qualifi-zierten Mehrheitsentscheid bei drei Werten: es müssen 255 von 345 gewichteten Stimmen erreicht werden (was einem Stimmenanteil von knapp 74% entspricht)15, zudem müssen 14 von 27 Mitgliedstaaten sowie 62% der Unionsbevölkerung hinter diesem Stimmanteil stehen (Hartwig/Umbach 2006: 330).

Mit doppelter Qualifizierter Mehrheit, d.h. mit den soeben genannten Regeln sowie einer 2/3-Mehrheit der Mitglieder (d.h. seit 2007 18 von 27), entscheidet der Rat in

14 Das Zusammenarbeits- bzw. Kooperationsverfahren (Art. 252 EGV) findet mittlerweile kaum noch Anwendung, denn in den Regierungskonferenzen der 1990er-Jahre wurden keine neuen Politikbereiche an dieses Verfahren gekoppelt, während viele Bereiche vom Kooperationsverfahren in das Mitentscheidungsverfahren überführt wur-den. Gültig bleibt es bei der Überwachung nationaler Wirtschaftspolitiken (Art. 99 Abs. 5, Art. 102 und Art. 103 EGV). 15 Das Spektrum der gewichteten Stimmen reicht von 29 Stimmen für die vier „großen“ Mitglieder Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien am einen Ende bis zu vier Stimmen für Estland, Lettland, Luxemburg, Slowenien und Zypern sowie drei Stimmen für Malta (die Daten sowie eine mögliche Interpretation des damit verbundenen Machtanteils findet sich erneut bei Hix 2005: 85).

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der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bei der Annahme gemein-samer Aktionen oder Standpunkte, bei deren Durchführung sowie bei der Ernen-nung von Sonderbeauftragten (Art. 23. Abs. 2 EUV) – die Regel kommt lediglich optional auf Antrag eines Mitgliedstaates zur Anwendung.

Eine 2/3-Mehrheit nach gewichteten Stimmen gilt bei Entscheidungen des Rats über das Vorliegen eines „übermäßigen öffentlichen Defizits“ nach Art. 104 EGV. Die genaue Bestimmung des Schwellenwertes hängt von der einzelnen Entscheidung ab, denn die betroffene Mitgliedsregierung darf nicht mitstimmen (ist z.B. die Bundes-republik betroffen, erreichen 211 von dann 316 Stimmen den Schwellenwert). Eine weitere Unschärfe enthält der Artikel dadurch, dass seine Anwendung ursprünglich für Mitglieder der Wirtschafts- und Währungsunion gedacht war. Neben den „Opt-outs“ durch Dänemark, Großbritannien und Schweden zeichnet sich indes ab, dass mehrere der mitteleuropäischen Mitgliedstaaten wenigstens in den nächsten Jahren kaum die Kriterien zur Aufnahme in die Währungsunion erfüllen dürften (Beichelt 2004a: 151). Die Legitimitätsbasis dieses speziellen Entscheidungstyps muss also als dünn bezeichnet werden.

Einstimmig entscheidet der Rat üblicherweise im Bereich der GASP (Art. 23 Abs. 1 EUV) oder bei Bestimmungen zur Harmonisierung von Rechtsvorschriften über Umsatzsteuern oder andere indirekte Steuern (Art. 93 EGV). Unterschiedliche Zäh-lungen bei Hix (2005: 415-421) und Maurer (2001: 139) ergaben jeweils 14 Berei-che mit Einstimmigkeit im EUV sowie deren 47 (Hix) bzw. 68 (Maurer) im EU-Vertrag.16

In wenigen besonderen Fällen, so z.B. bei der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten (Art. 49 EUV) oder bei Vertragsänderungen, ist die Einstimmigkeit im (Europä-ischen) Rat an die Zustimmung des Parlaments und die Ratifikation in den Mitg-liedstaaten gebunden.

b. Aus der Perspektive des Parlaments gestalten sich die Entscheidungsregeln etwas übersichtlicher, bleiben aber uneinheitlich (weiterhin Tekin/Wessels 2006: 107): Das EP entscheidet nach Art. 198 EGV im Regelfall mit der Mehrheit der abgege-

benen Stimmen. Eine absolute Mehrheit (d.h. 393 Stimmen) ist generell in der zweiten Lesung des

Mitentscheidungsverfahrens (Art. 251 EGV) oder bei besonderen Fällen, z.B. der Zustimmung zur Aufnahme neuer Mitglieder (Art. 49 EUV) oder nötig.

Ein Misstrauensantrag gegen die Kommission benötigt zwei Drittel der abgegebe-nen Stimmen sowie die Mehrheit der EP-Mitglieder.

Beide Perspektiven lassen sich nun übersichtsartig zu Tabelle 3 verdichten. Selbst die dort einzusehende numerische Verteilung der Entscheidungsverfahren und -regeln hat indes nur eine begrenzte Aussagekraft. Deutlich wird die noch immer hohe Zahl der Bereiche und Verfahren, in denen das Parlament nicht über Entscheidungsrechte verfügt: mehr als 60% der Entscheidungen im Bereich des EUV und immerhin auch ein Drittel der Entscheidun-gen im EGV. In keinem der Verträge weist dabei ein Verfahren einen gewissermaßen typi-schen Charakter auf. Lediglich jeweils etwa 20% der Entscheidungen im EGV fallen mit den „regelhaften“ Kombinationen Mitentscheidung/ QMV oder Konsultation/ Einstimmig- 16 Die unterschiedlichen Zahlen lassen sich damit erklären, dass Hix die Bereiche, Maurer jedoch die Nennungen in den Verträgen zur Grundlage der Zählung macht. Zudem erfasst Hix nicht die vielfältigen Protokolle zu den Verträgen.

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keit. Weitere 20% der Entscheidungen fallen mit Qualifiziertem Mehrheitsentscheid ohne EP-Beteiligung; der Rest verteilt sich. Im Bereich des EU-Vertrags – d.h. der GASP sowie der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres – bleibt zwar der Ausschluss des EP ein Leitmotiv, allerdings wechseln auf Ratsseite Einstimmigkeit (21%) mit doppelter/ übermäßiger (14%) und normaler Qualifizierter Mehrheit (19%) ab. Auf 10% der Entschei-dungen im EUV entfällt die Kombination Zustimmung/Einstimmigkeit. Dabei handelt es sich um wenige, aber dafür wichtige Bereiche: die Reform der Kohäsionspolitik, die Über-tragung von Aufgaben auf die Europäische Zentralbank, die Entscheidung über eine Verlet-zung der Menschenrechte durch Mitgliedstaaten, die Aufnahme neuer Mitglieder sowie die meisten internationalen Verträge und Assoziationsabkommen sowie die Inamtsetzung des Kommissionspräsidenten sowie des Kollegs seiner Kommissare (Hix 2005: 415-421). Be-zeichnend ist, dass die Kombination der vertraglichen „Regelfälle“, nämlich der jeweils einfachen Mehrheit in Rat und EP, weder im EGV noch im EUV für eine einzige Entschei-dung einschlägig ist.

Tabelle 3: Übersicht über die Verfahren der EU nach dem Vertrag von Nizza

Beteiligung des EP

Verfahren im Rat Einstimmig-

keit Besondere

Mehrheiten > QM

Qualifizierte Mehrheit

Einfache Mehrheit

Summe

Zahl % Zahl % Zahl % Zahl % Zahl % Konsultation EG

EU 38 4

18.0 9.3

2 1

1.0 2.3

29 1

13.7 2.3

2 1

1.0 2.3

71 7

33.6 16.3

Kooperation / Zusammenarbeit

EG EU

0 0

0 0

0 0

0 0

4 0

1.9 0

0 0

0 0

4 0

1.9 0

Mitentscheidung EG EU

4 0

1.9 0

0 0

0 0

41 0

19.4 0

0 0

0 0

45 0

21.3 0

Zustimmung EG EU

6 1

2.8 2.3

0 5

0 11.6

4 0

1.9 0

0 0

0 0

10 6

4.7 14.0

Unterrichtung EG EU

0 0

0 0

1 3

0.5 7.0

9 0

4.3 0

0 0

0 0

10 3

4.7 7.0

Keine Beteili-gung

EG EU

20 9

9.5 20.9

7 6

3.3 14.0

41 8

19.4 18.6

5 4

2.4 9.3

71 27

33.6 62.8

Summe EG EU

68 14

32.2 32.6

8 15

3.8 34.9

128 9

60.7 20.9

7 5

3.3 11.6

211 43

100.0 100.0

Quelle: Maurer (2001: 139). Ein etwas besserer Überblick lässt sich allerdings gewinnen, wenn die Vielzahl der

Entscheidungsverfahren auf einzelne Politikbereiche heruntergebrochen wird: Der EG-Haushalt wird nach Art. 268-273 EGV unter gemeinsamer Beteiligung des

Rats und des Parlaments verabschiedet, wobei dem Rat bei obligatorischen, dem EP bei nicht obligatorischen Ausgaben das jeweils letzte Wort zukommt.

In den Außenwirtschaftsbeziehungen kooperieren vor allem Kommission und Rat; sind dabei allerdings in bestimmten Fällen – z.B. bei Assoziierungsabkommen, Art. 300 Abs. 3 EGV – an die Zustimmung des Parlaments gebunden.

20

Die Agrarpolitik (Art. 32-38 EGV) wird vom Rat auf der Grundlage von Kommissi-onsvorschlägen entschieden; dem EP kommt Anhörungsrecht zu.

Den Binnenmarkt betreffende Entscheidungen werden meist über das Mitentschei-dungsverfahren, also auf Vorschlag der Kommission und mit Letztablehnungsrecht des Parlaments, getroffen. Gleiches gilt für die meisten übrigen Politikbereiche der Ersten Säule, z.B. die Transport-, Sozial- und Kulturpolitik. Als wichtiger Bereich ist seit 2007 die Strukturpolitik hinzugekommen (Art. 161 EGV). Auch in der Visa-, Asyl- und Migrationspolitik sowie in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen – also dem inzwischen vergemeinschafteten Teil der ehemaligen Dritten Säule – gilt bei einer Reihe von Entscheidungen das Mitentscheidungsverfahren.

In der Wirtschafts- und Währungspolitik (Art. 98-115 EGV), also letztlich der Politik der makroökonomischen Steuerung, kommen der Kommission die Funktionen einer umfassenden Berichterstattung sowie der Vorschlagsformulierung zu; es entscheidet – i.d.R. mit Qualifizierter Mehrheit – der Rat bei schwacher Beteiligung des Parla-ments.

In der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen – den Resten der dritten Säule der EU (Art. 29-42 EUV) – verfügt die Kommission zusammen mit dem Rat über ein Initiativrecht; dieser entscheidet anschließend mit doppelter Quali-fizierter Mehrheit (QMV + 2/3-Mehrheit der Staaten). Das Parlament besitzt Anhö-rungsrecht.

In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist das Prinzip einstimmigen Ent-scheidens bestimmend, wobei eine konstruktive Enthaltung möglich ist (Art. 23 Abs. 1 EUV). Durchbrochen wird die Einstimmigkeitsregel bei der Durchführung von Gemeinsamen Aktionen auf der Basis Gemeinsamer Strategien (Art. 23 Abs. 2) EUV. Die Kommission verfügt über ein mit dem Rat geteiltes Initiativrecht sowie über Funktion bei der Außenrepräsentation (Art. 18 Abs. 1-4, Art. 27 EUV). Das Par-lament besitzt Informations- und ein eingeschränktes Konsultationsrecht (Art. 21 EUV).

Das bzw. die Verfahren der Verstärkten Zusammenarbeit (Art. 11 EGV, Art. 27a, 40, 43-45 EUV) können von Seiten des Rats oder der Kommission angeregt werden; die Kommission verfügt über ein Beratungsrecht.

Aus den Charakterisierungen dieser wichtigsten Politikfelder und Entscheidungsbereiche ergeben sich zwei dominante Unterscheidungsmerkmale. Zunächst entstehen auf der Ebene der beteiligten EU-Institutionen drei Untertypen: a) der Rat entscheidet in Alleinregie, b) die Kommission ist maßgeblich beteiligt, nicht jedoch das EP, c) bei Kommissionsbeteili-gung verfügt das EP über ein Ablehnungsrecht. Bei Typ a) behält der Rat – gegebenenfalls der Europäische Rat – nicht nur Entschei-

dungen, sondern auch deren inhaltliche und organisatorische Vorbereitung fest in der eigenen Hand. Dies ist vor allem im Bereich der GASP der Fall. Selbst wenn die Kommission nach Art. 27 EUV „in vollem Umfang an den Arbeiten im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beteiligt“ wird, ist ihr Initiativ- und Vor-schlagsrecht so stark eingeschränkt, dass sie kein substanzielles Gegengewicht zum Rat bilden kann.

Bei Typ b) ist die Alleinregie des Rates insofern aufgeweicht, als das Beeinflussungs-recht der Kommission substantiell wird. Dies ist einerseits der Fall, wenn die Kom-mission – wie z.B. in der Agrarpolitik – über die eigentliche Sanktions- und Überwa-

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chungskompetenz verfügt, selbst wenn die wichtigen Entscheidungen im Rat fallen. Andere Bereiche – z.B. Außenhandelspolitik, Währungspolitik – sind durch eine hohe, vertraglich abgesicherte administrative Kompetenz der Kommission gekennzeichnet. Ihren Vorschlägen kommt daher ein hohes Gewicht zu, das nur mit relativ hohem Konzertierungsaufwand substantiell werden kann.

Typ c ist durch eine reale Entscheidungskompetenz des Europäischen Parlaments ge-kennzeichnet, sei es über Mitentscheidungs- oder Zustimmungsverfahren sowie bei der Entscheidung über neue Mitglieder der Union (Art. 49 EUV). Weiterhin ist hinsichtlich der Abstimmungsregel im Rat eine Unterscheidung zu tref-

fen. Auf die handlungstheoretischen Unterschiede zwischen einstimmigen Beschlüssen und Qualifiziertem Mehrheitsentscheid wurde bereits im vorangegangenen Abschnitt eingegan-gen. Dort wurden zwei Propositionen abgeleitet, die unter den Kontextbedingungen des EU-Entscheidungssystems den Qualifizierten Mehrheitsentscheid zu einer – allerdings bedeutsamen – Variante des einstimmigen Entscheidens machen. Zum einen zieht allge-mein die Gremiengröße eines auf 27 Mitgliedern angewachsenen Rates hohe Informations- und Transaktionskosten nach sich; dies gilt sowohl sowohl bei der Organisation von Mehr-heiten wie beim Zusammentrommeln von Minderheitsblockaden. Das begünstigt die Rats-präsidentschaft, die Zugriff auf die Ressourcen des Ratssekretariats besitzt und daher als einziger Akteur beide Kostenarten externalisieren kann. Zudem gilt letztlich seit der franzö-sischen „Politik des leeren Stuhls“ in den 1960er-Jahren das Gebot, im Rat möglichst ein-mütige Entscheidungen herbeizuführen (Dinan 2000c). Es gibt also gute institutionelle und historische Gründe dafür, dass trotz der stetigen Ausweitung des Qualifizierten Mehrheits-entscheids die EU in der überwiegenden Zahl der Entscheidungsverfahren jenes Konsens-system geblieben ist, als das es beschrieben und analysiert worden ist (siehe insbesondere Chryssochoou 2001).

Allerdings handelt es sich um eine Konsensmaschine mit einem fest eingebauten Dis-ziplinierungshebel. Wenn ein Mitgliedstaat bei einem bestimmten Dossier überstimmt zu werden droht, kann er vielleicht in seltenen Fällen die Karte des „vitalen nationalen Interes-ses“ ziehen und den Qualifizierten Mehrheitsentscheid außer Kraft setzen. Das Luxembur-ger Instrument kann allerdings nicht dauerhaft eingesetzt werden, denn jeder Mitgliedstaat ist an irgendeiner Stelle des europäischen politischen Prozesses auf das Wohlwollen ande-rer Mitgliedstaaten angewiesen. Die Anmeldung eines vitalen nationalen Interesses muss also nicht nur für die übrigen Mitgliedstaaten nachvollziehbar sein, sondern von diesen auch als höherwertig gegenüber Verhandlungsgegenständen in anderen Arenen akzeptiert werden. Anders ausgedrückt: Wenn ein Mitgliedstaat in einer wichtigen Arena auf den Modus der gemeinsamen Problemlösung angewiesen ist, muss es in allen übrigen Arenen das Verfahren der Qualifizierten Mehrheit akzeptieren. Deswegen hatte ein von EU-skeptischen Regierungen geführte Länder wie Polen und Tschechien in den ersten Jahren ihrer EU-Mitgliedschaft wenige Spielräume zu Eigenständigkeit, solange der – einstimmig zu fassende – Beschluss über die Ausgestaltung der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 noch nicht gefallen war. Die Blockade einer EU-Angelegenheit, wie im Zusammenhang mit der Erneuerung des russisch-europäischen Partnerschaftsabkommens, konnte sich die dop-pelte Kaczyński-Regierung erst anschließend leisten (Schuller 2007).

Die Existenz des Qualifizierten Mehrheitsentscheids im EU-System verändert also die rigiden Bedingungen einstimmigen Entscheidens dahingehend, dass Blockademöglichkei-ten abgeschwächt und der Modus des Problemlösens bzw. der positiven Koordination nicht

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beschädigt wird. Daher führt der Mehrheitsentscheid zwar nicht zu einer Abschaffung des Prinzips einvernehmlichen Entscheidens, sondern lediglich zu dessen potenzieller Abschaf-fung in national sensiblen Bereichen. Die daraus resultierenden Unterschiede bei der domi-nanten Handlungslogik der EU-Regierungen sind deutlich genug, um trotz der strukturellen Ähnlichkeiten von einstimmigem und Mehrheitsentscheiden eine kategoriale Unterschei-dung einzuführen.

Damit ergibt sich eine Sechs-Felder-Matrix, in der die Beteiligung der europäischen -Institutionen sowie die Entscheidungsregel im Rat die leitenden Kategorien sind (Tabelle 4). Innerhalb der Matrix bestehen allerdings nur fünf reale Verfahrenstypen, denn für die Kombination von Einstimmigkeit im Rat, ausgedehnter Kommissionsfunktion und Absti-nenz des EP finden sich in den Verträgen keine einschlägigen Politikfelder. Wo immer das reine zwischenstaatliche Prinzip im Rat zugunsten der Beteiligung von Gemeinschaftsinsti-tutionen aufgelöst wurde, geschah dies immer auch unter Aufgabe der Einstimmigkeitsre-gel. Die Zahl der abgeleiteten Verfahren erinnert an die fünf Policy-Modi, die Helen und Michael Wallace zur Unterscheidung unterschiedlicher Politikfelder entwickelt haben (zu-letzt Wallace/Wallace/Pollack 2005). Im Gegensatz zu deren Einteilung orientieren sich die Typen in Tabelle 4 jedoch allein an der Konstellation der Entscheidungsbeteiligten laut Vertragslage. Es werden also nicht zusätzliche begriffliche oder kategoriale Unterscheidung hinsichtlich des Charakters einzelner Politikfelder eingeschlossen, z.B. hinsichtlich ihrer regulatorischen, distributiven oder koordinieren Eigenschaften.

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Tabelle 4: Verfahrenstypen der Entscheidungsfindung auf EU-Ebene; Zuordnung von

Politikbereichen Entscheidungsregel auf der Ebene des Rates

Einstimmigkeit Keine Einstimmigkeit

Bet

eilig

ung

der I

nstit

utio

nen

im E

ntsc

heid

ungs

verf

ahre

n:

Hau

ptge

wic

ht d

er E

ntsc

heid

ung

liegt

bei

...

Rat in Alleinregie I. Reines intergouvernementa-les Verfahren

GASP (Grundlagen bzw. Strategien)

II. Effizienzorientiertes inter-gouvernmentales Verfahren GASP (Durchführung von Aktionen)

Rat unter maßgebli-cher Beteiligung der KOM, EP mit Kon-sultationsrechten oder ohne Beteili-gung

Keine Entsprechung in EGV und EUV

III. Bürokratieverfahren Agrarpolitik Außenwirtschafts- und

Zollpolitik Wirtschafts- und Wäh-

rungspolitik ZJI Strafsachen Verstärkte Zusammen-

arbeit Rat unter maßgebli-cher Beteiligung der KOM, EP mit Ent-scheidungsrecht

V. Konstitutionelles Verfahren Erweiterung um neue

Mitglieder Vertragsänderungen

IV. Gemeinschaftsverfahren Bestellung der Kommis-

sion Haushaltspolitik Assoziierungspolitik Politiken des EGV:

Binnenmarkt, Visa-, Asyl- und Migrations-politik, Verkehrs-, Sozi-al-, Kultur-, Gesund-heits-, Industrie-, Struk-tur-, Forschungs-, Um-welt- und Entwick-lungspolitik

Die Übersicht über die Verfahrenstypen eröffnet zuallererst und grundsätzlich, dass im

Prinzip alle Entscheidungen auf EU-Ebene letztlich durch den Rat autorisiert werden. Die Kommission kann Vorschläge machen, das EP verfügt über die Kompetenz, Beschlussvor-lagen verändern oder gegebenenfalls durch Ablehnung nichtig machen. Der Rat braucht die übrigen EU-Institutionen häufig, aber nicht immer. Im Gegenzug benötigen Kommission und EP den Rat dagegen für jede Entscheidung, denn nur in sehr seltenen Fällen – z.B. bei der Absetzung der Kommission nach Art. 201 EGV – fällt die letzte Entscheidung ohne Beteiligung des Rates.

Die Kommission verfügt mithin in den Legislativverfahren der EU nur in sehr be-grenztem Maße auch über eine Entscheidungsfunktion. Selbst dort, wo sie – wie z.B. bei Beitrittsverhandlungen oder im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion – über ein

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operatives Vorschlagsrecht verfügt, muss sie ihre Positionen eng an den Erwartungen der Ratsmehrheit ausrichten. Das Europäische Parlament dagegen ist trotz aller Ausweitungen des Mitentscheidungsverfahrens nach Art. 251 EGV als letztlich nachrangiger Akteur zu betrachten, was die Entscheidungskompetenzen angeht. Es kann nur auf solche Legislativ-texte reagieren, die in einem langwierigen Verfahren zwischen Rat, Kommission und Inter-essengruppen bereits eine beträchtliche Vorabstimmung erfahren haben. Da kein institutio-nelles Recht zur Einbringung eigener Initiativen besteht, sieht sich das EP im Wesentlichen mit Verhinderungsmacht ausgestattet. Zusätzlich von Bedeutung ist, dass auf der Straßbur-ger Bühne keine grundsätzlich neuen Einflussakteure hinzukommen. Die Interessengruppen sind dieselben, die auch schon die Kommission und die Vertreter des Rats bearbeitet haben; sie finden höchstens mit ihren Anliegen anders geöffnete Ohren. Das Parlament kann daher ihm nicht genehme Gesetzesvorhaben bestenfalls partiell abändern oder torpedieren, aber nur in recht begrenztem Ausmaß eigengestalterisch tätig sein (Selck/Steunenberg 2004).

Das hat zur Folge, dass in der EU von gemeinschaftlichen Verfahren, an denen alle die wichtigen Institutionen der EG beteiligt sind, nur im Hinblick auf eine begrenzte Anzahl von Entscheidungen gesprochen werden kann (nochmals Tabelle 4). Sie unterteilen sich in das sozusagen „reguläre“ Gemeinschaftsverfahren der Ersten Säule – mit Art. 251 EGV im Zentrum (Feld IV) – sowie sonstige Konsensualverfahren, in denen die Gemeinschaftsinsti-tutionen gemeinsam mit allen Mitgliedsregierungen tätig werden. Wenig illustriert das En-de des Integrationsparadigmas (siehe oben, Kap. 2.1) besser als die Liste der Entscheidun-gen, die dem hier so genannten Konstitutionellen Verfahren (Feld V) unterliegen. Es han-delt sich nur noch um Entscheidungen, die künftig bestenfalls im Abstand von mehreren Jahren getroffen werden müssen, nämlich die Erweiterung der Union um neue Mitglieder und um Vertragsänderungen.

