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FOTO: PATRICE HAUSER/HEMIS.FR/LAIF; TITELFOTO: UWE UMSTAETTER/WESTEND61/PLAINPICTURE Der Central Park hat wunderbare Laufstrecken, die mit Lust und Laune genutzt werden. Von Einheimischen wie von Touristen GESUNDHEIT 68 1.6.2017 EXTRA Von Alexandra Kraft DIE GROSSE FREIHEIT ●  Wer gesund leben will, muss hart trainieren? Falsch. Bewegung wirkt bereits in kleinsten Dosen. Läufer im Trendlabor New York beherzigen die neue Gelassenheit 1.6.2017 69

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Der Central Park hat wunderbare Laufstrecken, die mit Lust und Laune genutzt werden. Von Einheimischen wie von Touristen

GESUNDHEIT

68 1.6.2017

EXTRA

Von Alexandra Kraft

DIE GROSSE FREIHEIT● Wer gesund leben will, muss hart trainieren? Falsch. Bewegung wirkt bereits in kleinsten Dosen. Läufer im Trendlabor New York beherzigen die neue Gelassenheit

1.6.2017 69

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Sie joggt erst wieder seit acht Monaten. Und doch hört sie sich an, als wäre der Neu-start nicht weniger als ein Erweckungserlebnis gewe-sen. Genau genommen war

es das ja auch. Vielleicht sogar noch mehr. „Das Laufen war meine Rettung“, sagt Myrna Lopez.

In der U-Bahn von Brooklyn nach Manhattan hatte die 56-Jährige vor etwa einem Jahr plötzlich gespürt, wie ihr Herz zu rasen begann: „Der Anfang einer klassischen Pa-nikattacke“, sagt sie heute. Kaum schaffte sie es damals nach Hause, brach weinend auf dem Sofa zusammen. Tagelang traute sie sich nicht aus der Wohnung. „Zum Glück riet mir eine Freundin, laufen zu gehen.“ Das sei gut für die Nerven.

So recht glauben mochte Myrna Lopez das nicht. Aber weil ihre Ärzte ratlos waren, wie ihr zu helfen sei, schnürte sie die Sportschuhe. „Ich war total außer Form, ich war nie eine gute Läuferin, eigentlich schäm-te ich mich ein bisschen und wollte mich nicht blamieren.“

Trotzdem fiel ihr der Wieder-einstieg leicht, weil sie schnell sah, dass sie nicht die einzige An-fängerin war, die im New Yorker Central Park lief. „Ich spürte so-fort, wie gut es mir tat“, sagt sie. Langsam tastete sie sich an die ungewohnte körperliche Belas-tung heran. „Ich bin immer so ge-laufen, dass mir nie etwas wehtat oder ich um Luft ringen musste.“

Inzwischen joggt die Büroange-stellte dreimal die Woche morgens für eine halbe Stunde, mal zwei Ki-lometer, mal drei. Kein festes Tem-po, keine vorgegebene Distanz. „Ich richte mich danach, was mein Kö-per mir sagt.“

Mit jedem Training spürte Lopez, wie ihre Angst und die quälenden Sorgen weniger wurden. „Heute ist Laufen für mich auch Meditation“, sagt sie. Sie fühlt sich mittlerweile gelassener. Bisher hatte sie keine Pa-nikattacke mehr. Glücklich und zu-

Frühling in Metropolis – Hochsaison für alle Läufer. Myrna Lopez (o. l., mit rosa Jacke) und Chris Ryan (mit Kin-derwagen) sind regelmäßig dabei

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KLEIDUNG WAS BRAUCHT’S?

A ls Läufer starten wir Menschen alle barfuß. Erst später schützen und stützen wir unsere Füße mit

