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Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte 1 3. Teil: Von der Klassik ausgehende Entwicklungen - Die Herausbildung der heutigen Schulen A. Die Neoklassik Die Neoklassik ist eine Theoriengruppe, die wesentlich von der Klassik im Sinne von Adam Smith ausgeht und nur sekundär mit der von David Ricardo begründeten Version der Klassik verbunden ist. Das Werk von Adam Smith wurde u.a. von Jean-Baptiste Say und Frédéric Bastiat in Frankreich und von Mountifort Longfield und Nassau Senior in England weitergeführt (Dobb, Theories of Values and Distribution since Adam Smith, pp. 96 ff.). Die marginalistische Revolution um 1870 herum etablierte das neoklassische System der ökonomischen Theorie. Diese Revolution war vor allem gegen die Ricardianische Variante der Klassik gerichtet, die von John Stuart Mill, aber vor allem von Karl Marx weiterentwickelt worden war. Die neoklassische Theorie von Angebot und Nachtfrage dominierte das ökonomische Denken bis zur grossen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Dann wurde die Neoklassik durch die Keynesianische Theorie des Unterbeschäftigungsgleichgewichts bis anfangs der 1970er Jahre in den Hintergrund gedrängt. Aber die Neoklassik wurde nicht verdrängt, weil sie in der neoklassischen Synthese von Paul Samuelson (IS-LM – Synthese von Marshall und Keynes) sozusagen aufgehoben war. Keynes seinerseits wurde dann von Friedman (monetaristische Gegenrevolution) abgelöst, vor allem mit der Begründung, er könne die Inflation nicht erklären – eine Erhöhung der Geldmenge führe nicht zu sinkenden Zinsen, damit zu höheren Investitionen und Beschäftigungsvolumen, sondern zu Inflation. Damit war der Weg für eine neoklassische (neoliberale) Renaissance geebnet. Diese drückte sich vor allem durch die Dominanz der ‚Schule der Rationalen Erwartungen’ aus, die postuliert, dass sich eine Wirtschaft immer im Gleichgewicht befindet, vor allem dass die Arbeitslosigkeit freiwillig ist und ‚Gleichgewichtsarbeitslosigkeit’ darstellt. Der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme verstärkte die Position der neoliberalen Neoklassik. Bis in die jüngste Zeit versuchten die post-Keynesianischen und klassisch-Keynesianischen Ökonomen mit geringem Erfolg, keynesianische Positionen zurückzugewinnen. Ein zentraler Grund für den Misserfolg von makroökonomischen Theorien keynesianischer Provenienz liegt in der Forderung nach der mikroökonomischen – entscheidungstheoretischen -Fundierung der Makroökonomie, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr durchgesetzt hat. Weil volkswirtschaftliche Grössen, vor allem Sozialprodukt und Beschäftigung, sich aus der Aggregation einzelwirtschaftlicher Mengen ergeben, besteht in neoklassischer Sicht für eine

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Page 1: 3. Teil: Von der Klassik ausgehende Entwicklungen - Die ... · Marshall versuchte zu zeigen, dass sich die Neoklassik durch Verallgemeinerung und Erweiterung der Analyse aus der (ricardianischen)

Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte

1

3. Teil: Von der Klassik ausgehende Entwicklungen -

Die Herausbildung der heutigen Schulen

A. Die Neoklassik

Die Neoklassik ist eine Theoriengruppe, die wesentlich von der Klassik im Sinne von Adam

Smith ausgeht und nur sekundär mit der von David Ricardo begründeten Version der Klassik

verbunden ist. Das Werk von Adam Smith wurde u.a. von Jean-Baptiste Say und Frédéric Bastiat

in Frankreich und von Mountifort Longfield und Nassau Senior in England weitergeführt (Dobb,

Theories of Values and Distribution since Adam Smith, pp. 96 ff.). Die marginalistische

Revolution um 1870 herum etablierte das neoklassische System der ökonomischen Theorie.

Diese Revolution war vor allem gegen die Ricardianische Variante der Klassik gerichtet, die von

John Stuart Mill, aber vor allem von Karl Marx weiterentwickelt worden war. Die neoklassische

Theorie von Angebot und Nachtfrage dominierte das ökonomische Denken bis zur grossen

Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Dann wurde die Neoklassik durch die Keynesianische

Theorie des Unterbeschäftigungsgleichgewichts bis anfangs der 1970er Jahre in den Hintergrund

gedrängt. Aber die Neoklassik wurde nicht verdrängt, weil sie in der neoklassischen Synthese

von Paul Samuelson (IS-LM – Synthese von Marshall und Keynes) sozusagen aufgehoben war.

Keynes seinerseits wurde dann von Friedman (monetaristische Gegenrevolution) abgelöst, vor

allem mit der Begründung, er könne die Inflation nicht erklären – eine Erhöhung der Geldmenge

führe nicht zu sinkenden Zinsen, damit zu höheren Investitionen und Beschäftigungsvolumen,

sondern zu Inflation. Damit war der Weg für eine neoklassische (neoliberale) Renaissance

geebnet. Diese drückte sich vor allem durch die Dominanz der ‚Schule der Rationalen

Erwartungen’ aus, die postuliert, dass sich eine Wirtschaft immer im Gleichgewicht befindet, vor

allem dass die Arbeitslosigkeit freiwillig ist und ‚Gleichgewichtsarbeitslosigkeit’ darstellt. Der

Zusammenbruch der sozialistischen Systeme verstärkte die Position der neoliberalen Neoklassik.

Bis in die jüngste Zeit versuchten die post-Keynesianischen und klassisch-Keynesianischen

Ökonomen mit geringem Erfolg, keynesianische Positionen zurückzugewinnen. Ein zentraler

Grund für den Misserfolg von makroökonomischen Theorien keynesianischer Provenienz liegt in

der Forderung nach der mikroökonomischen – entscheidungstheoretischen -Fundierung der

Makroökonomie, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr durchgesetzt hat. Weil

volkswirtschaftliche Grössen, vor allem Sozialprodukt und Beschäftigung, sich aus der

Aggregation einzelwirtschaftlicher Mengen ergeben, besteht in neoklassischer Sicht für eine

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eigenständige Makroökonomie keine Notwendigkeit. (Voraussetzung ist allerdings das die

Preise die richtigen Signale senden. Hier kommt die Kapitaltheoretische Diskussion ins Spiel:

Niedrigere Zinssätze sind nicht notwendigerweise mit höheren Kapitalmengen verbunden

(höheren Kapitalintensitäten, Kapitalkoeffizienten) und umgekehrt!).

Im folgenden werden zuerst allgemeine Bemerkungen zur Neoklassischen Revolution gemacht,

dann der Verlauf der Revolution skizziert und die grossen Autoren betrachtet, die diese zustande

gebracht haben, und schliesslich wird das neoklassische Lehrbuch-System andeutungsweise

skizziert, wie es sich im Anschluss an diese Revolution herausgebildet hat und in dieser Form

das Denken über ökonomische Probleme heute weitgehend dominiert.

I. Allgemeines zur Neoklassik

1. Einige Kennzeichen der Neoklassik

Das Wesentliche am Marginalismus oder der Neoklassik kann vielleicht am besten erfasst

werden durch einen Vergleich mit der ricardianischen Variante des klassischen Systems.

Bei Ricardo ist der zirkuläre und soziale Produktionsprozess und die Gesellschaft der

Ausgangspunkt der Analyse. Die Verteilung wird durch das Überschussprinzip geregelt und ist

ein gesellschaftliches Problem. Der Wert der Güter wird im Prinzip im Produktionsprozess

bestimmt durch direkte und indirekte Arbeit, die für die Herstellung eines Gutes erforderlich ist

(objektive Werttheorie). Die Arbeitswerte sind konstitutiv (wesentlich) für die

Produktionspreise, stimmen aber nicht mit diesen überein. Die Produktionspreise konkretisieren

die Arbeitswerte. Die Produktionspreise hängen von drei Faktoren ab: erstens, von den direkten

und indirekten Arbeitsmengen (für Zwischenprodukte und Abnutzung von Fixkakpital, d.h.

Maschinen), zweitens von den Produktionskoeffizienten (Verhältnisse von indirekter zu direkter

Arbeit) und, drittens, von der Einkommensverteilung, d.h. vom Geldlohnsatz und der

langfristigen Gleichgewichts-Profitrate (siehe Ricardo-Vorlesung).

Bei der Neoklassik stehen das Individuum und der Tausch zwischen Individuen im Vordergrund.

Dabei bezieht sich der Tausch auf alle Güter, Konsumgüter, Produktionsfaktoren und

Zwischenprodukte.

Daraus ergeben sich einige grundlegende Aspekte des neoklassischen Systems.

Erstens, die Individuen verhalten sich optimierend, die Produzenten maximieren den Profit, die

Konsumenten den Nutzen. Diese Optimierungsentscheidungen werden durch Güter- und

Faktormärkte koordiniert. Aus dem profitmaximierenden Verhalten der Unternehmer ergeben

sich Faktornachfragekurven und Güterangebotskurven. Die Faktorangebotskurven und die

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Güternachfragekurven ergeben sich aus dem nutzenmaximierenden Verhalten der Konsumenten.

Beim optimierenden Verhalten spielt das Marginalprinzip eine zentrale Rolle. Z.B. impliziert

Profitmaximierung ‚Wertgrenzprodukt der Arbeit = Geldlohnsatz’ und ‚Grenzkosten = Preis’;

der Konsumentennutzen wird maximiert, wenn die Verhältnisse von ‚Grenznutzen und Preis’ für

alle Güter gleich sind (zweites Gossensches Gesetz).

Das optimierende Verhalten der Produzenten und Konsumenten führt, zweitens, zum Konzept

des Marktgleichgewichts: die Gleichgewichtsanalyse ist ein zentrales Element der

neoklassischen Theorie. Ökonomische Theorie wird wesentlich zur Analyse von Märkten im

Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Léon Walras entwickelte die Idee eines

allgemeinen Gleichgewichts auf allen Märkten (die allgemeine Betrachtung ist erforderlich, weil

die Märkte zusammenhängen; z.B. führen Einkommen, die bei der Produktion eines Gutes

entstehen zu einer Nachfrage nach verschiedenen anderen Gütern). Bei Walras ist entscheidend,

dass die Preise, bzw. Preisveränderungen das allgemeine Gleichgewicht von Angebot und

Nachfrage zustande bringen.

Alfred Marshall betrachtet in seiner Partialanalyse einen Markt, auf dem der Preis durch

Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Dabei sind die Zeiträume, in denen ein Gleichgewicht

zustande kommt jeweils verschieden. So ergibt sich bei Marshall ein momentanes, kurzfristiges

und langfristiges Gleichgewicht. Beim momentanen Gleichgewicht ist das Angebot gegeben,

und die Nachfrage bestimmt den Preis; beim kurzfristigen bestimmen Angebot und Nachfrage

den Preis; in der langfristigen Betrachtung bestimmen die Produktionskosten den Preis, die

Nachfrage die Menge. Überhaupt führen bei Marshall Veränderungen der Mengen das

Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu Walras, bei

dem die Preise beim Zustandekommen des Gleichgewichts die Hauptrolle spielen. Die

Marshallsche Mengenanpassungsprozesse stehen am Ausgangspunkt des gesamtwirtschaftlichen

Keynesschen Systems, bei dem Mengenveränderungen zu einem Gleichgewicht bei

Unterbeschäftigung führen.