Alle übrigen Entscheidungen, die in der Entscheidungsphase auf EU-Ebene potenziell anstehen, werden im Rat abschließend getroffen. Es handelt sich damit um zwischenstaatli-che Verfahren mit gewissermaßen unterschiedlichem Reinheitsgrad. Entscheidet der Rat einstimmig und erhält keine maßgebliche Zuarbeit von der Kommission, kann von einem reinen intergouvernementalen Verfahren gesprochen werden (Feld I, Tabelle 4). Die Mitg-liedstaaten organisieren sich selbst und sind ohne fremde Hilfe auf Kompromisssuche an-gewiesen, wo ein unbefriedigender interner Status Quo herrscht oder wo Probleme extern an die Union herangetragen werden. Die Grundlagenbestimmung in der Außenpolitik, also v.a. die Bestimmung von Strategien in der GASP sowie die Entwicklung der außen- und sicherheitspolitischen Grundlagen finden sich in dieser Domäne.

Entfällt in diesem Feld die Bedingung einstimmigen Entscheidens, ändert sich die Handlungslogik des Rates in Richtung Entscheidungseffizienz (Feld II). Wenn auf die Hie-rarchie der Herrschaftsebenen geschaut wird, handelt es sich um eine Aufweichung des intergouvernementalen Prinzips. Dennoch ist das Feld dem zwischenstaatlichen und nicht etwa dem supranationalen Modus zuzurechnen: Die Entscheidungen fallen zwischen Staa-ten bzw. deren Regierungen, ohne dass eine Gemeinschaftsinstitution abschließend beteiligt wäre. Diese Eigenschaft müsste einem supranationalen Entscheidungsverfahren im Sinne der gängigen Definition jedoch zukommen: „Supranationalismus [meint] die Fähigkeit der Institutionen der Europäischen Union, in einem bestimmten Politikfeld für alle Akteure verbindliche Regeln zu setzen“ (Nölke 2005: 146, Hervorhebung TB). Der Begriff der Sup-ranationalität deckt daher das von mir in Tabelle 4 so genannte reguläre Gemeinschaftsver-fahren ab, nicht jedoch das Feld II. Richtig ist allerdings, dass nicht einstimmig getroffene

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Ratsentscheidungen bindende Wirkungen auch für solche Mitgliedstaaten entfalten, die in der jeweiligen Abstimmung u.U. unterlegen sind. Empirisch betroffen ist davon ein relativ kleiner Ausschnitt der GASP, in dem auf der Grundlage von – einstimmig beschlossenen – Gemeinsamen Strategien a) Gemeinsame Aktionen und b) Gemeinsame Standpunkte ange-nommen werden.

Vom intergouvernementalen Entscheidungstyp unterscheidet sich das Bürokratiever-fahren (Feld III) durch eine starke Informations-, Administrations- und Vorschlagsfunktion der Kommission. Das Bürokratieelement wird dabei in den Vordergrund gerückt, weil mit Kommissions- und Regierungsbeamten ausschließlich administrative Akteure an der Ent-scheidungsfindung beteiligt sind. Es handelt sich in diesem Fall um eine Legislative, die ausschließlich von Exekutivakteuren gestaltet wird. Durch die Kommissionsbeteiligung kommen wir näher an einen supranationalen Entscheidungsmodus, denn über das ausgep-rägte Komitologiewesen kann sie den politischen Prozess so vorsteuern (z.B. in der Agrar-politik, vgl. Heard-Lauréote 2006), dass das Rat nur unter Aufbringung größerer Anstren-gungen eine autonome Meinungsbildung erreichen kann. Das supranationale Element hat auch faktisch eine Bedeutung, denn die meisten Fälle von angewandten Qualifiziertem Mehrheitsentscheid finden tatsächlich im Bereich der Agrarpolitik statt (Mattila/Lane 2001). Hier müssen sich also einzelne Mitgliedstaaten in der Tat mitunter überstimmen lassen. Insgesamt sitzt die Ratsmehrheit gegenüber der Kommission indes stets am längeren Hebel, denn im Zweifelsfall kann sie bestimmen, ob der Status Quo oder eine Neuregelung ihren Präferenzen eher entgegenkommt. Damit ist auch der wichtigste Unterschied zum Gemeinschaftsverfahren angesprochen: Dort kommt dem EP das Privileg zu, einen Status Quo beizubehalten und damit dem Rat unter Druck zu setzen.

Abschließend ist zu Tabelle 4 zu bemerken, dass der historische Entwicklungsverlauf im Hinblick auf die einzelnen Politikfelder im Großen und Ganzen von links oben nach rechts unten verlaufen ist. Wie zu sehen ist, gelten nur noch bei sehr wenigen Politikfeldern explizit konsensuale Regeln unter den Mitgliedstaaten. Hier hat die Vertragslage den Lu-xemburger Kompromiss weit überholt. Auch konnten im Zeitverlauf nur wenige Politikbe-reiche der sukzessiven Vergemeinschaftung widerstehen. Bei allen nicht vergemeinschafte-ten Politikfeldern (Außen- und Sicherheitspolitik, Agrarpolitik, Außenhandelspolitik, Wirt-schafts- und Währungspolitik) sind es vor allem große Mitgliedstaaten, die sich einen stär-keren Zugriff des Parlaments auf Politikfelder mit hohem nationalen Symbolwert nicht vorstellen können. Dabei handelt es sich allerdings weniger um Staaten oder Regierungen in der „Schmollecke“ (Guérot 2007). Vielmehr stehen in Frankreich die politische Kultur – die über Souveränitätsvorstellungen Volk und nationale Eliten stark aneinander bindet (vgl. Picht 1993; Christadler 2005) – und in Großbritannien das kulturell-institutionelle Element der unbeschränkten Parlamentssouveränität (Becker 2002: 111) einer weiterge-henden Unterstellung der finanziell und symbolisch wichtigsten Politikbereiche unter die Gemeinschaftsorgane entgegen.

3.3.3.2 Die intergouvernementalen Verfahren (Typen I+II)

In den beiden auf den Rat limitierten Verfahrensarten kommen die bereits diskutierten

Unterschiede zwischen einstimmigen und mehrheitlichen Entscheiden zum Tragen. Im Rat befinden wir uns in einem Verhandlungsraum, in dem von rationalen Akteuren mit festen Präferenzen ausgegangen werden muss. Sie agieren nicht nur im Modus des Verhandelns,

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sondern durch institutionelle Begünstigung auch in den Modi des Problemlösens bzw. der positiven Koordination. Kommt es dennoch zu reinen Verhandlungen, schlägt die Verhand-lungstheorie zur Nutzenmaximierung das Instrument des log-rolling bzw. profan des „Kuh-handels“ (Schmidt 2004a: 421) vor. Theoretisch kann also erwartet werden, dass die Rats-akteure einander Koppelgeschäfte vorschlagen, um in für sie besonders wichtigen Berei-chen ihre Präferenzen verwirklichen zu können (vgl. Scharpf 2000: 218-221).

Desweiteren gelten für die intergouvernementalen Verfahren auch andere im vorange-gangenen Kap. 3.2.2 hergeleitete Befunde. Wenn die Entscheidungsfindung lediglich In-stanzen des Rats betrifft, besteht letztlich kein funktionaler Unterschied zwischen der Agg-regierungs- und Entscheidungsphase. Meinungsbildung und Entscheidungsfindung finden im Modus des Verhandelns oder (häufiger) des Problemlösens statt, wobei die gremien-orientierte Organisationsweise des Rates nach länderübergreifenden Ressortinteressen seg-mentiert sind und daher einen technokratischen Charakter aufweisen. Gleichzeitig stellt sich das Problem der schwachen demokratischen Legitimation weit weniger als bei den übrigen Verfahrenstypen, denn wenigstens formal besteht durch die direkte Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber den nationalen Parlamenten eine vergleichsweise kurze Legitimati-onskette.

3.3.3.3 Bürokratieverfahren (Typ III)

Wenn die Entscheidungen in einem Wechselspiel zwischen Kommission und Rat fal-

len, muss zunächst nach dem theoretischen Wechselverhältnis von administrativen und politischen Akteuren gefragt werden. Die auf die EU bezogene Verwaltungsforschung hat sich deutlich von jener Aussage entfernt, das Wirken jedweder bürokratischer Organisation sei letztlich auf eine Vergrößerung ihres Einflusses bedacht (so seinerzeit Niskanen 1971). Selbst wenn in einer langfristigen Perspektive die Kommission ihre Ressourcen in Sachen Agenda-Setting und finanzieller Macht ausweiten konnte, steckt daher neben dem Interesse der Einflussmaximierung das Streben der Mitgliedstaaten nach den Wohlfahrtsgewinnen durch den Gemeinsamen Markt (Moravcsik 1991). Überhaupt wird angezweifelt, ob eine komplexe Organisation wie die Kommission als einheitlicher kollektiver Akteur zu begrei-fen ist. Innerhalb bürokratischer Organisationen lassen sich unterschiedliche Typen von Akteuren mit Karriere-, Policy- oder Gemeinwohlorientierung finden (Downs 1967), die eine einheitliche Zielfunktion fragwürdig erscheinen lassen. Allgemein wird die schwache Homogenität der Kommission im Paradigma des Verhältnisses von Principal und Agent diskutiert (Pollack 1997; 2000). Das grundlegende Problem politischer Akteure, wie inter-mediäre oder bürokratische Organisationen zu steuern sind (Braun 1993), wird nach diesen Schriften durch die Größe und Komplexität der Kommission noch verstärkt. Die Beamten stammen aus vielen verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Verwaltungstraditionen. Doch nicht nur auf der individuellen Ebene bestehen unterschiedliche Identitäten. Empiri-sche Studien haben nachgewiesen, dass auch zwischen einzelnen Generaldirektionen deut-liche Unterschiede in der jeweiligen „Verwaltungskultur“ bestehen (Cini 2000; McDonald 2000).

Letztlich muss bei der Analyse von Entscheidungen im Bürokratieverfahren daher häufig davon abgesehen werden, allgemeine Aussagen für eine Vielzahl von Politikfeldern zu treffen. Neben der Heterogenität der Kommission ist nämlich weiterhin die potenziell schwache Kohärenz des Rats zu beachten, für die es in den relevanten Politikfeldern wie

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Agrar- oder Währungspolitik eine Vielzahl von Beispielen gibt. Ob in gegebenen Dossiers verhandelt oder mit dem Modus des Problemlösens verfahren wird, ist von kontingenten Sachlagen ebenso abhängig wie vom Grad der Konflikthaftigkeit innerhalb und zwischen den Institutionen des Rats und der Kommission.

Für die involvierten Akteure in den Mitgliedstaaten impliziert dies, dass in den gege-benen Politikfeldern (Agrar-, Außenwirtschafts-, Währungs- und Strafsachenpolitik, siehe erneut Tabelle 4) hochgradig segmentierte und spezialisierte Politiknetzwerke zu erwarten sind. Von allen Entscheidungsverfahren gestaltet sich das Bürokratieverfahren als das tech-nokratischste, denn es interagieren hauptsächlich administrative Akteure, die in komplexen bürokratischen Strukturen eine Vielzahl von allgemeinen und speziellen Interessen ausloten müssen. Der technische Charakter aller genannten Politikfelder befördert dabei die Ge-schlossenheit des Verfahrens für Außenseiter mit übergeordneten politischen oder öffentli-chen Interessen. Hinzu kommt, dass die starke Informations- und Vorschlagsfunktion der Kommission an einen Akteur gebunden ist, dessen demokratische Legitimation sich in engen Grenzen hält. Mithin haben wir es im bürokratischen Verfahren mit öffentlichkeits-fernen und schwer kontrollierbaren Entscheidungen zu tun, bei denen Europäisierung nur in seltenen Fällen zu einer Stärkung der Input-Seite der europäischen Demokratie beigetragen hat.

3.3.3.4 Gemeinschaftsverfahren (Typ IV)

Erst beim Gemeinschaftsverfahren – also letztlich dem Mitentscheidungsverfahren

nach Art. 251 EGV – kommt es zu jener Dreieckskonstellation zwischen Kommission, Rat und Parlament, die mitunter als der eigentliche Kern europäischer Gesetzgebung dargestellt wird (siehe insbesondere Hix 2005: 89-109). Wenngleich jedoch in Tabelle 4 eine ein-drückliche Liste von Politikfeldern verzeichnet ist, die den Regeln des Gemeinschaftsver-fahrens unterliegen, sollten die Relationen gewahrt bleiben. Wie weiter oben gezeigt wurde (Tabelle 3), unterliegen im Bereich des EGV lediglich etwa 20% der Unterscheidungen dem Mitentscheidungsverfahren. Das betrifft selbst innerhalb der in Tabelle 4 genannten Politikfelder nicht alle anfallenden Entscheidungen.17 Im EUV kommt ein Verfahren gemäß Art. 251 EGV gar nicht zum Einsatz. Insofern treffen nach wie vor diejenigen Befunde eher zu, die die „bizephale Struktur“ der Funktionsmechanismen des EU-Systems ins Zentrum stellen und dem Parlament lediglich eine „zunehmend stärkere Rolle im Entscheidungspro-zess“ zugestehen (Tömmel 2006: 132). Auch erscheint die verbreitete Unkenntnis der Poli-tik- und Verfahrensabläufe im EP aus dieser Perspektive wenig verwunderlich: die große Mehrzahl der politischen Entscheidungen auf EU-Ebene fallen ohne Mitentscheidungsrecht des Parlaments.

Sind einschlägige Entscheidungen jedoch tatsächlich im Dreiecksverhältnis zwischen Kommission, Rat und EP angesiedelt, müssen zur Analyse der Machtverhältnisse komplexe Modelle zur Anwendung kommen. Vor allem hat dies damit zu tun, dass zwei der drei Ak-teure während des Verfahrens ihren Charakter ändern. Der Rat ist zugleich als aus indivi-

17 Die in meinem Fließtext verwendete Bezeichnung als „reguläres Gemeinschaftsverfahren“ ist so zu verstehen: In den Politikfeldern der Ersten Säule, und insbesondere in den in Tabelle 4 genannten, kommt das Mitentschei-dungsverfahren als verbreitete Regel zum Einsatz. Erst ein Blick in den Vertrag bringt jedoch zu Tage, ob tatsäch-lich nach Art. 251 EGV verfahren wird.

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duell handlungsfähigen Regierungen bestehend18 sowie als kollektives Gremium anzuse-hen, das eine einmal getroffene Entscheidung geschlossen nach innen und außen vertritt. Auch das EP weist ein solches Doppelgesicht auf. Es besteht aus einer Reihe von – in sich nicht sehr kohärenten – Fraktionen und tritt doch gegenüber dem Rat als kollektiver Akteur mit einer potenziellen Mehrheitsmeinung auf.

Eine Möglichkeit, dem volatilen Charakter dieser beiden Institutionen zu entsprechen, besteht in der sukzessiven Betrachtung der Phasen. In der Phase der Interessenaggregation könnte der Rat als disaggregiert verhandelndes und problemlösendes Gremium gesehen werden, in dem zunächst die zwischenstaatlichen Präferenzen austariert werden. In der anschließenden Phase wäre der Rat dann als Akteur zu konzipieren, der die einmal be-schlossene Positionierung gegenüber dem Parlament vertritt. Analog könnte das EP in der Phase seiner Ausschussberatungen auf seine handelnden Einheiten – einzelne Parlamenta-rier, nationale Abgeordnetengruppen, Fraktionen – herunter gebrochen werden, um die (meist) per (relativem) Mehrheitsentschluss zustande gekommen Entscheidungen anschlie-ßend dem kollektiven Akteure „Europäisches Parlament“ zuzuschreiben. Ein solches Vor-gehen scheitert indes an der Komplexität der Entscheidungsverfahren. Das Mitentschei-dungsverfahren sieht drei Lesungen im EP vor, so dass die Perspektive allzu häufig ge-wechselt werden müsste. Zudem kann den Akteuren in Rat und EP unterstellt werden, we-nigstens zu einem gewissen Grad die möglichen Reaktionen der jeweiligen Gegenseite in Rechnung zu stellen.

Einen begrenzten Ausweg aus den vertraglichen Zwängen haben sich Rat, EP und Kommission durch die Einführung von Trilogen geschaffen. Diese bestehen in Zusammen-künften von Vertretern aller drei Institutionen, in denen gemeinsame Leitlinien für anste-hende Entscheidungen festgeklopft werden. Einigermaßen bekannt sind Triloge aus dem Haushaltsverfahren, wo die trilateralen Zusammenkünfte der Kompromissbildung vor al-lem gegen Ende des Verfahrens dienen.19 Sie finden jedoch generell im Mitentscheidungs-verfahren statt, wo sie zu „technischen“ und „politischen“ Zwecken eingesetzt werden.20 Ihre Einführung hat nicht nur die durchschnittliche Verfahrensdauer deutlich verkürzt, son-dern auch den Anteil von Dossiers gesenkt, die schlussendlich im Vermittlungsausschuss verabschiedet werden müssen (Shakleton/Raunio 2003; Wessels 2008: 348-349).

In Anbetracht dieser komplizierten Gemengelage ist es für die auf die EU gerichtete Handlungstheorie von nicht geringer Bedeutung, ob sich Rat und Parlament generell – und nicht nur phasenweise – als kollektive Akteure begreifen lassen. Nur wenn dies der Fall ist, lassen sich einigermaßen einfache Modelle verwenden, um die Machtverhältnisse und Stra-tegieoptionen der einzelnen Institutionen adäquat darzustellen. Am Paradigma rationaler Akteure orientierte Wissenschaftler wie George Tsebelis oder Simon Hix bejahen diesen Fall. Mit theoretischen und empirischen Argumenten versuchen sie nachzuweisen, dass einmal getroffene Ratspositionen im Großen und Ganzen homogen anzusehen sind. Expli- 18 Auch dabei handelt es sich selbstredend um eine kühne Annahme, wie die umfangreiche Koordinierungsliteratur belegt (Kassim/Peters/Wright 2000; Kassim u.a. 2001; Wessels/Maurer/Mittag 2003). 19 Der Trilog im Haushaltsverfahren – und zwar sowohl hinsichtlich des regulären Haushalts wie auch der Finan-ziellen Vorausschau – ist in einer interinstitutionellen Vereinbarung verankert. Siehe ABl. Nr. C 331 vom 7. 12. 1993, S. 1, http://europa.eu/abc/treaties/archives/de/detr43.htm (Zugriff am 26.8.2008). 20 Einzelheiten finden sich in der Ratsmitteilung 13316/1/00 (28.11.2000), in der der Rat über die Effektivitätsstei-gerungen beim Mitentscheidungsverfahren informiert; vgl. http://register.consilium.europa.eu/pdf/en/00/st13/ 13316-r1en0.pdf, download am 9.9.2008.

29

zit sieht Tsebelis mit dem Einsetzen der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) den Rat nicht mehr als einen „Multi-Veto-Player“, sondern als „kollektiven Veto-Spieler“ (Tsebelis 2002: 281). Auch das Parlament nimmt in wichtigen Issue-Dimensionen kollektiv vom Rat abweichende Positionen ein und wird bei Tsebelis entsprechend als kollektiver Akteur kon-zipiert (Tsebelis u.a. 2001).

Wenn wir dieser Proposition zunächst folgen, kommt es bei der Analyse der Macht-verhältnisse im Entscheidungsdreieck auf die Gestaltungs- bzw. Verhinderungsmacht der von Kommission, Rat und EP an (Tabelle 5). Alle drei Institutionen sind aufeinander an-gewiesen, wenn Änderungen gegenüber dem Status Quo erreicht werden sollen. Ihre Hand-lungsoptionen sind jedoch recht unterschiedlich. Die Kommission kann über ihr Initiativ-recht die Agenda bestimmen, wenn auch nicht ausschließlich: Der Rat oder das EP können sie zur Entwicklung von Vorschlägen auffordern. Immerhin obliegt es der Kommission, die konkreten Inhalte ihrer Initiativen zu bestimmen, und zwar auch noch zu späteren Zeitpunk-ten, wenn sie im Mitentscheidungsverfahren zu Gegenvorschlägen des EP Stellung nehmen kann. Dem Rat kommt ein weit reichendes Abänderungsrecht zu, welches er je nach Ver-fahrensschritt mit Qualifizierter oder einstimmiger Mehrheit gegenüber den übrigen Institu-tionen ausüben kann. Anders herum formuliert: Wenn der Rat sich einig ist (und damit als kollektiver Akteur auftritt), kann er die Politik der EU trotz seines eingeschränkten Vor-schlagrechts mit einem hohen Autonomiegrad gestalten. Die Gestaltungsmacht des EP ist dagegen deutlich eingeschränkt. In einer Reihe von Bereichen kann es die Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen auffordern, und nach der vorstrukturierenden Entscheidung durch den Rat kann es in ein bis drei Lesungen Alternativvorschläge machen, die allerdings durch einen in sich einigen Rat immer abgelehnt werden können.

Tabelle 5: Machtpotenziale der EU-Institutionen im Gemeinschaftsverfahren

Kommission Rat Parlament

Gestaltungs-macht

Agenda-Setting Hoch Eingeschränkt Eingeschränkt Politikformulie-rung

Hoch Hoch Eingeschränkt

Verhinderungs- bzw. Veto-Macht Niedrig Hoch Hoch Die Gewichte verändern sich allerdings deutlich, wenn nicht mehr nach der Gestal-

tungs-, sondern nach der Verhinderungsmacht gefragt wird. Hier ist beim Art. 251 EGV das EP dem Rat gleichgestellt, während der Kommission in der Phase des Wechselspiels zwi-schen Rat und EP lediglich eine Konsultierungsfunktion zukommt. Die Veto-Macht kommt also den beiden Kräften im Institutionengefüge zugute, die direkt oder indirekt durch das Wahlvolk legitimiert sind. Im Vergleich zu Nationalstaaten stellen sich also die Machtver-hältnisse in gewisser Weise invers dar: Die legitimierten Institutionen sind mit einer beson-ders starken Verhinderungsmacht ausgestattet, während die Gestaltungsmacht auf exekuti-ven Akteure konzentriert ist. Der Rat als mit seinem Doppelgesicht als exekutive und legis-lative Macht verbindet damit als ein Scharnier seine beiden Flügelinstitutionen: gemeinsam mit der Kommission formuliert er Politik, gemeinsam mit dem EP wacht er über die Ver-träglichkeit der Entscheidungen mit den Souveränitätsträgern auf nationaler und EU-Ebene.

Allerdings gelten die angegebenen Werte der Machtverhältnisse nur dann, wenn von einigermaßen homogenen Akteuren ausgegangen werden kann. Es handelt sich um Macht-

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potenziale, die durch geschicktes und geschlossenes Handeln auch genutzt werden müssen. Sind die einzelnen Institutionen dazu in der Lage? Europäisches Parlament: Das Parlament bedarf schon aus Verfahrensgründen prinzi-

piell eines großen Vorrats an Gemeinsamkeiten. In der zweiten Lesung des Mitent-scheidungsverfahrens (Art. 251 Abs. 2 EGV) kann es eine Änderung, Annahme oder Zurückweisung einer gemeinsamen Position nur mit einer absoluten Mehrheit errei-chen, d.h. mit 393 von 784 Stimmen. Nur so kann es seine Veto-Macht ausspielen und den Rat gegebenenfalls in den Vermittlungsausschuss zwingen, wo es seine einge-schränkten Mittel der Politikformulierung vielleicht noch am effektivsten einsetzen kann (Rasmussen 2008). Im EP hat dies zumindest bisher fast zwingend eine große Koalition zwischen den beiden größten Fraktionen, der Sozialdemokraten (SPE) und den Christdemokraten (EVP-ED) erfordert.