Schuhen. Die Laufwege der Moderne sind aus Asphalt, Beton und Pflaster-stein – rau, hart und unnachgiebig. Ohne sichere Hülle kommen wir also nicht weit. 150, gar 200 Euro kosten Laufschuhe schnell mal. Den richtigen zu finden kann überfordern, zumal Hunderte Modelle angeboten werden. Sportmediziner sind sich einig, dass extreme Dämpfung schadet. Sie behindert die natürliche Bewegung der Füße. Einige Schuhe sind so stark gepolstert, dass sie ausgerechnet jene Stöße abbremsen, die Knochen brauchen, um fester zu werden. Ris-kant sind auch extreme Fersenpolster. Läufer stehen damit sehr hoch im Schuh, die Gefahr des Umknickens steigt. Für die Muskelkontrolle wird in dieser Konfiguration zusätzliche Kraft benötigt. Deswegen gilt auch beim Schuhkauf, dass weniger mehr ist. Läufer sollten nach Schuhen suchen, die weniger dämpfende, sondern besonders elastische Sohlen haben. So fördern sie die natürliche Abrollbewegung. Schuhe sollten vor allem im Bereich des großen Zehengelenks flexibel sein. Da man meist erst beim Einsatz merkt, ob die Treter wirklich passen, sind gute Laufgeschäfte meist sehr kulant beim Umtausch.Ein für Frauen heikles Thema sind Sport-BHs. Sie kleben an der Haut, ziepen, schnüren die Luft ab und schneiden ins Fleisch. Kaum eine Läuferin ist mit ihrem BH zufrieden, viele klagen über Brustschmerzen beim Laufen. Der ideale Lauf-BH soll mehr Halt geben als ein regulärer. Das Material darf nicht zu dehnbar sein, der Busen soll flach anliegen, und das untere Bündchen muss fest sitzen.Laufhose und T-Shirt sind dagegen leicht gefunden – und weitgehend Geschmackssache. Für Einsteiger muss es kein Hightech-Material sein, schlichte Baumwolle tut es vollkom-men. Später sind atmungsaktive Stoffe die bessere Wahl. Mit einem neuen Outfit kommt dann auch neue Motivation. Denn, das ist sogar wissenschaftlich bewiesen: Belohnungen treiben Läufer an.

Alexandra Kraft

Hightech benötigt der Freizeit­sportler nicht. Eine gute Basis­ausrüstung aber kann einiges an Kummer ersparen

frieden sei sie nun, „und mein Arzt sagt, meine Blutwerte seien so gut wie nie“.

Mit ihrer maßvollen Art, Sport zu treiben, ist sie nicht allein, sondern Teil einer wachsenden Bewegung, die nicht länger maßlosen Fitness-idealen hinterherhechelt – und die sich besonders gut in der Trendme-tropole New York beobachten lässt. Wo früher fast nur Leichtgewich - tige und Athleten rannten, traben jetzt Dicke, Dünne, Junge und Alte durch den Central Park. Keiner wird belächelt oder schief angeschaut, weil er ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen hat. Im Gegenteil, wer gesund bleiben will und etwas für seinen Körper tut, wird von frem-den Läufern mit Schulterklopfen und Zurufen angefeuert. Man grüßt sich freundlich, man plaudert mit-einander. Der Geist: aktive Ent-spannung.

Ehrgeiz runter, Spaß rauf Die simple Gleichung, dass nur viel Sport auch mehr Gesundheit bedeu-tet, gilt nicht mehr. Studie für Stu-die belegte in den vergangenen Jah-ren die Wirksamkeit von Bewegung auch in überraschend kleinen Do-sen. So fanden Forscher des angese-henen Cooper Institutes in Dallas heraus, dass selbst Läufer, die nur langsam und sporadisch trainieren, im Durchschnitt bis zu drei Jahre länger leben als ihre inaktiven Zeit-genossen. Sogar Raucher und Über-gewichtige profitieren.

„Wir haben lange den Fehler ge-macht, den Leuten den Spaß zu neh-men, weil wir suggeriert haben, dass sie, um gesund zu bleiben, viel und hart trainieren müssen. Dabei ist Laufen unser Lebenselixier“, sagt der Kardiologe James O’Keefe und fügt an: „Jeder kann auf gesunde Weise laufen – wenn er seinen Ehrgeiz re-duziert.“ Denn der, so der Arzt, sei ohnehin nicht von langer Dauer. „Wer hat schon Zeit und Lust, drei-, viermal die Woche nach Feierabend für eine Stunde und mehr laufen zu gehen?“ O’Keefe gibt sich selbst die Antwort: „Fast 90 Prozent hören nach einem Jahr wieder auf.“ Viel zu hoch seien die Erwartungen noch immer bei vielen, verstärkt durch

Ratgeber, die viele Stunden Sport pro Woche empfehlen.

