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Franz Josef Hinkelammert

Reflexionen zum Schuldenproblem: dieEntleerung der Menschenrechte

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arbeitspapier I I I

Reflexionen zum Schuldenproblem: die Entleerung derMenschenrechte. Franz Josef Hinkelammert

institut für theologie und politikfriedrich-ebert-str. 7481 53 muenstermail : [email protected]

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Franz Josef Hinkelammert

Reflexionen zum Schuldenproblem: dieEntleerung der Menschenrechte

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Schuldenerlass für Griechenland und STOP mitder Verarmungspolitik!

Dr. Michael Ramminger, Institut für Theologie und Politik/ Münster – Prof. em. Dr. Franz Segbers, Sozialethiker an derUniversität Marburg – Dr. Kuno Füssel, Theologe und Mathematiker/ Andernach – Prof. Dr. Ulrich Duchrow/ Heidelberg –Werner Gebert, Pfr. i.R., Plädoyer für eine ökumenische Zukunft – Pfr. em. Norbert Arntz/ Kleve – Ulrich Schmitthenner,Pfr. i. R. – Dr. Katja Strobel, Theologin/ Frankfurt am Main – Jürgen Kaiser, erlaßjahr.de/ Düsseldorf – Prof. DDr.Hermann Steinkamp/ Münster – Prof. Dr. Franz Hinkelammert/ Costa Rica – Günther Salz, ehem. Vorsitzender desDiözesanverbandes KAB-Trier/ Engers – Dr. Julia Lis, Institut für Theologie und Politik/ Münster – Carl-Peter Klusmann,kath. Pfr. i.R./ Dortmund – Prof. Dr. Stylianos Tsompanidis, Prof. für Ökumenische Theologie/ Thessaloniki, Griechenland– Dr. Paul Petzel, Gymnasiallehrer für Kunst u. kath. Religionslehre/ Andernach – Prof. Dr. Heinrich Fink/ Berlin – IlsegretFink, evang. Theologin u. Pastorin i.R. – Jürgen Klute, ehem. Mitglied des Europäischen Parlaments

Im Frühsommer 2015 erreichte michaus Brasilien eine Frage des Philoso-phen Michel Löwy: Warum meldensich eigentlich die bundesdeutschenKirchen nicht gegen die brutale Aus-teritätspolitik der Regierung Merkel,vor allem des Finanzministers Schäu-ble, zu Wort? Zu diesem Zeitpunktgab es noch Verhandlungen zwischender Troika und den VertreterInnender griechischen Regierung unter Mi-nisterpräsident Tsipras. Zwar war dieVerschuldungspolitik der EU bei denProtesten gegen die EZB-Eröffnungim Frühjahr in Frankfurt Thema,griechische VertreterInnen der sozia-len Bewegungen und Syriza warenTeil unseres Bündnisses. Aber tat-sächlich war von den Kirchen nichtszu hören. Und das, obwohl die sich jaim Jahre 2000 mit der Erlaßjahrkam-pagne schon einmal gegen die tödli-che Verschuldungsspirale zu Wort ge-meldet hatten. Damals wurde einSchuldenschnitt propagiert, so wie ihndie neue griechische Regierung 2015in einer Idee zu einer europäischenKonferenz zum Schuldenabbau vor-geschlagen hatte: Man könne dieRückzahlungen an eine Wachstums-klausel koppeln (also dann beginnen,wenn ein signifikantes Wirtschafts-wachstum vorliegt). Schäuble als Ver-treter der Bundesregierung reagiertedarauf so: „Wenn ich ein verantwort-licher griechischer Politiker wäre,würde ich keine Debatten über einenSchuldenschnitt führen“.

Wir entschlossen uns deshalb, einenAufruf zu initiieren, um ihn möglichstbreit in der Öffentlichkeit zu streuen,und um so auf die verarmende EU-Politik unter bundesdeutscher Vor-herrschaft aufmerksam zu machen. Esging uns auch darum, in der unerträg-lich nationalistischen und zynischenStimmung dieser Tage eine Gegenpo-sition vernehmbar zu machen. Schnellgelang es, einige ErstunterzeichnerIn-nen zu gewinnen, und im Laufe derZeit haben den Aufruf weitere 240Christinnen unterzeichnet. Der Aufrufwurde an regionale, überregionale undbundesweite Presseorgane verschickt,und - es geschah nichts! Der Aufrufwurde schlichtweg totgeschwiegen, undauch ein weiterer Versuch, ihn öffent-lich zu machen, scheiterte weitgehend.Resonanz fand er dagegen in Grie-chenland selbst, wo er in der Tageszei-tung EFSYN veröffentlicht wurde(http://www.efsyn.gr/arthro/soste-ton-plision-sas) und in Brasilien, wounser Aufruf übersetzt und zu einerähnlichen Kampagne gemacht wurde.Auch der deutsch-lateinamerikanischeBefreiungstheologe Franz J. Hinkelam-mert gehörte zu den Erstunterzeich-nerInnen. Als ich ihm schrieb, dass un-ser Aufruf sozusagen totgeschwiegenwurde, fühlte er sich an den Beginn derErlaßjahr-Kampagne erinnert. Er hatuns folgenden Text, den wir hier ge-meinsam mit der Erklärung dokumen-tieren, zugeschickt. Darin geht es umdie Schuldenproblematik, ein verabso-lutiertes Gesetzesverständnis unddessen Unmenschlichkeit. Der Textordnet diese Überlegungen in denKontext der Politik und der GeschichteDeutschlands ein.