Dadurch sinkt zum einen das Einflusspotenzial aller übrigen Fraktionen ins Mar-ginale (Hosli 1997), selbst wenn sie wie derzeit die Liberalen mit 106 Abgeordneten auf immerhin fast die Hälfte der SPE-Fraktion mit 218 Mitgliedern kommen.21 Zum anderen werden damit die Verhinderungsmacht auf solche Bereiche beschränkt, in de-nen keine tiefen inhaltlichen Differenzen zwischen den großen Fraktionen bestehen. Bei wirtschafts- und sozialpolitischen Dossiers, aber auch in vielen anderen Themen-bereichen, müssen also die parlamentarischen Akteure auf der europäischen Bühne ei-ne Einigkeit zeigen, die auf der nationalen Ebene häufig nicht gegeben ist. Als kollek-tiver Akteur tritt das EP daher vor allem dort auf, wo solche Konflikte keine große Rolle spielen: bei der Ausweitung seiner eigenen Macht, bei der Stärkung seiner insti-tutionellen Interessen und beim Ausbau seiner Legitimationsbasis jeweils gegenüber den anderen EU-Institutionen. Nicht zuletzt aus institutionellen Gründen hat sich das EP trotz seiner vielfältigen Aktivitäten daher über die Jahre ein Profil erarbeitet, in dem pro-integrationistische und EU-bürgerrechtliche Themen im Vordergrund stehen (Kreppel 2002a; Corbett/Jacobs/Shackleton 2005; Hix/Noury/Roland 2007).

Rat: Auch der Rat wird im Zuge des Mitentscheidungsverfahrens wenigstens dann zu einer geschlossenen Haltung veranlasst, wenn das EP gegenüber der Ersten Lesung die Veränderung einer Gemeinsamen Position fordert, damit jedoch kein Gehör bei der Kommission findet (Art. 251 Abs. 3 EGV). Eine empirische Studie hat zu Tage ge-bracht, dass die Haltung der Kommission in diesem Stadium des Verfahrens eine ent-scheidende Auswirkung hat (Tsebelis u.a. 2001: 593). Schließt sich die Kommission den Änderungswünschen des EP an (was nach der Ersten Lesung des EP bei 52.5% der Entscheidungen, nach der Zweiten Lesung sogar bei 61% der Fall ist, siehe ebd.: 580), akzeptiert der Rat die Änderungen meist. Lehnt die Kommission die Änderungen des EP ab, folgt dem in der Regel auch der Rat. Der Befund gibt einen Hinweis darauf, dass die bereits bei den anderen Verfahrenstypen nicht leicht herzustellende Einigkeit der Ratsmitglieder noch erschwert wird, wenn sich die beiden Gemeinschaftsinstitu-tionen in ihrer Haltung zu einem Dossier uneinig sind.

Vor allem aber findet sich damit auch im Gemeinschaftsverfahren ein Mechanis-mus, der aus der Vertragsanforderung der Qualifizierten Mehrheit in der Praxis eine Notwendigkeit zu einvernehmlichem Entscheiden werden lässt. In der ersten Lesung

21 Die Zusammensetzung der EP-Fraktionen findet sich unter http://www.europarl.de/parlament/organisation/frak-tionen.html, download am 8.3.2007.

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eines Legislativentwurfs kann der Rat ja nicht wissen, wie EP und Kommission zu der von ihm erarbeiteten Position stehen werden. Auszugehen ist von einer ernsthaft erar-beiteten Kommissionsinitiative, in der verschiedene Argumentations- und Interessen-stränge geprüft und gegeneinander abgewogen wurden. Diese Initiative wird zunächst vom Rat, dann vom Parlament verändert. Durch diesen zweifachen Eingriff ist mit ei-nem deutlichen Abweichen des Vorschlagstextes zu rechnen, wenn er in der zweiten Lesung erneut die Kommission passiert. Den entstandenen Änderungen sind aus Sich der Kommission vor allem deshalb zu akzeptieren, weil hinter den Änderungen legiti-mierte politische Kräfte stehen. Zum Gegenspieler gegenüber den direkt legitimierten Organen kann die Kommission nur werden, wenn ihre Funktionen als Wächterin der Verträge (Art. 211 EGV) sowie als Bevollmächtigte für Abkommen mit Drittstaaten und Internationalen Organisationen (Art. 300 EGV) berührt werden.

Implizit muss der Ratsvorsitz daher auch im Gemeinschaftsverfahren stets davon ausgehen, nur mit einem einvernehmlichen Beschluss eine strategisch günstige Positi-on gegenüber dem EP aufbauen zu können. Damit unterliegen – noch stärker als im EP – auch im Rat die politischen Entscheidungen einem impliziten Hang zum Konsens. Allerdings existiert ähnlich wie im EP auch ein Gegenimpuls. Im EP garantieren die national verankerten ideologischen Differenzen zwischen den politischen Parteien die Fortführung des politischen Wettbewerbs auch auf der europäischen Ebene. Im Rat bestehen die Grenzen der Einvernehmlichkeit dort, wo nationale Interessen bzw. Prä-ferenzen einander diametral gegenüber stehen. Offensichtliche Politikfelder sind Re-gional- und Asylpolitik, in denen knappe Ressourcen direkt als Nutzen und Lasten zwischen den Mitgliedstaaten verhandelt werden. Mit dem immer weiteren Ausbau des Binnenmarktes hat jedoch darüber hinaus in vielen weiteren Bereichen die Konf-likthaftigkeit zugenommen. Immer häufiger betreffen die Allokationseffekte der Bin-nenmarktschaffung gesellschaftliche Gruppen, die sich des Schutzes ihrer jeweiligen Regierungen versichern. Die Osterweiterung wird dabei als Katalysator für einen zu-nehmend schwächeren Zusammenhalt der EU angesehen (Beichelt 2004c; Beichelt 2006).

Insgesamt ergibt sich damit kein klares Bild hinsichtlich der Homogenität des Ra-tes. Ob er in der Lage ist, als einheitlich handelnder kollektiver Akteur aufzutreten, hängt von einer Reihe schwer generalisierbarer Bedingungen im Hinblick auf nationa-le Präferenzen, Regierungszusammensetzung und Politikfeldspezifik ab. Im Idealfall kann der Rat Geschlossenheit herstellen und damit auch im Gemeinschaftsverfahren das wichtigste Machtzentrum der EU bleiben. Zwischenstaatliche Konflikte relativie-ren seine Macht jedoch ebenso wie ein Schulterschluss der Gemeinschaftsinstitutio-nen. Kommen beide Faktoren zusammen, sinken sowohl die Gestaltungs- wie auch die Verhinderungsmacht des Rats.

Kommission: Mit seiner heterogenen Zusammensetzung bietet die Kommission zu-nächst ebenfalls Anlass zur Vermutung, ihre Qualität als homogener Akteur sei prinzi-piell eingeschränkt. Schließlich sind Beamtenschaft und Kommissionskolleg sehr hete-rogen zusammengesetzt, und die Verschiebung unterschiedlich gearteter Loyalitäten auf ein neues Zentrum kann allein durch vertragliche Regelungen (Art. 213 EGV) kaum erreicht werden. Folglich lassen sich in der Literatur auch ohne weiteres Hin-weise auf unterschiedliche „Identitäten“ (McDonald 2000), „Managementkulturen“

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(Bellier 1994) oder „Verwaltungskulturen“ (Cini 2000) innerhalb der Kommission finden.

Allerdings zielen die soeben angeführten Zitate auf die innere Konstitution der Kommission und damit nur indirekt auf ihre Qualitäten als handelnder Akteur. Diese müssen im Kontext mehrerer Rahmenbedingungen gesehen werden, die die Einheit-lichkeit des Kommissionshandelns stützen. Erstens ist die Kommission als administra-tiver Akteur durch eine hierarchische Struktur gekennzeichnet. Das Eigenleben der Unterorganisationen – z.B. der Generaldirektionen – wird inhärent durch die federfüh-renden Kommissare, die sich gegenüber dem restlichen Kolleg und der Öffentlichkeit verantworten müssen, eingehegt. In diesem Zusammenhang ist zweitens auch von Be-deutung, dass die Stellung des Kommissionspräsidenten mit dem Vertrag von Amster-dam ausgebaut wurde. Nach derzeitiger Vertragslage kann der Präsident einzelne Mitglieder der Kommission sowohl zum Rücktritt auffordern wie auch jederzeit die in-terne Zuständigkeitsverteilung ändern (Art. 217 EGV). Damit verfügt er über zwei Schwerter, um die hierarchische, auf Outputleistung geeichte Struktur der Kommission auch auf die oberste Ebene auszudehnen. Allerdings bleibt als Manko bestehen, dass der Präsident über ein Kollegium verfügt, in dem europäische und nationale Legitima-tionsbande nebeneinander stehen. Drittens steht der heterogenen Verwaltungsstruktur und -kultur die Überzeugung viele Akteure in der Kommission entgegen, bei der Ver-tiefung der europäischen Integration eine führende Rolle zu spielen (vgl. Nugent 2001: 202-234). Kein geringer Teil des Kommissionshandelns bezieht sich auf die Vollen-dung und Pflege des Binnenmarktes, und damit fallen in einem wichtigen Bereich ein institutionelles Machtinteresse sowie die programmatische Verpflichtung auf zuneh-mende Integration zusammen.

In der Summe korrigieren diese Rahmenbedingungen zwar die Heterogenität der Kommission, können sie jedoch nicht vollständig aufheben. Organisationsprobleme der Kommission umfassen die politische Führbarkeit, die interne Vielgestaltigkeit so-wie einen – gemessen an den Aufgaben – knappen Personalbestand (Nugent 2001: 329-330). Begriffliche Zusammenfassungen wie der „Multi-Organisation“ (Cram 1994) in einem Zustand der „kulturellen“ und „strukturellen Fragmentierung“ (Nugent 2001: 184, 329) lassen sich nicht leicht mit der bei Tsebelis gepflegten Vorstellung ei-nes kollektiven Akteurs verbinden. Andererseits geht jedoch die EU-Legislation nicht immer von der Kommission als ganzer, sondern von einzelnen Dienststellen aus. Des-halb kann auch nicht per se von einem fragmentierten Akteur ausgegangen werden. Vielmehr ist die Ausrichtung einzelner Generaldirektionen der Kommission in Bezie-hung zum Gestaltungspotenzial in einzelnen Politikfeldern zu setzen. Geht es um ver-traglich festgesetzte Substanzbereiche, ist eher ein homogenes Handeln zu erwarten als in Bereichen, in denen sich die Zuständigkeit eher indirekt ergibt und/oder politische Konflikte mit dem Rat, dem EP oder einzelnen Mitgliedsregierungen ergeben.

In der Summe ergibt sich damit auch in den „vertieften“ Verfahrenstypen eine starke Ten-denz zu „Policy-Stabilität“ (Tsebelis) oder zur „Wahrung des Status Quo“ (Scharpf). Die Qualität von Entscheidungen auf EU-Ebene unterliegt daher einer starken Tendenz zum kleinsten gemeinsamen Nenner in dem Sinne, dass die Summe der nationalen Veränderun-gen vom Status Quo am geringsten ist. Bereits vor mehr als zwanzig Jahren wurde dies auf eine übermäßige Verflechtung der Entscheidungsebenen zurückgeführt (Scharpf 1985). Die hier durchgeführte Analyse geht indes einen Schritt weiter. Ein wichtiges Charakteristikum

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der Verflechtung lautet, dass der Hang zu konsensualem Entscheiden gerade dort besonders stark ist, wo unter nicht supranationalen Bedingungen eine besondere Konflikthaftigkeit zu erwarten wäre. Auf der programmatischen Ebene betrifft dies die Wirtschafts- und Sozial-politik, wo an sich antagonistische EP-Fraktionen sich zusammenraufen müssen, um gege-nüber dem Rat eine Verhinderungsposition aufzubauen. Auf der Verteilungsebene erfor-dern divergierende nationale bzw. regionale Bedürftigkeiten eine konsensuale Entschei-dungsfindung, um dem Rat seinen Gestaltungs- und Verhinderungsspielraum zu erhalten. Vorbereitet werden beide Ebenen von einer Kommission, die aus kulturellen und strukturel-len Gründen zu einer integrierten politischen Führungsrolle – die die Status-Quo-Orientierung wenigstens teilweise aufbrechen könnte – letztlich nur dort in der Lage ist, wo ihr die nationalen Regierungen eine Gestaltungsrolle vertraglich eingeräumt haben.

Allerdings können diese eingebauten Sackgassen im Gemeinschaftsverfahren des EU-Entscheidungssystems durch die dem deutschen Regierungssystem entlehnte Institution des Vermittlungsausschusses (Bauer 1998) mitunter durchbrochen werden. In diesem treffen am Ende der Zweiten Lesung Vertreter des Rates und des EP unter Ausschluss der Öffent-lichkeit zusammen, um die gemeinsamen Interessen an der Überwindung des Status Quo auszutarieren. Die Option des Vermittlungsausschusses selbst, aber auch die Aussicht auf dessen Einsetzung, erhöht die Chancen des EP, auf die letztendliche Ratsentscheidung auch gestalterisch Einfluss zu nehmen. Auch spielen die oben erwähnten Triloge eine wichtige Rolle. In einer Reihe von empirischen Studien wird entsprechend nachgewiesen, dass die theoretisch skeptischen Erwartungen hinsichtlich einer gestaltungsunfähigen EU bei ge-schlossenem Auftreten des EP nicht vollends zutreffen (Kreppel 1999; Tsebelis u.a. 2001; Kreppel 2002b; Zusammenfassung bei Hix 2005: 106-109).

Für die mitgliedstaatlichen Akteure, die sich an den strategischen Machtverhältnissen zwischen den EU-Institutionen zu orientieren haben, läuft die Vielfalt der möglichen Kons-tellationen auf EU-Ebene letztlich auf einen drohenden Steuerungsverlust hinaus. Zu viele Akteure – in einer z.T. segmentierten Kommission, bei 26 Partnerregierungen, in heteroge-nen EP-Fraktionen – hängen in ihrem Handeln von wenig generalisierbaren Bedingungen ab, als dass sich in den Hauptstädten ein einheitliches Handlungsinstrumentarium entwi-ckeln könnte. Manchmal ermöglicht ein Beharren auf eigenen Präferenzen die Überwin-dung eines unbefriedigenden Status Quo, manchmal ist ein betont gemeinschaftsfreundli-ches Auftreten erforderlich. Häufig liegt das Entscheidungszentrum beim Rat. Aber nicht immer: wenn er gespalten, Kommission und/oder EP dagegen geschlossen auftreten, ver-spricht der Einfluss auf eine dieser Institutionen den für eine Mitgliedsregierung günstigs-ten Output. Europapolitik unterliegt nicht zuletzt wegen dieser unübersichtlichen Lage einer starken Tendenz zur gleichzeitigen Bürokratisierung und Professionalisierung. Nur wenn die spezifische Lagerung einzelner Dossiers erkannt und mit allgemeinen Gesetzmäßigkei-ten der Brüsseler Politik verknüpft werden können, besteht eine Aussicht auf die Durchset-zung eigener Präferenzen.

3.3.3.5 Konstitutionelles Verfahren (Typ V)

Dem konstitutionellen Verfahren kommt für die alltägliche Politik im europäischen Politik-Zyklus eine weitaus geringere Bedeutung zu als den übrigen Verfahrenstypen. Mit der Er-weiterung um neue Mitglieder und Vertragsänderungen sind von diesem Typ nur wenige Entscheidungen betroffen. Mit nüchternem Blick lassen sie sich sogar numerisch aufzählen:

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Es handelt es sich um voraussichtlich höchstens sechs Entscheidungen im Laufe des näch-sten Jahrzehnts; fünf Beitritts- und eine Vertragsentscheidung. Beitrittsverhandlungen wer-den möglicherweise mit Kroatien bis 2010 sowie evtl. mit Albanien, Makedonien, Serbien sowie der Türkei in den darauf folgenden Jahren abgeschlossen. Bei den übrigen Ländern des Westlichen Balkan erscheinen erfolgreiche Beitrittsverhandlungen aufgrund der unge-festigten Staatlichkeit (Bosnien-Hercegovina, Montenegro) noch weniger wahrscheinlich. Den weiter östlich gelegenen EU-Anrainern ist mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik ein EU-Beitritt wenigstens nach dem Stand des Jahres 2007 verwehrt (vgl. Koop-mann/Lequesne 2006). Zu den höchstens fünf Beitrittsentscheidungen kommt zum Jahre 2009 die Umsetzung der Regierungskonferenz über den Reformvertrag als Folge des ge-scheiterten Verfassungsprozesses.

Diese Ausnahmeentscheidungen sind allesamt dadurch geprägt, dass sie von den betei-ligten Institutionen als Meilensteine des europäischen Integrationsprozesses interpretiert und behandelt werden. Die eingenommenen Rollen unterscheiden sich dabei allerdings durchaus. Nach dem Scheitern des Konventsmodells durch die negativen Verfassungsrefe-renden in Frankreich und den Niederlanden sind vertragsverändernde Verhandlungen in die Domäne der Mitgliedsregierungen zurückgefallen; sei es über die Einberufung von Regie-rungskonferenzen oder die an den Europäischen Rat delegierte Entscheidungshoheit. Kommission und Parlament sind zwar in diese Entscheidungen mit einbezogen, stehen aber am Ende letztlich vor der Wahl, das zwischenstaatlich erarbeitete Paket anzunehmen oder entgegen ihrer jeweiligen Tradition als Verfechter von Vertiefung und Integration abzuleh-nen.

Eine ausgewogenere Balance zwischen den EU-Institutionen ergibt sich bei Erweite-rungsverfahren. Bereits bei den Beitritten Bulgariens und Rumäniens, aber auch schon an-lässlich der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und der Türkei (Lippert 2005), hat das EP eine restriktivere Haltung als Kommission und Rat angedeutet. Im Ein-zelnen entzündet haben sich die Konflikte an Themen wie Korruption, Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte sowie der Gewährung politischer Rechte – allesamt The-men also, die zum Kernbestand der Profilierung des EP gegenüber den übrigen Institutio-nen gehören (siehe oben). Insofern werden sowohl die Kommission (als federführende Verhandlungsinstitution) als auch der Rat (als Kontrolleur der einzelnen Dossiers) dazu veranlasst, bei ihren Verhandlungen die erwartbaren Positionen des EP mit einzubeziehen.

3.4 Willensbildung auf deutscher Ebene: zwischen Anpassung und Gestaltung Das nun folgende Unterkapitel muss mit dem Vorbehalt beginnen, dass nur für einen

Teil der europäisch motivierten Normgebung überhaupt ein nachgeschalteter Willensbil-dungsprozess auf der Ebene der Nationalstaaten existiert. Bestimmte Politikbereiche befin-den sich in einem transnationalisierten Status, sodass dort viele bzw. die meisten Regeln und Normen direkt von der EU-Ebene ausgehen und in den Mitgliedstaaten nur noch um-gesetzt werden. Nicht nur voll vergemeinschaftete Politikfelder, sondern auch die „techni-schen“ Aspekte in Bereichen mit Teilkompetenzen in den Mitgliedschaften werden häufig per EU-Verordnung ohne Ausgestaltungsrecht der nationalen Ebene geregelt. Das Handeln deutscher Akteure bleibt zwar auch dann relevant. Erstens können verschiedene Körper-schaften auf die Kommission einwirken, und zweitens verfügen die Regierungen der Mitg-

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liedstaaten im Rat über Möglichkeiten der Einflussnahme oder der Blockade. Eine nachho-lende Gestaltung europäischer Politik findet dagegen vor allem bei EU-Richtlinien statt, die bekanntlich lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, nicht jedoch hinsichtlich der Wahl der Form und der Mittel (Art. 249 EGV). Dadurch, und wegen der generellen Verantwortlichkeit der Regierung vor Parlament und Wahlvolk, schließt sich an die Willensbildung auf EU-Ebene ein erneuter politischer Prozess auf der nationalen Ebene an.

Dabei variieren Einschätzungen beträchtlich, wie stark die nationale Gesetzgebung von der EU-Ebene betroffen ist. Vor etwa zwanzig Jahren wurde ein Anteil von ca. 50% der nationalen Gesetze und ca. 80% der wirtschaftspolitischen Gesetzgebung genannt. An-ders als mitunter kolportiert handelte es sich dabei allerdings nicht um eine erhobene Zahl, sondern um eine vom damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors geäußerte Ver-mutung über die zukünftige Bedeutung der EG/EU (Hölscheidt 2001b: 56). Aus einer Be-rechnung des Bundesjustizministeriums aus dem Jahr 2005 stammt die Angabe, sogar 80% aller in Deutschland wirksamen Rechtsakte hätten einen europäischen Hintergrund (vgl. Plehwe 2007: 7). Wie jedoch in detaillierteren Studien gezeigt wurde, führen derart pau-schale Aussagen in die Irre. Vielmehr muss nach Politikfeldern differenziert werden. In der Agrar- und Umweltpolitik z.B. ist der Anteil EU-induzierter Normgebung mit ca. 80% besonders hoch. In weniger vergemeinschafteten Politikbereichen wie der inneren Sicher-heit oder der Arbeits- und Sozialpolitik wird der Anteil dagegen auf weit niedrigere 20% geschätzt (vgl. Töller 2006). Im Einzelnen muss dabei zusätzlich beachtet werden, dass nicht allein die umgesetzten Richtlinien den Anteil EU-induzierter Normgebung ausmacht. Zusätzlich zu berücksichtigen sind noch – direkt wirksame – EU-Verordnungen. Diese stehen gewissermaßen neben den deutschen Gesetzen, können aber unter Umständen eine stärkere Wirkung entfalten als auf Richtlinien fußende Gesetze. Für den Bereich der Ver-kehrspolitik ist der Unterschied gezeigt worden. Werden lediglich die verkehrspolitischen Gesetze betrachtet, ergibt sich – je nach Legislaturperiode – ein Einfluss der EU-Ebene auf ca. 26% bis 40%. Wird hingegen nach der Gesamtheit der verkehrspolitischen Gesetzge-bung geschaut, beträgt der Anteil europäischer Verordnungen und europäisch beeinflusster deutscher Gesetze und Rechtsverodnungen zwischen ca. 47% und 66% (Plehwe 2007: 9).

Die Unsicherheit über das Gewicht der EU-Ebene für die deutsche Gesetzgebung geht nicht zuletzt darauf zurück, dass in formaler Hinsicht keine Unterschiede zwischen norma-len Dossiers und den bereits durch Brüssel vorkonfigurierten Bereichen getroffen wird. Erst seit dem Jahre 2007 wird von Seiten des Bundestages mit einem Verfahren der „Priorisie-rung“ versucht, EU-Impulse systematisch auf ihre Bedeutung für die Gesetzgebung einzu-schätzen (siehe unten, Kap. 7). Eine Liste mit umzusetzenden Vorhaben hat bis dahin ledig-lich zum Zweck der späteren Überprüfung der Implementation existiert.

3.4.1 Eins-zu-eins-Transposition oder integrierte Gesetzgebung? Einer Koalitionsmehrheit stehen zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze zum

Umgang mit EU-Vorlagen zur Verfügung. Einerseits besteht die Möglichkeit zu einer Eins-zu-eins-Transposition, d.h. einem möglicherweise isolierten Gesetzgebungsverfahren mit dem Ziel, eine formale Verpflichtung gegenüber der EU-Ebene zu erfüllen, ohne national spezifische Inhalte in das Verfahren einfließen zu lassen. Häufig besteht dabei eine Interes-

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sen- oder Präferenzenkongruenz zwischen den Ebenen, denn formal hat die Bundesregie-rung den meisten entsprechenden Vorhaben im Rat bereits zugestimmt. Exogene Entwick-lungen, aber auch ein zwischen den Befassungszeiträumen liegender Regierungswechsel, können diese Kongruenz indes aufweichen oder zerstören. Der formale Zwang zur Umset-zung22 besteht dann allerdings fort, und bisher haben neu eingetretene Bundesregierungen auch stets erklärt, von der Vorgängerregierung eingegangene außenpolitische Verpflichtun-gen im Wesentlichen zu übernehmen.

