1998_fremde in der stadt

6
 VERSCHIEDENES 1 Fremde in der Stadt Sie bleiben eine Provokation. Ihre Integration kann nur unter bestimmtenBedingungen gelingen. Anmerkungen eines Stadtsoziologen zurEinwanderungsgesellschaft VON Walter Siebel | 19. November 1998 - 13:00 Uhr Die Integration von Fremden in Deutschland ist - so scheint es - durchaus schon einmal gelungen: im Ruhrgebiet. Ein deutliches, wenn auch beunruhigendes Indiz dafür mag darin gesehen werden, daß Frau Kowalsky den Türken, die sich in den Grünanlagen von Wattenscheid breitmachen, mit der gleichen Aversion begegnet wie Frau Schmitz. Läßt sich daraus etwas für die Zuwanderung heute lernen? Diese Frage soll hier zunächst als Ausgangspunkt dienen. Die Ruhrpolen kamen in eine im wörtlichen und übertragenen Sinne leere Region. Fast alle waren Zuwanderer, und es gab keine traditionsstarke Kultur der Eingesessenen, an die sie sich hätten anpassen müssen. Das Ruhrgebiet war ein Schmelztiegel, in dem eine neue, eben die industrielle Gesellschaft entstand. Zudem waren Kohle und Stahl damals eine hochmoderne, rasant expandierende Industrie. Die Z uwanderer heute hingegen finden, wenn überhaupt, dann vornehmlich in schrumpfenden Branchen Arbeit. Überdies kamen die Polen gar nicht aus Polen - das gab es erst wieder nach 1918 -, sondern aus Preußen. Sie hatten die deutsche Staatsbürgerschaft. Die heutigen Zuwanderer haben sie nur dann, wenn sie als Aussiedler gelten. Die erste Erklärung für ihre erfolgreiche Integrationsgeschichte liegt in diesen günstigen Bedingungen, welche die Ruhrpolen vorfanden. Die zweite Erklärung heißt Zeit. Es hat fast hundert Jahre und die Lebensspanne dreier Generationen gedauert, bis heute mit dem Namen Schimanski ein beliebter deutscher Schauspieler und nicht das Schimpfwort Polack assoziiert wird. Die dritte Erklärung heißt Repression, erst die rüde Germanisierungspolitik Preußens, später die Unterdrückung durch die Nationalsozialisten. Die wichtigste Erklärung aber liegt darin, daß die weit überwiegende Mehrheit der Polen gar keine Integration kennengelernt hat: Nach dem Ersten Weltkrieg sind etwa drei Viertel der ursprünglich 500 000 Ruhrpolen in das damals wiederentstandene Polen zurück- oder weiter nach Belgien und Frankreich gewandert. Plausiblerweise sind vor allem diejenigen wieder fortgezogen, die noch keine festeren Wurzeln im Ruhrgebiet hatten schlagen können. Der Eindruck gelungener Integration verdankt sich in erster Linie einer massiven Selbstselektion der Polen. Die Geschichte der Ruhrpolen gibt also durchaus Anlaß zu Pessimismus. Aber es läßt sich aus ihr auch etwas über die Bedingungen gelingender Integration lernen.

Upload: victor3030

Post on 14-Jan-2016

3 views

Category:

Documents


0 download

DESCRIPTION

Artikel

TRANSCRIPT

Page 1: 1998_Fremde in Der Stadt

7/18/2019 1998_Fremde in Der Stadt

http://slidepdf.com/reader/full/1998fremde-in-der-stadt 1/6

VERSCHIEDENES

1

Fremde in der Stadt

Sie bleiben eine Provokation. Ihre Integration kann nur unterbestimmtenBedingungen gelingen. Anmerkungen einesStadtsoziologen zurEinwanderungsgesellschaftVON Walter Siebel | 19. November 1998 - 13:00 Uhr

Die Integration von Fremden in Deutschland ist - so scheint es - durchaus schon einmal

gelungen: im Ruhrgebiet. Ein deutliches, wenn auch beunruhigendes Indiz dafür mag

darin gesehen werden, daß Frau Kowalsky den Türken, die sich in den Grünanlagen von

Wattenscheid breitmachen, mit der gleichen Aversion begegnet wie Frau Schmitz. Läßt

sich daraus etwas für die Zuwanderung heute lernen? Diese Frage soll hier zunächst als

Ausgangspunkt dienen.