Der Kampf um die Deutung der„Krisen“, die wir seit 2007 erleben, istnoch nicht vorbei: Sind es die Men-schen, die sich dem Diktat des kapi-talstischen Systems unterwerfen müs-sen, oder gelingt es, wenigstens dieEinsicht dafür zu schärfen, dass dieÖkonomie dem Menschen zu dienenhat?Besser als Papst Franziskus kann manes eigentlich nicht ausdrücken: „Dashemmungslose Streben nach Geld,das regiert, das ist der „Mist des Teu-fels“. „...Wenn das Kapital sich ineinen Götzen verwandelt und dieOptionen der Menschen bestimmt, ...zerrüttet es die Gesellschaft, verwirftes den Menschen, macht ihn zumSklaven, zerstört die Brüderlichkeitunter den Menschen, bringt Völkergegeneinander auf und gefährdet –wie wir sehen – dieses unser gemein-sames Haus, die Schwester und Mut-ter Erde.“ Wir danken Franz Hinke-lammert herzlich für seineninstruktiven Text und allen Unter-zeichnerInnen des Aufrufs für ihreMenschlichkeit.

Michael Ramminger

Die Griechenlandkrise: einbefreiungstheologischesLehrstück

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ChristInnen sehen die Geschichte nicht aus der Perspektive der Herrschenden. Weder aus der Perspektive der „Institutionen“noch aus der Perspektive der deutschen Bundesregierung oder eines Herrn Schäuble. Wir schauen auf die Verhältnisse auchnicht aus der Perspektive der griechischen Oligarchie oder Banken: Den Armen und Schwachen ist die Gerechtigkeit Gotteszugesagt. An uns liegt es, das Recht der Armen durchzusetzen. (Ex 3,7-8)In Griechenland erleben wir zur Zeit eine Auspressung der Armen, Arbeitslosen und Bedürftigen ohnegleichen. Es ist an derZeit, darüber zu sprechen, welche Konsequenzen die Politik der EU, allen voran unsere Bundesregierung, den griechischenMenschen aufzwingt. Jede Hilfszahlung an Griechenland kommt bisher zu 80% den Banken und Finanzinverstoren zuguteund ist zugleich stählern mit Auflagen verbunden: Rentenkürzungen, Mehrwertsteuererhöhungen, Privatisierung öffentlicherGüter oder Kürzung von Kündigungsfristen.Die Reform des Gesundheitswesens hat bereits jetzt zu einer Schließung von Krankenhäusern geführt, bis zu einem Drittelder Bevölkerung sind nicht mehr krankenversichert, die Arbeitslosenquote liegt bei ca. 30% und offene und verdeckte Armutbreiten sich erschreckend schnell aus. Gerade jetzt hat erneut der IWF sinkende Löhne und weitere Einschnitte in die Rechtevon Arbeitnehmern gefordert. Systematisch wurden mit den Auflagen der “Troika” die sozialen Grund- und Menschenrechteaußer Kraft gesetzt, wie selbst das Europäische Parlament kritisiert hat.„Wenn ihr denen leiht, von denen ihr es wieder zu erhalten hofft, welchen Dank habt ihr da? Denn auch Sünder leihen Sün-dern, um das gleiche zurückzuerhalten. … tut Gutes und leihet ohne zurückzuerwarten, und euer Lohn wird groß sein, undihr werdet Söhne des Höchsten sein …“( Lk 6,34-35)Ein gutes Leben ist nur möglich, wenn alle leben können. Oder in ökonomischen Worten: Griechenland wird nur dann genugfür alle produzieren können, wenn die Menschen nicht zu krank und zu hungrig dazu sind. Im Januar hatte die neue griechi-sche Regierung eine europäische Konferenz zum Schuldenabbau vorgeschlagen: Man könne die Rückzahlungen an eineWachstumsklausel koppeln (also dann beginnen, wenn ein signifikantes Wirtschaftswachstum vorliegt). «Wenn ich ein verant-wortlicher griechischer Politiker wäre, würde ich keine Debatten über einen Schuldenschnitt führen», reagierte Bundesfinanz-minister Schäuble zynisch darauf.Schulden müssen erlassen werden, wenn sie nicht zurückgezahlt werden können und zu Verelendung und Armut führen.Nach der Bibel besteht die Schuld des Menschen vor Gott darin, unbezahlbare Schulden unerbittlich einzutreiben. Gott er-lässt dem Menschen die Schuld, die er bei Gott hat, wenn Menschen die Schulden erlassen, die andere bei ihm haben. DieBibel enthält die jahrtausende alte Weisheit, die sich auch heute in Griechenland bewahrheitet: Unbezahlbare Schulden zer-stören das Leben des Schuldners. Die Vaterunser-Bitte “Und vergib uns unsere Schulden” verlangt Verzicht auf die Erfüllungvon Gesetzen, die Menschen umbringen. Um des menschlichen Lebens willen, damit also Schuldner leben können, bittet dasVater-unser um Widerstand gegen das Gesetz, dass die Schulden bezahlt werden müssen.Gerade Deutschland sollte um diesen Zusammenhang doch wissen. Denn im Londoner Schuldenabkommen von 1953 wur-de auch uns so ein Neuanfang ermöglicht, in dem viele legitime Reparationszahlungen zunächst zurückgestellt wurden. Dasssie nur vorläufig zurückgestellt wurden, darum wußte auch Horst Teltschik, der 1990 im Zusammenhang der Verhandlungenum die Wiedervereinigung an Helmut Kohl schrieb: „Ein Anspruch unserer ehemaligen Kriegsgegner auf Reparationsleis-tungen könnte erst aufgrund von Verpflichtungen entstehen, die wir im Rahmen eines friedensvertraglichen … Abkommenseingehen. Die Übernahme solcher Verpflichtungen wollen wir unter allen Umständen vermeiden.“ Deshalb wurde damalskein formeller Friedensvertrag geschlossen! So also geht Deutschland mit Schuldenrückzahlungen und seiner historischenVerantwortung um!Im Jahr 2000 haben die christlichen Kirchen einen Schuldenerlass für Länder der dritten Welt gefordert. Heute, wo es um daseigene Haus Europa geht, schweigen sie, obwohl ein Schuldenerlass für Griechenland nach ökonomischen und nach christli-chen Kriterien ein notwendiger Schritt wäre. Sie schweigen, weil sie sich mit den Profiteuren anlegen müssten und obwohl es,nach all diesen Finanz- und Schuldenkrisen der letzten Jahre und ihren sozialen Verwüstungen, vernünftig wäre, diesen neoli-beralen Kapitalismus und die europäische Austeritätspolitik anzugreifen.Machen wir uns nichts vor: Wenn wir jetzt zu Griechenland schweigen, werden die Verwüstungen zunehmen, wird diese Po-litik der Verarmung und Verelendung in den nächsten Jahren unangefochten sein.Wir, ChristInnen aus verschiedenen Kirchen, fordern eine Europäische Schuldenkonferenz, damit nicht die Demokratie undder Sozialstaat den Finanzinvestoren geopfert werden. Wir fordern von unserer Regierung und der EU Griechenland dieSchulden zu erlassen und die Verelendungspolitik zu beenden!