Andererseits besteht aus Sicht der politischen Akteure jedoch auch die Möglichkeit, die EU-Ebene in einem breiteren Sinne für die eigenen Absichten zu nutzen. Von der EU-Ebene kommende Impulse können in größere Gesetzgebungsvorhaben eingearbeitet wer-den, etwa indem einzelne Impulse aus dem Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 17-22 sowie Art. 61-69 EGV, Art. 29-42 EUV) in die deutsche Migrations- oder Staatsbürgerschaftsgesetzgebung eingefügt werden. Der Zweck einer solchen Zusam-menführung besteht dann in der integrierten Regelung solcher Themenbereiche, in denen europäische und nationale Instanzen gleichermaßen eine Rolle spielen.

Auch bei dieser Konstellation ist es zunächst nicht nötig, von der Annahme der Inter-essenkongruenz zwischen EU- und nationaler Ebene abzurücken. Allerdings stehen bei der Formulierung umfangreicher Gesetzgebungsverfahren viele Teillösungen zur Disposition, und auch die aus der EU importierte Detaillösung kann zum Gegenstand einer Kompro-missfindung werden. Abgewichen kann von einer EU-Vorgabe allerdings nicht „nach un-ten“, z.B. im Sinne einer Nichterfüllung vorgegebener Standards. Deshalb stehen für die Akteure in Regierung und Bundestag nicht alle Optionen im Bezug auf die EU-Anteile eines Gesetzgebungspakets offen, sondern lediglich die 1:1-Umsetzung und das „Draufsat-teln“, bei dem EU-Vorgaben gewissermaßen übererfüllt werden. Ein prominentes Beispiel lieferte das Allgemeine Gleichhandlungsgesetz, bei dem in den Jahren 2002-2005 nach dem Willen der rot-grünen Bundesregierung einige Bestandteile der vier Anti-Diskriminierungsrichtlinien pointiert in die deutsche Gesetzgebung übernommen werden sollten.23

Das Beispiel des Gleichbehandlungsgesetzes ist instruktiv für das grundsätzliche Verhältnis der politischen Akteure zum Umgang mit EU-Vorgaben. Aus Sicht der maßgeb-lichsten Akteurseinheit – der in Bundestag und Regierung vertretenen Koalitionsmehrheit – ist es zunächst attraktiv, dem Publikum integrierte Lösungen zu präsentieren. Damit lässt sich Weitsichtigkeit demonstrieren; gleichzeitig stehen mit vielgliedrigen Entwürfen auch mehr Möglichkeiten zur Verfügung, einzelne Flügel der Regierungsparteien entsprechend ihrer Präferenzen zu bedienen. Bei einer solchen Herangehensweise geraten allerdings die umzusetzenden Vorschriften von der EU-Ebene zu Teilaspekten des Gesamtvorhabens. In der Differenz zwischen EU-Forderung und angehobenem Regelungsniveau stehen sie eben-so zur Debatte wie alle anderen Teilbestandteile eines integrierten Gesetzgebungsvorha-bens.

22 Im Übereinklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch verwende ich den Begriff der Umsetzung sowohl für die Transposition von EU-Recht in nationales Recht (Kap. 3.) sowie für die Implementation von Gesetzesakten durch die Verwaltung (Kap. 3.5). 23 Mit den vorgezogenen Neuwahlen im September 2005 wurde der Plan der rot-grünen Bundesregierung obsolet. Die Große Koalition verabschiedete dann im Jahr 2006 ein Gleichbehandlungsgesetz (BGBl. I 2006 Nr.39, 17.08.2006 S. 1897), in dem den Forderungen der vormaligen CDU/CSU-Opposition nach einer 1:1-Umsetzung weitgehend entsprochen wurde.

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In der Öffentlichkeit, und das ist nun der springende Punkt, sind solche Feinheiten je-doch schwer zu vermitteln. Lediglich Fachpolitiker, spezifisch arbeitende Lobbyisten und (möglicherweise) einschlägig arbeitende Wissenschaftler sind in der Lage zu überschauen, welche Bereiche eines Regelungsbereiches tatsächlich europäisch und/oder binnenpolitisch motiviert sind. Neben die inhaltliche Debatte tritt die (positive oder negative) Instrumenta-lisierung der EU-Ebene, indem das „Draufsatteln“ zu einer pauschalen Handlung wird, die einzig und allein einer übertriebenen Regulierung dienen kann. Im Zuge der Debatte um das Gleichstellungsgesetz haben sich zahlreiche Interessenverbände so geäußert.24 Diese Interpretation hat immerhin soweit Fuß gefasst, dass der Koalitionsvertrag zwischen der SPD und der CDU – als vormaliger Oppositionspartei – aus dem Jahre 2005 die Formulie-rung enthält, die „europäische Gesetzgebung (…) und die innerstaatliche Umsetzung von Richtlinien“ sei „auf das tatsächlich Notwendige zu beschränken“.25 Dabei handelt es sich um eine Kompromissformel aus der Wahlkampfforderung der CDU/CSU nach einer „kon-sequenten Umsetzung des EU-Rechts“ und der „Beseitigung nationaler Alleingänge“.26

Somit ist über die Jahre ein verengter Umgang mit den Ergebnissen der EU-Ebene ent-standen. Während die politischen Akteure auf nationale Herausforderungen – im Kontext des pluralistischen „Verbändestaats“ (Hesse/Ellwein 2004: 152) – vergleichsweise frei agieren, befinden sie sich bei der Beteiligung der EU-Ebene in der Defensive. Obwohl deutsche Regierungen den „EU-Vorgaben“ i.d.R. auf der EU-Ebene zugestimmt haben, werden die neuen Regeln einerseits als Belastungen für die binnenpolitische Entschei-dungsfindung gesehen, denn sie schränken den Aktionsradius ein. Andererseits richten sich jedoch wichtige Akteure im politischen System gegen die Abänderung der im EU-Konsens gefundenen Regeln, indem sie als „Alleingänge“ gegen den europäischen Mainstream mar-kiert werden. Im Resultat hat sich generell eine als defensiv zu charakterisierende Verarbei-tung von EU-Impulsen eingebürgert.

Die Politikschritte im zweiten Abschnitt des europäischen Policy-Zyklus (siehe erneut Tab. 1) sind vor diesem Hintergrund zu analysieren. Jenseits enger Expertenkreise kann sich das breite Publikum kaum vor Augen führen, welche Ausschnitte aus der Gesamtheit der deutschen Gesetz- und Regelungsvorhaben auf einen EU-Impuls zurückgehen.27 Wo dieses Prinzip durch öffentlichkeitswirksame EU-Richtlinien durchbrochen ist, stehen die Modi entweder der integrierten oder der 1:1-Umsetzung zur Wahl. Wegen der Verengung des politischen Diskurses auf die „Umsetzung“ von „Vorgaben“ ist die politische Praxis nur in seltenen Fällen darauf ausgerichtet, europäische Regelungsbereiche zum Ausgangspunkt einer individuell angepassten integrierten Gesetzgebung zu machen. Es überwiegt vielmehr die Übertragung solchen EU-Rechts, das in Brüssel als kleinster gemeinsamer Nenner von 27 EU-Staaten entstanden ist. Mit der EU-Ebene verbundene Politikbereiche sind damit nicht nur in inhaltlicher Hinsicht von der nationalen Willensbildung in gewisser Weise ausgenommen. Zusätzlich verzichten wichtige Akteure des Systems darauf, die starke Re- 24 Für eine unter vielen öffentlichen Stellungnahmen industrieorientierter Interessengruppen siehe z.B. http://www. dihk.de/inhalt/informationen/news/meldungen/meldung009004.main.html. Downlaod am 11.9.2007. 25 Siehe www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/koalitionsvertrag.html, S. 127. Download am 11.9.2007. 26 Siehe http://www.regierungsprogramm.cdu.de/download/regierungsprogramm-05-09-cducsu.pdf, S. 23. Down-load am 11.9.2007. 27 Ein vergleichsweise leicht einzuführendes Instrument wäre die entsprechende Kennzeichnung von Gesetzge-bungsverfahren (oder Teilen davon) unter Verweis auf die primärrechtliche Quelle.

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levanz der Exekutive im Brüsseler Abschnitt des Politik-Zyklus durch nicht-exekutive Elemente zu konterkarieren. Besonders betroffen sind dabei solche Politikbereiche, in de-nen europäische wie nationale Instanzen gleichermaßen relevant sind, in denen also EU und Nationalstaat faktisch über eine konkurrierende Gesetzgebung verfügen. Überwiegt dage-gen in einem Politikbereich die Kompetenz der EU-Ebene (z.B. in der Agrarpolitik, Geld- oder Außenhandelspolitik), können die einschlägigen EU-Institutionen und die Bundesre-gierung ohne binnenpolitischen Prozess mit Verordnungen agieren. Kommen der EU-Ebene nur geringe Kompetenzen zu (z.B. in der Arbeitsmarktpolitik), muss sie gar nicht berücksichtigt werden, und in diesen Politikfeldern findet dann auch keine Europäisierung statt.

3.4.2 Das nachholende Element der nationalen Willensbildung: Stärkung oder Schwä-chung des Nationalstaats?

Im europäischen Politik-Zyklus steht die nationale Willensbildung formal an nach-

geordneter Stelle. In nationales Recht umzusetzende EU-Richtlinien durchlaufen den vollen nationalen Zyklus, insbesondere unter Einbezieung des Parlaments, erst nach einer meist weit reichenden Vorfestlegung durch die EU-Ebene. Hat die deutsche Politik dadurch an Gestaltungsspielraum eingebüßt? Oder, anders gefragt: Führt die Nachlagerung zu einer nachhaltigen Schwächung der nationalen Politik?

In der Integrationswissenschaft unterliegt diese Frage einem Streit, der Züge eines Glaubenskampfes angenommen hat. Seine Schützengräben verlaufen auf der analytischen und – mitunter verdeckt – auch auf der normativen Ebene. In analytischer Hinsicht schließt die Einschätzung der Rolle der Nationalstaaten an die gegensätzlichen Positionen an, die die Integrationsforschung in den konkurrierenden Ansätzen des liberalen Intergouverne-mentalismus auf der einen und des Supranationalismus auf der anderen Seite entwickelt hat (respektive Moravcsik 1993; 1995; Sandholtz/Stone Sweet 1998). Der aus dem Neo-Funktionalismus weiterentwickelte Supranationalismus geht davon aus, dass EU-Normen und EU-Institutionen eine zunehmende Autonomie entwickeln und daher zu einer „dauer-haften und politisch relevanten Innovationsrolle, selbst gegen den Widerstand von Mitg-liedstaaten“ finden (Nölke 2005: 152, Hervorhebung TB). Regierung kommt deshalb „eine grundsätzlich reaktive Rolle zu“ (ebd.: 154). Die Dynamik der europäischen Integration entwickelt in dieser Denkrichtung für die Akteure der EU-Ebene eine eigene Handlungslo-gik, die in der Motivation mündet, transnationalen Problemlagen auf der angemessenen Ebene zu begegnen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass die transnationalen Aktivitäten nicht-staatlicher Akteure gewissermaßen ein Fundament für europäische politische Prozes-se bilden, das nationale Akteure und Regierungen nicht auf Dauer und nur um den Preis der Nichtbewältigung transnationaler Problemlagen übergehen können.

Dem gegenüber steht eine Position, zu der Andrew Moravcsik im Jahre 1994 – also nach dem großen Integrationsschubs des Maastricht-Vertrags – den programmatischen basso continuo gelegt hat: „Why the European Community Strengthens the State“ (Mo-ravcsik 1994); auf das Fragezeichen wird dabei ganz bewusst verzichtet. Das Argument stützt sich wesentlich auf den Verlauf der vielfältigen Regierungskonferenzen, in denen die Regierungen „von Messina bis Maastricht“ (Moravcsik 1998) vermocht haben, den Kurs und das Ausmaß der Integration selbst zu bestimmen. Dies ist die klassische intergouver-

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nementale Position (Hoffmann 1966): die Regierungen – und nicht etwa EU-Institutionen – sind die maßgeblichen Akteure der Integrationspolitik, die Integrationsschritte dann zulas-sen, wenn ihre Interessen konvergieren über gemeinsame Regeln verhandelbar bleiben. In Moravcsiks liberalem Intergouvernementalismus werden diese Positionen allerdings nicht aus der Staatsräson abgeleitet, sondern von den Präferenzen binnenstaatlicher Interessen-gruppen. Die Regierungen bleiben der „Brückenkopf“ (Steinhilber 2005: 169) der europä-ischen Politik, und auf der Brücke können Regierungsakteure dann im Einzelnen entschei-den, ob ihre Interessen besser über die EU-Schiene oder im Rahmen nationalstaatlicher Regelsetzung durchzusetzen sind. Von dieser Legitimitätskonstruktion ist im Übrigen auch das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgericht inspiriert; diese Spielart des staatsrech-tlichen Liberalismus stellt in gewisser Weise die gegenwärtig herrschende Staatsdoktrin der Bundesrepublik gegenüber der EU-Ebene dar.28

Verschiedentlich ist darauf hingewiesen worden (z.B. Wallace 1999a), dass die ver-meintliche Inkompatibilität der beiden Ansätze auf die Orientierung and unterschiedlichen Gegenstandsausschnitten der europäischen Integration basiert. Der liberale Intergouverne-mentalismus orientiert sich an den „großen“ Integrationsentscheidungen, während der Sup-ranationalismus sich stärker an einem kontinuierlichen politischen Prozess ausrichtet. Auch legen Intergouvernementalisten den Schwerpunkt ihrer Argumentation gerne auf außenpoli-tische und den wirtschaftspolitischen Rahmen betreffende Aspekte, welche traditionell der Kernzuständigkeit von Regierungen zugerechnet werden. Der Supranationalismus beruft sich dagegen gerne auf solche Politikfelder, die von den Regierung früh an den Binnen-markt delegiert wurden und deren Ausgestaltung im Rahmen der „negativen Integration“ (Tinbergen 1965) durch Kommission und EuGH erfolgt ist. Das bis heute anzutreffende strikte Gegeneinander der beiden Ansätze beruht daher mitunter auf „sterilen Debatten und voreiligen Generalisierungen“ (Schmidt 1996).

Von Bedeutung ist allerdings, dass sich das Problem nicht allein auf die Wissen-schaftssphäre beschränkt. Die skizzierten Grundpositionen werden in Politik und Öffent-lichkeit vielfach aufgegriffen und in Handlungsvoraussetzungen oder -grundlagen trans-formiert. In den 1950er- und 1960er-Jahren stellte der Vorgänger der Supranationalismus, der Neofunktionialismus, gewissermaßen das allseits akzeptierte Fundament des Integrati-onsprozesses selbst dar. Der Begriff der Gemeinschaftsmethode – gleichermaßen von Neo-funktionalisten wie Haas und Lindberg sowie der Kommission in den Vordergrund gerückt – stellt eine bis heute gültige Referenz dar. Einige Jahre später war es dagegen der liberale Intergouvernementalismus, der zu einer Art „autorisierten Version“ der Integrationstheorie wurde und das Handeln vieler Regierungsakteure legitimierte (Rosamond 2000: 130-156, 194-195). In beiden Fällen beriefen sich die maßgeblichen Akteure auf jene Zweige der Theorie, die ihre jeweilige Position entweder auf der EU-Ebene oder in den Nationalstaaten zu begründen in der Lage war. Ob also der Nationalstaat gestärkt oder geschwächt aus der europäischen Integration hervorgegangen ist, lässt sich auf der Grundlage der Integrations-theorie nicht eindeutig entscheiden. Vielmehr muss geprüft werden, vor welchem Hinter-grund die Theorieangebote zur Einordnung von Mitgliedstaaten – und es gibt davon mehr also die hier Andiskutierten – entstanden sind.

28 An einschlägiger Stelle heißt es: Die europäische Integration gründet auf der Legitimationskraft bereits verfaßter Herrschaft der mitgliedstaatlichen Völker (Demokratie)“ (Pechstein/Koenig 2000: 305).

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Untersucht man entsprechend den in diesem Buch verwendeten Ansatz des europä-ischen politischen Systems, halten sich die Auswirkungen der Europäisierung auf die Hand-lungsfähigkeit des Nationalstaats in etwa die Waage. Das Grundtheorem des politischen Systems – das Aufeinanderbezogensein von Erwartungen und Forderungen der Bevölke-rung einerseits und der Art des von den Institutionen erbrachten Outputs – wird durch den Tatbestand von Transnationalisierung und Entgrenzung nicht im Grundsatz berührt. Akteu-re und Institutionen müssen sich allerdings an die Existenz verschiedener – nicht mehr nur nationaler – Quellen für Erwartungen und Forderungen anpassen. Das Erbringen politischer Steuerungsleistungen wird dadurch komplexer und zunächst auch schwieriger. Allerdings entstehen im transnationalisierten Raum die Erwartungen und Forderungen auch aufgrund transnationaler, d.h. grenzüberschreitender, Problemlagen. Die zunehmende Komplexität politischen Handelns muss dann gegen die prinzipiell größere Reichweite politischer Ent-scheidungen aufgerechnet werden.

Stärker noch als im rein nationalen Kontext kommt es also im Paradigma des europä-ischen politischen System auf die Qualität des Regierens an. „Good governance“ genießt dabei im europäischen Kontext eine andere Bedeutung als in der Entwicklungspolitik, wo die Gewährung von Entwicklungshilfe an bestimmte Prinzipien demokratischen und rechts-staatlichen Regierens gekoppelt ist. Europäische Politik steht vielmehr zwischen den Güte-kriterien der Effektivität und der Legitimität.29 Beide sind eng miteinander verwoben, denn ohne Systemeffektivität sind die Institutionen eines politischen Systems von Delegitimie-rung bedroht.

Allerdings steht Effektivität in einem Spannungsverhältnis zur Inklusion von Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen (Dahl 1994), das bei der Übertragung auf die EU-Ebene charakteristische Ausprägungen erfährt. Denn auch in der nachholenden Instanz stehen den politischen Akteuren der nationalen Ebene verschiedene Optionen zum Umgang mit der erhöhten Komplexität europäischen Regierens offen. Einerseits ist es möglich, die Ent-scheidungsstrukturen gewissermaßen vorausschauend auf die Bearbeitung transnationaler Problemlagen auszurichten. Je stärker dies gelingt, desto höher die Chance für effektives Regieren, insbesondere wenn sich die Effekte transnationalen Handelns gleichmäßig auf den transnationalen Raum erstrecken (ergeben sich hingegen Verteilungseffekte als Folge transnationalen Handelns, wird die Sache schwieriger). Ein hohes Maß an Effektivität geht so nicht per se mit einem Bedeutungsverlust der nationalen Ebene einher. Innerhalb des nationalen Systems sind allerdings solche Institutionen begünstigt, die über hohe Freiheits-grade bei der Entscheidungsfindung verfügen und gleichzeitig auf beiden Ebenen des euro-päischen politischen Systems angesiedelt sind. Es sind also die Regierungen, und zwar zu Lasten anderer nationaler Institutionen, die das politische Ziel der Systemeffektivität be-sonders gut erfüllen können. Allerdings ist der Erfolg des Regierungshandelns prekär: wenn bestimmte Ziele nicht erreicht werden – oder vielleicht aufgrund struktureller Gegebenhei-ten gar nicht erreicht werden können –, sind ihre Legitimationsressourcen vor der Bevölke-rung schnell erschöpft (Scharpf 1970).

29 Der Begriff der Effektivität ist jenem der Effizienz vorzuziehen. Effektivität bezieht sich auf das Verhältnis von Handeln zur Erreichung eines gewählten Ziels, während Effizienz das Verhältnis von Aufwand und Ertrag be-zeichnet. Im Paradigma des politischen Systems besteht das Ziel politischer Akteure vorrangig in der Zielerfül-lung. Die Frage des Ressourceneinsatzes, wenngleich im Einzelnen durchaus von Bedeutung, steht demgegenüber zurück (vgl. Blühdorn 2006).

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Andererseits können nationale Akteure jedoch auch die Option der Wahrung von Par-tizipationsmöglichkeiten wählen. Das Gütekriterium europäischen Regierens besteht dann nicht in einer responsiven Zielerreichung durch die Regierenden, sondern in der repräsenta-tiven Einbeziehung der Bevölkerung und ihrer Vertretungskörperschaften in den europä-ischen politischen Prozess. Die europäischen Bürger und ihre autonomen Zusammenschlüs-se werden gewissermaßen auf dem Weg nach Europa „mitgenommen“. Auch hier lauern allerdings Gefahren. Der Komplexität transnationaler Problemlagen kann so nur bedingt Rechnung getragen werden, und bei der Existenz gegenläufiger Präferenzen in verschiede-nen Mitgliedstaaten landet das Entscheidungssystem schnell in der Sackgasse. Bürger, zi-vilgesellschaftliche Gruppen und politische Parteien können dann die Entscheidungen doch wieder an ihre Regierungen delegieren und mit einem bindenden – effektivitätsorientierten – Auftrag versehen. Das Bestehen auf gruppenimmanenten Repräsentationsformen kann jedoch auch zu einer bewusst abgrenzenden Reaktion führen, die in generell integrations-skeptische Positionierungen münden (Taggart 1998; Tiersky 2001).

Beide Optionen werden auf den nationalen Ebenen des europäischen politischen Sys-tems wahrgenommen. Organisationssoziologisch ist leicht zu erklären, warum sich effekti-vitätsorientierte Positionen in allen Mitgliedstaaten der EU eher auf Seiten der Exekutive finden, während partizipationsorientierte Standpunkte bei gesellschaftlichen Gruppen und/oder Oppositionsparteien anzutreffen sind. Allerdings ist auch hier zu beachten, dass das Wahrnehmen von Optionen vor dem Hintergrund von Bevölkerungseinstellungen ge-schieht. Entscheidend ist nicht zuletzt die Akzeptanz der europäischen Integration, der EU sowie ihrer Institutionen bei den Bürgern der Nationalstaaten. Mit ihrer Varianz geht nicht nur einher, ob nationale Regierungen Teile ihrer Kompetenz klaglos auf die EU-Ebene verschieben lassen. Auch der Anspruch auf Veränderung, Weiterentwicklung und (partiel-ler) Zurückweisung von EU-Richtlinien variiert mit der Identifikation nationaler Bevölke-rungen mit der EU-Ebene des politischen Systems. Wie in Kapitel 4 zu sehen sein wird, befindet sich dabei auch die deutsche Bevölkerung in einem Prozess der zunehmend diffe-renzierten Wahrnehmung der EU-Ebene europäischer Politik, mit deutlichen Rückwirkun-gen auf das Handeln der Eliten im nationalen Kontext.

3.4.3 Die Instanzen der nachholenden nationalen Willensbildung

Wie im allein am nationalen Modell orientierten Politik-Zyklus (Almond/Powell/Mundt 1996) lässt sich der politische Prozess im sequenzierten europäischen Politik-Zyklus in der Abfolge von Interessenartikulation, Interessenaggregation und Entscheidungsfindung dar-stellen. Wird der EU-Bezug nicht in den Mittelpunkt gestellt, lässt sich zur Darstellung der Willensbildung in der deutschen Politik eine ganze Reihe von Übersichtswerken heranzie-hen (siehe z.B. Katzenstein 1987; Beyme 2002; Rudzio 2003; Hesse/Ellwein 2004; Schmidt 2007a). Deren Erkenntnisse müssen im Folgenden nicht wiederholt, sondern ledig-lich auf Besonderheiten im Hinblick auf die Bedeutung von EU-Impulsen abgeklopft wer-den.