Drittens hat die Kombination von individuellen Optimierungsentscheidungen und neoklassischer

Gleichgewichtsanalyse wichtige Implikationen für die Natur der grossen ökonomischen

Probleme. Der Preis ist ein Knappheitsindikator, was seinerseits bedeutet, dass sich die

Neoklassik wesentlich mit der Allokation von knappen, bereits produzierten Ressourcen

beschäftigt. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Produktion durch den Tausch geregelt ist. Es

gibt Faktormärkte, auf denen die Produzenten und Konsumenten optimierend handeln: z.B.

Profitmaximierung und Minimalkostenkombination; Nutzenmaximierung. Die Existenz von

Faktormärkten wiederum bewirkt, dass das Problem der Einkommensverteilung ein

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Marktproblem wird; das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt impliziert z.B., dass das

Wertgrenzprodukt der Arbeit gleich dem Geldlohnsatz ist. Weiter und vielleicht am wichtigsten

impliziert das neoklassische Gleichgewicht bei vollkommener Konkurrenz Vollbeschäftigung

aller Produktionsfaktoren, damit auch des Faktors Arbeit. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit und

allgemeine Überproduktion von Gütern sind auf Wettbewerbsmärkten unmöglich. Das Saysche

Gesetz gilt. Letztlich bringt der Zinssatz Sparen und Investieren beim Vollbeschäftigungsniveau

ins Gleichgewicht. Schliesslich sind in der Neoklassik der reale und der monetäre Sektor scharf

getrennt. Im Tausch – auf den Märkten - werden die relativen Preise (und relativen Mengen)

aller Güter bestimmt. Das Geld – die Geldmenge – bestimmt dann nur das Niveau der absoluten

Preise, der Preise in Geld ausgedrückt. Im Prinzip spielt die Höhe der absoluten Preise und damit

der Geldmenge keine Rolle, weil die relativen Preise gleich bleiben. Langfristig ist, im Prinzip,

das Geld neutral. Die realwirtschaftliche Neutralität des Geldes widerspiegelt sich in der

Quantitätstheorie des Geldes.

Die Bezeichnung Neoklassik geht auf Marshall zurück. Marshall versuchte zu zeigen, dass sich

die Neoklassik durch Verallgemeinerung und Erweiterung der Analyse aus der (ricardianischen)

Klassik entwickelt hat – daher der Name Neoklassik, der eigentlich eine Fehlbezeichnung ist.

Die Angebotskurve steht in Verbindung mit der Produktion, die Nachfragekurve mit

Nutzenüberlegungen der Konsumenten. Marshall ist der Ansicht, dass die Produktpreise nicht

allein durch die Bedingungen der Produktion (und der Verteilung) bestimmt wie bei Ricardo,

sondern dass die Nachfrage auch in Betracht gezogen werden müsse. Er illustriert dies mit

seinem berühmten Scherenbeispiel: Beide Klingen, sowohl die Angebotskurve wie auch die

Nachfragekurve sind zum Schneiden (zur Wertbildung) erforderlich. Die Bestimmung der Preise

durch Angebot und Nachfrage ist also das grundlegende theoretische Schema für das

neoklassische System.

2. Zeitumstände und Gründe für das Zustandekommen der marginalistischen

(neoklassischen) Revolution

Zeitlich hat die marginalistische Revolution etwa im Zeitraum 1870-90 stattgefunden.

Warum gerade in dieser Zeitperiode, und wieso wurde die neoklassische Revolution zu einem

dermassen grossen Erfolg? Man kann theorie-interne und theorie-externe Gründe unterscheiden

[Screpanti/Zamagni, 152-55].

Die theorie-internen Gründe betreffen Schwächen der klassischen Theorie (im Sinne Ricardos),

die von den Neoklassikern und ihren Vorläufern aufgedeckt wurden. In Frage gestellt wurden

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vor allem die ricardianische Arbeitswerttheorie und die damit verbundene Verteilungstheorie,

vor allem die Bestimmung des (natürlichen) Lohnsatzes.

Gegen Arbeitswerttheorie wurde unter anderem vorgebracht, dass bei Kuppelproduktion (Schafe

liefern Wolle und Fleisch) die Preise von Wolle und Fleisch nicht nur von den

Produktionsbedingungen, sondern auch von der Nachfrage abhängen. (Dies ist ein sehr

schwaches Argument: Die Arbeitswerttheorie ist ein grundlegendes Prinzip, das den Wert von

Gütern bestimmt. Dieses Prinzip kann durch verschiedene Nebenfaktoren, wie eben spezifische

Nachfragebedingungen bei Kuppelproduktion, modifiziert werden. Die eigentliche Frage ist:

Werden die Preise im Prinzip durch die in der Produktion eingesetzte direkte und indirekte

Arbeit oder durch das Marginalprinzip bestimmt (Grenzkosten und Grenznutzen, die hinter den

Angebots- und Nachfragekurven stehen)?

Gegen klassische Lohntheorie hat man argumentiert, dass der Malthusianische

Bevölkerungsmechanismus den Lohnsatz immer wieder auf das (physische) Existenzminimum

herunterdrücke, wodurch die klassische Lohnfondtheorie (Lohnsumme – Lohnfonds - dividiert

durch Anzahl Arbeitskräfte) hinfällig werde. [Diese Kritik trifft allerdings die Ricardianische

Theorie des institutionell bestimmten natürlichen Lohnsatzes nicht voll; der gerade die physische

Existenz sichernde Lohnsatz kann als eine sozial problematische Variante des natürlichen

Lohnsatzes gesehen werden. Die Frage ist, ob die Verteilung ein soziales Phänomen (Ricardo –

Marx) ist, das durch das Überschussprinzip bestimmt wird, oder ob die Einkommensverteilung

ein Marktphänomen (Neoklassik) ist, bei dem das Marginalprinzip in der Form von

Grenzproduktivitäten entscheidend ist.]

Gemäss der Lohnfondstheorie – im Sinne von John Stuart Mill - steht immer nur ein bestimmter

Lohnfonds zur Verfügung, so dass der Lohnsatz sinkt, wenn mehr Arbeit eingesetzt wird. Dies

gilt nicht mehr, wenn die Löhne aus den Erträgen bezahlt werden. Mit dieser Kritik gehen die

Vorläufer der Neoklassik bereits in Richtung ‚Entlohnung gemäss Leistung’

(Grenzproduktivitätstheorie: Wertgrenzprodukt der Arbeit = Geldlohnsatz).

Die Wert und Verteilungstheorie Ricardos wurde von Marx übernommen, weiterentwickelt und

in einen weiteren historischen Rahmen gestellt: Die Arbeitswerte enthalten den Mehrwert, der

akkumuliert wird, so zu zyklischem Wachstum führt. Die Konjunkturausschläge werden immer

stärker, die Krisen immer tiefer, was schliesslich zum Zusammenbruch des kapitalistischen

Systems führen wird. Marx hatte 1867 den ersten Band des 'Kapitals' veröffentlicht, der in

europäischen Arbeiterkreisen mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die Marxsche Theorie

wurde im Rahmen der sich ab 1870 rasch entwickelnden sozialistischen Bewegung

(Internationale!) für kritische Zwecke – Kapitalismuskritik - verwendet:

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- Das Privateigentum an Produktionsmitteln wurde in Frage gestellt

- Der Mehrwert (in der Form des Profits) wurde als Ausbeutung der Arbeiter gesehen

(spezifische Interpretation des Überschussprinzips).

Die Kapitalismuskritik seitens der Arbeiterkreise fiel im Zeitraum 1870-90 auf besonders

fruchtbaren Boden, weil das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts (etwa 1873-96) eine Zeit der

schweren Wirtschaftskrise war (Kondratiev-Abschwung).

Angesichts der Marxschen ‚Bedrohung’ war also eine grundlegende Kritik der

Arbeitswerttheorie von Seiten der Neoklassik erforderlich. Diese Kritik erfolgte im Rahmen der

Diskussion über das soganannte Transformationsproblem. Es geht hier um die Transformation

von Arbeitswerten mit gleichen Ausbeutungsgraden (gleiches Verhältnis von Mehrarbeit und

notwendiger Arbeit) in Produktionspreise (mit gleichen Profitraten in allen

Produktionsbereichen). Wenn nun die Produktionsbedingungen, die Verhältnisse von

konstantem Kapital (Wert der Zwischenprodukte und des verbrauchten Fixkapitals) und

variablem Kapital (Lohnsumme = Wert der Arbeitskraft, die den Mehrwert produziert!), in den

verschiedenen Produktionsbereichen ungleich sind, dann weichen die Produktionspreise von den

Arbeitswerten ab: Ist das Verhältnis ‚konstantes zu variablem Kapital’ relativ hoch, dann

übersteigen die Produktionspreise die Arbeitswerte, und umgekehrt.

Die Arbeitswerte stimmen also nicht mit den in der wirtschaftlichen Wirklichkeit (annähernd

über die Normalkostenkalkulation) realisierten Produktionspreisen überein. Deshalb betrachteten

die Gründer der Neoklassik die Arbeitswerttheorie als grundsätzlich falsch. Vor allem der grosse

österreichische Neoklassiker Eugen von Böhm-Bawerk hat scharfe Kritik an der Marxschen

Arbeitswerttheorie geübt; auch das Überschussprinzip – das bei Marx Ausbeutung impliziert -

wurde kritisiert (Profite bewegen sich in neoklassischer Sicht parallel zum Einsatz von Kapital

und widerspiegeln dessen Beitrag zum Produktionsresultat).

Aber Kritik allein genügt nicht. Die Neoklassiker mussten eine alternative Theorie des Wertes

und der Verteilung schaffen, die mit dem Ricardianisch-Marxschen System konkurrieren konnte:

die zu vage und zum Teil widersprüchliche Theorie des Wertes und der Verteilung von Adam

Smith genügte nicht. Die Theorie des Grenznutzens (und der Grenzproduktivität sowie der

Grenzkosten), auf der das neoklassische System von Angebot und Nachfrage basiert, ergab die

Lösung dieses Problems.

Es gab auch theorie-externe Gründe für das Entstehen der Neoklassik. Von zentraler Beideutung

ist, dass die Zeitperiode 1870-90 grob gesprochen in die Zeit der grossen Depression von 1873-

96 fällt. Vor allem in den 1870er Jahren gab es in den westeuropäischen Industrieländern

Arbeiterunruhen. Sozialistische (sozialdemokratische) Parteien erstarkten. Die krisenhafte

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Wirtschaftsentwicklung gegen Ende des 19. Jahrhunderts war auch verbunden mit dem

Entstehen von Monopolen und Kartellen – der sogenannte ‚Monopolkapitalismus’ war im

Begriff den ‚Konkurrenzkapitalismus’ abzulösen. Die von Absatzschwierigkeiten bedrängten

Unternehmen suchten Sicherheit über Zusammenschlüsse und Preis- und Absatzvereinbarungen.