Schuldenerlass für Griechenland und STOP mitder Verarmungspolitik!

Dr. Michael Ramminger, Institut für Theologie und Politik/ Münster – Prof. em. Dr. Franz Segbers, Sozialethiker an derUniversität Marburg – Dr. Kuno Füssel, Theologe und Mathematiker/ Andernach – Prof. Dr. Ulrich Duchrow/ Heidelberg –Werner Gebert, Pfr. i.R., Plädoyer für eine ökumenische Zukunft – Pfr. em. Norbert Arntz/ Kleve – Ulrich Schmitthenner,Pfr. i. R. – Dr. Katja Strobel, Theologin/ Frankfurt am Main – Jürgen Kaiser, erlaßjahr.de/ Düsseldorf – Prof. DDr.Hermann Steinkamp/ Münster – Prof. Dr. Franz Hinkelammert/ Costa Rica – Günther Salz, ehem. Vorsitzender desDiözesanverbandes KAB-Trier/ Engers – Dr. Julia Lis, Institut für Theologie und Politik/ Münster – Carl-Peter Klusmann,kath. Pfr. i.R./ Dortmund – Prof. Dr. Stylianos Tsompanidis, Prof. für Ökumenische Theologie/ Thessaloniki, Griechenland– Dr. Paul Petzel, Gymnasiallehrer für Kunst u. kath. Religionslehre/ Andernach – Prof. Dr. Heinrich Fink/ Berlin – IlsegretFink, evang. Theologin u. Pastorin i.R. – Jürgen Klute, ehem. Mitglied des Europäischen Parlaments

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Reflexionen zumSchuldenproblem: die Entleerungder Menschenrechte

Franz J. Hinkelammert

Im Juni dieses Jahres veröffentlichtedas Institut für Theologie und Politik(ITP) in Münster eine Erklärung zurSchuldenproblematik, die sich insbe-sondere auf die Behandlung der grie-chischen Auslandsschulden in der ge-genwärtigen Schuldenkrise bezog. Ichmöchte meine Reflexionen hierüber inzwei Teilen durchführen. In einemersten Teil möchte ich die Schulden-problematik selbst, einschließlich ihrertheologischen Dimensionen, kom-mentieren. In einem zweiten Teil geheich dann auf den Konflikt um diegriechische Auslandsverschuldung derletzten Jahre ein.

Die Erklärung geht von einem Textaus, der seit etwa 2000 Jahren durch-aus grundlegend für unsere westlicheKultur gewesen ist. Daraus folgt na-türlich, dass dieser Text immer auchumstritten gewesen ist und das heuteauch noch ist. Es handelt sich um dasVater-unser der christlichen Tradition,in dem folgende Bitte an Gott ausge-sprochen wird: „Vergib uns unsereSchulden, wie auch wir unsernSchuldnern vergeben haben.“ DieErklärung fasst die Bedeutung diesesTextes folgendermaßen zusammen:

„Schulden müssen erlassen werden,wenn sie nicht zurückgezahlt werdenkönnen und zu Verelendung und Ar-mut führen. Nach der Bibel bestehtdie Schuld des Menschen vor Gottdarin, unbezahlbare Schulden uner-bittlich einzutreiben. Gott erlässt dem

Menschen die Schuld, die er bei Gotthat, wenn Menschen die Schulden er-lassen, die andere bei ihm haben. DieBibel enthält die jahrtausende alteWeisheit, die sich auch heute in Grie-chenland bewahrheitet: UnbezahlbareSchulden zerstören das Leben desSchuldners. Die Vaterunser-Bitte'Und vergib uns unsere Schulden'verlangt Verzicht auf die Erfüllungvon Gesetzen, die Menschen umbrin-gen. Um des menschlichen Lebenswillen, damit also Schuldner lebenkönnen, bittet das Vater-unser umWiderstand gegen das Gesetz, dassdie Schulden bezahlt werden müs-sen.“