Die Ruhrpolen kamen in eine im wörtlichen und übertragenen Sinne leere Region. Fast

alle waren Zuwanderer, und es gab keine traditionsstarke Kultur der Eingesessenen, an

die sie sich hätten anpassen müssen. Das Ruhrgebiet war ein Schmelztiegel, in dem eine

neue, eben die industrielle Gesellschaft entstand. Zudem waren Kohle und Stahl damals

eine hochmoderne, rasant expandierende Industrie. Die Zuwanderer heute hingegen finden,

wenn überhaupt, dann vornehmlich in schrumpfenden Branchen Arbeit. Überdies kamen

die Polen gar nicht aus Polen - das gab es erst wieder nach 1918 -, sondern aus Preußen. Sie

hatten die deutsche Staatsbürgerschaft. Die heutigen Zuwanderer haben sie nur dann, wenn

sie als Aussiedler gelten. Die erste Erklärung für ihre erfolgreiche Integrationsgeschichteliegt in diesen günstigen Bedingungen, welche die Ruhrpolen vorfanden.

Die zweite Erklärung heißt Zeit. Es hat fast hundert Jahre und die Lebensspanne dreier

Generationen gedauert, bis heute mit dem Namen Schimanski ein beliebter deutscher

Schauspieler und nicht das Schimpfwort Polack assoziiert wird.

Die dritte Erklärung heißt Repression, erst die rüde Germanisierungspolitik Preußens,

später die Unterdrückung durch die Nationalsozialisten.

Die wichtigste Erklärung aber liegt darin, daß die weit überwiegende Mehrheit der Polen

gar keine Integration kennengelernt hat: Nach dem Ersten Weltkrieg sind etwa drei Viertelder ursprünglich 500 000 Ruhrpolen in das damals wiederentstandene Polen zurück- oder

weiter nach Belgien und Frankreich gewandert. Plausiblerweise sind vor allem diejenigen

wieder fortgezogen, die noch keine festeren Wurzeln im Ruhrgebiet hatten schlagen

können. Der Eindruck gelungener Integration verdankt sich in erster Linie einer massiven

Selbstselektion der Polen. Die Geschichte der Ruhrpolen gibt also durchaus Anlaß zu

Pessimismus.

Aber es läßt sich aus ihr auch etwas über die Bedingungen gelingender Integration lernen.

Page 2: 1998_Fremde in Der Stadt

7/18/2019 1998_Fremde in Der Stadt

http://slidepdf.com/reader/full/1998fremde-in-der-stadt 2/6

VERSCHIEDENES

2

Sie setzt zunächst einmal gleiche Bürgerrechte voraus. Diese aber haben als notwendiges

Pendant, daß die Neubürger ihrerseits die allgemeine Gültigkeit der Grundrechte

anerkennen. Man kann dies normativ unter Rückgriff auf die Verfassung begründen. Karl

Otto Apel hat eine weiter gehende, logische Begründung vorgeschlagen: Der Fremde, der

für sich das Recht auf Anderssein beansprucht, kann mit diesen Recht nicht den Anspruch

rechtfertigen, anderen dieses Recht vorzuenthalten. Ein Recht auf Anderssein ist nur als

universell Gültiges überhaupt denkbar. Die Voraussetzung für die Integration des Fremden

definiert somit auch eine Schranke möglichen Andersseins und zulässiger Fremdheit.

Diese von den Menschenrechten und der Verfassung gebotenen Grenzen gesellschaftlich

erträglichen Andersseins sind noch sehr weit gezogen. Doch der von Norbert Elias

analysierte "Prozeß der Zivilisation" hat weniger sichtbare, aber weiter gehende

Anpassungsforderungen zur Folge, sie begründen gewissermaßen die zweite Bedingung

der Integration. Wer im Straßenverkehr einer Großstadt überleben will, muß nicht nur

die Verkehrsregeln, sondern auch Selbstbeherrschung gelernt haben. Erst recht setzen

die besseren Berufe in modernen Gesellschaften sehr spezifische Fähigkeiten und ein

hohes Maß an Selbstkontrolle voraus. Wer gegenüber den moralischen und technischen

Qualifikationsanforderungen des modernen Berufsmenschentums auf seinem Recht

auf Anderssein beharren wollte, hätte sich mit dauerhafter Ausgrenzung zumindest aus

den attraktiveren Segmenten des Arbeitsmarktes abzufinden. Soziale Integration des

Fremden in modernen Gesellschaften gelingt nur innerhalb der Grenzen, die der Prozeß der

Zivilisation im Verlauf einer langen Geschichte errichtet hat, und diese Grenzen verlangen

Anpassungsleistungen, die das Individuum nur in einem langen Sozialisationsprozeßerwirbt.