Zunächst ist zu bemerken, dass sich das Gegeneinander von dezidiert institutionenbe-zogener und netzwerkbezogener Politikanalyse in der europäischen Politik durch die große Heterogenität der Politikfelder auflöst. Manche Politikfelder haben ihren intergouverne-mentalen Charakter behalten; dort finden überwiegend gut sichtbare Institutionen wie Re-

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gierungen, EP und die Kommission zueinander. Ähnliches gilt für Politikbereiche, in denen traditionell die Partizipation von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Verbänden weniger stark ausgeprägt ist, z.B. in der Justiz- und Innenpolitik. Dagegen finden sich im Bereich der Gemeinschaftspolitiken – bzw. im Gemeinschaftsverfahren, siehe Kap. 3.3.3.4 – viele Politikbereiche, in denen formale und informale Entscheidungskanäle nebeneinander beste-hen, wo die Durchdringung durch Interessengruppen hoch ist und gegebenenfalls auch periphere Akteure wie der Ausschuss der Regionen betrachtet werden müssen. Dann lässt sich im Sinne des Netzwerkansatzes eher von einem Kräfteparallelogramm sprechen.

In beiden Fällen setzt sich der Charakter des Policy-Making von der EU-Ebene auf die national nachholende Politik fort. Zum einen wurden im Verlauf der europäischen Integra-tion jene Politikfelder lange vor Kompetenzübertragung und Supranationalisierung ge-schützt, die von den EU-Staaten als Souveränitätskerne angesehen werden. Daher eignet sich ein formal-institutioneller Ansatz insbesondere dort, wo den nationalen Regierungen bis heute weit reichende Kompetenzen zukommen. Zum anderen haben sich die europä-ischen Interessengruppen aus nationalen Gruppierungen entwickelt; beide Ebenen können als in starkem Maße vernetzt gelten (Greenwood 2003). Nationale und europäische politi-sche Akteure bekommen es also im Großen und Ganzen mit einem einzigen europäischen Interessensektor zu tun, wenn sie Gesetze ausarbeiten. Wo auf der EU-Ebene viele Akteure zu beachten sind, ist dies in der Regel auch in der nationalen Arena der Fall.

Formalrechtlich ist dabei zu beachten, dass Richtlinien nur in den Politikbereichen des EG-Vertrags zum Einsatz kommen. Die Regelungsbereiche des EU-Vertrags – z.B. die GASP – sehen Standpunkte, Beschlüsse oder „Rahmenbeschlüsse“ (Art. 34 Abs. 2.b EUV) vor, bei denen einen nachholende Befassung durch nationale Instanzen nicht vorgesehen ist. Dennoch ist die nationale Ebene nicht bedeutungslos. Erstens unterliegen die genannten Politikbereiche gerade wegen ihrer Nähe zum Souveränitätskern der generellen Kontrolle des Parlaments. Zweitens ist auch die politische Öffentlichkeit stärker an diesen herausge-hobenen Politikbereichen interessiert. Deshalb kann hier das Parlament in der Auseinander-setzung mit der Regierung sogar auf stärkere Legitimationsreserven zurückgreifen als bei Politikfeldern des EG-Vertrags. Freilich kann entsprechender Druck wegen der vertrags-rechtlichen Konstruktion i.d.R. nur indirekt ausgeübt werden, d.h. er schlägt sich weniger in Gesetzestexten als in der vorausschauenden Einbeziehung der Parlamentspräferenzen durch die Regierung nieder. Drittens stellt der aus dem Grundgesetz (Art. 20, 59 und 115a) abge-leitete Parlamentsvorbehalt bei militärischen Auslandseinsätzen ein Instrument dar, um wichtige Entscheidungen der Regierung im Bereich der GASP direkt zu kontrollieren (sie-he Link 2001).

Grundsätzlich variiert also der analytische Zugang zur nachholenden deutschen Wil-lensbildung nach Politikfeldern. Wie lässt sich nun entscheiden, ob ein institutionen- oder netzwerkbezogener Ansatz besser geeignet ist? Bei einigen Politikfeldern ist die Sache von vornherein klar. Die Zusammenarbeit in Strafsachen vollzieht sich sehr stark auf der Grundlage formalrechtlicher Regelungen und verlangt daher nach einem institutionenzent-rierten Zugriff (Müller 2003). Die Dynamik der Binnenmarkt- oder Strukturpolitik ist da-gegen vor dem Hintergrund einer Vielzahl von formell und informell beteiligter Akteure zu sehen, nicht zuletzt seit die Kommission die Teilhabe von interessengebundenen und zivil-gesellschaftlichen Akteuren explizit einfordert (Commission 2001). Eine rein institutione-norientierte Herangehensweise würde möglicherweise die zentralen Abläufe übersehen,

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weshalb einschlägige Arbeiten fast immer Spielarten des Governance-Ansatzes verwenden (siehe z.B. Schmidt 2004b; Auel 2006b).

Die Argumente lassen sich auf die im vorherigen Unterkapitel unterschiedenen Ver-fahrenstypen auf EU-Ebene ausdehnen. Die intergouvernementalen sowie das Bürokratie-verfahren verfügen über einen vergleichsweise starken institutionellen Bezug, wobei in manchen der in Tabelle 4 genannten Politikfelder der Institutionenbegriff nicht allein auf die Dachinstitutionen gemünzt ist, sondern – z.B. in der Agrarpolitik – institutionelle Teil-einheiten wie bestimmte Ausschüsse unter dem Dach der Kommission mit einschließt (Heard-Lauréote 2006). Je größer die Zahl und die faktische Bedeutung solcher Unterein-heiten für ein einzelnes Politikfeld wird, desto eher ist dann eine Netzwerkanalyse nötig. Das Gemeinschaftsverfahren unterscheidet sich insofern vom Bürokratieverfahren, als das EP als zusätzliche Instanz ins Spiel kommt. Auch wenn sie nicht in allen Feldern sehr aus-geprägt sind, kommen damit auch Verbindungen zwischen nationalen Parteien und EP-Fraktionen sowie deren nationalen Mitgliedern ins Spiel. Demzufolge sind in allen vom Gemeinschaftsverfahren abgedeckten Feldern transnationale Netzwerke nicht nur auf der Ebene der offiziellen Institutionen und der Interessengruppen, sondern auch der Parteien zu unterstellen. Da die Parteien wiederum vor allem in Parlamenten agieren, hat sich die Netzwerkanalyse entsprechend auch an den formalen Institutionen zu orientieren. In jegli-cher Analyse der Richtlinienumsetzung spielen also Institutionen eine Rolle.

Werden die den Phasen des Policy-Zyklus zugeordneten Instanzen durchgespielt, wird die wissenschaftliche Debatte durch eine Reihe von Hypothesen vorstrukturiert. Sie sollen hier nur benannt – nicht jedoch im Einzelnen diskutiert – werden, denn einer genauere Aus-einandersetzung mit ihnen findet in später folgenden Kapiteln dieses Textes statt. Bezüglich der politischen Kultur der Bundesrepublik stehen zwei Hypothesen gege-

neinander. Einerseits wird darauf verwiesen, dass in der Europäischen Union weiterhin tiefe kognitive Gräben zwischen den verschiedenen Kultur- und Sprachräumen herr-schen (Kielmannsegg 2003). Dadurch findet Interessenartikulation überwiegend in na-tionalen Diskursräumen statt, und die Verantwortlichkeit der Politik ist ebenfalls vor allem über die nationale Ebene gewährleistet. Auf der Grundlage dieser These ist da-her die deutsche politische Kultur aus grundsätzlichen Überlegungen nur bedingt mit dem europäischen Bezugsraum kompatibel. Andererseits wird verschiedentlich darauf verwiesen, wie stark Prozesse der „Amerikanisierung“ (Doering-Manteuffel 1995), der Verwestlichung und eben der „Europäisierung“ (Kaelble 2005) auf die deutsche Ge-sellschaft gewirkt haben. Auch hier mögen Bezugsräume von Bevölkerung und euro-päischem Institutionensystem inkongruent bleiben. Dennoch deutet der „Mentalitäts-wandel“ von Nationalismus und Abschottung zu postnationaler Identität und Weltof-fenheit (vgl. Thränhardt 1996: 10-11) auf eine generelle Offenheit der politischen Kul-tur für die EU-Dimension von Politik hin. Das Spannungsfeld zwischen beiden Hypo-thesen wird in Kapitel 4 untersucht.

Die Interessengruppen sind hinsichtlich ihrer Funktion in der deutschen Politik zwi-schen Pluralismus und Korporatismus eingeordnet worden. Als pluralistisch zu be-zeichnen sind die Form der Selbstorganisation sowie der prinzipiell nicht begrenzte Wettbewerb zwischen Interessengruppen um öffentliche Unterstützung und politisches Gehör. Die dennoch politikfeldominierende Stellung einzelner Verbände, ihre Mitwir-kung bei der staatlichen Aufgabenerfüllung z.B. im Sozial- und Gesundheitswesen sowie die periodisch auftauchen „konzertierten Aktionen“ lassen sich hingegen allen-

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falls einem sektoralen Korporatismus zurechnen (vgl. Schroeder 2003). Kommt nun die europäische Ebene hinzu, eröffnen sich den Verbänden einerseits zusätzliche Ein-flusskanäle. Andererseits müssen ihre Anliegen nun auch in mehreren Mitgliedstaaten koordiniert werden. Die zusätzlichen Potentiale und Risiken der Europäisierung der deutschen Verbandslandschaft werden in Kapitel 6 diskutiert.

Bei der Regierung, in deren Ministerien i.d.R. die Gesetzesentwürfe geschrieben und abgestimmt werden, laufen in der Vorphase eines Gesetzgebungsprozesses die Fäden zusammen. Interessengruppen versuchen eine direkte und indirekte Einwirkung, und aus Parteien, Bundestagsfraktionen sowie den Bundesländern bzw. dem Bundesrat kommen Signale für den späteren Umgang mit einem Vorhaben im Parlament. Die Regierung steht daher nicht nur im Zentrum der Exekutive, sondern ist faktisch auch als Teil der Legislative zu sehen. Etwa 75% der verabschiedeten Gesetze gehen auf Regierungsvorlagen zurück. „Wenn [im parlamentarischen System] Regierung und Regierungsmehrheit eng miteinander verbunden sind, bedeutet das auch, dass die Füh-rungsinitiative bei der Regierung liegt und man sich hinsichtlich der Gesetzesvorberei-tung deren großen Apparats bedient“ (Zahl und Zitat bei Hesse/Ellwein 2004: 229). Im europäischen Politik-Zyklus, so der erste Eindruck, verstärkt sich die zentrale Stelle der Regierung noch. Sie ist der Akteur, der auf der EU-Ebene die Substanz dessen verhandelt hat, was auf nationalen Ebene zu bearbeiten ist. Während in der Regierung (und vielleicht bei den Interessengruppen) also bereits ein hoher Informationsstand zu erwarten ist, muss sich das zunächst national ausgerichtete Parlament nachholend ei-narbeiten. Durch die Bindungswirkung von Richtlinien hat die Regierung zudem ein höheres Interesse als bei rein nationalen Vorhaben, ein bestimmtes Ergebnis zu errei-chen und kann dem parlamentarischen Verfahren daher nur einen begrenzt freien Lauf gestatten. Die Strategien und Institutionen des auf die EU gerichteten Regierungshan-delns werden in Kapitel 7 aufgegriffen.

Die Kehrseite einer starken Regierung stellt die Schwäche des Bundestages sowie allgemein des Parlamentarismus dar. Deshalb werden in Kapitel 8 die Parteien, der Bundestag sowie der Bundesrat als „nachgelagerte Instanzen“ tituliert. Die deutschen Parteien erscheinen bisher in nur geringem Ausmaß auf die EU ausgerichtet (Alemann 2001). Nicht einmal bei Wahlkämpfen zum EP ist von vornherein gewährleistet, dass europapolitische Themen von den Wahlkampfzentralen in den Vordergrund gerückt werden (Binder/Wüst 2004). Dem Bundestag wird von vielen Seiten ein Bedeutungs-verlust durch Europäisierung attestiert (Beyme 1997: 186; Börzel 2000; Sturm/Pehle 2006). Am positivsten fällt noch die Beurteilung des Bundesrates aus, der die verfas-sungsmäßig starke Position der Länder in ein adäquates – aber dennoch letztlich nach-geschaltetes – Beteiligungsverfahren ummünzen konnte (Grünhage 2007). Wie zu sehen ist, machen demnach die Instanzen der Willensbildung in der zweiten

Phase des europäischen Politik-Zyklus den Kern der vorliegenden Abhandlung aus: Die Europäisierung des deutschen Regierungssystems wird zu einem guten Teil durch die Ent-grenzung der Entscheidungsfindung geprägt. Sie, und ihre Einbettung in die sich wandeln-den Erwartungen und Forderungen der Bevölkerung, machen ab Kapitel 4 den Gegenstand des vorliegenden Buches aus.

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3.4.4 Das doppelte Bezugsfeld EU-relevanter Entscheidungen Wie bereits erläutert wurde, ist die genaue Anzahl der deutschen Gesetzesentschei-

dungen mit EU-Bezug nicht eindeutig zu ermitteln (Kap. 3.4.1). Wenig Zweifel besteht jedoch daran, dass die Relevanz der EU-Ebene für die Gesetzgebung insgesamt beträchtlich ist. Angesichts dessen ist erstaunlich, in welch geringem Maße die spezifischen Besonder-heiten des politischen Entscheidens unter der Nebenbedingung einer auf der EU-Ebene vorgelagerten Zyklusphase thematisiert wurde (vgl. jedoch Töller 2004; Auel 2006a). Auch in den ausführlichsten Darstellungen des Willensbildungsprozesses findet der EU-Bezug von Gesetzesentscheidungen keinen rechten Niederschlag (Beyme 1997; Hesse/Ellwein 2004: 118-307). Formal ist dies sicher zu rechtfertigen, denn die Übertragung von EU-Richtlinien in deutsches Recht kennt kein gesondertes Verfahren. Zusätzlich haben die langen Regierungszyklen der Bundesrepublik dafür gesorgt, dass sich die Mehrheitskons-tellationen zwischen der EU-Entscheidung und der nachholenden Umsetzung nur selten geändert haben. Für Reflektionen über abweichende Handlungslogiken zwischen „norma-ler“ und Richtliniengesetzgebung gab es daher auch selten Anlass.

Dabei sind Unterschiede bei der Behandlung von ausschließlich national bezogenen und EU-induzierten Gesetzesvorlagen durchaus relevant. Sie sind auf den doppelten Bezug zurückzuführen, der ihnen wegen des EU-Vorverfahrens und des nationalen Hauptverfah-rens innewohnt. Wenn die formale Ebene nicht betroffen ist, müssen die Unterschiede auf voneinander abweichende Handlungslogiken auf den beiden Ebenen zurückgehen. Sie be-stimmen zunächst die inneren Strukturen des Parlaments, das sich in seit dem Maastrichter Vertrag bedeutenden parlamentsinternen Reformen unterworfen hat (Töller 1995; Hans-meyer 2001; Hölscheidt 2001a; Hölscheidt 2008b); sie werden in Kap. 8.2 ausführlicher diskutiert. Daneben sind jedoch in einer grundsätzlicheren Art und Weise die unterschiedli-chen Handlungshorizonte der Abgeordneten bei EU-relevanten Vorhaben zu beachten. Sie beziehen sich generell auf die Verhältnisse des Parlaments zur Regierung einerseits und zum Projekt der europäischen Integration anderseits, und institutionelle Reformen können wenig an den abweichenden Gesetzmäßigkeiten ändern.

Erstens werden die Abgeordneten – sie sind formal die Entscheidungsberechtigten – in einem sonst nicht bekannten Maß auf Loyalität zur ihrer Regierung verpflichtet. Einer-seits wirken mit dem Bundestag, den Ländern und den Bundesministerien verschiedene Akteure der deutschen Ebene bei der Willensbildung auf der EU-Ebene mit (Mau-rer/Wessels 2001; Thomas/Wessels 2006). Andererseits ist es in formaler Hinsicht die deutsche Diplomatie, die auf EU-Ebene verbindliche – und die Bundesrepublik als Ganzes bindende – Entscheidungen verhandelt. Damit fallen die Entscheidungen der ersten Zyk-lusphase als außenpolitische Entscheidungen. Aus Sicht der Exekutive können sie damit jederzeit in den Rang der Staatsraison erhoben und so dem politischen Wettbewerb entzo-gen werden. Die Infragestellung einer auf EU-Ebene einmal getroffenen Entscheidung ist daher mit einer ungleich höheren Illoyalität gegenüber der eigenen Regierung verbunden als dies bei einem normalen Gesetzesentwurf je der Fall sein könnte. Der Sachverhalt be-trifft nicht nur das mögliche Einspruchverhalten der Opposition, sondern in vielleicht noch stärkerem Maße das Erzwingen von Zustimmung durch Abgeordnete von Regierungskoali-tionen. Eine derartige Kritik an EU-Richtlinien bedeutet dann nicht nur ein Handeln im Rahmen der üblichen checks and balances, sondern könnte gleichzeitig als Signal für euro-papolitische Unzuverlässigkeit an die übrigen Mitgliedstaatregierungen gedeutet werden.

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Zweitens birgt die der doppelte Charakter von EU-Richtlinien als Bezugs- und Gestal-tungsbereich einen stetigen Reibungspunkt mit dem integrationsfreudigen Grundverständ-nis deutscher Europapolitik. Im Grunde handelt es sich dabei um denselben Konflikt, mit dem sich die Regierungsakteure auf der EU-Ebene ebenfalls auseinanderzusetzen haben. Gegenüber der Kommission als Hüterin der Gemeinschaft ist ein zu kritisches Auftreten untypisch, und bestimmte Konflikte mit bestimmten europäischen Partnerländern können nicht unbegrenzt eskaliert werden. Andernfalls müsste sich die deutsche Europapolitik ein anderes Selbstbild, z.B. eines der prioritären Vertretung von Eigeninteressen, zulegen.30 Innerhalb der Bundesregierung lässt sich dem Interessenkonflikt leicht begegnen – letztlich steht das Kanzlerprinzip als Endpunkt eines jeden internen Konflikts im Raume. Im Parla-ment jedoch beruht die Kompromissbildung gerade auf dem Austragen von gegensätzlichen Positionen. In der Europapolitik aber wird die Bandbreite politischen Streits systematisch eingeschränkt. Als Folge kommt es zu einer teilweisen Depolitisierung oder, anders gesagt, zur Prädominanz der technokratischen über die auf politischen Positionen rekurrierenden Willensbildung. Daraus folgt, dass europapolitische Dossiers für Abgeordnete und Fraktio-nen an Attraktivität verlieren, da geringere Möglichkeiten zu Profilierung gegenüber den Wählern bestehen.

Drittens, und damit verbunden, führt die generelle Integrationsfreundlichkeit die par-lamentarischen Akteure der nationalen Arena dazu, das EP als den eigentlichen Ort parla-mentarischer Auseinandersetzung in Europa zu sehen. Seit das EP mit dem Mitentschei-dungsverfahren über weiter reichende Möglichkeiten zur Kontrolle der Kommission und des Rates sieht, trifft auch das Argument des eingeschränkten Aktionsradius des EP nur noch eingeschränkt zu. Das aber wiederum bedeutet, dass nationale Abgeordnete bei einer kritischen Revision von EU-Vorhaben auch ihre Parteifreunde aus dem EP mit überwachen. Dann ist es leicht möglich, im nationalen Gesetzgebungsrahmen noch einmal Kritikpunkte des EP aufzunehmen, die sich im Kompromissverfahren der EU-Ebene nicht durchsetzen konnten. Eine konträre Haltung zum EP würde indes erneut an den Grundfesten der grund-sätzlichen Integrationsfreundlichkeit rühren.

Viertens existiert eine prozedurale Abweichung EU-relevanter Gesetzgebungsverfah-ren von „normalen“, nicht EU-bezogenen Vorhaben. Durch die verfahrensgemäß lange Dauer zwischen der Verabschiedung einer Richtlinie und der Transposition durch die na-tionale Gesetzgebung besteht ein – im Vergleich zu rein nationalen Dossiers – größeres Risiko dafür, dass sich Entscheidungsgrundlagen ändern. In technisch anspruchsvollen Regelungsbereichen können sich zum einen Wissensbestände weiterentwickeln. Zum ande-ren, und wichtiger, können sich über die Zeit jedoch auch Beurteilungsmaßstäbe verändern. Viele Dossiers, die zwischen Kommission, Rat und EP einem langwierigen Aushandlungs-prozess unterliegen, entgehen zunächst der politischen Öffentlichkeit. In nationalen Öffent-lichkeiten ist dagegen der Aufmerksamkeitsspalt breiter, sodass mitunter erst dort „politi-sche“ – nicht technische – Aspekte zur Sprache kommen. Unterstützt wird die Tendenz durch die weitgehende Abwesenheit „politischer“ Konfliktregelung auf der EU-Ebene (vgl. Kap. 3.3.3). Als Beispiele für eine nachträgliche Umbewertung europäischer Vorhaben

30 Natürlich geschieht genau dies bis zu einem gewissen Grade im politischen Alltagsgeschäft der EU. Wenn allerdings – wie stets in den letzten zwanzig Jahren – Vertragsrevisionen zur Vertiefung der Integration auf der mittelfristigen Agenda stehen, findet zu starker Eigennutz eine systematische Grenze. Im einstimmigen Verfahren der Vertragsveränderungen kommt es gerade darauf an, den europäischen Partnern die Unschädlichkeit weiterer Vertiefungen für deren eigene Interessen vor Augen zu führen.

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lassen sich die Feinstaubrichtlinie oder die Dienstleistungsrichtlinie nennen. In beiden Fäl-len entspannte sich der innenpolitische Streit erst, als auf EU-Ebene eine Einigkeit prak-tisch bereits erzielt war. Wegen der exekutiven Dominanz in der europäischen Willensbil-dungsphase, aber auch wegen begrenzter Ressourcen zum Screening von weit entfernten EU-Vorhaben, entgleitet dem Parlament somit die Kontrolle über den Inhalt eines Teils seiner Agenda.

3.5 Implementation: administrative Umsetzung und Kontrolle

Nach den Phasen der Willensbildung und Entscheidung zunächst auf EU-Ebene, dann in der nationalen Arena, schließen sich die Schritte der Umsetzung sowie der Überprüfung an. Der erste Aspekt betrifft erneut die Exekutive, allerdings in stärkerem Maße die Verwal-tungs- als die Regierungsseite. Die Überprüfung im europäischen Politik-Zyklus kommt – abweichend zu den Gepflogenheiten rein nationaler Systeme – zu einem Teil ebenfalls der Exekutive zu, nämlich der Kommission als derjenigen Institutionen, die „für die Anwen-dung [des EG-Vertrags] sowie der von den Organen (…) getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen hat“ (Art. 211 EGV). Erst nachdem die Kommission ihre Möglichkeiten zur Bin-dung der Nationalstaaten an das Sekundärrecht (Verordnungen, Richtlinien, Entscheidun-gen) erschöpft hat, steht der Weg der richterlichen Überprüfung durch den EuGH offen (Art. 227 EGV Satz 2). Insgesamt ist daher von einer Vielfalt an Institutionen zur Imple-mentation und deren Kontrolle auszugehen. Umgesetzt werden Rechtsakte in der Bundes-republik in aller Regel durch die Bundesländer; überwacht werden sie dabei durch die Bun-desregierung (Art. 84 GG). Bei der für (häufig) Erarbeitung und (immer) Umsetzung zu-ständigen Behörde auf der EU-Ebene handelt es sich jedoch um die Kommission, die daher den beiden Instanzen der deutschen Verwaltungsexekutive gleichzeitig vor- und nachge-schaltet ist. Neben den drei Institutionen der Implementation stehen – neben der Kommis-sion in ihrer Überprüfungsfunktion – zwei judikative Institutionen, nämlich die verschiede-nen Stränge der deutschen Gerichtsbarkeit sowie in letzter Instanz der EuGH.