Das Institut für Theologie undPolitik schickte im Juli an dieUnterzeichner der Erklärungfolgende Nachricht:

„Liebe UnterzeichnerInnen des Auf-rufs 'Und vergib uns unsere Schulden'. InGriechenland ist unsere Erklärung alsAusdruck der Solidarität wahrgenommenworden, in Brasilien und in Lateinamerikaals Vorlage für ähnliche Aktionen benutzt.Nur in der Bundesrepublik gibt es immernoch keine Resonanz. Der Tagesanzeiger inder Schweiz schrieb: 'Was immer mit Grie-chenland noch wird, das Ergebnis ist klar:Die Austerität steht als Doktrin fester dennje. Es ist egal, dass ihre Resultate vernich-tend sind, dass ihre Sprache langsam sowje-tisch klingt und dass niemand auch nur dasgeringste Vergnügen an ihr hat. Oder anEuropa. Es ist die einzige Idee, die der Po-litik noch geblieben ist.'“

Das hat mich interessiert, denn in den80 und 90er Jahren des vergangenenJahrhunderts haben wir in Latein-amerika ganz ähnlich argumentiert,aber die deutsche Reaktion darauf

war ganz so wie heute gegenüberGriechenland. Doch die Analyse istdeshalb gerade so wichtig, weil es fürmich in vielen Fällen feststeht, dassviele derer, die auf diese Argumentenicht reagierten, durchaus für einenSchuldennachlass eintraten.

Schuldentheologie und Gesetzes-kritik

Mir scheint jetzt wichtig zu sein fest-zustellen, dass die Schuldentheologie,wie sie im Vater unser gemacht wird,mehr ist als nur diese Schuldentheo-logie. Sie ist gleichzeitig die Geset-zeskritik, die Jesus macht, die geradeim Falle der Schuldentheologie amweitesten entwickelt wird. Aber sie istschon bei Jesus sehr definitiv.

Hier ist es dann wichtig, zu zeigen,wie Paulus genau diese Problematikbehandelt. Er spricht nicht direkt voneiner Schuldentheologie und dahervon einer Kritik der Schuldenzahlung,sondern er integriert diesen ganzenKomplex in seine Gesetzeskritik, diegleichzeitig eine Gesetzestheologie ist.Seine Definition des Problems istüberraschend klar und sehr einfachverständlich. Er sagt: „Der Stachel desTodes ist das Verbrechen. Die Kraftdes Verbrechens ist das Gesetz.“ (1Kor 15,56)1

Paulus spricht hier in universaler unddaher auch begrifflicher Form seineKritik am Gesetz aus. In der paulini-schen Form wäre jetzt die Schulden-theologie die folgende: Kann derSchuldner die Schuld nicht bezahlen,ist sein Leben bedroht. Aber derGläubiger erfüllt ja gerade das Gesetz,wenn er trotzdem die Zahlung ver-langt. Er hat jetzt despotische Gewaltüber den Schuldner. Aber der Gläu-

Teil I : Die Verschul-dungsproblematik

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biger als Despot hat ein gutes Gewis-sen, denn er erfüllt ja das Gesetz. Er-fährt er jetzt einen Widerstand, ergibtsich genau das, was Paulus sagt, dasGesetz verwandelt sich nämlich in dieKraft, um alle nur möglichen despo-tischen Maßnahmen aufzuerlegen.Damit entsteht eben das Verbrechen,dessen Kraft das Gesetz ist. Und die-ses Verbrechen nennt Paulus den Sta-chel des Todes.

Paulus hat genau dasselbe gesagt, wiees auch Jesus sagte. Nur sagte er es inForm einer reflektierten Analyse derWirklichkeit. Wir könnten auch sagen:in Form einer Aussage der Sozialwis-senschaften. Aber es geht dann nichtnur um die Schuldentheologie. DieKritik Jesu am Sabbat hat genau dengleichen Charakter. Jesus fordert dort:„Der Mensch ist nicht für den Sabbatda, sondern der Sabbat ist für denMenschen da.“ Ist hingegen der Sab-bat nicht für den Menschen da, wirdder Mensch mit Hilfe des Sabbats ei-ner despotischen Macht unterworfen,die wiederum ein Stachel des Todesist.

Hier entsteht dann eine generelle Be-hauptung, wonach eben jedes Gesetzin sich einen Bruch im Sinne desUmschlagens ins Gegenteil hat. Wirdes über die Grenze hinaus erfüllt, diedieser Bruch setzt, verwandelt sichdas Gesetz in die Kraft des Verbre-chens und damit in despotische Kraftund in den Stachel des Todes. Diesgilt nicht einfach für einige Gesetze.Es gilt für alle Gesetze, die einer for-malen Erfüllung unterliegen. Es giltdaher auch für das Gesetz Gottes. Aneinem bestimmten Punkt schlagen sieins Gegenteil um und haben einenBruch.