Wirtschaftskrise und Monopolkapitalismus wurden beide als Bedrohung der liberalen

Wettbewerbswirtschaft empfunden. Die besitzenden, allgemein die ökonomisch besser gestellten

und die politisch dominierenden Schichten begrüssten deshalb die neue – neoklassische -

Theorie, vor allem die Aussage, dass Wettbewerbsmärkte zu einem allgemeinen

Marktgleichgewicht führen, das wiederum einem gesamtwirtschaftlichen Optimum entspreche

(Pareto-Optimum). In diesem Optimum ist das Problem der Allokation der Ressourcen gelöst,

aber auch ihre volle Nutzung gewährleistet. Letzteres impliziert Vollbeschäftigung aller

Produktionsfaktoren, vor allem des Produktionsfaktors Arbeit. Damit ist das Problem der

Proportionen (Allokation, relative Preise und Mengen) und das Problem der Skala der

wirtschaftlichen Aktivität (Beschäftigungsniveau) gelöst.

3. Das Wesentliche an der Marginalistischen Revolution

Die marginalistische Revolution wurde vom englischen Ökonomen William Stanley Jevons

eingeleitet (Theory of Political Economy, 1871). In der Folge haben drei Theoriengruppen

herausgebildet, die heute noch von grösster Bedeutung für die sogenannte neoklassische

‚mainstream economics’ sind. Erstens, die Allgemeine Gleichgewichtstheorie von Léon Walras,

1834-1910 (Eléments d'économie politique pure ou théorie de la richesse sociale, 1874). Die

Gleichgewichtspreise und die entsprechenden Gleichgewichtsmengen werden über ein

Gleichungssystem simultan bestimmt. Der Italiener Vilfrido Pareto hat im Anschluss an Walras

das Konzept des ‚Pareto-Optimums’ entwickelt. Bekannte heutige Vertreter sind Gérard Debreu,

Kenneth Arrow und Frank Hahn.

Zweitens, die Theorie des partiellen Gleichgewichts dargestellt durch eine Angebotskurve und

eine Nachfragekurve für jeden einzelnen Markt (Alfred Marshall (1842-1924): Principles of

Economics (1890); die Principles lagen bereits um 1870 als Vorlesungsmanuskript vor.

Marshalls Theorie wurde ergänzt durch die ‚Grenzproduktivitätstheorie’, die vor allem von John

Bates Clark, USA (The Distribution of Wealth, 1899) und Philipp Wicksteed, England (The

Common Sense of Political Economy, 1910) ausgearbeitet wurde.

Drittens, die Österreichische Neoklassik wurde begründet von Carl Menger, 1841-

1921(Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 1871); andere berühmte Vertreter der ersten

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Generation sind Eugen von Böhm-Bawerk (Kapital und Kapitalzins – Positive Theorie des

Kapitals, 1884), Friedrich von Wieser und Hans Mayer. Diese Schule ist extrem individualistisch

und versucht den Produktionsprozess in ihre Analyse einzuschliessen. Sie ist heute unter der

Bezeichnung ‚Austrian Economics’ hochaktuell. Joseph Alois Schumpeter (1883-1950) und

Friedrich von Hayek (1899-1992) sind bekannte Vertreter der neueren österreichischen Schule.

a) Wert und Verteilung in der österreichischen Neoklassik

Joseph Schumpeter hat, gestützt auf die österreichische Neoklassik, die wesentlichen

Neuerungen der Neoklassik in konziser Form dargestellt (History of Economic Analysis, 911-

13):

Ausgangspunkt ist das momentane Gleichgewicht. Die (bereits produzierten) Gütermengen sind

gegeben. Die Angebotskurven sind deshalb vertikal. Die vorhandenen Ressourcen sind voll

ausgelastet, und deshalb sind alle Güter knapp.

Die Wertschätzungen (Nutzenvorstellungen) der Konsumenten, ausgedrückt durch die Lage der

Nachfragekurve für jedes einzelne Konsumgut, bestimmen nun den Preis der Endprodukte (die

Nachfragekurve ist fallend, weil der Grenznutzen mit zunehmendem Konsum abnimmt).

Der Preis der Endprodukte ergibt sich am Schnittpunkt der vertikalen Angebotskurve mit der

fallenden Nachfragekurve.

Der so bestimmte Wert der Endprodukte (Güter erster Ordnung) bestimmt nun auch den Wert

der Zwischenprodukte und der Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital (Güter höherer

Ordnung). Diese an der Produktion beteiligten Vorprodukte haben also einen über den Wert der

Endprodukte abgeleiteten Wert: Die Güter höherer Ordnung haben einen Wert, weil die durch

sie produzierten Endprodukte einen von den Konsumenten festgelegten Wert haben. Der

individualistische Charakter der Neoklassik wird damit durch die österreichische Neoklassik klar

zum Ausdruck gebracht – die Gesellschaft ist völlig aus dem Gesichtspunkt verschwunden. Die

neoklassische Werttheorie ist deshalb eine subjektive Werttheorie – dies ist die geläufige

Bezeichnung in der theoriengeschichtlichen Literatur. Die klassische (ricardianische)

Werttheorie ist dagegen eine objektive Werttheorie: Hier werden Werte und Preise – die in Geld

ausdrückten Werte – im sozialen Produktionsprozess durch die Produktionskosten, inklusive

eines – normalen - Gewinns, bestimmt.

Aus der subjektiven – österreichischen - Werttheorie ergibt sich eine spezifisch österreichische

Verteilungstheorie. Der von den Konsumenten bestimmte Wert der Endprodukte, der Güter

erster Ordnung, stellt einen Verkaufserlös dar. Dieser wird nun verwendet, um die

‚Produktionskosten’ zu decken: die Zwischenprodukte müssen bezahlt und die

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Produktionsfaktoren – Arbeit, Boden und Kapital – für ihre produktiven Leistungen entschädigt

werden. Dies nennen die österreichischen Ökonomen das Zurechnungsproblem, die typisch

österreichische Formulierung des Verteilungsproblems. Wie ist also, für jedes einzelne Produkt,

der Verkaufserlös (der Preis) den Zwischenprodukten und den Faktorleistungen, die in die

Produktion dieses Produktes eingegangen sind zuzurechnen.

Das Zurechnungsproblem ist komplex und ist nie befriedigend gelöst worden. Im Prinzip muss

der Wert, der Preis der Endprodukte – der Güter erster Ordnung – alle Güter höherer Ordnung

für ihren Beitrag zur Produktion entschädigen. D.h. die Güter zweiter Ordnung, die

Zwischenprodukte und Produktionsfaktoren, die Güter erster Ordnung produzieren. In einem

zweiten Schritt sind die Güter dritter Ordnung – Zwischenprodukte und Produktionsfaktoren - zu

entschädigen, mit denen Güter zweiter Ordnung produziert werden, usw. Offensichtlich

impliziert diese individualistische Sicht des Produktionsprozesses zu einem unendlichen

Regress. Böhm-Bawerk hat in seinem Hauptwerk ‚Kapital und Kapitalzins’ das Problem zu

lösen versucht, indem er postulierte, dass die Güter höchster Ordnung nur von Arbeit und Boden

produziert werden, d.h. den beiden ‚natürlichen’ Produktionsfaktoren. Böhm-Bawerk hält

ausdrücklich fest, dass der Profit keine eigenständige Einkommenskategorie darstelle, weil

Kapital ein ‚produzierter’ Produktionsfaktor sei, der letztlich von Arbeit und Boden hergestellt

werde!

Um solchen ‚unliebsamen’ Schlussfolgerungen zu entgehen, haben die neoklassischen

Ökonomen das Zurechnungsproblem in einer ganz anderen Form formuliert, nämlich als

Grenzproduktivitätstheorie der funktionalen Einkommensverteilung.

b) Die neoklassische Theorie der Einkommensverteilung

Das ungelöste – österreichische - Zurechnungsproblem hat die neoklassischen Ökonomen

schwer bedrückt. Tatsächlich hatten sie dem Überschussprinzip von Ricardo und Marx keine

wirklich überzeugende Theorie der Einkommensverteilung entgegenzustellen. Wenigstens

formal gelöst wurde dieses Problem von J.B. Clark, einem US-amerikanischen Ökonomen, und

von Philipp Wicksteed, England, die beide die sogenannte Grenzproduktivitätstheorie der

funktionalen Einkommensverteilung entwickelten. Diese Theorie dominiert seit der

Veröffentlichung von Paul Samuelsons ‚Volkswirtschaftslehre’ (erste Auflage 1948) die

Ansichten über Einkommensverteilung in den allermeisten Lehrbüchern. Im Wesentlichen

besagt sie, dass die Leistung der zuletzt eingesetzten Faktoreinheit das Einkommen aller bisher

eingesetzten Faktoreinheiten bestimmt. Beispielsweise das Wertgrenzprodukt des zuletzt

eingesetzten Arbeiters ist gleich dem Lohnsatz, der für alle bisher eingesetzten Arbeiter gilt. Die

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Beziehung ‚Wertgrenzprodukt gleich Faktorpreis’ gilt für alle Produktionsfaktoren – Arbeit,

Boden und Kapital – und für Subkategorien dieser Faktoren. Wir kommen später noch kurz auf

die Grenzproduktivitätstheorie zurück. Hier sei nur stichwortartig ihre Entstehung und

Entwicklung angedeutet, die viel zu ihrem Verständnis beiträgt (dies im Sinne von Aristoteles:

Wenn man die Entwicklung einer Sache sieht, versteht man sie besser, z.B. den Weg den eine

Eiche vom Samenkorn bis zum voll ausgewachsenen Baum durchläuft).

Um die Grenzproduktivitätstheorie etwas besser verstehen zu können, muss man auf Ricardo

zurückgehen. Ricardo hatte zwei Prinzipien entwickelt, um die Verteilung des Sozialproduktes

zu erklären: das Marginalprinzip und das Überschussprinzip. Für Ricardo war, wie wir gesehen

haben, das Überschussprinzip von fundamentaler Bedeutung, das Marginalprinzip war

nebensächlich.

Die Neoklassiker haben nun das Überschussprinzip eliminiert und das Marginalprinzip

uminterpretiert und verallgemeinert (George Stigler, Production and Distribution Theories: The

Formative Period, 1941).

Ausgangspunkt um die Umdeutung der ricardianischen Verteilungstheorie zu erklären ist das

Kaldor-Diagramm (siehe Ricardo-Vorlesung): Hier sind vertikal das Grenzprodukt und das

Durchschnittsprodukt der direkten (und indirekten) Arbeit in der Landwirtschaft aufgetragen.

Horizontal sind Arbeit (NL) und Boden aufgetragen. Dabei sind Arbeit und Boden

komplementär, jedoch ist die Arbeit primär. Das Grenzprodukt der Arbeit erklärt bei Ricardo

die Höhe der Bodenrente; die Aufteilung des verbleibenden Produkts in Löhne und Profite (real

gesehen, d.h. in Weizeneinheiten ausgedrückt) erfolgt über das Überschussprinzip.

Die neoklassische Reinterpretation geht nun dahin, dass auf der Abszissen der Boden in den

Vordergrund rückt. Konsequenterweise wird nun auf der Ordinaten nicht mehr das Grenzprodukt

der Arbeit, sondern das Grenzprodukt des Bodens aufgetragen. Bei Konstanz von Arbeit und

Kapital ist die Grenzproduktkurve des Bodens fallend, weil immer weniger fruchtbarer Boden

bewirtschaftet wird. Die bewirtschaftete Bodenfläche wird solange ausgedehnt bis das

Grenzprodukt des (am wenigsten fruchtbaren) Bodens dem vorgegebenen Pachtsatz entspricht.