Als grundlegend für die Möglichkeit der EU-Ebene, Akteure auf der nationalen Ebene zu kontrollieren, ist der Vorrang von Gemeinschaftsrecht vor dem nationalen Recht anzu-sehen. Das entsprechende Hierarchieverhältnis geht weniger auf primärrechtliche Veranke-rung zurück als auf Rechtsprechung des EuGH, deren faktische Geltung die Mitgliedstaaten mit unterschiedlicher Bereitwilligkeit anerkannt haben (Hix 2005: 128-134). Für das Ver-ständnis von Implementationsprozessen ist eine Unterscheidung von europäisch-gemeinschaftsrechtlichen und national-verfassungsrechtlichen Belangen angebracht. In gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht brachte zuerst das Verfahren Costa/ENEL im Jahre 1964 einen Richterspruch des EuGH hervor, bei dem dieser dem Gemeinschaftsrecht den Status einer „autonomen“ Rechtsordnung und damit den Mitgliedstaaten eine „endgültige Be-schränkung ihrer Hoheitsrechte“ durch den EG-Vertrag attestierte (Pechstein/Koenig 2003: 1-3).

Diese in den folgenden Jahren auf viele Bereiche ausgedehnte Rechtsprechungspraxis verlagerte die Rechtfertigungspflicht nationaler Verwaltungen. Neben dem nationalen Ge-setzgeber wurde die europäische Implementationskette von der Kommission zum EuGH zur zweiten Referenz für die sach- und zeitgerechte Umsetzung politischer Entscheidungen. Zu beachten sind dabei keineswegs nur Richtlinien und ihre Transposition in nationales

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Recht. In seinen gemeinschaftsrechtlichen Entscheidungen hat der EuGH vielmehr bewirkt, dass a) primärrechtliche Vorschriften bzgl. der vier Grundfreiheiten des EGV unmittelbar anwendbar sind, dass b) ein allgemeiner Anwendungsvorrang von Gemeinschaftsrecht vor nationalem Recht besteht, dass c) Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das Gemeinschafts-recht haftbar gemacht werden können, und dass d) in Einzelfällen auch Richtlinien unmit-telbare Wirkung entfalten können (Wagener/Eger/Fritz 2006: 143-146). In gemeinschafts-rechtlicher Hinsicht kann die EU-Ebene somit in der Tat überall dort als hierarchisch über-geordnet gelten, wo Nationalstaaten Kompetenzen an die EU abgegeben haben.

Wo dies jedoch nicht – oder nur in indirekt abgeleiteter Form – geschehen ist, besteht eine weitaus größere Unsicherheit der rechtlich verbindlichen Kontrollfähigkeit. Das be-trifft zunächst die staatsrechtliche Ebene der Primärverträge, auf der die Frage der „Kompe-tenz-Kompetenz“ (der Fähigkeit zur Verschaffung neuer Kompetenzen, vgl. Pech-stein/Koenig 2000: 284), nicht endgültig entschieden ist. Denkbar wäre dabei eine eindeu-tige Souveränitätszuschreibung entweder an die Nationalstaaten oder die EU als Rechtsper-sönlichkeit. Auch der Reformvertrag vermeidet jedoch eine eindeutige Zuschreibung. Dabei geht es nicht allein um reale Kompetenz- oder Souveränitätsfragen, sondern auch um die rechtssystematische Ableitung von EU-Rechtsnormen. Bis zur Schaffung der Europäischen Grundrechtecharta31 hat es auf der europäischen Ebene eine eindeutige Hierarchiestellung grundrechtlicher Belange nur in eingeschränktem Maße gegeben.32 Das Bundesverfas-sungsgericht beschied im Jahre 1986 in seinem Urteil „Solange II“, das Gemeinschaftsrecht leiste einen „wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemein-schaft generell“ (BVerfGE 73, 387). Im bis heute uneingeschränkt gültigen Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1993 wird Bindung politischer Herr-schaft an den nationalen Souverän unterstrichen. Die deutsche Staatswissenschaft hat dies immer wieder als Begrenzung des Vorrangs europäischen Rechts in den Kernbereichen politischer Verantwortlichkeit interpretiert (Ipsen 1994; Kirchhof 1994).

Damit besteht in allen Bereichen eingeschränkter Souveränitätsabtretung zwischen EU-Ebene und nationaler Arena – der Verfassungsentwurf sowie der EU-Reformvertrag sprechen von „Bereichen mit geteilter Zuständigkeit“ – eine lediglich eingeschränkte politi-sche Hierarchie. Aus Sicht der umsetzenden Verwaltung besteht kein Anlass, die EU-Ebene automatisch und uneingeschränkt als letzte Instanz der Rechtsetzung anzusehen. Vielmehr können die Ebenen bei der Interpretation von Rechtsakten in Konflikt geraten. Auf der einen Seite stehen in der Regel die Gemeinschaftsinstitutionen, die sich auf allgemeine friedens- und wohlstandschaffende Implikationen der europäischen Rechtsordnung sowie der Integration insgesamt berufen können. Auf der anderen Seite befinden sich Mitglieds-regierungen, die sich in regelmäßigen Abständen direkt durch Wahlen legitimieren lassen müssen. Die unterschiedlichen Quellen der Legitimation sind für unterschiedliche Strate-gien und Handlungslogiken der Akteure beider Ebenen verantwortlich; sie lassen sich in den zwei Phasen der Umsetzung und Durchführung sowie der Kontrolle darstellen.

31 Siehe http://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf. 32 Nach dem gegenwärtigen Stand (Oktober 2007) soll die Grundrechtecharta über einen Verweis aus dem EU-Reformvertrag rechtskräftige Wirkung erhalten; drei Mitgliedstaaten (Großbritannien, Polen, Tschechien) erwägen einen Opt-out.

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3.5.1 Umsetzung und Durchführung

Wie alle Instanzen des europäischen Policy-Zyklus ist auch diejenige der Umsetzung mit anderen Phasen eng verbunden. Die deutschen Bundesländer setzen deutsche Gesetze nicht ohne vorherige intensive Konsultation mit dem Bund um, und ähnlich wird die ausführende Verwaltung im Nationalstaat bereits auf EU-Ebene eingebunden. Dabei sind mehrere Di-mensionen zu unterscheiden. Erstens bezieht die Kommission, wie weiter oben bereits ausgeführt wurde (Kap.

3.3.1), noch vor dem Entwurf einer Gesetzesvorlage Expertengruppen mit dem Ziel der Vorbereitung von Initiativen ein. Typischerweise entstammen die einberufenen Experten der nationalen Administration, sodass bereits hier auf Fragen der späteren Implementierung eingegangen werden kann.

Zweitens werden Länderbeamte während der Phase der Ratsentscheidung in der deut-schen EU-Botschaft in den Prozess der Entscheidungsfindung einbezogen. Zusätzlich können die Ständigen Vertretungen der 16 Bundesländer auf die Bundesregierung und andere Institutionen einwirken, wenn Implementationsbelange berührt werden. Diese Einwirkungsmöglichkeiten betreffen den gesamten Policy-Zyklus.

Drittens, und für die Vernetzung der Ebenen am wichtigsten, werden im System der Komitologie die Umsetzungsinstanzen der Nationalstaaten systematisch in die Überle-gungen der Kommission einbezogen (vgl. Pedler/Schaefer 1996; Dinan 2000a).33 Im engen Sinne umfasst die Komitologie alle jene Ausschüsse, in denen es um die Opera-tionalisierung von (allen Typen von) Rechtsakten in den Mitgliedstaaten geht. In ihnen werden „Rechtsbegriffe konkretisiert, Zuständigkeits-, Organisations- und Verfahrens-fragen für die tatsächliche Anwendung geregelt“ (Thomas/Wessels 2006: 105). Die Zahl der Komitologie-Ausschüsse unterliegt einer hohen Fluktuation. Mitte der 1990er-Jahre lag sie bei 380, und bei der Zählung von Unterausschüssen bei über 1000 (Hix 1999: 41-42). Im Jahre 2000 war sie auf 224 gesunken (Hix 2005: 53), zum Jahr 2003 wieder auf 256 gestiegen (Thomas/Wessels 2006: 107).34

Seit der Einführung der Komitologie im Jahr 1987 bestehen unterschiedliche Ausschusstypen, die sich seit einem Ratsbeschluss aus dem Juli 2006 in Beratende Ausschüsse, Verwaltungsausschüsse, Regelungsausschüsse und Ausschüsse für Rege-lungsfragen mit Kontrolle ausdifferenzieren.35 Die Ausschüsse unterscheiden sich hin-sichtlich ihrer Bindungswirkung für die Kommission, die sich je nach Votum der Aus-schüsse mit dem Rat oder dem Rat sowie dem EP auseinandersetzen muss. Die letz-tgenannten – 2006 ins Leben gerufenen – Ausschüsse für Regelungsfragen mit Kont-rolle stellen dabei Rat und EP gleich. Unter Entscheidungsgesichtspunkten wird das Komitologie-Verfahren als nicht-hierarchisches und deliberatives System gesehen

33 Mitunter wird der Begriff der Komitologie – mitunter pejorativ – als Oberbegriff für das Ausschusswesen in und bei der Kommission verwendet. Hier, und in den zitierten Texten, bezeichnet der Begriff ausschließlich jene Ausschüsse, die bei der Kommission mit der Vorbereitung von Implementationshandeln befasst sind und per Komitologiebeschluss eingesetzt wurden. 34 Die starken Schwanken gehen auf verschiedene Reformen zurück, hier vor allem auf die unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen einer Ratsentscheidung aus dem Jahr 1999 (Ratsentscheidung 1999/468/EC, vgl. Hix 2005: 52-58). 35 Auflistung und Erläuterung finden sich auf der EU-Homepage: http://europa.eu/scadplus/glossary/comitology_ de.htm, download am 28.09.2007.

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(Joerges/Neyer 1998). Damit ist angedeutet, dass sich Verwaltungskulturen an die Er-fordernisse der EU-Ebene anpassen können.

Viertens ist die deutsche Ebene zu beachten. Über den Bundesrat sowie zahlreiche Bund-Länder-Kommissionen bestehen Möglichkeiten für die später ausführenden Länder, den der EU-Ebene verpflichteten Bund zu einvernehmlichen Regelungen be-züglich der Implementation zu bringen (im "kooperativen Föderalismus", vgl. z.B. Laufer/Münch 1997). Generell beziehen sich die Einflussmöglichkeiten der Länder auf den Bund ebenfalls über den gesamten Politik-Zyklus und müssen dies auch, weil aus Sicht der Länder inhaltliche und längerfristige Planungsfragen untrennbar mit ihrer Implementationsaufgabe verbunden sind („Ausführung als eigene Angelegenheit“, Art. 84 GG). Generell hat auch hinsichtlich der Umsetzung von Sekundär- und Tertiärrecht zu ge-

lten, dass weite Ermessensspielräume dort bestehen, wo sich die Waagschalen der „freien und gebundenen Verwaltungstätigkeit“ (Forsthoff 1973) zugunsten ersterer neigen. Freilich geschieht dies je nach Dossier und Materie in unterschiedlichem Umfang, wobei „Generali-sierungen über den Vollzug von Gesetzen kaum möglich“ erscheinen (Beyme 1997: 313). Leider lassen sich also keine allgemeinen Aussagen – z.B. nach Politikfeldern – über die Rechts- bzw. Politikgebundenheit von Implementation treffen. Generell steht eine zieladä-quate Umsetzung von EU-Recht in regionale Umsetzungsschemata vor Herausforderungen, die im nationalen Kontext nicht gegeben sind. Zu nennen sind das fremdsprachige Ele-ment,36 die räumliche und kulturelle Ferne von Landesverwaltungen nach Brüssel, und im Zweifelsfall wenig passgerechte Formulierungen von Verordnungen und Richtlinien. Im Gegenzug lassen jedoch das Subsidiaritätsprinzip (Art. 2 EUV) und das kommunale Selbst-verwaltungsrecht des Grundgesetzes (Art. 28 GG) zu, dass die EU-Ebene über die konstitu-tionelle Schiene die Spielräume der Verwaltung einengt. Die intensive Rückkopplung über die Komitologie und den verflochtenen Bundesstaat mildert dabei die Wahrscheinlichkeit prozeduraler, bzw. „technischer“, Unzulänglichkeiten.

Wenn die Implementation dennoch als problematisches Element des europäischen Po-litik-Zyklus auftaucht, liegt das allerdings weniger an technischen als an politisch in Kauf genommen und sogar gewollten Nichterfüllungen von Normen und Entscheidungen der EU-Ebene. Über den Begriff der Compliance ist in Kap. 2 schon gesprochen worden. Im EU-Kontext steht er für die Umsetzung transnationaler Rechtsakte in national gültige na-tionale (Gesetzes-)Normen. Der Begriff deckt damit beide Ebenen der Umsetzung ab: die Transposition europäischen in nationales Recht (den output) sowie die Umsetzung der aus europäischem oder nationalem Recht erwachsenen Normen in die Realität (den outcome).

Aus Sicht der Gemeinschaftsinstitutionen wird die Compliance als Prozentsatz umge-setzter Rechtsnormen wertet. Je niedriger eine Umsetzungsquote, desto höher die vom Sys-tem unerwünschte Abweichung zum Idealzustand, den ja in der Willensbildungsphase die Regierungen und das EP i.d.R. konsensual festgelegt haben. Folglich wird aus einer Fest-stellung der Kommission, dass ein bestimmter EU-Rechtsakt nicht umgesetzt sei, ein vor dem EuGH justiziabler Tatbestand.

Von dieser idealisierten Sichtweise weicht die politik- und verwaltungswissenschaftli-che Compliance-Forschung indes deutlich ab. Empirische Untersuchungen zeigen, dass 36 In den Amtssprachen erscheinen lediglich die sekundärrechtlichen Akte selbst. Arbeitspapiere, Ausschussbe-richte u.ä., aus denen für Verwaltungsbeamte die Hintergründe von Verordnungen oder richtlinienrelevanten Gesetzen hervorgehen können, liegen dagegen i.d.R. nur auf englisch und/oder französisch vor.

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nationale Regierungen beim Umgang mit Rechtsvorgaben verschiedene Praktiken kennen. Die umstandslose Befolgung einer EU-Vorgabe im Sinne des von der EU-Ebene vorgege-benen Ziels stellt nur eine der denkbaren Strategien dar. Genauso praktiziert werden von den Akteuren die Strategien des „Abwartens“ und der „eigennützige Abwandlung“ ("fence-sitting" und "foot-dragging", siehe Börzel 2002a). Beide Praktiken sind weniger als abwei-chendes Verhalten denn als Folge des generellen Funktionswandels Staates zum Steue-rungs- und Umverteilungsstaat zu werten. Nicht nur in der Transposition von EU-Recht, sondern auch in der Implementation nimmt die Verwaltung heute in starkem Maße politi-sche Verantwortung wahr. Neben anderen Funktionen wird daher die „politische Verwal-tung“ als jener Teil der Exekutive gesehen, in dem „Führungshilfe, Entscheidungsvorberei-tung für die politische Spitze sowie Beobachtung und Planung“ ihren Platz haben. Verwal-tung ist dort „durch die Nähe zur Politik definiert“ (Zitate bei Hesse/Ellwein 2004: 314), und politische Überlegungen stehen mit Rücksichtnahmen auf das geltende Recht mögli-cherweise in einem Reibungsverhältnis.

Insofern steht aus der Sicht politisierter administrativer Akteure durchaus in Frage, ob und mit welcher Intensität eine Anpassung an europäische Zielvorgaben überhaupt anzust-reben ist. Nicht bei allen Regelungsmaterien liegen auf EU-Ebene und in den einzelnen Regionen homogene Betroffenheitsgrade vor; folglich eine Umsetzung in unterschiedli-chem Maße als notwendig empfunden. Die formale Übertragung kann in solchen Fällen unvollständig sein, wenn das ursprüngliche Ziel oder der Nutzen einer Maßnahme aus Sicht der administrativen Akteure nicht unmittelbar einleuchten. Daneben, und vielleicht wichti-ger, können bestimmte Regelungsanforderungen jedoch auch in konkreten Konflikt mit anderen politisch-administrativen Zielen geraten. Zum Beispiel können sich bei der Umset-zung von Politik umwelt- und verkehrspolitische Aspekte aneinander reiben, wie der fort-dauernde Kampf um die Implementation der Feinstaubrichtlinie quer durch Europa zeigt. Implementations-Zielkonflikte können zudem eine transnationale Dimension erhalten. Be-sonders detailgenaue Implementationspraktiken in einer Region führen möglicherweise zur Benachteiligung der regionalen Wirtschaft, wenn die konkrete Implementation in Nachbar-staaten (oder deutschen Nachbarregionen) dort zu niedrigeren Regelungsniveaus führt (das spieltheoretische Problem wird ausgeführt bei Hix 2005: 111-115).

Gemeinsam ist allen genannten Implementationspraktiken, dass eine Abweichung von vermeintlichen Zielvorgaben auf das rationale Kalkül politisch-administrativer Akteure zurückgehen kann, dass sich die Ziele der EU-Ebene und der lokalen Implementierer mithin unterscheiden. Zunächst erscheint dabei die Kommission als Wettbewerbshüter und gene-rell als Hüter der Verträge als der mächtigere Akteur, wenn es um die Interpretation von Umsetzungsergebnissen geht. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass die Kom-mission sich nur in begrenztem Umfang auf offene Konflikte einlassen kann. Besonders in Deutschland mit den quasi-souveränen Bundesländern verfügen höherrangige politisch-administrative Akteure über nicht geringe Legitimationsressourcen. In der Regel handelt es sich um a) demokratisch legitimierte Instanzen (nämlich Landesregierungen), die b) über einen großen Informationsvorsprung gegenüber der Kommission verfügen Außerdem ist die Kommission c) im Rahmen der Expertengruppen und der Komitologie auf eine grund-sätzlich konstruktive Haltung nationaler Administratoren angewiesen. Diese drei Gründe sorgen dafür, dass zum Zeitpunkt der Verabschiedung einer EU-Richtlinie noch nicht zwangsläufig feststeht, worin genau die später einmal umzusetzenden Elemente bestehen. Vielmehr wird i.d.R. auch hier, wie an den meisten anderen politischen Orten der EU, mit

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dem Ziel der konsensualen Entscheidungsfindung argumentiert und verhandelt (vgl. noch-mals Joerges/Neyer 1997).

Folgerichtig hat sich die Bewertung von Praktiken der Implementation über die Jahre gewandelt. Besonders instruktiv erscheinen Beobachtungen aus dem Bereich der Umwelt-politik. Dort sind Implementationsdefizite lange besonders virulent gewesen. Auf der einen Seite wurden dafür die unterschiedlichen administrativen Strukturen der Mitgliedstaaten verantwortlich gemacht, sodass in deren stärkerer Vereinheitlichung der Königsweg zu einer homogeneren Implementation gesehen wurde (Collins/Earnshaw 1992; Barbagello 1996). Auf der anderen Seite hat sich die Kommission gerade nicht in der Lage gesehen, „von oben“ strukturelle Änderungen in den Mitgliedstaaten durchzusetzen. Statt einseitig – oder mithilfe des EuGH – Anpassungen in den Mitgliedstaaten zu erzwingen, wurde viel-mehr seit dem Fünften Umweltpolitischen Aktionsprogramm der EU aus dem Jahre 1993 eine „Abkehr von klassischen Formen interventionistischer 'top-down' Steuerung zugunsten von kontextorientierten 'bottom-up' Ansätzen“ vorgenommen (Knill/Lenschow 1999: 592).37 Es ist also nicht nur die Wissenschaft, die hinsichtlich der 1:1-Durchsetzung von EU-Recht skeptischer geworden ist. Die Kommission selbst hat es zu ihrer Strategie erho-ben, Regelungsmaterien als stets verhandelbares Governance-Problem anzusehen (siehe z.B. Commission 2001).

Aus alledem folgt, dass die Analyse von EU-induzierten Implementationsvorgängen Differenzierungen bereithalten muss. Allein die Konzentration auf geschriebene Implemen-tationsanweisungen in Form von EU-Verordnungen oder Durchführungsgesetze von Rich-tlinien reicht nicht aus. Vielmehr kann eine Bewertung auf der Grundlage verschiedener Wirkungsaspekte beruhen; so ist zu unterscheiden zwischen Effizienz und Effektivität, zwischen Gesetzeszweck und –ziel sowie zwischen Output, Impact und Outcome (vgl. Seibel 1984: 64). Nicht alle Wirkungsaspekte können gleichzeitig erreicht werden, und für die Beurteilung – durch die Kommission, durch Implementationsakteure, durch die Wissen-schaft – kommt es in hohem Maße darauf an, welches Kriterium dominant herangezogen wird.

Jedenfalls erscheint es im Lichte der möglichen Differenzierungen verkürzt, ein Im-plementationsergebnis ausschließlich dann als adäquat anzusehen, wenn eine Verordnung oder eine Richtlinie in nationales Recht überführt und dort ein unbeanstandetes Dasein fristet. Das hieße, die formale Dimension überzubewerten, denn dann wäre die Abwesen-heit von Nicht-Implementation oder eines Vertragsverletzungsverfahrens gleichzusetzen mit erfolgreicher EU-Gesetzgebung. Um Rechtsakte adäquat beurteilen zu können, werden die verschiedenen Dimensionen qualitativ herangezogen werden müssen: Effizient ist ein Rechtsakt, wenn für die Erreichung eines Zieles nicht zu viele Res-

sourcen aufgewendet werden müssen. Man wird sich beispielsweise fragen müssen, ob das Gros regionalpolitischer Maßnahmen zur Heranführung Griechenlands an den Le-bensstandard Westeuropas gerechtfertigt war, wenn der relative sozio-ökonomische Abstand sich seit dem Beitritt des Landes kaum geändert hat (Bornschier 2000).

Effektivität ist das Kriterium für die Erreichung eines deklarierten Ziels. Die vielen Maßnahmen der EU zur Gewährleistung der Freizügigkeit stehen z.B. in Kontrast zur

37 Knill/Lenschow (1999: 614) kommen allerdings zu dem Ergebnis, dass Steuerungsanspruch und -wirklichkeit mit einfachen Idealtypen wie „top-down“ oder „bottom-up“ nicht in Übereinklang zu bringen sind, sondern dass die Anpassungskapazität nationaler Institutionen der Schlüssel für effektive Implementation von EU-Vorgaben sind.

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häufig anzutreffenden Notwendigkeit bei Studien- oder Arbeitsaufenthalte im Aus-land, sich ausländer- und melderechtlichen Prozeduren zu unterziehen.

Der Zweck eines Gesetzes kann sich auf den Einsatz bestimmter Instrumente beziehen (z.B. auf die Messung von Feinstaubemissionen in Großstädten), was allerdings mit der Erreichung eines bestimmten Zustandes (z.B. einem geringen Maß an Verschmut-zung) nicht zwingend in einem direkten Zusammenhang steht.