Es gibt allerdings auch Gesetze, beidenen auch in unserer Gesellschaftnicht diese Despotie des Gesetzeszugelassen wird. Dies hat mich immersehr interessiert. Nehmen wir etwaunsere Straßenverkehrsordnung. Siebestimmt in Rechtsform, wie sich derVerkehrsteilnehmer zu verhalten hat.So bestimmt sie etwa, wer wo Vor-fahrt hat. Damit ist die allgemeinegesetzliche Situation gegeben. Aberdann wird über den Bruch, der auchdas Gesetz der Verkehrsordnungdurchzieht, gesprochen und es wirdverboten, auf die Vorfahrt zu beste-

hen. Hat ein anderer meine Vorfahrtnicht geachtet, darf ich ihn nichtüberfahren, obwohl das Gesetz seinerForm nach dies offen lässt. Die Si-tuation ist die gleiche wie im Fall derZahlungsunfähigkeit von Schulden.Handelt es sich um Schulden, dürfenwir allerdings den Schuldner überfah-ren. Der despotischen Macht wirdhier völlige Freiheit gegeben. Im Falledes Verkehrs aber nicht. Hier darfich nicht das Gesetz erfüllen, wenndiese Erfüllung das Leben eines an-deren, der das Gesetz gebrochen hat,bedroht. Kein deutsches Gericht kannheute die Todesstrafe verhängen.Aber der Finanzminister kann es,wenn es um unzahlbare Schuldengeht.

Aber man sieht, dass der Bruch desGesetzes immer da ist und wir uns zuihm verhalten müssen. Immer ist esmöglich, mit dem Bruch des Gesetzesdespotische Macht zu erreichen, diedann das Recht einschließt, Todesur-teile zu fällen und auszuführen, ohnedass irgendein Rechtssystem dagegeneinschreiten kann. Wenn die Gesell-schaft auf Todesurteile und Todess-trafen verzichtet, ist dies bisher immerso verstanden worden, dass es fürRechtsbrüche keine Todesstrafe mehrgibt. Die Todesstrafe, die sich aus derdespotischen Macht des Gesetzesjenseits des besprochenen Bruchs er-gibt, bleibt völlig freigestellt. Unseroberstes Gericht kann keine Todes-strafe verhängen. Doch unser Fi-nanzminister kann die Todesstrafeüber beliebige Zahlen von Menschenverhängen. Aber das Recht, dies zutun, nennt gerade der heute herr-schende Neoliberalismus die Basis derFreiheit des Menschen. Damit wirddie Despotie zur Basis der menschli-chen Freiheit gemacht und die Men-schenrechte können beliebig abge-schafft werden und werden auchbeliebig abgeschafft. Häufig gilt essogar als Pflicht, sie abzuschaffen.Diese Pflicht gilt dann als Erfordernisder Freiheit unserer Neoliberalen.Zumindest aber gilt dies als die soge-nannte wirtschaftliche Rationalität.Man gibt dieser Abschaffung heuteden euphemistischen Namen „Refor-men“, während es sich gerade um dieAbschaffung vorheriger Reformenhandelt.

Dieser Bruch im Gesetz mit seinemUmschlag des Gesetzes in sein Ge-genteil ist der Ausgangspunkt allerGesetzeskritik, aber auch aller Geset-zestheologie der Evangelien und beiPaulus. Wenn Paulus davon spricht,dass es unmöglich ist, das gesamteGesetz einfach zu erfüllen, so ist dieseBegrenzung nicht etwa die Folge derUnfähigkeit des Menschen, seine Be-gierde zu beherrschen, sondern be-zieht sich auf die objektive Unmög-lichkeit, das Gesetz zu erfüllen, (diesgilt etwa für den Galaterbrief im 3.Kapitel wie auch insbesondere im 7.Kapitels des Römerbriefs). Man kanneben nicht alle Schulden bezahlen,man kann nicht immer die Wahrheitsagen, man kann nicht immer dasPrivateigentum achten. Das Gesetzschlägt um und produziert seine eige-ne Unmöglichkeit der absoluten Er-füllung. Die absolute Gesetzeserfül-lung ist der Tod, und, wenn man will,der kollektive Selbstmord derMenschheit. Es handelt sich, wiePaulus sagt, um den Stachel des To-des. Es geht also darum, das Gesetzimmer dann zu suspendieren, wennseine Erfüllung die Lebensmöglich-keit des Menschen zerstört. Der Sta-chel des Todes muss stumpf gemachtwerden.

Ein deutscher Innenminister sagtegegenüber dem Gesetzesbruch durchdas Kirchenasyl: Es gibt keine rechts-freien Räume. Wenn es keine rechts-freien Räume gibt, gibt es überhauptkein menschliches Leben. Das Verbotaller rechtsfreien Räume ist der abso-lute Totalitarismus. Aber es ist derTraum unserer Verabsolutierer desRechts. Gehen wir zurück zu unseremProblem der Zahlung einer unbezahl-baren Schuld. Es wird gefordert, sol-che Schulden nachzulassen. Dasschafft auch einen rechtsfreien Raum.Aber er wird erfüllt durch Gerechtig-keit, die daraus begründet ist, dass dasmenschliche Leben zu vermenschli-chen ist. Es handelt sich nicht um ei-ne Norm, solche Schulden nachzu-lassen. Es handelt sich darum, diesenrechtsfreien Raum zu schaffen, der indem vorhergehenden Beispiel dasKirchenasyl war. Es ist eine Forde-rung der Gerechtigkeit.