Es ließe sich einwenden: um so schlimmer für diese Zivilisation. Was rechtfertigt es, das

Ergebnis einer sehr spezifischen europäischen Geschichte, noch dazu wenn es Selbstzwang

und Verzicht auf Spontaneität beinhaltet, zur Vorbedingung gelungener Integration zu

erklären? Der Einwand ist berechtigt, aber doch sehr abstrakt; eine theoretische Kritik, die

an der Realität, in die der Fremde nun einmal gestellt ist, wenig ändert.

Die dritte Voraussetzung gelingender Integration ist ökonomischer Art. In vormodernen

Gesellschaften gibt es den Fremden nur als Durchziehenden, nicht als einen, der kommt,

um zu bleiben. In Gesellschaften ohne Markt und Sozialstaat hätte ein Fremder, jemand

also, der nicht in das soziale Netz von Verwandtschaft und Nachbarschaft eingebunden ist,

kaum eine Chance, auch nur ökonomisch zu überleben. Eine Kultur, die Fremdheit zuläßt,

und eine Gesellschaft, die Fremde aufnimmt, setzen ökonomische Integration voraus. Sie

muß durch den Arbeitsmarkt oder staatliche Sicherungen gewährleistet sein, es sei denn,

die Fremden wären wohlhabende Rentiers.

Eine vierte Voraussetzung gelingender Integration läßt sich aus der Geschichte

der Ruhrpolen ableiten. Die Ruhrpolen haben sehr früh, teilweise in Reaktion auf 

Diskriminierung, eigene Vereine, eigene Zeitungen, eigene religiöse Gemeinden et

Page 3: 1998_Fremde in Der Stadt

7/18/2019 1998_Fremde in Der Stadt

http://slidepdf.com/reader/full/1998fremde-in-der-stadt 3/6

VERSCHIEDENES

3

cetera gegründet. Die polnische Gewerkschaft entwickelte sich schnell zur drittstärksten

Gewerkschaft im Ruhrgebiet. Sie haben sich also als Polen organisiert und somit selbst

ausgegrenzt. Aber damit entfaltete sich eine Dialektik von Ausgrenzung und Integration.

Ihre Organisationen und ihre zahlenmäßige Stärke erlaubten es den Polen, eigene

Interessen durchzusetzen. Zugleich mußte, wer eine Gewerkschaft oder einen Fußballverein

gründete, sich in die Spielregeln der politischen oder sportlichen Auseinandersetzung

einüben. Selbstorganisation ist somit ein zweifacher Schritt in Richtung auf Integration:

Durchsetzung der eigenen Interessen, daher Veränderung der Umwelt, und Aneignung der

Spielregeln der einheimischen Gesellschaft, also Anpassung.

Diese Dialektik von Integration und Ausgrenzung gilt allgemein. Man kann die

Entwicklung einer ethnischen Ökonomie als Ausgrenzung interpretieren. Aber selbst der

türkische Lebensmittelhändler, der ausschließlich türkische Kunden versorgt, muß eine

Gewerbegenehmigung einholen und in das örtliche Großhandelssystem eingebunden sein,

sich also zumindest partiell in das Rechts- und Wirtschaftssystem der Stadt integrieren.

Freiwillige Segregation hilft dem Zusammenleben

Soziologen haben die Einwandererstadt Chicago als ein Patchwork kulturell verschiedener

Städte beschrieben: Chinatown, Germantown, Little Italy, als einen Flickenteppich, in

dem jede Gruppe ein bestimmtes Territorium besetzt hält, auf dem sie ihre Kultur leben

kann. Wer heute den New Yorker Broadway hinaufgeht, bewegt sich auf der Höhe von

Wall Street unter weißen Bankern, weiter oben zwischen Chinesen, und wieder weiter

sieht er orthodoxe Juden oder Hispanics um sich. Das Faszinierende ist, daß diese Stadtfunktioniert, daß sie weder ökonomisch noch technisch zusammenbricht und daß die

verschiedenen Völkerschaften einander nicht die Schädel einschlagen.