Das Rechteck, gebildet durch Pachtsatz (= Grenzprodukt des schlechtesten Bodens) mal

eingesetzte Bodenmenge stellt die (reale) Rente dar. Die Fläche oberhalb der Pachtsatzlinien bis

zur Grenzproduktkurven des Bodens stellt dann die Summe von (realen) Löhnen und Profiten

dar.

In einem zweiten Schritt folgt dann die Verallgemeinerung: Das Grenzprodukt steht nun

allgemein für die produktive Leistung eines jeden Produktionsfaktors, immer bei Konstanz der

anderen Produktionsfaktoren. Im Gleichgewicht entspricht das Wertgrenzprodukt dem Preis des

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entsprechenden Produktionsfaktors. Dies gilt nun also auch für die Produktionsfaktoren Arbeit

(N) und Kapital (K) und, noch spezifischer, für alle Subkategorien der drei Produktionsfaktoren

N, K, B.

Die Reinterpretation und die Verallgemeinerung des ricardianischen Marginalprinzips durch die

Neoklassiker hat zwei wichtige Implikationen. Zum ersten wird das landwirtschaftliche Gesetz

des abnehmenden Grenzertrages in der Neoklassik nun auch auf die Industrie übertragen. Hier

herrschte bisher das Smithsche Gesetz der zunehmenden Erträge: Bei proportionaler

Ausdehnung aller Produktionsfaktoren steigt der Ertrag überproportional an, was heisst, dass die

Durchschnittskosten sinken. Damit entsteht ein Konflikt zwischen dem Gesetz der abnehmenden

Grenzerträge und dem Gesetz des zunehmenden Ertragszuwachses.

Zweitens besteht auch ein Gegensatz betreffend die Natur der Produktion zwischen

Landwirtschaft und Industrie: In der Landwirtschaft war die Produktion im 19. Jh. vorwiegend

individualistisch, in der Industrie ist die Produktion wesentlich sozial. Die Produktion erfolgt

durch das Zusammenwirken von komplementären Produktionsfaktoren. Der soziale

Produktionsprozess wurde von François Quesnay in seinem grossen Tableau Economique zum

ersten Mal dargestellt.

Der Piero Sraffa nimmt 1925/26 und 1960 beide Punkte auf, um die neoklassische Theorie

Marshalls zu kritisieren. Sraffa hat damit eine Renaissance der klassischen Politischen

Ökonomie (Quesnay, Ricardo) eingeleitet.

c) Beschäftigung

Wie in der Klassik (D. Ricardo und John Stuart Mill) ist auch in der Neoklassik das

Beschäftigungsproblem vollständig eliminiert. In beiden Denksystemen dominiert das Saysche

Gesetz, das besagt, dass eine allgemeine Überproduktion von Gütern und damit unfreiwillige

Arbeitslosigkeit unmöglich sei. Es kann von einzelnen Gütern zuviel produziert werden (relative

Überproduktion), aber nicht von allen. Das Saysche Gesetz nimmt in der Klassik und in der

Neoklassik jeweils eine unterschiedliche Form an, der Geist bleibt aber der gleiche.

Die klassischen Ökonomen, vor allem Jean-Baptiste Say und David Ricardo, gingen davon aus,

dass niemand etwas produziert, ohne mit dem in Geld anfallenden Verkaufserlös ein anderes

Gut, ein Konsum- oder Investitionsgut zu kaufen. Es gilt also die Sequenz: Ware i – Geld –

Ware j (Wi – G – Wj). Geld (G) ist, in klassischer Ausdrucksweise nur ein Schleier, der die

realen Vorgänge, Tausch von Waren gegen Waren überdeckt. Damit schafft sich jedes Angebot

seine eigene Nachfrage. Jede Produktion erzeugt eine Nachfrage nach anderen Produkten. Jean-

Baptiste Say sagt ausdrücklich, dass ein Produzent die von ihm produzierten Produkte vorläufig

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in Geld umwandle und dann mit dem erhaltenen Geld irgendwelche anderen Produkte kaufe. Die

Sequenz (Wi – G – Wj) gilt sowohl für wertloses Notengeld als auch für Warengeld (Gold- und

Silbermünzen). Im Zusammenhang mit dem Warengeld sagte Gustav Schmoller, der deutsche

historische Ökonom, sehr treffend, dass das Geld nichts anderes als die am leichtesten

tauschbare Ware sei.

Die klassische Version des Sayschen Gesetzes kann auch anders formuliert werden: Bei der

Produktion entstehen Kosten (z.B. Lohnkosten), inklusive Profite. Diese Kosten sind gleichzeitig

Einkommen. Ein Teil der Einkommen wird konsumiert, ein anderer gespart. Das gesparte wird

aber nicht gehortet, weil kein Ertrag anfällt, sondern ausgeliehen oder auf eine Bank eingelegt.

Letztere leiten die Einlagen wieder an Unternehmer weiter. So wird alles Gesparte letztlich

investiert: Das Sparen bestimmt das Investieren.

Etwa hundert Jahre später hat dann Maynard Keynes dargelegt, dass in einer Geldwirtschaft

gerade das Gegenteil der Fall ist: Das Investieren bestimmt das Sparen, und ein Gleichgewicht

bei Unterbeschäftigung, unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ist möglich.

Die neoklassische Version des Sayschen Gesetzes ist komplexer und subtiler. Es sind

Wettbewerbsmärkte und deren reibungsloses Ineinandergreifen, die zu Vollbeschäftigung

führen. Entscheidend ist dabei der Markt für neue Kapitalgüter. Das Angebot für neue

Kapitalgüter wird durch das Sparen gebildet: Die Bevölkerung eines bestimmten

Wirtschaftsgebietes verzichtet auf Konsum und spart, was mit Zinsen belohnt wird. Mit dem

Ersparten können die Produzenten neue Kapitalgüter kaufen. Je höher der Zinssatz, desto mehr

wird gespart. Das Sparen, abhängig vom Zinssatz, S = S(i), stellt somit die Angebotsfunktion für

neue Kapitalgüter dar. Die Investitionen in Abhängigkeit von der Ertragsrate r (Profitrate,

Grenzproduktivität der – neuen – Kapitalgüter, auch des – zusätzlichen – Kapitals) stellen die

Nachfragekurve für neue Kapitalgüter dar. In der funktionalen Beziehung I(r) führt ein

steigendes Investitionsvolumen I aufgrund des Ertragsgesetzes zu einem Absinken von r, der

Grenzproduktivität des (neuen) Kapitals. Steigt nun aus irgendeinem Grunde das Sparen (bei

gleichen Zinssatz wird mehr gespart, die S(i) verschiebt sich nach rechts), dann sinken die

Zinsen, und die Ertragsrate übersteigt nun den Zinssatz: r > i. Neue Investitionsprojekte werden

profitabel. Das Investitionsvolumen I nimmt zu, bis wieder Gleichheit zwischen S(i) = I(r)

besteht. So wird ersichtlich, dass alles gesparte immer investiert wird. Es kann also nie ein

Nachfrageausfall eintreten und allgemeine Überproduktion und unfreiwillige Arbeitslosigkeit

zustande kommen.

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II. Der Verlauf der marginalistischen Revolution und die grossen

neoklassischen Autoren

1. Verlauf

Wie bereits erwähnt, ist die marginalistische Revolution, grob gesprochen, zwischen 1870 und

1890 verlaufen. Vier Autoren veröffentlichten grundlegende Werke zu Beginn dieser

Zeitperiode:

- William Stanley Jevons: Theory of Political Economy (1871)

- Léon Walras: Eléments d'économie politique pure ou théorie de la richesse sociale (1874 und

1877)

- Carl Menger (1841-1921): Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (1871)

- Alfred Marshall (1842-1924): Principles of Economics (1890); die Principles lagen bereits um

1870 als Vorlesungsmanuskript vor.

Von 1870-90 gab es keine Orthodoxie, sondern eine Vielzahl von Lehrmeinungen. (In diesem

Zusammenhang machen Screpanti/Zamagni die interessante Feststellung, dass wirtschaftliche

Krisenzeiten mit Theorienvielfalt verbunden sind, wirtschaftliche ‚Schönwetterlagen’ dagegen

mit der Dominanz eines – mehr oder weniger - allgemein akzeptierten Theoriengebäudes

verbunden sind.) Screpanti/Zamagni führen wichtige Gründe für die Theorienvielfalt zwischen

1870-90 an.

Zunächst war die marginalistische Schule ist nicht einheitlich. Es bestehen bedeutende

Unterschiede zwischen Jevons, Walras, Marhall und Menger. Vor allem der rein mathematische

Ansatz von Walras stösst in Frankreich, Österreich und England auf Ablehnung. (Léon Walras,

ein französischer Ingenieur, war Professor in Lausanne und hat zusammen mit dem Italiener

Vilfredo Pareto, der auch in Lausanne lehrte, die sogenannte Lausanner Schule gegründet.)

Zudem sind sozialistische Theorien im Aufschwung begriffen, vor allem der 'Wissenschaftliche

Sozialismus von Karl Marx', der revolutionären Charakter hatte; daneben gab es den

reformatorischen Fabian socialism und auch einen Christlichen Sozialismus.

Schliesslich sind der amerikanische Institutionalismus und die Deutsche Historische Schule

starke Gegenströmungen. Auch die Christliche Soziallehre beginnt sich zu entwickeln (1890,

Leo XIII, Rerum Novarum). Diese drei Strömungen zeichnen sich durch eine ausgesprochene

‚Theoriefeindlichkeit’ aus. Das Ethische, verbunden mit fortschrittlicher sozialer Reform, der

Errichtung von sozialen Institutionen dominierte. Z.B. war in Deutschland die Historische

Schule unter der Führung von Gustav Schmoller stark mit dem sogenannten

‚Kathedersozialismus’ verbunden, der die Konzeption für das grosse deutsche

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Sozialversicherungssystem entworfen hatte, das unter Bismarck in den 1880er Jahren realisiert

wurde.

Eine neoklassische Orthodoxie hat sich dann ab etwa 1890 gebildet. In diesem Jahre hat

Marshall die 'Principles of Economics' veröffentlicht; dieses Werk systematisierte und

popularisierte die Neoklassik und dominiert auch noch die heutigen Lehrbücher (Angebot und

Nachfrage - Partialanalyse). Marshalls ‚Principles’ wurde bald zur ‚Bibel der Ökonomen’, und

die Neoklassik beherrschte in der Form des Marshallianischen Systems die theoretische Szene

bis in die 1930er Jahre. Wieder ist es mit Screpanti/Zamagni aufschlussreich festzustellen, dass

Zeiten der wirtschaftlichen Hochkonjunktur – la Belle Epoque, etwa 1985-1914 - mit der

Dominanz eines theoretischen Systems einhergehen. In den 1930er Jahren, in der Zeit der

schweren Weltwirtschaftskrise, setzte dann eine fundamentale Kritik an Marshall ein: Keynes

kritisierte seine Vollbeschäftigungsannahme und entwickelte eine Theorie des Gleichgewichts

bei Unterbeschäftigung und widerlegte damit das Saysche Gesetz. Piero Sraffa übte

fundamentale Kritik an Marshalls Wert- und Verteilungstheorie (Maurice Dobb, Wert- und

Verteilungstheorien seit Adam Smith) und leitet so eine ‚Renaissance’ der ricardianischen

Klassik ein. Angesichts dieser grossartigen theoretischen sprach der englische Ökonom G.L.S.