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Was die Problematik dieses rechts-freien Raumes angeht, weist Paulusdie Möglichkeit einer Lösung auf. Derrechtsfreie Raum ist nicht etwa leer,aber er kann durch kein formales Ge-setz definitiv geordnet werden:

„Bleibt niemandem etwas schuldig, essei denn de gegenseitige Liebe. Dennwer den anderen liebt, hat das Gesetzerfüllt. Die Gebote: Du sollst nichtehebrechen! Du sollst nicht töten! Dusollst nicht stehlen! Du sollst nichtbegehren! Und was es sonst an Ge-boten geben mag, werden ja in diesemeinen Wort zusammengefasst: 'liebedeinen Nächsten; das bist du selbst'.Die Liebe fügt dem Nächsten nichtsBöses zu. So ist die Liebe die Vollen-dung des Gesetzes.” (Röm 13,9-10)

Ich habe die übliche Übersetzung et-was geändert. Diese sagen so gut wieimmer‚ liebe deinen Nächsten wiedich selbst’. Ich habe stattdessen ge-schrieben: ‚liebe deinen Nächsten: dasbist du selbst.’ Ich habe damit dieÜbersetzung gewählt, die Lévinasvertritt und von der er sagt:

„Was bedeutet 'wie dich selbst'? Bu-ber und Rosenzweig kamen hier mitder Übersetzung in größte Schwierig-keiten. Sie haben gesagt: 'wie dichselbst', bedeutet das nicht, daß manam meisten sich selbst liebt? Abwei-chend von der von ihnen erwähntenÜbersetzung, haben sie übersetzt:'liebe deinen Nächsten, er ist wie du".Doch wenn man schon dafür ist, dasletzte Wort des hebräischen Verses,'kamokha', vom Beginn des Verses zutrennen, dann kann man das Ganzeauch noch anders lesen: 'Liebe deinenNächsten; dieses Werk ist wie duselbst'; 'liebe deinen Nächsten; dasbist du selbst'; 'diese Liebe desNächsten ist es, die du selbst bist'.“2

Eine ganz ähnlich Übersetzung wähltDick Boer:

„Und mit ‘lieben’ ist in diesem Zu-sammenhang nicht die Liebe gemeint,die es zwischen Geliebten gibt – unddie im Hohen Lied in ihrer ganzenlustvollen Herrlichkeit besungen wird.Diese Liebe kann auch gar nicht ge-boten werden. Das Lieben deines

Nächsten will sagen: solidarisch zusein, neben dem anderen stehen, dersich ohne dich nicht retten kann – wiedu dich ohne ihn nicht rettenkannst.”3

Ich habe dann eine interessante Re-flektion bei Brigitte Kahl gefunden,die gerade zeigen kann, dass Paulustatsächliche diese Vorstellung vonNächstenliebe hat, wenn er von ihrspricht:

„Einer der gemeinschaftspraktischenSchlüsselbegriffe in der paulinischenNeu-Definition von Selbst und An-deren ist das griechische allelon, dasin Gal 5-6 nicht weniger als siebenmalvorkommt. Es wird allgemein als(mit)einander übersetzt, heisst aberwörtlich anders-anders (von allos-al-los) und impliziert so den Anderen alsentscheidendes Kriterium alles Selbst-sein.”4

Brigitte Kahl kommt von daher dannauch zu der Vorstellung des Verbre-chens, das in Erfüllung des Gesetzesbegangen wird und seine Kraft vomGesetz selbst herleitet:

„…die Logik der Sünde und des‘Fleisches’, die dieses vom Gesetzetablierte Andere zum Objekt derUnterwerfung und Vernichtigung undVernichtung macht, dessen Ausgren-zung, Ausbeutung und Instrumentali-sierung dem herrschenden Gesetznicht zuwiderläuft.”5

Daraus kann man schließen, dassauch Paulus die Nächstenliebe soauffasst, wie es die Übersetzung vonLévinas sagt, die wiederum von Ro-senzweig und Buber abgeleitet ist.

Daraus folgt dann, dass für Paulus dieLegitimität eines jeden Gesetzes da-von abhängt, ob es mit diesem Krite-rium vereinbar ist. Ist es das nicht,muss man den rechtsfreien Raumeben erklären, der aber genau dieseNächstenliebe in dieser Formulierungals Kriterium hat und nicht irgendeinGesetz.

Diese eher authentische Übersetzungdessen, was als Nächstenliebe gilt,öffnet eine durchaus neue Sicht aufdie gegenwärtige Welt. Es handelt

sich um Tendenzen, die spirituelleDimension des Handelns und geradeauch des politischen Handelns neu zuentdecken und weiter zu denken.Während das bürgerlich-kapitalisti-sche Denken eine sehr klare spirituelleDimension hat, ist dies für das kriti-sche Denken sehr viel schwieriger.Aber man kann der Spiritualität desbürgerlichen Denkens nicht begeg-nen, wenn man nicht selbst eine demHandeln entsprechende Spiritualitätentwickelt.

Die Kritik der Spiritualität des bür-gerlich-kapitalistischen Denkens istinsbesondere von Marx in seinerTheorie des Fetischismus vorgestelltworden. Sie wurde allerdings danachsehr wenig weiterentwickelt, wie diesetwa bei Walter Benjamin der Fall ist.Ebenfalls geschah dies in der Ent-wicklung der Befreiungstheologie inLateinamerika.

Aber erst heute finden wir großange-legte Versuche, eine neue Spiritualitätim Handeln selbst zu entdecken undfortzuführen. Ich glaube, dass diesinsbesondere in Südafrika mit derResistenz gegen die Apartheid deut-lich zum Ausdruck kam, um dannnach der Demokratisierung Südafri-kas weitergeführt zu werden. Ich be-ziehe mich hier auf die Grundlegungdieser Aktion im HumanismusUbuntu, einem Humanismus sehrlanger Tradition im südlichen undöstlichen Afrika. Der wurde speziellvom anglikanischen Bischofs Des-mond Tutu vertreten, und ist heutesogar Teil der südafrikanischen Ver-fassung. Seine Formulierungen sinddivers, aber es gibt Formulierungen,die von unserem Standpunkt ausAufmerksamkeit erregen. Es ist z.B.:Ich bin, wenn du bist oder auch: ichbin, wenn ihr seid. Die Nähe zurFormulierung der Nächstenliebe beiRosenzweig und Buber und daherauch bei Lévinas ist erkennbar.