Dabei braucht es die Plackerei gar nicht. Wenn nicht mehr absolute Fitness das Ziel ist, sondern nach-haltige Gesundheit und mehr Le-bensfreude, dann gilt: Laufdauer und Tempo sind egal. Schon mäßi-ge Aktivität kann die eine oder an-dere Sünde ausbügeln. Besser noch: Um zu profitieren, muss man nicht mal besonders fit oder schlank wer-den. Jede noch so kleine körperliche Anstrengung löst zahlreiche posi-tive Vorgänge aus. So kurbelt schon ein Spaziergang die Durchblutung an, er schützt die Elastizität der Ge-fäße und fördert den Rückstrom des Blutes zum Herzen. Erkrankungen der Adern wird dadurch vorgebeugt. Gewebshormone der Muskeln wir-ken entzündungsfördernden Bo-tenstoffen entgegen, die von über-schüssigem Fettgewebe freigesetzt werden.

Ein maßvoller Einstieg wie bei Myrna Lopez ist laut O’Keefe un-erlässlich: „Der eine geht am Anfang spazieren, der andere trabt gleich lo-cker los.“ Nach jahrelanger Ruhe-pause muss sich der Körper langsam an die neue Belastung gewöhnen. Während das Kreislaufsystem rela-tiv schnell regeneriert, braucht der Bewegungsapparat Monate, um sich anzupassen. Die Beinmuskeln sind zunächst kaum in der Lage, das Knie beim Joggen zu stabilisieren. Im schlimmsten Fall prallen beim Wie-dereinstieg Oberschenkel- und Unterschenkelknochen aufeinan-der, und der Knorpel dazwischen wird geschädigt.

Doch nicht nur deshalb hält der 60-jährige O’Keefe vom Streben nach Höchstleistungen nicht viel. „Jedem, der zu mir in die Praxis kommt und mir erzählt, er wolle einen Marathon laufen, rate ich: Lass den Quatsch.“ Denn selbst fit-ten Menschen tut zu viel Training nicht gut. Bänder und Gelenke lei-den; neue Studien belegen, dass die Nieren von Marathonläufern nach dem Rennen deutliche Zeichen von Beeinträchtigung zeigten. Außer-dem waren in deren Adern mehr Plaques zu finden, schädliche Abla-gerungen.

Der Kardiologe James O’Keefe findet, dass zu viel Sport dem Herzen schadet. Er selbst lief früher Marathons und bereut das heute

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tischen Fehlbildung lit-ten, was sie vorzeitig al-tern ließ. Einem Teil der Tiere verordnete er für fünf Monate Lauftrai-ning, die anderen durften faul sitzen bleiben. Die unsport-lichen waren am

Ende dem Tode nah. Ihr Fell war aus-gefallen, die Muskeln kraftlos, sie hörten schlecht, die Herzen schlu-gen schwach. Ganz anders die akti-ven Tiere: Sie rannten kraftvoll durch ihre Käfige und vermehrten sich fleißig. Tarnopolsky erklärt: „Uns war gelungen, ihre vorzeitige

Chris Ryan hat für die Erkenntnis, dass weniger auf lange Sicht oft mehr ist, zehn Jahre gebraucht. In seinen 20ern lief er mehrere Mara-thons. „Immer mit super Zeiten, aber nie mit einem wirklich guten Gefühl“, sagt er. Ständig habe er sich mit Verletzungen herumgeschla-gen. Mal waren es Muskelprobleme, mal knarzten die Knie. Schmerzfrei-es Laufen war während des harten Trainings kaum möglich. „Viele meiner Lauffreunde haben sich mit Schmerzmitteln vollgepumpt, um überhaupt an den Start gehen zu können.“ Irgendwann stellte Ryan sich die Frage: Warum tue ich mir das eigentlich an? „Ich hatte keine Antwort“, sagt der heute 37-Jährige. Und reduzierte sein Pensum radikal.

Damit zählt Ryan jetzt zur Gat-tung der sportlich perfekt Ausbalan-cierten, glaubt man einer Studie zum richtigen Trainingsumfang, die in Dänemark veröffentlicht wurde. We-der die Sofasitzer noch die besonders Ehrgeizigen erhalten demnach in Sachen Gesundheitsbilanz das bes-te Zeugnis: Knapp 80 Prozent der Läufer, die es langsam angehen las-sen und nicht mehr als zweieinhalb Stunden pro Woche trainieren, redu-zierten ihr Sterberisiko. Bei Joggern, die besonders lange und mit hohem Tempo trainieren, kehrte sich der Effekt dagegen um. Sie hätten eine ähnlich schlechte Prognose wie ihre faulen Altersgenossen.