Shackle von den 1930er Jahren als den Years of High Theory. Aus dem Werken von Keynes und

Sraffa hat sich dann über den Post-Keynesianismus die Klassisch-Keynesianische Politische

Ökonomie entwickelt. Diese stellt die Wirtschaftstheorie des Sozialen Liberalismus dar, eines

humanistischen Mittelweges zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

2. Autoren

Und nun noch ganz kurz etwas zu den vier Autoren, die die neoklassische - marginalistische -

Revolution zustande gebracht haben: Jevons, Walras, Menger und Marshall (im nächsten

Abschnitt); nur Walras wird etwas ausführlicher dargestellt.

a) William Stanley Jevons

Im Vorwort seines Buches 'Theory of Political Economy' sagt Jevons, dass Ricardo den Wagen

der ökonomischen Theorie auf eine falsche Spur gelenkt habe und dass es ihm darum gehe, die

Fahrtrichtung der ökonomischen Theorie zu korrigieren. Mit dieser Aussage hatte er die

Probleme des Wertes und der Verteilung vor Augen.

Die Ricardianische Werttheorie besagt, dass direkte und indirekte Arbeitskosten im Prinzip den

Wert eines Gutes bestimmen (objektive Werttheorie). Dieser stellt Jevons eine subjektive

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Werttheorie gegenüber, die er in einer berühmten – aber nicht eindeutigen - Formel

zusammengefasst hat:

„Die Produktionskosten bestimmen die Angebotsmenge;

Die Angebotsmenge bestimmt den Grenznutzen;

Der Grenznutzen bestimmt den Preis.“

Wahrscheinlich ist es am plausibelsten, diese Formel im ‚österreichischen’ Sinne zu

interpretieren: Sobald das Angebot gegeben ist, bestimmt die Nachfrage den Preis.

Marshall hat die Formel von Jevons kritisiert und betrachtete sie als irrelevant: Man könne

genauso sagen:

„Die Nachfrage (Nutzen) bestimmt die zu produzierende Menge;

Die Produktionsmenge bestimmt die Produktionskosten;

Die Produktionskosten bestimmen den Preis.“

Wie wir sehen werden hält Marshall die simultane Bestimmung des Preises durch Angebot und

Nachfrage für die einzig richtige Preistheorie.

In Sachen Theorie der Einkommensverteilung geht Jevons in Richtung vage

Grenzproduktivitätstheorie. Der Güterpreis bestimmt nach ihm die Entschädigung, die den

Produktionsfaktoren ausgerichtet wird. Obwohl Jevons keine eigentliche Verteilungstheorie

entwickelt hat, sagt er doch, dass der Arbeitslohn durch den Wert des Produktes bestimmt wird

(Dobb, 185f).

b) Walras: Allgemeine Gleichgewichtstheorie

1) Claudio Napoleoni (Grundzüge der modernen ökonomischen Theorien, 1968), einer der

besten Kenner der Theoriengeschichte im 20. Jahrhundert, sagt zum Allgemeinen

Gleichgewichtsmodell von Walras: „Walras berühmte [Theorie] handelt sowohl von dem

Gleichgewicht der einzelnen [rational handelnden] Wirtschaftsubjekte untereinander als auch

von dem Gleichgewichtszustand des ökonomischen Systems insgesamt; es versucht, bei

gegebenen Ausgangsmengen produktiver Ressourcen, einer gegebenen Produktionstechnik und

gegebenen Präferenzen der Wirtschaftssubjekte die Quantität der produzierten und getauschten

Güter sowie die Preise zu bestimmen, zu denen getauscht wird, und zwar in einem Zustand

allgemeinen ökonomischen Gleichgewichts“(8). Man könnte noch hinzufügen, dass das

allgemeine Gleichgewicht einem Pareto-Optimum entspricht. Das Walrasianische Modell

impliziert deshalb, dass bei vollkommenem Wettbewerb die Rationalität der Individuen

(Produzenten und Konsumenten) durch den Markt in soziale Rationalität, Systemrationalität,

transformiert wird.

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2) Einige Eigenschaften des Gleichgewichts

- Die Kosten der Produktion eines Gutes (die für die Haushalte Einkommen darstellen) müssen

gleich sein der Nachfrage nach diesem Gut.

Dies impliziert, dass alle Märkte miteinander verflochten sind: hinter dem Angebot für ein Gut

stehende Produktionsmittel, Zwischenprodukte und Leistungen der Produktionsfaktoren,

stammen aus verschiedenen Produktionsbereichen; die Nachfrage nach einem Gut ergibt sich

aus Einkommen, die zum grössten Teil in anderen Produktionssektoren enststehen.

- Alle Gütermengen werden in Einheiten eines numéraire-Gutes gemessen, z.B. pN; alle Preise

sind demnach relative Preise vom Typ pi / pN. Der Wert jedes Gutes in Einheiten des numéraire-

Gutes ausgedrückt ist xN / xi.

- Der englische mathematische Ökonom R.G.D. Allen hat eine der konzisesten Darstellungen

des Allgemeinen Gleichgewichtsmodells von Walras gegeben (Mathematical Economics,

London – Macmillan, 1964, pp. 314-22). Die Unbekannten (Variablen) sind alle Mengen: Die

Menge eines jeden Konsumgutes für jeden Konsumenten, sowie die Menge eines jeden

Produktionsfaktors und Output, der von jedem Produzenten hergestellt sind. Unbekannte

(Variable) sind auch die relativen Preise (pi / pN). Im (langfristigen) Allgemeinen

Gleichgewichtsmodell von Walras sind die Profite gleich Null (die Profitrate ist gleich dem

langfristigen Zinssatz, der in allen Sektoren gleich ist). Im Modell des temporären

Gleichgewichts von J.R. Hicks (Value and Capital, 1939 & 1946) weichen Profite und die

Profitraten vom Zinssatz ab; die Einheits-Profitrate ist also nicht realisiert.

- Das Allgemeine Gleichgewichtsmodell besteht aus drei Gruppen von Gleichungen:

Eine erste Gruppe von Gleichungen sind die Optimumbedingen: für die Haushalte das zweite

Gossensche Gesetz, für die Unternehmen die Minimalkostenkombination.

Die Budgetrestriktionen für Konsumenten und Produzenten und

die Bedingungen für das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf allen Märkten –

Güter- und Faktormärkten – ergeben zwei weitere Gruppen von Gleichungen.

Die Zahl dieser Gleichungen ist gerade gleich den unbekannten Grössen, den Variablen des

Systems: alle Mengen und die relativen Preise (für die drei Fälle: Tauschgleichgewicht, Tausch-

und Produktionsgleichgewicht sowie Gleichgewicht mit Tausch, Produktion und Akkumulation,

siehe Allen 1964, pp. 316, 319 und 322).

3) Wie funktioniert das allgemeine Gleichgewichtsmodell? (Napoleoni 1968, pp. 8-11)

- Ausgangspunkt ist der Begriff des Reichtums (der auch im Titel des Hauptwerkes von Leon

Walras enthalten ist: éléments d’économie politique pure ou théorie de la richesse sociale). Für

Walras besteht der Reichtum aus der Gesamtheit aller Güter und Dienstleistungen, die nützlich

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und knapp sind. Knappe Güter sind nicht frei verfügbar, sind also nur in begrenzter Menge

vorhanden.

Im Gleichgewicht ist die Allokation der knappen Ressourcen – der Produktionsfaktoren oder der

Kapitalien – so, dass ein maximaler Reichtum (Sozialprodukt) zustande kommt. Das Allgemeine

Gleichgewicht ist also auch ein Pareto-Optimum, bei dem niemand besser gestellt werden kann,

ohne dass jemand anders schlechter gestellt wird. Das Problem der Allokation der Ressourcen –

langfristig die bestmögliche Struktur einer Wirtschaft zustande bringen – ist das zentrale

Problem der neoklassischen Theorie.

- Walras teilt den Reichtum ein in Einkommen und Kapital.

Kapitalien weisen bezüglich der Benutzung eine gewisse Dauer auf. Zu den Kapitalien gehören

* Grund und Boden

* das persönliche Kapital (die Arbeitskraft der Wirtschaftssubjekte),

* das Kapital im engeren Sinne (Gebäude, Maschinen, Werkzeuge)

Real-Einkommen sind nach einmaliger Benutzung verbraucht. Dazu gehören kurzlebige

Konsumgüter, Zwischenprodukte und die Leistungen der Kapitalgüter.

Ausgehend von dieser Klassifizierung baut Walras seine Gleichgewichtstheorie in vier Schritten

auf.

Die Funktionsweise des allgemeinen Gleichgewichtsmodells ist am besten ersichtlich aus der

Struktur des Haupterkes von Walras, den 'Eléments d'économie politique pure'.

(a) Tauschende Individuen

Ausgangspunkt sind Individuen, die über bestimmte Ausgangsausstattungen an Gütern verfügen.

Diese Individuen beginnen nun zu tauschen; sie verhalten sich dabei nutzenmaximierend. So

kommen bestimmte Endausstattungen zustande.

(b) Produktion

- Die Produktion ist für Walras ein Anwendungsgebiet des Tausches (das ist eine der zentralen

Thesen des italienischen Ökonomen Luigi Pasinetti).

- Auf den Faktormärkten fragen die Unternehmer (Produzenten) Produktionsfaktoren N, B und K

nach; Besitzer von Produktionsfaktoren - inkl. Arbeit - bieten Faktorleistungen an.

- Beim Tausch verhalten sich die Produzenten profitmaximierend, die Anbieter von

Faktorleistungen nutzenmaximierend.

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- Dies impliziert die Minimalkostenkombination der Produktionsfaktoren. Diese - N, B und K -

werden so kombiniert, dass die Produktionskosten minimiert werden.

(c) Kapitalakkumulation

In der gerade beschriebenen Situation ist der Kapitalstock gegeben. Wenn nun ein Teil des

Einkommens gespart und investiert wird, ergibt sich eine Kapitalakkumulation (K = vor allem

Maschinen und Fabrikgebäude und Lager): S = I = ∆K.

Hier wird auch die Bestimmung von Profitraten und Zinssätzen erklärt.

(d) Im einem vierten Schritt werden die Versorgung mit zirkulierendem Kapital und das Geld

behandelt.

Das Geld ist im Prinzip eine Ware (z.B. Gold und/oder Silber), die durch Banknoten vertreten

werden kann. Die Geldmenge legt die Höhe der absoluten Preise fest. (Vorher wurde immer nur

mit relativen Preisen gearbeitet.) Das heisst, dass das Geld in der Wirtschaft keine wesentliche

Rolle spielt. Geld ist neutral, weil im Falle einer Veränderung der Geldmenge die relativen

Preise sich im Prinzip nicht verändern.