Ein anderes Beispiel ist das einiger la-teinamerikanischen Länder mit ho-hem Anteil der indigenen Bevölke-rung. Sie führen eine Vorstellung ein,die dann auch in der Verfassung selbstauftaucht, die man Suma Qamañaynennt, die vielfach mit gut lebenübersetzt wird. Aber hier ist gutesLeben nicht etwa aristotelisch zu ver-

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stehen, sondern bedeutet: Gutes Le-ben ist dann gut, wenn auch der an-dere ein gutes Leben hat und diesauch für die Natur gilt. Sie hat einelange geschichtliche Tradition in die-sen Ländern, die noch aus vorkolum-bianischer Zeit stammt. Dies wirdinsbesondere in Bolivien und Ecua-dor herausgestellt, aber es ist auch inanderen Ländern gegenwärtig.

Wir werden natürlich sehen müssen,wie weit dies fähig ist, der Spiritualitätdes Marktes und des Geldes entge-genzutreten.

In all diesen Formen des Denkensgibt es eine noch zu erwähnende ge-meinsame Position. Sie ist gegenwär-tig in einem entsprechenden Denkenüber die Emanzipation des Men-schen: die Emanzipation ist und mussdie Befreiung des anderen Menschensein. Aber indem sie das ist, gilt auchdie Umkehrung: die Befreiung befreitebenfalls den Unterdrücker. DerSklavenbesitzer, der seine Sklaven be-freit, befreit im gleichen Akt auch sichselbst. So befreit sich auch der Mann,der keinen Widerstand ausübt gegendie Emanzipation der Frau. Auchdiese Befreiung muss man fördern,damit die Emanzipation Bestand hat.

Es stellt sich dann aber schnell heraus,dass der Unterdrücker diese Art Frei-heit nicht zu akzeptieren bereits ist.Er liest lieber Nietzsche, bei dem ereine ganz andere Emanzipation sucht,nämlich: die Befreiung von allenEmanzipationen.

Es ergibt sich eine Auseinanderset-zung zwischen grundsätzlichen Posi-tionen. Eine geht davon aus, dass ei-ner in der Auseinandersetzung mitdem anderen siegt, ihn unterwirft undsich ihm überordnet. Dies gilt dannals die rationale Lösung und faktischist es die Lösung durch Konkurrenzauf dem Markt. Die andere Positiongeht davon aus, dass der Unterworfe-ne jeweils zu befreien ist und dassdies auch im Verhältnis zur Konkur-renz die bessere Lösung ist. Dann istdie rationale Lösung diejenige, die esermöglicht, dass niemand in eine ex-treme Position der Unterwerfungkommt. Nehmen wir ein Beispiel: vonder Marktkonkurrenz her beurteilt, istdie Situation der Arbeitslosigkeit eine

Situation, die irrelevant ist für dasUrteil über die Rationalität der Wirt-schaft. Die Wirtschaft ist rational ein-fach deswegen, weil sie auf demMarkt beruht. In der anderen Sicht isteine Wirtschaft, in der es eine rele-vante Arbeitslosigkeit gibt, wirt-schaftlich irrational einfach deshalb,weil diese Situation ungerecht ist imSinne des Gemeinwohls. Im Falle desMarktkalküls ist die Rationalität einsimplizistisches Denken in der Bezie-hung von Zweck und Mitteln der in-strumentellen Vernunft. Im Falle derGemeinwohlgerechtigkeit hingegenwird die Beziehung von Zweck undMittel unter dem Gesichtspunkt derLebensmöglichkeiten aller bestimmt.Die Rationalität einer Aktion ist nieableitbar aus ihrem instrumentellenFunktionieren: Man darf den Astnicht absägen, auf dem man sitzt.Wird dies unter dem Gesichtspunktder Weberschen Analyse als ein Wert-urteil erklärt, über das die Wissen-schaft nicht befinden kann, ist diesoffensichtlich ein ganz ideologischerSimplizismus. Den Selbstmord abzu-lehnen ist kein Werturteil, sondernVoraussetzung allen irgendwie ratio-nalen Handelns und daher der Exis-tenz von Werturteilen ebenfalls.

Dies führt zu deiner neuen Auseinan-dersetzung um die Rationalität. Esentsteht eine neue Auseinanderset-zung um die Rationalität, die gewis-sermaßen über die Aufklärung desXVIII. Jahrhunderts hinausgehen willund dabei das Rationalitätskonzeptdieser Aufklärung in Zweifel zieht.Dies ergibt sich bereits dadurch, dassja diese erste Aufklärung auf eine Ra-tionalität des Marktes und der Markt-gesetze aufbaute. Nach heutiger Dik-tion wird gesagt: sie ist eurozentrisch.Dies schließt eben das Marktzentri-sche und das Gesetzzentrische mitein. Die neuen Diskussionen sind dasErgebnis der Emanzipationsbewe-gungen, die im XIX. Jahrhundert ein-setzten (vor allem die Emanzipationder Sklaven, der Frauen und der Ar-beiterschaft), denen im XX. Jahrhun-dert die Emanzipationen vom Kolo-nialismus und der Natur nachfolgten.