Der Output in Form eines regionalen Gesetzes- oder Verordnungstextes sowie daraus folgenden lokalen Handlungen kann zum Outcome – den real zu beobachtenden Aus-wirkungen eines Gesetzes – ebenfalls in einem Spannungsverhältnis stehen. Viele Richtlinien zur Gleichstellung der Geschlechter sind in der EU in nationales Recht transferiert worden; trotzdem variiert die tatsächliche Gleichstellung beträchtlich, und der Impact auf die Verhaltensweisen betroffener Gruppen unterscheidet sich ebenfalls von Land zu Land (Klein 2006). Kontingent wird damit nicht die Umsetzung an sich, sondern die Entscheidung, welche

Zielvorgabe zum Maßstab für geglückte oder misslungene Implementation herangezogen wird. Zentral wird die Frage, welcher Akteur welche Ziele hat vorgeben können, und inwie-fern die Kommission als Hüterin der Verträge gleichzeitig als Agentin jedes einzelnen Normakts der EU-Ebene anzusehen ist. Hier kommt es auf die Definition des Ziels an und auf die Bestimmung desjenigen Akteurs, der die Definitionsmacht über das Ziel innehat. Dies ist keineswegs ausschießlich die Kommission, da sie im Willensbildungsprozess überwiegend auf das Initiativrecht beschränkt ist. Im Prozess der Komitologie muss sie mit den Mitgliedstaatsregierungen auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Sie kann damit koordinieren und moderieren, jedoch nur in geringem Maße originäre Ziele ohne Rückhalt in den Regierungen verfolgen. Diese jedoch vermögen, wie an vielen Beispielen gezeigt wurde (Angres/Hutter/Ribbe 1999), im Rahmen des Willensbildungsprozess durchaus machtvoll ihre Eigeninteressen in Verordnungen und Richtlinien einzuweben. Auch das EP ist selbstredend in der Lage, die Outputs der EU-Ebene mit zu beeinflussen (siehe z.B. Langguth 2007). Daher muss im Zweifelsfall einzeln geprüft werden, wann und im Sinne welchen Akteurs ein Outcome tatsächlich zielführend gewesen ist. Wie in Kap. 7.1 ausge-führt wird, gibt es deutliche Hinweise auf systematische Abweichungen zwischen europä-ischen Vorgaben und den von der deutschen Regierung vertretenen und durchgesetzten Präferenzen.

Bei alledem kommt nun die oben getroffene Unterscheidung zwischen einer europä-isch-gemeinschaftlichen und einer national-verfassungsrechtlichen Orientierung politischer Verwaltungen zum Tragen. In vielen Fällen, und zwar besonders im rein gemeinschafts-rechtlichen Bereich, vermag die Kommission sich auf ihre Rolle als Hüterin und damit gewissermaßen bevorzugte Interpretin des Gemeinschaftsrechts berufen. Die Möglichkeit einer späteren Kontrolle durch den EuGH stellt dann ein scharfes Schwert dar, mit dem politisch-administrative Steuerung durch Brüssel maßgeblich mitbestimmt wird. Diese Grundkonstellation gilt aber nicht überall. Bei solchen Verordnungen bzw. Gesetzen, die Bereiche mit lediglich teilweisen EU-Kompetenzen betreffen (z.B. bei der Kooperation in Strafsachen oder im großen Komplex der wirtschaftspolitischen Steuerung), ist eine dop-pelter Bezugsrahmen der politisch-administrativen Akteure prinzipiell gegeben. Die nur teilweise Übertragung von Souveränitätsrechten schlägt sich dann auch in einer nur teilwei-sen Verantwortlichkeit der ausführenden Exekutive wieder. Eine nationale Verwaltung sucht dann bei der Umsetzung von EU-Recht nach dem bisweilen schmalen Grat zwischen

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legalen Anforderungen von der EU-Ebene auf der einen und der größtmöglichen Vermei-dung von Regulierungslasten auf der anderen Seite. Die Kommission wird dann nicht mehr allein als Partner, sondern auch als mögliches Hindernis bei der Verfolgung eigener oder strittiger Kompetenzbereiche gesehen. Die Compliance von Mitgliedsregierungen wird davon abhängig, ob mit der Implementation von EU-Regeln auch konkrete Vorteile ver-bunden sind (vgl. Garrett/Weingast 1993). Die Prädominanz des Gemeinschaftsrechts mag vom EuGH für viele Bereiche festgestellt worden sein. Das kann jedoch nicht darüber hin-wegtäuschen, dass parallel zur formal-rechtlichen Regelumsetzung die Dimension der poli-tischen Verantwortlichkeit von Verwaltung besteht, in der die Kommission am Ende eine überaus langen Legitimationskette durchaus nicht immer die besten Karten in der Hand hat.

Insgesamt können sich die Akteure der EU-Ebene damit solange auf eine konstruktive Implementationspraktik durch die Verwaltungen der Mitgliedstaaten verlassen, wie aus der europäischen Integration Vorteile für betroffene Bevölkerungen und Wirtschaftsakteure erwachsen. Besonders in generell integrationsfreundlichen Staaten vergrößert das die Bandbreite effektiver Umsetzungsresultate, allerdings unter zwei wichtigen Nebenbedin-gungen. Zum einen muss besonders die Kommission darauf achten, eine komplementäre und gemeinschaftliche – und nicht eine konkurrierende – Legitimation zu nationalen Insti-tutionen zu wahren (Chryssochoou u.a. 2003). Der gegenwärtige Status des europäischen Integrationsprozesses legt fest, dass die Nationalstaaten die alleinige Umsetzungsverant-wortung und ein im Vergleich zur EU-Ebene weit höheres Maß an administrativen Res-sourcen innehaben. Ohne autonome Quellen der Legitimation können die Gemeinschaftsin-stitutionen ihre Akzeptanz nur dann bewahren, wenn sie ihre latente konkurrierende Positi-on zu nationalen Implementationsinstanzen nicht zu offensiv ausspielt. Zum anderen sinken damit die Aussichten auf einvernehmliche Umsetzung und Durchführung, sobald sich der Charakter von Rechtsakten von regulativen zu distributiven Maßnahmen ändert. In diesen Fällen sinkt die Bereitschaft regionaler Akteure dramatisch, mit Blick auf das europäische Gemeinwohl solche Politikergebnisse zu akzeptieren, die ihre Klientel im Vergleich schlechter stellen (Scharpf 1999b).

3.5.2 Kontrolle

Aus der Sicht des wichtigsten Akteurs der Implementationsphase, der Kommission, gehen die Phasen der Umsetzung und Durchführung auf der einen sowie der Kontrolle auf der anderen Seite ineinander über. Über die politisch-administrativen Netzwerke, die sich poli-tikfeldspezifisch um das Komitologieverfahren herausgebildet haben, verfügt sie im Vor-feld und während der Umsetzung über eine Vielzahl an Informationen zu Quantität und Qualität der zu erwartenden Durchführung. Ohne den direkten Zugriff auf nationale Ver-waltungen ist der Einfluss der Kommission indes in praktischer Hinsicht begrenzt. So kann sie – anders als dies in vertikalen Verwaltungssystemen der Fall ist – nicht auf die personel-le Zusammensetzung der ausführenden Behörden sowie deren Ressourcenausstattung Ein-fluss nehmen. Auch ist sie trotz des umfassenden Komitologieverfahrens nur sehr begrenzt in der Lage, ein eigenständiges Monitoring der Implementation von EU-Recht zu betreiben, denn die Mitgliedstaaten sehen ihre Umsetzungsautonomie als hohes Gut an. Auf dieses können sie sich auch primärrechtlich berufen, da Art. 10 EGV festlegt, dass die Mitglied-staaten „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art zur Erfüllung [ihrer]

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Verpflichtungen“ treffen, wobei insbesondere bei Richtlinien „den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel“ ausdrücklich und vollständig überlassen wird (Art. 249 EGV).

Wenngleich sich also die langfristige Handlungsstrategie der Kommission immer dar-an orientieren wird, im Einvernehmen mit den nationalen Administrationen eine Implemen-tation in ihrem Sinne durchzuführen, werden ihre Handlungsmöglichkeiten zum formalen Ende des Verfahrens immer eingeschränkter. Wenn das Umgesetzte und Durchgeführte einer Prüfung unterworfen wird, kann die Kommission unter drei Umständen tätig werden (vgl. Tab. 7): Eine Beschwerde von natürlichen oder juristischen Personen erreicht sie, wobei als

Quelle von Beschwerden eine große Bandbreite von Akteuren – Regierungen der Mitgliedstaaten, Unternehmen und Privatpersonen – in Frage kommt. Mit dem kom-missionseigenen Problemlösungsnetz „Solvit“38 besteht dabei ein Instrument, um Be-schwerden von nichtstaatlichen Stellen vor einer später möglichen Anrufung des EuGH bearbeiten zu können. In begrenztem Umfang verweist die Kommission auch Beschwerden an Solvit, die sich gegen nationale Verwaltungen richten (Commission 2004: 6). Der Anteil der Beschwerden an der ersten Kontrollinstanz der Kommission liegt ist in den letzten Jahren von etwa 60% auf etwas mehr als 40% gesunken.

Nicht-Mitteilungen über fristgerechte Umsetzungen bilden den zweiten Anlass, mit dem die Kommission ihre Kontrollfunktion einleiten kann. Seit einigen Jahren verfolgt die Kommission die Strategie, Regierungen zu einer konziseren und rascheren Umset-zung von Richtlinien zu bewegen (Commission 2004: 3). Im Resultat sind über die Jahre sowohl die absoluten wie auch die relativen Zahlen der einfachen Fristversäum-nis zurückgegangen, wobei die Nichtumsetzung einiger technischer Richtlinien in den Jahren 2003 und 2004 einen Ausnahmetatbestand bildet (ebd.). Seit 2003 ist die abso-lute Zahl von Nicht-Mitteilungen deutlich gestiegen, was von der Kommission auf die Nichtumsetzung technischer Normen zurückführt (Commission 2004: 4).

Gewissermaßen auf eigene Initiative hin wird die Kommission von Amts wegen tätig, wenn sie eine Verletzung der von ihr als solche definierten Ziele eines Rechtsaktes feststellt. Dabei spielen auch parlamentarische Anfragen, mithin Hinweise von ande-ren Gemeinschaftsinstitutionen, eine Rolle. Lange Jahre blieben die Aufdeckungen von Amts wegen mit einem Anteil von etwa 12-13% stabil geblieben und markierten damit ein – gemessen an anderen Arten der Sanktionseinleitung – vergleichsweise ge-ringes autonomes Sanktionspotenzial der Kommission. Eine Mitteilung der Kommis-sion aus dem Jahr 2002 (COM(2002)725), mit der diese eine verstärkte Überwachung der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts angekündigt hatte, ist aber seit wenigen Jah-ren verantwortlich für einen deutlich höheren Anteil von Aufdeckungen durch die Kommission (Commission 2007: 4). Die versträrkte Eigeninitiative der Kommission hat Einflüsse auf beide der zuerst genannten Instrumente. Zum einen sinkt die Zahl von Nicht-Mitteilungen, weil Mitgliedstaaten kaum noch darauf vertrauen können, ei-ner Umsetzungsfrist gewissermaßen unbemerkt zu entgehen. Zum anderen sinkt die Zahl der Beschwerden, wenn die Kommission in problematischen Bereichen eigenini-tiativ, oder auf informelle Anregungen, tätig wird.

38 Siehe http://ec.europa.eu/solvit/site/index_en.htm.

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Tabelle 6: Instrumente zur Aufdeckung von Vertragsverletzungen Jahr Summe

insgesamt Beschwerden Von Amts wegen aufgedeckte Fälle Nicht-

Mitteilung* Sum-me

in % Summe in % Davon: parl. Anfra-

gen

Davon: Petitio-

nen

Summe in %

1996 2155 819 38.0 257 11.9 22 4 1079 50.1 1997 1978 957 48.4 261 13.2 13 4 760 38.4 1998 2134 1128 52.9 396 18.6 18 7 610 28.6 1999 2270 1305 57.5 288 12.7 16 10 677 29.8 2000 2434 1225 50.3 313 12.9 15 5 896 36.8 2001 2179 1300 59.7 272 12.5 5 1 607 27.9 2002 2356 1431 60.7 318 13.5 30 20 607 25.8 2003 2709 1290 47.6 253 9.3 23 20 1166 43.0 2004 2993 1146 38.3 328 11.0 23 13 1519 50.8 2005 2653 1154 43.5 433 16.3 16 11 1079 40.7 2006 2518 1049 41.7 565 22.4 18 5 904 35.9

Quelle: Europäische Kommission (SEC (2007) 976, Annex 1, S. 3). Bis hierhin dient die Kommission gewissermaßen als alleinige Instanz zur Identifizie-

rung von Umsetzungs- oder Implementationsvergehen. Ist ein solches Vergehen aktenkun-dig geworden, wechselt nun der Ort des Kontrollhandelns in graduellen Schritten von der Kommission auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Am Ende des Verfahrens stehen mit dem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV und der Vorabentscheidung (Art. 234 EGV) zwei justizielle Kontrollverfahren im Mittelpunkt.

a) Bei den Implementationsvergehen nach Art. 226-228 EGV wird leicht übersehen, dass zwischen der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens und einem eventuellen Sanktionsbescheid durch den EuGH ein langes zweifaches Mahnverfahren existiert (für das Folgende vgl. Thomas/Wessels 2006: 123-129). Demnach hat die Kommission nach dem Anlaufen eines Verletzungstatbestandes eine Aufforderung zur Stellungnahme an den Mitg-liedstaat zu senden, dem eine Stellungnahme der Kommission – gegebenenfalls mit einer Frist zur Beseitigung des Umsetzungsvergehens – folgt. Erst nach Ablaufen der Frist, und wenn der Mitgliedstaat die Empfehlungen der Kommission nicht hinreichend befolgt, kann es vor dem EuGH zu einer Klageerhebung seitens der Kommission kommen.

Auch wenn es zu einem ersten Verfahren kommt, und wenn der EuGH eine Vertrags-verletzung einer Mitgliedsregierung feststellt, stellt das prozedurale Implementierungsge-rüst dann noch keine Compliance sicher. Anders als die oberste nationale Verwaltungs- oder Verfassungsgerichtbarkeit muss sich der EuGH bei konkreten Handlungsempfehlen zurückhalten. Schließlich legt der Vertrag die Zuständigkeit der Nationalstaaten für die Umsetzung eindeutig fest. Aus der Sicht der nationalen Verwaltungen stehen also immer noch kreativ nutzbare Spielräume zur Implementation offen. Wenn allerdings als Reaktion auf eine erste Verurteilung keine hinreichenden Maßnahmen zur Umsetzung erfolgen, kann die Kommission ein Sanktionsverfahren einleiten. Erneut wird der Mitgliedsregierung die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben, erneut hat darauf eine Stellungnahme der Kom-

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mission mit einer Fristsetzung zu erfolgen. Erst dann kann eine zweite Klage, diesmal mit Sanktionsandrohungen, erhoben werden.

Diese Zweit- oder Abhilfeverfahren nach Art. 228 EGV sind einerseits als ultimativer Handlungsimpuls zu zielgerechter Implementation zu werten. Die vom EuGH ansetzbaren Sanktionen können durchaus scharf ausfallen. Die Höhe eines Zwangsgeldes – nach Art. 228 Abs. 2 von der Kommission vorzuschlagen und vom EuGH festzulegen – bemisst sich nach den drei Kriterien Schwere des Verstoßes, Dauer des Verstoßes und der zur Verhinde-rung eines erneuten Verstoßes erforderlichen Abschreckungswirkung. Das letztgenannte Kriterium wird dabei nach dem BIP eines Landes sowie dem Abstimmungsgewicht im Rat gewichtet.39 Im Falle der Bundesrepublik können damit Tageszwangsgelder in der Höhe von bis zu max. €914.400,- verhängt werden (vgl. Calliess/Ruffert 2007: Art. 228 Rn. 11).40 Darüber hinaus hat der EuGH im Jahr 2005 erstmals dem Vorschlag der Kommission ent-sprochen, zusätzlich zu Zwangsgeldern einen Pauschalbetrag in Höhe von €20 Mio. (in diesem Fall gegen Frankreich) zu verhängen (ebd.: Rn 16).

Grundsätzlich haben indes sowohl die Kommission wie auch der EuGH im Auge zu behalten, unter welchen Bedingungen die Mitgliedstaaten rechtsgehorsam werden bzw. bleiben. Die „Anerkennung der Legitimität des vom Gericht definierten Europarechts“ ist nicht erzwinbar, denn der Union stünden „keine wirksamen Sanktionsmittel zur Verfü-gung“, wenn einzelne Mitgliedstaaten eine je eigene verfassungsgerichtliche Prüfung von EuGH-Vorabentscheidungen verfügen würden (Scharpf 2008: 10, zitiert nach Manuskript). Im Prinzip steht nationalen Regierungen daher immer die Option offen, ihre direkte Legi-timation gegen die lediglich abgeleitete Legitimation eines Verwaltungs- oder Gerichtsap-parates auszuspielen. Der EuGH muss sich also immer der Möglichkeit bewusst sein, dass nationale Regierungen (oder Verfassungsgerichte) dem Sekundärrecht und seinen Sankti-onsmechanismen nicht umstandslos folgen. Neben dem Heraufbeschwören eines europä-ischen Verfassungsmachtkampfes – bei Persönlichkeiten wie Václav Klaus in Tschechien oder Lech/Jarosław Kaczyński in Polen durchaus nicht prinzipiell auszuschließen – hat der Gerichtshof auch die Möglichkeit zu bedenken, dass aus Sicht nationaler Eliten der (sym-bolische und finanzielle) Schaden durch ein Bußgeld immer noch geringer ausfallen kann als die Nichtberücksichtigung von Erwartungen und Forderungen aus der Region, in der die Implementation eigentlich greifen sollte. Sowohl die Kommission als auch der EuGH benö-tigen also über einen einzelnen Rechtsbescheid hinausreichende Gründe, um Zwangsmaß-nahmen ohne möglichen eigenen Schaden durchsetzen zu können. In einer Phase stärkerer Integrationsskepsis können es sich beide Institutionen nur in begrenztem Maße leisten, grundsätzliche Bedürfnisse von Nationalstaaten und ihren Regierungen zu übergehen.

b) Das Mittel der Vorabentscheidung nach Art. 234 EGV wirkt einerseits direkter auf die Kontrolle von EU-Normeinhaltung, da sich Vorabentscheidungen i.d.R. auf konkrete europarechtliche Problemfälle beziehen. Das Verhalten politischer Akteure wird jedoch durch Vorentscheidungen nur indirekt konditioniert, denn es handelt sich um eine Interakti-onsform zwischen einem Gericht eines Mitgliedstaates und dem EuGH. Mithin hat die pri-vat- oder verwaltungsrechtliche Umsetzung eines EU-Rechtsakts bereits stattgefunden, und die Kontrolle ist von der Exekutive (in Form der Kommission sowie der nationalen Verwal-tung) vollends auf die Judikative übergegangen. Mithin ist die Bedeutung des Verfahrens

39 Siehe Mitteilung der Kommission zur Anwendung von Artikel 228 EG-Vertrag, SEK(2005)1658. 40 Abgerufen über Beck-Online, 11.10.2007.

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auch vorrangig in der zunehmenden Penetration nationaler Gerichte durch den EuGH ge-fasst worden (Stone Sweet/Brunell 1998). Dennoch werfen Vorabentscheidungen einen nicht zu unterschätzenden Schatten auf Umsetzungsentscheidungen voraus, indem sie durch Vertagung für eine gewissermaßen verlängerte Frist zur Geltung von EU-Recht schaffen. Durch die gestufte Gerichtsbarkeit in den Mitgliedstaaten hat ein strittiger Rechtsbestand schon mehrere Instanzen vor einem nationalen Gericht hinter sich, bevor in den langwieri-gen Prozess einer Behandlung durch den EuGH kommt.41 Dieser verweist den Fall an ein nationales Gericht zurück, welches bis zur Formulierung eines Urteils erneut einige Zeit benötigt. Die Langwierigkeit des Verfahrens gibt möglichen Benachteiligten von EU-Gesetzgebungsakten zusätzliche Zeit zur Anpassung. Aus Sicht nationaler Verwaltungen tragen Vorabentscheidungsverfahren daher seltener den Charakter eines Damoklesschwerts, wie es bei Vertragsverletzungsverfahren häufig der Fall ist.

Ein weiterer Bereich, in dem im EU-Politik-Zyklus Kontrolle ausgeübt wird, besteht über die justiziellen Verfahren hinaus in der Kontrolle von Beihilfen nach Art. 87-89 EGV. Wie die anderen Konstrollinstrumente wirft auch die Beihilfekontrolle ihren Schatten auf das Verhalten nationaler Akteure, die im Lichte möglicher Kontrollverfahren ihr Handeln an den Rahmen des Gemeinschaftsrechts – hier des Wettbewerbsrechts – anpassen. Die Besonderheit der Beihilfekontrolle besteht dabei darin, dass in der Vieldimensionalität des Binnenmarktes mit seinen vier Grundfreiheiten eine „Begünstigung bestimmter Unterneh-men oder Produktionszweige“ auch dort zutage treten kann, wo die Kompetenzen der Ge-meinschaft zunächst begrenzt erscheinen. So hat der EuGH im Jahre 1996 der Kommission gegen den Staat Frankreich Recht gegeben, als diese staatlich gewährte Zuschüsse zur Fi-nanzierung eines Sozialplans beim Unternehmen Kimberley Clark als unzulässige Beihilfe einstufte (Pechstein/Koenig 2003: 519-521). Auch im Bereich der verteilenden Sozialpoli-tik, wo die Kompetenzen der Gemeinschaft ansonsten recht bescheiden ausfallen, kann Gemeinschaftsrecht daher mittelbare Wirkungen entfalten.

Insgesamt stellen sich die Instrumente der EU-Ebene zur Kontrolle der Implementati-on als mehrstufiger Prozess dar. Am einen Ende steht ein inter-exekutiver Verhandlungs-prozess zwischen den Ebenen, mit der Kommission auf der einen und regionalen Verwal-tungsexperten auf der anderen Seite. Falls von der EU-Ebene Abweichungen von – kontin-genten – Zielbestimmungen moniert werden, und falls gleichzeitig die nationalstaatliche Verwaltung aus Nachlässigkeit oder politischem Willen keine zügige Umsetzung zu leisten in der Lage ist, ändern sich zwei Dinge. Einerseits stützt sich die Kommission mit zweistu-fig zunehmender Verbindlichkeit auf den EuGH; damit wird aus einem exekutiven ein exe-kutiv-judikativer Prozess. Andererseits ändert sich der Charakter der Kommunikation zwi-schen den Ebenen. Aus einem Konsultationsprozess zwischen auch formal gleichberechtig-ten Ebenen wird ein asymmetrischer Verhandlungsprozess, an dessen Ende der Exekutive eines Mitgliedstaates lediglich die Subordination unter die Kontrollinstrumente der EU-Ebene bleibt.

Die Unterordnung bezieht sich allerdings nicht auf alle Politikbereiche, sondern in ers-ter Linie auf solche mit eindeutig vergemeinschaftetem – und daher gemeinschaftsrechtlich kodifiziertem – Charakter. In Bereichen mit geteilter Kompetenz können dagegen die rech-tlich-formale Legitimation der EU-Institutionen sowie die direkte politische Legitimation

41 Wagener/Fritz/Eger (2006: 142) legen dar, dass dem EuGH über 70% der Vorabentscheidungsverfahren von obersten nationalen Gerichten vorgelegt werden (3.604 von 5.055 im Zeitraum von 1952 bis 2003).

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der nationalen Exekutive in ein Reibungsverhältnis zueinander geraten. In solchen Fällen müssen sowohl die Kommission als auch der EuGH nicht nur in noch verstärktem Maße auf die formalrechtlich Korrektheit möglicher Sanktionen achten. Sie müssen darüber hi-naus in ihr Kalkül einbeziehen, dass der Prozess der voranschreitenden europäischen Integ-ration auf eine allgemein wohlwollende Haltung der Mitgliedstaaten gegenüber den Ge-meinschaftsinstitutionen angewiesen ist. Mithin ist von zwei Seiten zu erklären, warum der größere Teil der Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EGV das verschärfte Stadium von Art. 228 EGV nicht erreicht. Mitgliedstaaten müssen die Möglichkeit beträchtlicher Sanktionen in Betracht ziehen, Kommission und EuGH wissen um die langfristig schädli-che Funktion eskalierender Konflikte zwischen den Ebenen. Auf beiden Seiten bestehen deutliche Anreize zur Findung eines Implementationskompromisses, was auch an dieser Stelle des europäischen Policyzyklus zum latent konsensorientierten Charakter des gesam-ten politischen Systems beiträgt.