In Deutschland hat man sich daran gewöhnt, daß städtische Gemeinwesen auf der Basis

von Homogenität funktionieren: derselben Sprache, derselben Religion, möglichst auch

noch ähnlichen Aussehens. In Zukunft werden auch deutsche Durchschnittsstädte mit

sehr viel mehr Differenz auskommen müssen, und das heißt, sie werden sehr viel mehr

räumliche Absonderung ethnischer, kultureller und sozialer Gruppen in verschiedenen

Stadtquartieren, also Segregation hinnehmen müssen.

Freiwillige, wohlgemerkt: freiwillige, Segregation - eine Stadt, in der verschiedene

soziale Gruppen ihr je eigenes Zuhause eingerichtet haben - ist Voraussetzung für soziale

Integration: Einmal erlaubt sie, Konflikte durch räumliche Distanz zumindest zu mildern.

Zum andern bietet sie auch den neu Zugewanderten einen Ort vertrauter Lebensweisen

und mildert damit den Schock, sich plötzlich in der Fremde zurechtfinden zu müssen. Läßt

man sich nicht erst auf Basis einer solchermaßen halbwegs gesicherten Identität auf die

Auseinandersetzung mit einer neuen, fremden Kultur ein?

Die fünfte Bedingung gelingender Integration ist die anonyme Stadt. Heute kommen

die Zuwanderer - anders als die Polen im Ruhrgebiet oder die frühen europäischen

Page 4: 1998_Fremde in Der Stadt

7/18/2019 1998_Fremde in Der Stadt

http://slidepdf.com/reader/full/1998fremde-in-der-stadt 4/6

VERSCHIEDENES

4

Einwanderer in Nordamerika - nicht in eine scheinbar leere Region. Die Fremden wandern

heute vor allem in die großen Städte. Dies nicht allein wegen der aufnahmefähigen

Arbeitsmärkte, sondern auch wegen jener Aspekte der Großstadt, die immer wieder

kritisiert worden sind: just wegen der Fremdheit und Anonymität des Großstadtlebens.

Die Stadt ist der Ort, an dem Fremde wohnen. In der Dorfgemeinschaft gibt es keine

Fremden. In der Stadt sind fremde Gesichter das Normale, nur die vertrauten fallen auf.

Auf dem Dorf ist es umgekehrt. Auf den Straßen einer Stadt bewegt sich jeder, auch der

Einheimische, als ein Fremder unter Fremden. Insofern hat die Kritik an der Kälte des

Großstadtlebens recht, nur sind Fremdheit und Anonymität ebenso Voraussetzungen

für die Hoffnungen, die sich von jeher mit der großen Stadt verknüpft haben. Die

Dorfgemeinschaft ist auch ein Ort sozialer Kontrolle. Die Unübersichtlichkeit der großen

Stadt bietet dagegen noch für das ausgefallenste Interesse und für das seltsamste Bedürfnis

eine Nische, wo sie sich entfalten können, und ihre Anonymität garantiert, daß der Fremde

unbehelligt von Nachbarn und Verwandten leben kann.

Ohne Fremde gibt es keine produktiven Städte

Der Fremde ist der Prototyp des Städters, und Fremdheit ist das Ferment von Urbanität.

Ohne den Zuzug von Fremden gibt es keine großen und schon gar keine kulturell und

ökonomisch produktiven Städte. Denn die Fremden tragen nicht nur ihr Elend in die Städte.

"Diejenigen Individuen, die sich zur Auswanderung entschließen, sind ... die tatkräftigsten,

willensstärksten, wagemutigsten, kühlsten, am meisten berechnenden, am wenigstensentimentalen Naturen; ganz gleich, ob sie wegen religiöser oder politischer Unterdrückung

oder aus Erwerbsgründen sich zu der Wanderung entschließen" ( Werner Sombart ). Der

Zustrom von Fremden schleppt soziale, politische und ökonomische Lasten mit sich,

aber ebenso auch neue Fertigkeiten, eine andere Kultur, also mehr Differenz, und die

ökonomische wie die kulturelle Produktivität der Stadt lebten immer von Arbeitsteilung

und Differenz.