Die Integration des Geldes in das Allgemeine Gleichgewichtsmodell von Walras ist jedoch mit

erstaunlichen Schwierigkeiten verbunden, auf die wir hier nicht eingehen können (eine kurze

und sehr gute Einführung in die Geldtheorie von Walras findet sich in Söllner 2001, pp. 121-25).

Nur ein Punkt sei hier erwähnt: Walras gebraucht das Geld als numéraire-Gut. Im Falle von

Warengeld (Silber, Gold) besteht keine besondere Schwierigkeit: Geld ist eine Ware wie jede

andere, mit der Eigenschaft besonders leicht tauschbar zu sein. Schwierigkeiten tauchen beim

stoffwertlosen Papiergeld auf. Der Wert des Geldes ist hier ‚sozialer’ Natur: der Auktionator

kann nun durch dezentrale Tauschvorgänge ersetzt werden, weil nicht mehr W-W’, sondern W-

G-W’ gilt. Geld wird damit zu einem Informationsträger, der Tauschvorgänge erleichtert und

gewinnt dadurch einen ‚sozialen’ Wert. Wenn aber der Markt aus vielen isolierten

Tauschvorgängen besteht, ist die Einheitlichkeit des Marktpreises wenigstens kurzfristig nicht

gegeben, obwohl eventuell ein einheitlicher Marktpreis durch Arbitrage langfristig zustande

kommen kann. Angesichts dieser Schwierigkeiten sagt Söllner(2001): „Offensichtlich sind die

neoklassische Mikroökonomie und das Phänomen des Geldes nur sehr schwer miteinander zu

vereinbaren“(124). Angesichts der Tatsache, dass wir seit der Industriellen Revolution monetäre

Produktionswirtschaften haben – der soziale Produktionsprozess und der Geld- und Finanzsektor

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stehen im Vordergrund -, ist das keine sehr ermutigende Feststellung für die neoklassische

Theorie!

4) Implikationen des Systems von Walras

- Die Preise sind Knappheitsindikatoren.

- Als solche sind sie gleich den Transformationsraten (Grenzraten der Substitution) in der

Produktion und im Konsum.

- Getauscht (und produziert) wird erst, nachdem die Gleichgewichtspreise bekannt sind. Diese

werden von einem Auktionator ermittelt. Ausgehend von zufällig ausgerufenen Preisen (prix

criés au hasard) ändert der Auktionator die Preise solange, bis das Gleichgewicht erreicht ist.

Übersteigt das Angebot die Nachfrage wird der Preis gesenkt und umgekehrt. Diesen Prozess des

Herantastens an das Gleichgewicht nennt Walras 'tâtonnement' (im Englischen 'trial and error').

Das Konzepts des Auktionators des Auktionators hat wichtige Implikationen für die

Wirtschaftsordnung: Die Gleichgewichtspreise könnten nämlich auch über eine zentrale

‚Planungsstelle’ ermittelt werden. Sobald diese Preise bekannt sind, wäre eine rationale

Wirtschaftsplanung mit dezentraler Entscheidungsfindung bezüglich der Mengen möglich: Die

vorgegeben Gleichgwichtspreise wären für die sozialistischen Manager Daten; das dezentrale

Entscheidungsproblem würde dann in der Festlegung der zu produzierenden Mengen bestehen,

wie im Modell der vollkommenen Konkurrenz.

Das Gleichgewichtsmodell von Walras könnte deshalb auch als Grundlage für die Planung in

einer sozialistischen Wirtschaft mit gesellschaftlichem und staatlichem Eigentum an

Produktionsmitteln verwendet werden. Dieser Aspekt des Modells von Walras wurde bereits im

Jahre 1908 vom italienischen Ökonomen Enrico Barone in einem berühmten Artikel

herausgestellt: Der Minister der Produktion in einem kollektivistischen Staat (Il ministro della

produzione nello stato collettivista, in: Giornale degli economisti, Sept./Okt. 1908). Diese

Theorie des Marktsozialismus wurde später im 20 Jh. unter anderen vom polnischen Ökonomen

Oskar Lange aufgenommen und weiterentwickelt.

- Das Gleichgewichtsmodell von Walras impliziert, dass alle Ressourcen voll genutzt sind, dass

also beispielsweise keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit herrscht. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit

ist mit dem Gleichgewichtsmodell unvereinbar, strukturelle und freiwillige Arbeitslosigkeit kann

jedoch mit der neoklassischen Theorie in Einklang gebracht werden.

- Wenn alle Ressourcen voll genutzt sind, ist, wie bereits erwähnt, das zentrale Problem die

Allokation der Ressourcen (Kapitalien im weiteren Sinn, Produktionsfaktoren). Diese werden

gemäss dem Walras-Modell so eingesetzt, dass die Konsumenten ihren Nutzen, die Produzenten

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den Profit maximieren. Damit wird das allgemeine Gleichgewicht von Walras zu einem sozialen

Optimum, das bei gegeben Ressourcen maximalen materiellen Wohlstand impliziert. Daher auch

der Untertitel des Hauptwerkes von Walras 'théorie de la richesse sociale'.

Der normative Aspekt des sozialen Optimums des Gleichgewichtsmodells von Walras würde

von Vilfredo Pareto, dem Nachfolger von Walras auf dem Lehrstuhl für theoretische

Nationalökonomie in Lausanne, herausgestellt. Deshalb die Bezeichnung Pareto-Optimum.

- In der allgemeinen Gleichgewichtstheorie sind zwei grosse Probleme von Bedeutung, nämlich

die Probleme der Existenz und der Tendenz zum Gleichgwicht, wenn eine

Ungleichgewichtssituation vorherrscht (Angebot und Nachfrage sind bei den bestehenden

Preisen nicht im Gleichgewicht). Das Problem der Tendenz hängt direkt mit der Stabilität oder

der Instabilität eines Gleichgewichts zusammen.

Walras befasst sich in erster Linie mit der Frage der Existenz eines Gleichgewichtes. Zu diesem

Zweck zeigte er, dass sein System ebenso viele Gleichungen wie Unbekannte aufweist. (Dies

heisst allerdings noch nicht, dass das existierende Gleichgewicht ökonomisch sinnvoll ist. Es

kann beispielsweise negative Preise aufweisen. Erst in den 1950er Jahren haben vor allem

Kenneth Arrow und Gérard Debreu gezeigt, unter welchen Umständen ein sinnvolles

allgemeines Gleichgewicht mit positiven Preisen zustande kommen kann. Es können mehrere

Gleichgewichte existieren, von denen einige stabil und andere instabil sein können.)

- Die Existenz eines allgemeinen Gleichgewichtes impliziert aber nicht, dass auch eine Tendenz

zu einem solchen Gleichgewicht existiert. Eine solche Tendenz würde nur bestehen, wenn

inverse (normale, well-behaved) Beziehungen zwischen Preisen und Mengen bestehen. Also:

wenn von einem Produktionsfaktor, z.B. Arbeit oder Kapital, bei Konstanz der anderen Faktoren

eine grössere Menge vorhanden ist, sollte sein Preis, d.h. der Lohnsatz oder der Zinssatz,

niedriger sein.

Bisher ist es noch keinem liberalen (neoklassischen) Ökonomen zu zeigen gelungen, dass eine

Tendenz zu irgendeinem Gleichgewicht existiert. Im Gegenteil führende

Gleichgewichtstheoretiker wie Gérard Debreu, Hugo Sonnenschein und Frank Hahn zweifeln an

einer allgemeinen Tendenz zu einem bestimmten Gleichgewicht. Gemäss diesen neoklassischen

Ökonomen kann es verschiedene Gleichgewichte geben. Einige sind stabil, andere instabil.

Einkommenseffekte können die Tendenz zu einem Gleichgewicht verhindern: zum Beispiel, ein

sinkender Produktpreis bedeutet, dass die Produzenten dieses Gutes niedrigere Einkommen

erhalten und deshalb auf anderen Märkten weniger Güter nachfragen können. Das heisst, die

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Tendenz zum Gleichgewicht auf einem Markt kann verstärkte Ungleichgewichte auf anderen

Märkten bewirken, was wiederum Nebenwirkungen hat usw.

Vor allem haben aber einige neo-Ricardianische Ökonomen (vor allem Piero Sraffa, Pierangelo

Garegnani und Luigi Pasinetti) in den 1960er Jahren überzeugend nachgewiesen, dass eine

Tendenz zu einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht im Prinzip nicht existiert: es bestehen im

Prinzip keine inversen (well-behaved) Beziehungen zwischen Mengen und Preisen, wenn der

Produktionsprozess ein sozialer Prozess ist. Dies war das Ergebnis der sogenannten

kapitaltheoretischen Diskussion. Der bedeutendste neoklassische Teilnehmer an dieser

Diskussion, Paul Anthony Samuelson, hat 1966 in einem abschliessenden Artikel festgehalten,

dass mit der neoklassischen Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung und damit mit der

Tendenz zu einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht schwerste Probleme bestehen: „Lower

interest rates may bring lower steady-state consumption and lower capital-output ratios, and the

transition to such lower interest rates can involve a denial of diminishing returns and entail

reverse capital deepening in which current consumption is augmented rather than sacrificed.

There often turns out to be no unambiguous way of characterizing different processes as more

‚capital intensive’, more ‚mechanized’, more ‚roundabout’ ... If all this causes headaches for

those nostalgic for the old time parables of neoclassical writing, we must remind ourselves that

scholars are not born to live an easy existence. We must respect, and appraise, the facts of life

(Samuelson, zitiert in Bortis 1997, p. 286).

Walras selber hat allerdings die Tendenz zu einem allgemeinen Gleichgewicht als

selbstverständlich angenommen. Er postulierte sogar eine natürliche Tendenz zu einem

Gleichgewicht. Dies hat er mit seinem berühmten ‚Seebeispiel’ illustriert (der in Lausanne

lehrende Walras hatte natürlich den Genfersee vor Augen!): Der glatte See bei Windstille stellt

ein Gleichgewicht dar. Bei einem Sturm entstehen Wellen, die eine Abweichung vom

Gleichgewicht darstellen. Sobald der Sturm sich legt, flachen die Wellen ab, und es kommt eine

allmähliche Annäherung an das Gleichgewicht, den glatten See zustande.

- Im Zusammenhang mit der Existenz und der natürlichen Tendenz zu einem Gleichgewicht ist

das Walrassche Gesetz zu erwähnen: Wenn bei n Gütern n-1 Märkte im Gleichgewicht sind,

muss der nte Markt auch im Gleichgewicht sein.

Das Walrassche Gesetz, das eigentlich nichts anderes als eine komplexe Ausdrucksweise des

Gesetzes von J.B. Say: Jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage.

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Das Walrassche Gesetz impliziert auch, dass die Vollbeschäftigung aller Ressourcen immer

gegeben ist. Allgemeine Überproduktion, und damit unfreiwillige Arbeitslosigkeit, sind

unmöglich.

5) Wissenschaft und Ethik

Walras betrachete sein allgemeines Gleichgwichtsmodell als reine ökonomische Theorie. Diese

betrachtet den Wirtschaftsmechanismus als völlig unabhängig von – politischen, rechtlichen,

sozialen, kulturellen – Institutionen und vor allem auch unabhängig von ethischen Elementen.