3.6 Fazit: Der Wandel des „europapolitischen“ Paradigmas

Das im deutschsprachigen Raum autoritativste politische Wörterbuch definiert den Begriff der Europapolitik aus der Sicht eines Mitgliedstaates als „Gesamtheit der institutionellen Bedingungen, der Vorgänge und der Entscheidungsinhalte des politischen Handelns, das darauf gerichtet ist, auf Kurs und Inhalt der europäischen Integration einzuwirken“ (Schmidt 2004a: 215). Mit dem Hintergrund des europäischen Politik-Zyklus können nun mehrere Präzisierungen hinzugefügt werden.

Erstens haben sich eindeutig identifizierbare institutionelle Strukturen (und nicht le-diglich „Bedingungen“) herangebildet, die die Vermittlung und Übertragung von nationalen und europäischen Bevölkerungserwartungen über zwei Ebenen hinweg übernehmen und sicherstellen. Lediglich die Kommission und die Mitgliedsregierungen verfügen über einen Zugriff auf beide Ebenen und können ihr Handeln über mehrere Phasen der Politik-Zyklus hinweg homogenisieren.42 In zwei wichtigen Abschnitten können jene beiden Institutionen zudem in Verhandlungen über Ziele und Mittel europäischer Politik treten: in der (europä-ischen) Interessenaggregation über Expertengruppen und Konsultationen, in der Phase der (national verteilten) Implementation über die Komitologie. Hinzu kommen die starke Stel-lung beider Institutionen bei der Willensbildung auf EU-Ebene sowie im nationalen Kon-text.

Damit haben zweitens die „Vorgänge“ der Europapolitik eine in hohem Maße systemi-sche Qualität gewonnen. Das Zusammenwachsen zu einem politischen Bezugsraum ist weit vorangeschritten, selbst wenn in manchen Politikfeldern die nationale und die europäische Arena noch deutlich getrennt sein mögen. Durch die Komplexität spätmoderner Gesell-schaften sind fast immer Auswirkungen in Bereiche mit Gemeinschaftskompetenzen gege-ben, und es sind dieselben institutionellen Akteure, die jeweils die national abgeschirmten sowie die transnationalen Prozesse bestreiten. Institutionelle und personelle Querverbin-dungen durchziehen also den gesamten politischen Raum, selbst dort, wo die Gemein-schafts- oder Unionszuständigkeit eingeschränkt sind. Somit kommt es zur Entstehung

42 Warum die deutsche Regierung dieses Handlungspotenzial nur unzureichen ausnutzen kann, wird in Kap. 6 behandelt.

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gemeinsamer Sinnhorizonte, die in eine Mischung von gemeinschaftlichen und partikularen Zielorientierungen münden. Politische Prozesse vor europäischem Horizont sind stets als latent aufeinander bezogen zu begreifen, das zyklische Element tritt an die Stelle einmaliger Vorgänge.

Der europäische Prozess ist allerdings drittens bezüglich seiner Inhalte als hochgradig fragmentiert zu begreifen. Die vielfältigen Verfahrens- und Entscheidungstypen gehen auf Entscheidungen der Mitgliedsregierungen zur qualifizierten Souveränitätsabgabe zurück. Die Systemhaftigkeit des politischen Prozesses hat einerseits ein Bezugsfeld erschaffen, dessen Handlungslogiken über die zisellierten Feinheiten der Verträge hinweggehen. Ande-rerseits bestehen aus Sicht der nationalen Regierungen stets eingehegte Bereiche bereit. Darüber hinaus sind die institutionellen Regelungen in einzelnen Politikbereichen einiger-maßen unterschiedlich ausgeprägt, und die politisch-gesellschaftlichen Netzwerke um die einzelnen Politikfelder weisen einen gewachsen fragmentierten Charakter auf. Die Vielfäl-tigkeit der politischen Prozesse beeinträchtigen zwar nicht den Systemcharakter, der durch die Quasi-Konstitutionalität der Union und die bereichsübergreifende Präsenz der wichtigs-ten Institutionen aufrecht erhalten wird. Im Vergleich zu nationalen politischen Systemen, die durch hergebrachte Verwendung des politischen Systembegriffs fast automatisch als Referenz mitbetrachtet werden, existiert dadurch jedoch über eine weitaus größere Zahl von Teilarenen. Die politischen Öffentlichkeiten sowie – als Folge – die Parteien und Parlamen-te sind zu einem großen Teil national orientiert (Kap. 4, 5.2 und 7), während die Interessen-gruppen beide Ebenen überblicken (Kap. 5.1). Diese Gemengelage verschafft erneut jenen Akteuren mit Aufgaben und Funktionen in vielen Segmenten des Policy-Zyklus Räume inkrementelles Handeln, die in der hergebrachten nationalen Politik eher selten auftauchen.

Wird Europapolitik dergestalt konzeptionell eingebettet, verbietet sich viertens die de-finitorische Beschränkung auf den Bereich der europäischen Integration. Die Prozesse der auf die EU gerichteten Politik orientieren sich vielmehr an einer auf Dauer gestellten insti-tutionellen Struktur, die durch den Prozess der europäischen Integration geschaffen wurde. Integration im Sinne einer kontinuierlichen Dynamik der europäischen Politik betrifft je-doch nur den kleinen Ausschnitt des politischen Geschehens in Europa, der im Zuge der Vertragsveränderungen als „Vertiefung“ des gemeinschaftlichen Elements bezeichnet wird. Nach dem Abschluss des Verfassungsprozesses mit dem EU-Reformvertrag ist bis auf wei-teres nicht absehbar, ob und wann weitere Vertiefungsschritte auf der Agenda stehen.43

Auf der Grundlage dieser vier Modifikationen kann Europapolitik nunmehr in Anleh-nung an Schmidt definiert werden als Gesamtheit der nationalen politischen Prozesse im Hinblick auf EU-bezogene Sinnhorizonte. Diese können sich bisweilen in Prozessen der institutionellen Vertiefung äußern, bestehen allerdings zumeist aus politikfeldspezifischen Prozessen der europäischen Alltagspolitik. Jenseits der (im Umfang somit begrenzten) Ver-tiefungsdynamik impliziert der Prozesscharakter der europäischen Politik ein festes institu-tionelles Gefüge, an dem sich Publikum und Akteure in politikfeldspezifischen Konstella-tionen orientieren.

Zwei spezifische, für die Fortentwicklung am bundesrepublikanischen Fall wichtigen, Folgen dieser definitorischen Verschiebung sind bereits genannt worden. Sie sollen daher an dieser Stelle nur noch einmal wiederholt werden. Erstens: Die Verankerung der Europa- 43 Vertiefungsprozesse stehen indes in den kommenden Jahren dort an, wo der Reformvertrag institutionelle Ver-änderungen vorsieht, also z.B. bei der Reform des Rates (2009), der Reform der Kommission (2014) und der Reform des Abstimmungsverfahrens im Rat (2017).

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politik ist nur noch in begrenztem Maße in der Außenpolitik, d.h. in der Ausgestaltung der Politik der institutionellen Integration bzw. Vertiefung, zu suchen. Vielmehr ist eine primär binneninstitutionelle Betrachtungsweise vorzuziehen, wenn die Outputs und Outcomes der gesamten deutschen Europapolitik hinreichend verstanden werden sollen. Zweitens: Die politikfeldbezogene Hermetik europapolitischer Prozesse begünstigt stets spezifische Netzwerke und, in diesen Netzwerken, jene Akteure mit hoher Ressourcenausstattung. In den folgenden Kapiteln zu überprüfen ist, ob für den deutschen Fall die aus dem Politik-Zyklus-Modell abgeleitete Erwartung trügt, dabei handele es sich insbesondere um a) Inter-essengruppen, b) die Kommission, c) die Bundesregierung. Interessant ist dabei nicht nur, welche Instanzen bzw. Institutionen in dieser Kurzliste fehlen, z.B. Parlamente. Ebenso bedeutend ist, dass der Segmentierung nach Politikfeldern weder auf nationaler noch auf EU-Ebene eine allgemeine Zusammenführung entgegenwirkt. Dadurch steht dem techno-kratischen bzw. bürokratischen Charakter der europapolitischen Willensbildung und Im-plementation häufig kein „politischer“ Korrektivmechanismus entgegen, in welchem parti-kulare und allgemeine Interessen gegeneinander abgewogen werden könnten.

Wie muss nun europapolitisches Handeln erfasst werden, wenn die beträchtliche Ver-breiterung ihrer Definition im Zuge des zunehmenden Systemcharakters akzeptiert wird? Zunächst handelt es sich bei Europapolitik um einen Oberbegriff. Anwendbar ist er auf Vielzahl jener Politikfelder, in denen die EU-Ebene in der Willensbildung oder der Imple-mentation eine unmittelbare Rolle spielen kann und spielt. Die Ausrichtung von Bevölke-rung und Eliten an der EU-Ebene repräsentiert dann gleichzeitig eine Einstellung gegenüber „Europa“, gegenüber dem auf diese Ebene bezogenen nationalstaatlichen Handeln sowie gegenüber politikfeldspezifischen Unterteilungen wie z.B. der europäischen Migrations- oder Wettbewerbspolitik.

Aus Sicht eines Nationalstaats kann Europapolitik damit verschiedene Modi umfassen, deren jeweilige begriffliche Differenzierungen nicht sofort ins Auge fallen. Europapolitik kann sich aus Sicht der Akteure an den Forderungen der deutschen oder der europäischen Bevölkerung orientieren. Erste Perspektive entspräche einem nationalen Ansatz der Euro-papolitik, mit dem der Nutzen der EU-Ebene für den eigenen Mitgliedstaat im Mittelpunkt stände. Beispielsweise kann die Bundesregierung im Bereich der Industriepolitik europapo-litische Anliegen haben, mit denen Anliegen bestimmter deutscher Wirtschaftssektoren verfolgt werden. Eine Orientierung an der Gesamtheit der europäischen Bevölkerungen würde sich dagegen vorrangig an der EU-Ebene orientieren, z.B. durch die Verfolgung bestimmter gemeinsamer EU-außenpolitischer Ziele. Gemäß des Modells der europäischen Politik-Zyklus sind beide Sichtweisen als konstitutive und komplementäre Bestandteil von Europapolitik aufzufassen. Auf der Bevölkerungsebene wird zu unterscheiden sein, inwie-weit Bevölkerungsteile entweder national oder supranational orientiert sind, und inwieweit die Entwicklung komplementärer oder konkurrierender Identitätsformen politikfeldspezi-fisch ausgeformt ist. Auf der Akteursebene kann analog an einen bayrischen Bundesminis-ter gedacht werden, der – i.d.R. als CSU-Politiker – qua Amt gleichzeitig das Gemeinwohl ihres Bundeslandes sowie des Bundes im Auge haben muss.

Aus der Sicht der nationalen Ebene ist indes nicht nur zwischen verschiedenen Hori-zonten der Zielformulierung zu unterscheiden. Zusätzlich fällt ins Gewicht, wie weit bei Bevölkerung und Akteuren die faktische Relevanz des europäischen Rahmens internalisiert worden ist, und inwiefern sich die nationalen Akteure strategisch darauf eingestellt haben. Geschieht die Einflussnahme auf die EU-Phase der politischen Willensbildung gezielt, oder

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wird sie eher als bürokratisch-partikularistische Angelegenheit gesehen? Wird die EU-Ebene als Rahmenbedingung für nationale Agenden aktiv genutzt, oder wird sie primär als Beschränkung von Handlungsspielräumen gesehen? Diese Fragen entscheiden darüber, ob Europapolitik als aktive oder reaktive Steuerungsleistung angesehen wird.

Tabelle 7: Modi der nationalen Europapolitik Räumliche Dimension des Politikansatzes

Nationaler Ansatz (Nebeneinander von

europäischer und natio-naler Arena)

Integrierter Ansatz (Europäische Arena im

Vordergrund)

Übergeordnete Strategie der europapolitischen Akteure

Reaktiv I: Umsetzung von „Vor-gaben“ Nationale Willensbil-dung reagiert auf Impul-se von der EU-Ebene

II: EU-Krisenmanagement Gemeinschaftsorientierte Reaktionen auf gemeinsame Herausforderungen

Präemptiv III: Instrumentelle Steuerung Steuerung der europä-ischen Willensbildung im Hinblick auf einheimi-sche Politikziele

IV: Gesamteuropäische Steuerung Positionierung und Stärkung der EU in der globalen Politik

Werden die beiden Dimensionen des Zielhorizonts und des Steuerungsstils zusam-

mengeführt (Tabelle 8), ergeben sich vier verschiedene Modi von Europapolitik, die in den Institutionen und Instanzen des europäischen Policy-Zyklus in unterschiedlicher Intensität angetroffen werden können: Reaktion auf „Vorgaben“ (I): Ist der Internalisierungsgrad der europäischen Prozess-

dimension niedrig, und sind die relevanten Akteure gleichzeitig eher an der nationalen Arena interessiert, wirken europäische Gesetzesakte zu einem guten Teil als „Vorga-ben“, denen sich die nationale Ebene anzupassen hat. Manche Vokabeln rücken diesen Modus ungefragt in den Vordergrund: Die EU-Richtlinie heißt auf englisch und fran-zösisch „directive“, was der Duden aus dem Lateinischen als „Weisung“ und „Verhal-tensregel“ übersetzt (Duden 1974: 180). Auch die Rede von der „adaptation“ von EU-Regeln, wie es im Top-Down-Ansatz der Europäisierungsforschung heißt, stellt den möglichen Eigenbeitrag bei der Formulierung von Richtlinien sowie bei deren späterer Ausgestaltung in den Hintergrund.

EU-Krisenmanagement (II): Wenn die generelle Herangehensweise einer Europapoli-tik zwar integrativ auf den gesamten EU-Raum bezogen wird, gleichzeitig jedoch ein eher reaktives Handlungsmuster vorliegt, lässt sich von einem gesamteuropäischen Krisenmanagement sprechen. Üblicherweise kommt es dazu, wenn Probleme auf der EU-Ebene auftauchen, die aber national unterschiedliche Auswirkungen haben. Bei-spiele können aus der EU-Außenpolitik mit ihrem Reibungsverhältnis zu unterschied-lichen Kolonialtraditionen herangezogen werden (z.B. die Kongo-Mission oder das

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Engagement im Tschad). Zu nennen wäre jedoch auch die Politik zur Bewältigung von Umwelt- oder Nahrungsmittelkrisen (z.B. BSE-Krise).

Regionale Steuerung (III): Weiterhin können national ausgerichtete Akteure die EU-Ebene als prinzipiell beeinflussbare, im Sinne eigener Präferenzen nutzbare Arena be-greifen, um national relevante Themen voranzutreiben. Der Terminus der Region kann sich in diesem Zusammenhang sowohl auf nationale wie subnationale Einheiten der Mitgliedstaaten beziehen. Aus ihrer Sicht wird die EU gewissermaßen zu einem In-strument, mit dem binnenpolitische Ziele angestrebt und gegebenenfalls verwirklicht werden. Der Bottom-Up-Ansatz nennt den Mechanismus des Uploading, mit dem et-wa die Bundesrepublik ihre vormals nationale Geldpolitik auf EU-Ebene voraus-schauend festgeschrieben hat. Uploading kann die Praxis bezeichnen, für den eigenen Raum wünschenswerte Regeln im gesamten EU-Raum festzuschreiben. In einer wei-cheren Variante kann es jedoch auch darum gehen, Flexibilitätsklauseln zum eigenen Nutzen zu gestalten.

Gesamteuropäische Steuerung (IV): Den Gegenentwurf zur reaktiven Steuerung pri-mär in der nationalen Arena stellt die vorausschauende oder präemptive Steuerung von Europapolitik auf EU-Ebene dar. Naturgemäß stehen hier eher solche Politikfelder im Blick, in denen keine Verteilungskonflikte in der EU bestehen, und in denen Steue-rungsfähigkeit über die Existenz eines eindeutig zuständigen Akteurs überhaupt gege-ben ist. Die deutsche Europapolitik stützt beispielsweise i.d.R. die Kommission als Bevollmächtigte in EU-Außenhandelsfragen; als ähnlich konsistent ist auch die fran-zösische EU-Außenhandelspolitik zu bewerten, die unter anderen Prämissen die Be-lange der einheimischen Agrarwirtschaft protegiert. In beiden Fällen versuchen natio-nale Europapolitiker, sich der Bedeutung der EU auf der globalen Ebene zu stellen.

Der segmentierte Charakter der europäischen Politik bringt es dabei mit sich, dass keine Mitgliedregierung die gesamte Europapolitik einem einzigen Modus unterordnen kann. Die Existenz gemeinsamer Problemhorizonte sowie eine vertragliche Festlegung auf das Ge-meinschaftsverfahren (Kap. 3.3.3, Tab. 4) begünstigen das Einschwenken der Akteure auf den Modus der gesamteuropäischen Steuerung, während partikulare Interessenhorizonte und intergouvernementelle Verfahren (ebd.) in gegebenen Politikfeldern die Bevorzugung eines nationalen Horizonts sowie möglicherweise die Entwicklung eines vorausschauenden Steuerungsmodus unterstützen. In keinem Mitgliedstaat wird indes eine Regierung je die Situation vorfinden, dass alle auf sie einstürmenden Probleme entweder nationalen EU-gemeinschaftlichen Horizonten entspringen, und dass zusätzlich der binnenstaatliche Kon-text entweder eine durchgehend vorausschauende Planung und Steuerung oder eine reakti-ves Verhalten gegenüber den politischen Prozessen zulässt.

Insofern muss die Analyse auf der Meso-Ebene fortlaufend einzelne Politikfelder durchgehen und die dort jeweils aktuell vorzufindenen Konstellationen betrachten. Hinzu kommt die Bestimmung von Kontextfaktoren, die die Dominanz des einen oder anderen Modus begünstigen oder wahrscheinlich machen. Beispielsweise ist hinsichtlich der briti-schen Europapolitik argumentiert worden, die schlanke institututionelle Struktur des West-minster-Modells sowie die kulturelle Ferne zum Kontinent hätten häufig ein Muster an europäischer Steuerungseffizienz hervorgebracht (Kassim 2000; Kassim 2001b). Eine viel-leicht vergleichbare kulturelle Ferne zu den Kernstaaten der EU, aber in binnengesellschaft-lichen Konflikten verfangene griechische Europapolitik hat dagegen in vielen Fällen zu

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einem vorwiegend an Adaptation orientierten Politikstil geführt (Spanou 2000; Mar-kou/Nakos/Zahariadis 2001; Spanou 2001).

Wie sehen sie für den deutschen Fall aus, und welche Hypothesen können für die nun folgende Analyse der deutschen Europapolitik über die Instanzen des Policyzyklus formu-liert werden? Die Literatur geht zunächst von einem hochgradig konsensorientierten Sys-tem aus. Um innenpolitischen Blockaden zu entgehen, müssen in vielen Politikbereichen Mehrheiten in Sachfragen herbeigeführt werden, die sowohl parteipolitisch im Bund als auch im Bund-Länder-Gefüge tragfähig sind (Lehmbruch 2000). Dem Bund, oder erst Recht seine Bundesregierungen, verbleibt daher in der Politik generell ein geringer Auto-nomiegrad gegenüber anderen, einhegenden Institutionen (Katzenstein 1987; Schmidt 1992). Für die Europapolitik sollte dies bedeuten, dass die maßgeblichen Akteure einerseits viel Erfahrung mit dem Modus einer konsensualen, oder einmütigen, Steuerung komplexer Politikbereiche haben. Dies erleichtert ihnen das kompromissorientierte Verhandeln auch im EU-Kontext und begünstigt eine Strategie der präemptiven Steuerung (Derlien 2000). Andererseits birgt der Prozessablauf im EU-Politik-Zyklus jedoch das im Binnenpoliti-schen wenig relevante Problem, dass die Institutionen der gewählten Legislative erst spät in den europapolitischen Prozess eingreifen. Damit gehen faktisch vergleichsweise geringe Einflussmöglichkeiten einher, die jedoch mit einem hohen Maß an direkter Legitimation ausgestattet sind. Daher kann erwartet werden, dass eine vorausschauende Steuerung von Europapolitik besonders in parlamentarisch und öffentlich sichtbaren Bereichen mit er-schwerten Bedingungen zu kämpfen hat. Wenn Bundestag und/oder Bundesrat tatsächlich ein europapolitisches Thema aufgreifen, sehen sie sich dann mit der Schwierigkeit konfron-tiert, vorab gestaltetes Rechtsgut nicht mehr prinzipiell abändern zu können.

Hinsichtlich der Offenheit von Bevölkerung und Eliten für europäische, und nicht nur nationale, Sinnhorizonte, fehlt es an vergleichbar etablierten und geprüften Hypothesen. Die Makrohypothese vom Wertewandel in westlichen Gesellschaften (Inglehart 1977; 1989) wurde bisher nicht in eine Meso-Theorie der Europäisierung politischer Kultur über-führt. Stattdessen dominieren Studien, die die Entgrenzung der deutschen Kultur empirisch untermauern. Dort geht es allerdings eher selten explizit um eine europäische Dimension; vielmehr stellen trans- und internationalisierende Elemente im Mittelpunkt. Dabei wird generell konstatiert, die Deutschen hätten sich von einer gewissen nationalen Fixierung gelöst und sich im Prozess eines „Mentalitätswandels“ eine in Ansätzen „postnationale Identität“ geschaffen (Thränhardt 1996: 10-11). In ihrer gesellschaftlichen Praxis zeigen sich die Deutschen vergleichsweise weltoffen, was ein höheres Wissen und stärkeres Wis-sen für gesellschaftliche und politische Prozesse in europäischen Mitgliedstaaten nach sich zieht (Kaelble 2005). Diese Hinweise werden allerdings wiederum auf der empirischen Ebene von einer Reihe gegenläufiger Indizien konterkariert. So betrifft die kulturelle Ent-grenzung in der deutschen Bevölkerung nach wie vor eine zahlenmäßige Minderheit. Zu-dem setzt sich die Ausrichtung auf transnationale Zusammenhänge auf der Ebene der poli-tischen Akteure kaum fort. Die Decke von Regierungsmitgliedern und Parteipolitikern mit einer explizit europa- oder außenpolitischen Agenda erscheint recht beschränkt. In Wahl-kämpfen spielen europapolitische Themen eine häufig nachrangige Rolle; bisweilen ist das selbst bei Wahlen zum EP der Fall (Roth/Kornelius 2004).

Insgesamt ist daher von folgenden Erwartungen auszugehen. Durch den kooperativen Bundes- und Parteienstaat verfügt die Bundesrepublik über vergleichsweise gute Voraus-setzungen, in der Europapolitik nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv tätig zu werden.

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Hindernisse dafür sind in einer zu späten Beteiligung des an sich wichtigsten nationalen Gesetzgebers, des nationalen Parlaments, gegeben. Die Hindernisse für eine integrative Herangehensweise an die EU-Ebene bestehen in einer zunächst eher zurückhaltend zu beur-teilenden Öffnung der politischen Eliten für eine transnationale Agenda, dem allerdings bei Teilen der Bevölkerung eine stärkere Öffnung für transnationale Sinnhorizonte entgegen steht. Mithin besteht im deutschen Bundesstaat eine gewisse Tendenz zum Modus der re-gionalen Steuerung (Feld III), der allerdings besonders in öffentlich sichtbaren Bereichen zum Modus des Umsetzens drängt (Feld I). In einigen Bereichen mit eindeutig gesamteuro-päischer Bedeutung, z.B. der Außen- oder Außenhandelspolitik, ist die Gestaltungskompe-tenz des deutschen Parlaments allerdings aus konstitutionellen und kulturellen Gründen begrenzt. Daher ist zu erwarten, dass sich der Modus der gesamteuropäischen Steuerung ebenfalls antreffen lässt. Vor dem Hintergrund der Instanzen des europäischen Politik-Zyklus werden diese Erwartungen in den folgenden Kapiteln eingehender diskutiert.