Die Integration des Fremden in einer urbanen Kultur, in der die produktive Spannung

zwischen verschiedenen Fremdheiten offengehalten bleibt, ist somit höchst

voraussetzungsvoll: ein Rechtssystem, das allen gleiche Rechte gewährt, aber auchden Respekt vor den gleichen Rechten aller bei allen durchsetzt; ökonomisches

Wachstum, aufnahmefähige Arbeitsmärkte und funktionierende sozialstaatliche Netze; ein

Bildungssystem, das jedem die Chance bietet, die auf den Arbeitsmärkten notwendigen

Qualifikationen zu erwerben; schließlich eine Stadt, die allen Raum bietet, sich ihre jeweils

eigene Heimat zu schaffen, und dennoch genügend Anonymität und Fremdheit erlaubt, so

daß jeder nach seiner Façon selig werden kann, ohne daß gute Bek annte oder die Polizei

darauf achteten, ob er das rechte Mittelmaß einhält.

Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wenn die Gesellschaft also

gleichsam alles getan hat, bleibt die Rolle des Fremden prekär. Das haben schon die

Page 5: 1998_Fremde in Der Stadt

7/18/2019 1998_Fremde in Der Stadt

http://slidepdf.com/reader/full/1998fremde-in-der-stadt 5/6

VERSCHIEDENES

5

Begründer der Soziologie der Stadt, Georg Simmel und Robert Park, gewußt. Beide haben

Essays über den Fremden geschrieben, es sind Essays über die Ambivalenz der Stadtkultur.

Der Fremde lebt, Simmel zufolge, auf der Grenze zwischen zwei Kulturen: derjenigen, ausder er stammt, und der, in der er sich niederlassen will. Simmel nennt den Fremden den

wahrhaft freien, "objektiven Menschen": Da der Fremde zwei Kulturen angehöre, ohne in

einer ganz integriert zu sein, eigne seiner Rolle eine besondere Freiheit und Distanz, die

ihn zu kritischer Reflexion und ungewöhnlichen Leistungen befähigten. Aber die Situation

des Menschen auf der Grenze zwischen zwei Kulturen ist riskant. Robert Park hat den

Fremden den marginal man genannt, der alte Vertrautheiten aufgeben muß, ohne schon

neue gewonnen zu haben. Das ist eine Chance, birgt aber die Gefahr des Absturzes in

persönliches Scheitern und psychische Krankheit.

Georg Simmel hat von der notwendigen "Selbstpanzerung" des Großstädters durchGleichgültigkeit, Distanziertheit und Blasiertheit gesprochen, Hans Paul Bahrdt von

der "urbanen Tugend" resignierter Toleranz, die dem Fremden, auch wenn man ihn

nicht versteht, dennoch eine verstehbare Identität unterstellt. Genügen Toleranz und

Selbstpanzerung? Werden in modernen Stadtgesellschaften von den Zugewanderten wie

von den Einheimischen nicht jenseits aller rechtlichen, ökonomischen und städtischen

Voraussetzungen besondere Leistungen verlangt, die über die passiven Tugenden

resignierter Toleranz weit hinausgehen?

In modernen Gesellschaften beruht soziales Handeln, und gerade auch das alltäglichste,

auf einer Fülle von Verhaltens- und Orientierungsmustern, die meist gar nichtbewußt sind. Auch der Fremde verfügt über ein solches Repertoire, nur daß seine

Verhaltensregeln und Orientierungsmuster häufig andere, eben fremde sind. So kann die

bloße Anwesenheit des Fremden ärgerlich werden, denn allein schon sein Anderssein stellt

die Selbstverständlichkeiten des Alltags der Einheimischen in Frage. In einer Gesellschaft

zum Beispiel, die sich daran gewöhnt hat, die Enthüllung des weiblichen Körpers als

einen Schritt der Emanzipation zu verstehen, müssen verhüllte Frauen eine Provokation

darstellen.

Der Fremde ist zugleich Bedrohung und Verführung. Sein Anderssein kann den

Einheimischen an das erinnern, was er im Verlauf der eigenen Zivilisierung hat aufgebenmüssen: spontane Lust und unverstellte Emotion. Bedrohung und Verlockung aber müssen

beide im Interesse der Norm abgewehrt werden.