Es geht eigentlich nur darum, Angebot und Nachfrage nach Gütern zu erklären und die

Interaktionen zwischen Märkten zu beschreiben. Zu welchem - guten oder schlechten - Zweck

ein Gut nachgefragt oder angeboten wird, spielt keine Rolle. Damit ist die Ethik ausgeschaltet,

gewissermassen in die Rahmenbedingungen der Wirtschaft abgeschoben. Auch eine durch die

Faktormärkte hergestellte (funktionale) Einkommensverteilung kann ökomisch rational sein. Es

geht nur um den technischen Aspekt der Preisbestimmung durch das Gesetz von Angebot und

Nachfrage. Allgemein geht es bei Walras (und Pareto) um Effizienz, die mit dem Pareto-

Optimum verbunden ist. Auf die Frage der (Verteilungs-) Gerechtigkeit (equity) gehen Walras –

und seine Anhänger - nicht ein. Die equity drückt sich bei Walras in einer ethischen

angemessenen Verteilung der Anfangsausstattungen – vor allem von Produktionsmitteln – aus.

Walras hält also seine Theorie für rein und wertfrei. Er will die grundlegenden Prinzipien, die

das Wirtschaftsgeschehen regeln, herausarbeiten: Angebot und Nachfrage und die

Interdependenz der Märkte. Ethische Überlegungen spielen dabei keine Rolle. Das heisst nach

Walras nicht, dass Ethik unwichtig ist. Neben dem wirtschaftlichen, gibt es für die rational

handelnden Individuen den ethischen, politischen, kulturellen, ... Handlungsbereich.

Walras' Theorie ist rein individualistisch. Individuen werden in verschiedenen Bereichen tätig.

Diese Bereiche werden von bestimmten Mechanismen geregelt, z.B. die Wirtschaft vom

Marktmechanismus. Der Wirtschaftsmechanismus ist unabhängig von der Politik und von der

Ethik. Alle Bereiche stehen gleichwertig nebeneinander - eine strukturierende Werthierarchie

fehlt. (Eine solche Hierarchie der Werte würde nämlich den Menschen und die Gesellschaft zu

einem Ganzen machen; dabei könnte die Wirtschaft nur ein Mittel sein, um höhere politische

und kulturelle Zwecke zu realisieren.) Der Mensch als ganzer existiert nicht mehr. Er ist nichts

anderes als ein Akteur in verschiedenen Lebensbereichen.

Die Neoklassik betrachtet das Modell Walras als ihr Grundmodell. Dieses Modell stellt

tatsächlich ein einmalig geschlossenes System dar, das den Grundgedanken der unsichtbaren

Hand von Adam Smith spezifiziert: Das optimierende Verhalten von Produzenten und

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Konsumenten führt zu einem sozialen Optimum. Das heisst, die Rationalität der Individuen

stimmt mit der Rationalität des Marktsystems überein.

Vereinfachend gibt es zwei grosse Alternativen zu Walras (zur Neoklassik): einmal die

ökonomische Theorie des zentral geplanten Sozialismus und zweitens Keynes, der Post

Keynesianismus und das klassisch-keynesianische System der politischen Ökonomie.

c) Carl Menger

Wir haben bereits gesehen, dass bei Menger und der österreichischen Neoklassik im

Allgemeinen das Konzept des Grenznutzens eine entscheidende Rolle spielt. Er wendet dieses

Konzept nicht nur auf dem Gebiete der Nachfrage, sondern auch auf dem Gebiete des Angebots

und der Produktion an.

Zu diesem Zwecke teilt er die Gesamtheit aller Güter ein im Hinblick auf ihre Konsumnähe:

Güter 1. Ordnung sind die Konsumgüter.

Güter 2. Ordnung sind die Güter, die erforderlich sind, um die Konsumgüter zu produzieren.

Güter 3. Ordnung sind Güter, die gebraucht werden, um die Güter 2. Ordnung zu produzieren

usw.

Bei einer gegebenen Menge von Konsumgütern bestimmt der Grenznutzen den Preis (Wert)

dieser Güter.

Der Wert der Güter 2. Ordnung ergibt sich aus dem Beitrag, den diese Güter zur Produktion der

Güter 1. Ordnung leisten. Die Bestimmung des Wertes der Güter 2. und höherer Ordnung ist das

sogenannte Zurechnungsproblem, das wir auch kurz gestreift haben.

Somit wird der Wert der Güter höherer Ordnung durch den Beitrag bestimmt, den diese zur

Produktion der Güter 1. Ordnung leisten. Diese Beiträge der Güter höherer Ordnung stellen

deshalb eine Art Opportunitätskosten dar, ausgedrückt durch den entgangenen Nutzen für ein

anderes Gut, wenn ein Produktionsgut (höherer Ordnung) für die Produktion eines bestimmten

Gutes verwendet wird.

Damit wird die Verteilungstheorie ein Anhängsel der subjektiven Werttheorie. Das Problem der

unfreiwilligen (systembedingten) Arbeitslosigkeit ist in der österreichischen Neoklassik, wie in

der Neoklassik allgemein, ausgeklammert (freiwillige oder strukturelle Arbeitslosigkeit kann es

natürlich geben).

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III. Skizze des neoklassischen (Lehrbuch-)Systems

1. Marshall: Partielles Gleichgewicht

a) Der Kern seiner Theorie

Marshall betrachtete das System von Walras, die allgemeine Gleichgewichtstheorie, als

inoperabel. Um die Wirtschaftswissenschaften realitätsnäher zu gestalten, entwickelte Marshall

die Theorie des partiellen Gleichgewichts, die Theorie von Angebot und Nachfrage für einen

bestimmten Markt.

Diese Theorie wurde von anderen Ökonomen, A.C. Pigou und P.A. Samuelson, weiterentwickelt

und dominiert heute die elementaren Einführungslehrbücher der Wirtschaftswissenschaften.

Das Angebots-Nachfrage - Diagramm wurde durch Marshall zu dem Analyse-Instrument

(theoretischen Werkzeug) der Neoklassik. In der Regel wird es verwendet, um die Preisbildung

und die Festlegung der produzierten und nachgefragten Mengen auf einem Markt zu studieren.

Man kann aber auch mehrere Märkte ins Auge fassen und so Interaktionen zwischen Märkten

studieren. Schliesslich können auch gesamtwirtschaftliche Vorgänge mit dem Angebots-

Nachfrage-Modell studiert werden (das IS-LM-Modell ist ein mögliches Beispiel).

Hinter der Angebotskurve auf einem bestimmten Gütermarkt stehen profitmaximierende

Produzenten; die Kurve selber repräsentiert die Grenzkosten, die aufgrund des Gesetzes vom

abnehmenden Grenzertrag mit zunehmendem Output ansteigen. Hinter der Nachfragekurve auf

einem Gütermarkt stehen nutzenmaximierende Konsumenten. Diese Kurve fällt im p-q -

Diagramm von links oben nach rechts unten und widerspiegelt so das Gesetz des abnehmenden

Grenznutzens bei zunehmendem Konsum.

Ähnlich für die Faktormärkte: Der Verlauf der Nachfragekurve auf einem bestimmten Markt

wird vom entsprechenden (physischen oder wertmässigen) Grenzprodukt bestimmt, der Verlauf

der Angebotskurven von nutzenmaximierenden Überlegungen der Besitzer von potentiellen

Faktorleistungen.

Mit seiner partiellen Gleichgewichtsanalyse wollte Marshall die Produktionskostentheorie des

Preises von Ricardo mit der von der (österreichischen) Neoklassik entwickelten Nutzentheorie

des Preises verbinden. Bei der Bestimmung eines Preises (Wertes) wirken also Kosten und

Nutzen, Angebot und Nachfrage mit. Marshall illustrierte dies mit einer berühmten Analogie:

'Beim Zerschneiden von Papier mit einer Schere sind beide Klingen beteiligt'. Angebot und

Nachfrage bestimmen also gemeinsam den Preis.

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b) Beurteilung

Marshalls Theorie von Angebot und Nachfrage hat sich für die Analyse der Preisbildung auf

einem Markt in der kurzen Frist als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Die Anpassung an das

Gleichgewicht erfolgt jedoch bei Marshall über Mengenanpassungen, gesteuert durch das

Verhältnis von Angebots –und Nachfragepreis.

Aber Marshall sagt selber, dass langfristig der Preis durch die Produktionskosten bestimmt sei

und dass die Nachfrage die Produktionsmengen festlege, die zum langfristig normalen Preis

abgesetzt werden könnten. Der normale Preis deckt die Produktionskosten und erbringt eine

normale, befriedigende Verzinsung des investierten Kapitals.

Die Tatsache, dass bei Marshall das kurz- und langfristige Gleichgewicht über

Mengenanpassungen zustande kommt, war entscheidend für die Entwicklung der

Keynesianischen Beschäftigungstheorie, in der Mengenanpassungen eine zentrale Rolle spielen.

Ein Problem beim Partialmodell von Marshall:

- Das Partialmodell unterliegt der ceteris-paribus-Klausel: Die Vorgänge auf einem Markt

werden analysiert unter der Voraussetzung, dass alles andere gleich bleibt. Das heisst, dass

Zusammenhänge mit anderen Märkten - definitionsgemäss - nicht in Betracht gezogen wird. Das

Partialmodell eignet sich deshalb nicht für die Analyse von gesamtwirtschaftlichen Problemen;

hier kann nämlich der Einfluss anderer Märkte nicht ausgeschlossen werden.

Beispielsweise kann sich bei einer Lohnsenkung auf dem gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarkt

die Arbeitsnachfragekurve nach links verschieben, weil - wegen der Lohnsenkung - die

Güternachfrage zurückgeht. Weniger Arbeit wird nachgefragt und die Nachfragekurve nach

Arbeit verlagert sich deshalb nach links. Der vielleicht bedeutendste und einflussreichste

neoklassische Ökonom des 20. Jh., Paul Anthony Samuelson, hält in seinem berühmten

Lehrbuch ausdrücklich fest, dass im Falle von Lohnsenkungen zwischen Bewegungen auf und

Verschiebungen der Nachfragekurve auf dem Arbeitsmarkt nicht unterschieden werden kann.

Verschiebungen dieser Kurve sind zurückzuführen auf den Einfluss anderer Märkte, vor allem

der Konsumgütermärkte.

Um Interaktionen auf den verschiedenen Märkten in Betracht zu ziehen, hielt Walras den

umfassenden Ansatz der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie für unabdinglich. Walras war auf

Marshall übrigens, eben wegen dem partialanalytischen Ansatz des letzteren, nicht gut zu

sprechen.

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2. Grenzproduktivitätstheorie

a) Die Grenzproduktivitätstheorie der Einkommensverteilung wurde von John Bates Clark

(1847-1938) entwickelt. Diese Theorie sollte die unbefriedigende österreichische

Zurechnungstheorie als neue und bessere neoklassische Verteilungstheorie ablösen.

John Bates Clark brachte zusammen mit Irving Fisher (1867-1947) die neoklassische Theorie

nach den Vereinigten Staaten. Er veröffentlichte 1899 ein Buch 'The Distribution of Wealth', in

dem er die Grenzproduktivitätstheorie darstellte. Dieser Theorie liegt eine sehr einfache Idee

zugrunde: Der Anteil eines Produktionsfaktors am Volkseinkommen Y soll proportional sein zu

seinem Beitrag zum Sozialprodukt Q. Für Arbeit ist das Konzept des Grenzprodukts klar:

∂Q/∂N; ebenso wirft das Grenzprodukt des Bodens (∂Q/∂B) keine prinzipiellen Probleme auf.