Dr. Mark Tarnopolsky läuft jeden Morgen drei Kilometer zu seinem Labor an der McMaster Universität im ka-nadischen Ontario. „Es ist mein Ritual, damit bereite ich mich auf die Hektik des Tages vor.“ Eigentlich wollte Tarnopolsky Sportlehrer werden, nun ist er Neurologe und betreut Kinder mit zerstörerischen Muskelkrank- heiten. Und er ist ein Mann klarer Worte: „Lasst mich in Ruhe mit dem Hype um Gen- und Stammzel-lentherapie. Die effektivste Therapie, die ich kenne, ist Bewegung.“

Seit 25 Jahren forscht Tarnopolsky über Ausdauersport. Sein vielleicht erstaunlichstes Experiment mach-te er mit Mäusen, die an einer gene-

Alterung ganz ohne Medikamente zu stoppen.“ Er ist sicher, dass die Er-gebnisse auch für Menschen rele-vant sind. „Ich sehe es doch jeden Tag bei meinen Patienten.“

Weitere Forschungsergebnisse der vergangenen Jahre geben ihm recht. Richtig eingesetzt, ist Sport ein wirksames Mittel gegen eine Vielzahl körperlicher Gebrechen. Joggen kann vor Krebs, Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfall schüt-zen. Wissenschaftler sehen klare Hinweise darauf, dass Lauftraining die Blutversorgung des menschli-chen Gehirns steigert und neue Adern sowie Neuronen wachsen

Jede Größe. Je-des Alter. Jedes Tempo. In New York wird keiner belächelt. So wird Sport zum entspannten Spaß für alle

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lässt. Gleichzeitig entsteht ein Pro-tein, das Gehirnzellen repariert und sie vor Schäden schützt. Inzwischen gilt Sport als vielleicht effektivstes Mittel zur Vorbeugung von Alzhei-mer. Und gegen das Altern. „Wir wis-sen, dass Bewegung im Körper eine ganze Reihe Reparaturprozesse in Gang zu setzen scheint“, sagt auch Mark Tarnopolsky.

Bleibt die Frage, warum es vielen Menschen immer noch so schwer fällt, sich in Bewegung zu bringen. Wenn Tarnopolsky morgens in Richtung Labor joggt, überlegt er oft, wie er seine Patienten motivie-ren kann. Seine Erfahrung: „Es reicht nicht zu sagen: Das tut dir gut. Stattdessen braucht man konkrete Ziele und messbare Erfolge.“

Ein kleines WunderBei niemandem war das Ziel größer als bei Shibani Gambhir. Im August vor drei Jahren erfuhr sie, dass sie an Brustkrebs erkrankt war. In einer Zeitschrift hatte sie kurz darauf ge-lesen, dass leichte Bewegung Krebs-patienten guttue. „Nur ein paar Tage nach meiner Tumor-OP zog ich mir einen engen BH an und begann zu walken“, erzählt die 43-Jährige.

Sie trägt ein buntes T-Shirt und läuft gemütlich den kleinen Hügel hinter dem American Museum of Natural History in Manhattan hi-nauf, während sie erzählt. Als sie die 100 Meter lange Steigung geschafft hat, ist sie nicht einmal außer Atem.

Wegen der Wundschmerzen nach der Operation schaffte sie zunächst nur kleine Strecken, dann Woche für Woche mehr. Irgendwann wechsel-te sie von ihrem gemächlichen Tem-po zum Laufschritt.

Sogar während der kräftezehren-den Zeit der Bestrahlung trainierte sie weiter. „Aber ich lief nicht mehr als vier Kilometer am Stück“, sagt sie. Ihre Ärzte motivierten sie. „Sie sag-ten mir, sie könnten mir mehr zu-muten, weil ich so fit bin.“ Heute ist die Finanzexpertin überzeugt, dass ihr Spaß an der Bewegung sie hat überleben lassen. „Ich glaube, ohne die Runden im Central Park wäre ich tot.“ Kürzlich beim Check-up sagte ihr Arzt zu ihr: „Glückwunsch, Sie sind krebsfrei.“ 2

Dr. Mark Tarno- polsky glaubt an die Heilkraft der Bewegung. Er sagt: „Wir kennen kein wirks ameres Mittel“

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