Der Fremde, der sich um Anpassung bemüht, lernt die Regeln der einheimischen Kultur

nicht von klein auf, sondern als ein Erwachsener, also mit Bewußtsein. Da er sie nicht

mit der Muttermilch aufsaugen konnte, muß er sie intellektuell verstehen lernen, er wird

folglich Fragen stellen, und er wird gerade dort besonders eindringlich nachfragen, wo

das Verhalten der Einheimischen sich eben nicht von selbst verstehen läßt, also wo es

inkonsistent oder widersprüchlich ist. Das aber macht ihn erst recht zum Ärgernis.

Page 6: 1998_Fremde in Der Stadt

7/18/2019 1998_Fremde in Der Stadt

http://slidepdf.com/reader/full/1998fremde-in-der-stadt 6/6

VERSCHIEDENES

6

In Südeuropa kann es geschehen, daß ein Handwerker jede Bezahlung für eine Leistung

gestenreich von sich weist: Er habe das gerne getan, als guter Nachbar, und Bezahlung sei

beinahe kränkend. Der Nordeuropäer aber, der nichts falsch machen will und nachfragt:

Meinen Sie das wirklich, und brauchen Sie denn das Geld nicht? - er deckt mit solch

taktlosen Fragen den Widerspruch zwischen den Gesten des großzügigen Grandseigneurs

und der realen Angewiesenheit auf Bezahlung auf.

Dafür ist selten jemand dankbar.

Selbst unter den günstigsten gesellschaftlichen Bedingungen ist die Integration des

Fremden somit eine riskante Gratwanderung, die Fremden wie Einheimischen eine

außeralltägliche Leistung abverlangt.

Das Fatale liegt nun darin, daß diese Leistung gerade von jenen verlangt wird, die am

wenigsten dazu in der Lage sind.

Die Segnungen einer Kultur der Differenz und die urbane Tugend der Toleranz werden

im allgemeinen von Angehörigen einer wohlsituierten Mittelschicht gepriesen. Aber die

Gnade gespaltener Arbeitsmärkte und segregierter Städte bewahrt just diese meist davor,

das, was sie predigen, in ihrem Alltag auch praktizieren zu müssen. Die Zuwanderer

dringen in solche Segmente des Arbeitsmarktes und in solche Wohnquartiere, wo sie auf 

Einheimische treffen, deren Situation ebenfalls ökonomisch und sozial prekär ist. Sie

kommen also in Kontakt gerade zu jenen Eingesessenen, die schon aufgrund ihrer eigenen

Ungesichertheit am wenigsten in der Lage sind, mit den Zumutungen der Fremdheitumzugehen. Die Aufgabe der Integration gerade den Schwächsten aufzubürden, das wird

eher zu rechtsradikaler Fremdenfeindlichkeit führen als zu produktiver Auseinandersetzung

mit dem Fremden.

Der Prozeß der Integration ist ein riskanter Prozeß, in dem die einzelnen wie die

Gesellschaft sich auf Messers Schneide bewegen. Er dauert lange, hundert Jahre oder die

Lebensspanne dreier Generationen, und er beginnt immer wieder aufs neue, solange es

Zuwanderung gibt. Expandierende Arbeitsmärkte, ein funktionierendes soziales Netz, ein

liberales Rechtssystem und eine anonyme Stadt sind nur notwendige Bedingungen, nicht

hinreichende.

Die Dialektik von Ausgrenzung und Integration ist unaufhebbar, und jede

Einwanderungsgesellschaft muß sich auf sie einlassen. Sie zu leugnen ließe nur die

Alternative von Repression oder Marginalisierung. Aber, so kann man einen Ausspruch

von Sigmund Freud abwandeln: Eine Gesellschaft, die einer großen Zahl ihrer Mitglieder

nur die Alternative von Unterwerfung oder Ausgrenzung läßt, hat keine Zukunft und

verdient wohl auch keine.

Walter Siebel lehrt Stadtsoziologie an der Universität Oldenburg

COPYRIGHT: DIE ZEIT, 48/1998ADRESSE: http://www.zeit.de/1998/48/Fremde_in_der_Stadt