Das Grenzprodukt des Kapitals (∂Q/∂K = ∆P/∆K = r) dagegen wirft tiefgehende theoretische

Probleme auf, die mit dem Problem der Kapitalmessung in physischen Einheiten

zusammenhängen.

Der Wettbewerb stellt sicher, dass Löhne und Profite für gleichwertige Leistungen überall gleich

sind.

Gemäss der Grenzproduktivitätstheorie ist also die Verteilung ein Marktprozess, der über das

Marginalprinzip gesteuert wird. Die Verteilung wird zu einem Verhältnis zwischen Individuen

oder Gruppen von Individuen, z.B. Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das zugrunde liegende

Gerechtigkeitsprinzip ist das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit.

Dies steht in diametralem Gegensatz zur klassischen Verteilungstheorie wie sie von David

Ricardo entwickelt wurde. Bei Ricardo ist die Verteilung ein sozialer Prozess, der auf dem

Überschussprinzip beruht. Es geht um Verhältnisse von Individuen und sozialen Gruppen zum

gesellschaftlichen Ganzen; solche Verhältnisse sind in erster Linie die Anteile der

Produktionsfaktoren am Sozialprodukt oder Volkseinkommen: W/Y, P/Y und R/Y. Das

grundlegende Gerechtigkeitsprinzip ist das der verteilenden Gerechtigkeit. Marx wendet das

Überschussprinzip an, um die Einkommensverteilung in der kapitalistischen Realität durch den

Klassenkampf zu erklären.

Implikationen der Grenzproduktivitätstheorie:

1) Das klassische Überschussprinzip, das die Löhne grob dem notwendigen Konsum

gleichsetzte, gilt nicht mehr. Der Grenzproduktivitätslohn muss nicht dem natürlichen oder,

eventuell, dem Subsistenzlohn entsprechen.

2) Die Grenzproduktivitätstheorie scheint zwei wichtigen Prinzipien zu genügen.

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- dem Prinzip der Effizienz: die Produktion wird maximiert und unproduktive Ressourcen

werden eliminiert;

- dem Prinzip der Gerechtigkeit: jeder wird nach seiner Leistung entlohnt. (Allerdings wird hier

‚Gerechtigkeit’ nur auf die funktionale Verteilung bezogen. Das grundlegendere

Gerechtigkeitsproblem der Verteilung der Ausgangsausstattungen, das bei Walras auftaucht, ist

hier ausgeklammert.)

Die Grenzproduktivitätstheorie wird so zu einem Naturgesetz der Verteilung, das auch von der

Neoklassik explizit oder implizit mit sozialer Harmonie in Zusammenhang gebracht wird.

Der Ausbeutungsgedanke wird damit bei der Grenzproduktivitätstheorie bedeutungslos. Hier

zeigt sich die ideologische Bedeutung der Grenzproduktivitätstheorie als theoretische

Alternative des Liberalismus zur Marxschen Ausbeutungstheorie, die einen Teil der

Kapitalismustheorie von Marx darstellt.

- Die Grenzproduktivitätstheorie führt automatisch zum Konzept der Faktormärkte.

Damit geht die Preisbildung für Produktionsfaktoren nach dem gleichen Prinzip vor sich, wie die

Preisbildung für andere Güter, vor allem Konsumgüter.

b) Das 'adding-up' – Problem wurde von Philip H. Wicksteed, 1844-1927) formuliert:

Welche Eigenschaften muss die neoklassische Produktionsfunktion Q = f(N, K) erfüllen, damit

die Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung zu einem nominalen Volkseinkommen Yn = wn N

+ rp K führt, das gleich dem nominalen Sozialprodukt pQ ist?

Das Gleichgewicht der Faktormärkte erfordert die Gleichheit von Faktorpreisen und

Wertgrenzprodukten:

wn = p (∂Q/∂N) und r p = (∂Q/∂K) p .

Die Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung gilt dann, wenn

pQ = p (∂Q/∂N) N + (∂Q/∂K) p K

gegeben ist. (Eulersches Theorem und linear homogene Produktionsfunktion).

[In realen Grössen - oben dividiert durch p – ergibt sich: Y = wN + rK und Q = (∂Q/∂N) N +

(∂Q/∂K) K].

Die Gültigkeit der Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung setzt also eine linear-homogene

Produktionsfunktion voraus, die konstante Skalenerträge impliziert. Vor allem der englisch-

ungarische Ökonom Nicholas Kaldor hat dieses neoklassische Postulat scharf kritisiert, weil

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nach ihm zunehmende Skalenerträge die moderne Wirtschaft dominieren, eine Ansicht, die auch

Adam Smith bereits vertrat.

3. Neoklassische Geldtheorie

a) Die langfristige neoklassische Geldtheorie wird durch die Quantitätstheorie: PQ = MV

verkörpert (Irving Fisher, Milton Friedman; Monetarismus). Diese stellt eine Reformulierung der

berühmten Cambridge Geldgleichung dar, die von Alfred Marshall entwickelt wurde: M = hPY.

Gemäss dieser Gleichung halten die Wirtschaftssubjekte einen bestimmten Bruchteil h des

nominalen Sozialprodukts (oder Volkseinkommens) PY in Geldform, um die anfallendenden

Transaktionen – Käufe und Verkäufe – abwickeln zu können.

b) Der schwedische Ökonom Knut Wicksell (1851-1926) beschäftigte sich in seinem wichtigen

Buch ‚Geldzins und Güterpreise, 1898’ mit Geld und Finanz und wurde damit zu einem

Vorläufer von Keynes (Treatise on Money, 1930).

Wicksell unterscheidet zwei Zinssätze: den natürlichen Zinssatz r und den Bankzinssatz b:

- r ist die Grenzproduktivität des Kapitals (Ertragsrate des Realkapitals: ∂Q/∂K); r ist gleich dem

Gleichgewichtszinssatz i, der mit Konsumverzicht verbunden ist, bei dem S(i) = I(r) ist. r(=i) ist

der ‚natürliche’ Zinssatz.

- b ist der Zinssatz, zu dem das Bankensystem Kredite gewährt.

Wenn r (=i) > b ist, kommt eine Kreditexpansion zustande. Preise und zum Teil auch Mengen

steigen. Es entsteht ein kumulativer inflatorischer Prozess bei sich die Geldmenge an das

Preisniveau anpasst. Und umgekehrt bei r(=i) < b.

Schlussbemerkungen

Das neoklassische System, vor allem das Allgmeine Gleichgewichtsmodell von Léon Walras,

direkt verbunden mit dem Pareto-Optimum, ist offensichtlich normative Theorie. Es stellt also

das ‚liberale Ideal’ dar, und nicht die verformte kapitalistische Realität, die über weite Strecken

des Zeitraums 1870-90 keineswegs nur erfreulich war: Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und

Auswanderung; Aufkommen des Monopolkapitalismus; schliesslich die bedrohliche

Kapitalismuskritik des ersten Bandes des Kapitals von Karl Marx.

Es ist deshalb verständlich, dass es nicht die Absicht der grossen Neoklassiker sein konnte, die

kapitalistische Realität zu beschreiben. Jevons, Menger, Walras und Marshall wollten ein

liberales Leitbild schaffen, die ideale liberale Wirtschaft darstellen, nämlich eine

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Wettbewerbswirtschaft mit vollkommener Konkurrenz. Zu diesem Leitbild sollte der liberale

Politiker aufblicken können, um seine Wirtschaftspolitik, im wesentlichen Wettbewerbspolitik,

gestalten zu können.

Die theoretische Leistung der Neoklassiker ist schlechthin grossartig. Walras hat die

Implikationen der unsichtbaren Hand von Adam Smith herausgearbeitet, Marshall hat eine

‚praktikable’ Neoklassik geschaffen, Carl Menger hat die Grundlagen für die österreichische

‚Ungleichgewichtstheorie’ geschaffen, die von Joseph Schumpeter mit seinem ‚Prozess der

schöpferischen Zerstörung’ zur Grundlage der modernen Evolutionstheorie gemacht hat. Die

Begründer der Neoklassik waren überzeugte humanistische Liberale im Sinne der 1848

Liberalen. Als solche hatten sie die ehrliche Absicht, die wirtschaftstheoretischen Grundlagen

für eine bessere Welt zu schaffen. Die Begründer der Neoklassik haben somit die liberale

Botschaft von Adam Smith aufgenommen und sie in modernisierter aber auch vereinfachter

Form verkündet. Adam Smith sah sich am Ende von Absolutismus und Merkantilismus an der

Schwelle eines neuen Zeitalters. Die Neoklassiker, vor allem der sozial sehr stark engagierte

Marshall, hofften auch das Heraufkommen eines besseren Zeitalters beschleunigen zu können (in

der Literatur wird Adam Smith als ein optimistischer Liberaler bezeichnet, ebenso in

abgeschwächter Form die 1870er Neoklassiker).

Die gigantische theoretische Leistung der Neoklassiker bringt es mit sich, dass man alternative

theoretische Ansätze, vor allem den Ansatz der politischen Ökonomie (François Quesnay, David

Ricardo, Karl Marx und Maynard Keynes) nur einigermassen verstehen kann, wenn man sich

mit dem neoklassischen Modell in seinen verschiedenen Varianten ein wenig vertraut gemacht

hat. Genau wie man sein eigenes Land besser versteht, wenn man andere Länder ein wenig

kennt, ist eine gewisse Kenntnis der Neoklassik erforderlich, wenn man die politischen

Ökonomen einigermassen richtig einschätzen will.

Die grosse Schwäche des neoklassischen Systems liegt in der Grundannahme der

Selbstregulierung von Wettbewerbswirtschaften. Diese Selbstregulierung beruht auf dem Tausch

und liegt allen neoklassischen Modellen zugrunde. Was aber, wenn wir monetäre

Produktionswirtschaften haben, in denen der soziale Produktionsprozess (François Quesnay und

ricardianische Klassik), Geld und der Finanzsektor (Keynes) die zentrale Rolle spielen? In dieser

klassisch-Keynesianischen Sicht der Dinge werden notwendigerweise die grossen politischen

Ökonomen – Quesnay, Ricardo, Marx und Keynes – wieder stärker in den Vordergrund rücken.

Dies vor allem, weil die modernen Wirtschaften, die sich nach der englischen industriellen

Revolution herausgebildet haben, nicht Tauschwirtschaften, sondern monetäre

Produktionswirtschaften sind.

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Literatur:

Maurice Dobb: Theories of Value and Distribution since Adam Smith – Ideology and

Economic Theory. Cambridge - (Cambridge University Press) 1973

(deutsche Übersetzung existiert)

Claudio Napoleoni: Grundzüge der modernen ökonomischen Theorien. Frankfurt

(Suhrkamp) 1968; ital. Original 1963

Ernesto Screpanti and Stefano Zamagni: An Outline of the History of Economic

Thought. Oxford (Clarendon Press) 1993

Fritz Söllner: Geschichte des ökonomischen Denkens. Zweite Auflage, Berlin-

Heidelberg (Springer-Verlag) 2001; erste Auflage 1999