Diese Emanzipationen sind etwasNeues. Die Emanzipation, von derdie Aufklärung des XVIII. Jahrhun-derts sprach, ist zwar Vorbedingung

für diese Emanzipationen, enthält sieaber nicht. Ihre Vertreter in der Fran-zösischen Revolution wurden allesamtvon der Revolution selbst ermordet(Olympe de Gouges, Toussaint Lou-verture, Babeuf). Aber nachdem ein-mal die bürgerliche Gesellschaft ge-gründet war, formierten sich dieseEmanzipationen auf der Basis desKonzepts des citoyen. Darauf folgtendann die Emanzipationskämpfe umdie Menschenrechte gegenüber denMachtstrukturen dieser bürgerlichenGesellschaft. Es handelt sich jetzt umVolksbewegungen, die ihren Platzwollen und die jetzt selbst neueGrundlagen des Gemeinwohls defi-nieren und verteidigen. Es handeltsich offenbar um ein Gemeinwohl,das weitgehend anders formuliert undvertreten wird als dies mit dem Ge-meinwohl aristotelisch-thomistischerHerkunft des Mittelalters der Fall war.

Es entsteht jetzt ein aufklärerischesDenken, das diese Emanzipations-kämpfe voraussetzt und sich heuteunter dem Titel der Antikolonialitätinstalliert. Es geht dann um neuePerspektiven eines Denkens, dassnicht eurozentrisch unterworfen ist.Es geht darum, das Denken selbstund die Subjektbildung eines jeden zuentkolonialisieren. Eurozentrik be-deutet in diesem Zusammenhang, dieUnterwerfung gerade der Unterwor-fenen unter das Denken der europäi-schen Herrschaft im weitesten Sinne.Das Denken des Unterworfenen wirdselbst kolonialisiert und kann dannkeinen alternativen Weg mehr gehen.Es kann aber eben auch nicht denWeg des Eurozentrismus selbst geh-en. Es geht den Weg des Opfers desEurozentrismus und entwickelt eineganze Kultur dieses Opferseins desEurozentrismus. Es geht daher umeine Aufklärung, die nicht etwa dieinstrumentelle Rationalität abschafft,sondern sie einer erweiterten Ratio-nalität unterwirft, die die Rationalitätder freien Entwicklung eines jeden alsBedingung der freien Entwicklung al-ler ist. Mir scheint heute einer derwichtigsten Vertreter dieses DenkensRamón Grosfoguel zu sein.

Aber in allen Fällen wird auch dieGesetzlichkeit in der Form gesehen,wie dies bei Paulus der Fall ist.

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Paulus spricht in bezug auf diesesPhänomen davon, dass über demGesetz ein Fluch liegt. (Gal, 3,10) Eshandelt sich darum, diesen Fluch auf-zulösen. Es handelt sich also nichtdarum, jetzt diesen Fluch zu verflu-chen. Es handelt sich darum, ihn auf-zulösen.Im zweiten Thessalonikerbrief, derganz zweifellos nicht von Paulusstammt, wird ganz anders gespro-chen. In diesem Brief spricht der Au-tor vom Antichristen als dem Men-schen der Gesetzlosigkeit. Schondaraus kann man sehen, dass derBrief nicht von Paulus sein kann.Paulus hat zwar nie vom Antichristengesprochen. Hätte er aber davon ge-sprochen, wäre es für ihn keineswegsder Mensch der Gesetzlosigkeit, son-dern der Mensch des absoluten Ge-setzes, des Gesetzes ohne rechtsfreieRäume. Man sieht schon hieran, dassder Autor nicht Paulus sein kann undman sieht ebenfalls, dass der Autorden Brief gegen Paulus und seineGesetzesauffassung schreibt.

Die Aufweichung der paulinischenGesetzeskritik

Diese paulinische Gesetzeskritik, dieaus der Botschaft Jesu abgeleitet ist,ist in der darauf folgenden Geschich-te des Christentums weitgehend ver-drängt worden. Bei Augustinus bereitswird der paulinische Stachel des To-des durch die Begierde (die Konku-piszenz) ersetzt. Die Problematik desSchuldennachlasses oder der Geset-zeskritik spielt bei Augustinus nichtdie geringste Rolle. Dies wird dannTeil unserer Kultur bis hin zur heuti-gen Psychoanalyse, die an die Stelledieser Konkupiszenz die libido setzt.Das Wort libido taucht in den antica-talinarischen Reden von Cicero aufund bezeichnet die Aufständischen,die angeblich durch die libido (diehier das gleiche bedeutet wie dieKonkupiszenz) zu diesem Aufstandverführt wurden. Bei Nietzsche tauchtdann eine entsprechende Vorstellungunter den Namen Neid oder Ressen-timent auf. Dass etwa die Kritik einErgebnis des Stachels des Todes seinkönnte, der das Verbrechen ist, dasseine Kraft von der Umkehrung derGesetze ableitet, die dem Vertreter

dieser Gesetze eine despotischeMacht gibt, bleibt völlig unsichtbar.Es kommt erst in der Moderne mitder Analyse von Marx zurück, dieaber auch nicht einfach das letzteWort ist. Doch es wird klar: kritischesDenken ist ein Denken, das sich die-sem Stachel des Todes stellt und ihnnicht durch die libido ersetzt, sonderneher ergänzt.

Die paulinische Formulierung diesesStachels des Todes, die Paulus wie-derum aus der Jesusbotschaft ableitet,verschwindet aber nicht einfach.Doch sie überlebt nur auf marginaleWeise, häufig als Häresie. Aber es gibteinige Formulierungen, die ihre Ge-genwart im Mittelalter zumindest be-zeugen. Es handelt sich um Formu-lierung wie z.B. summa lex, maximainiustitia (die höchste Gesetzlichkeitist die maximale Ungerechtigkeit)oder fiat iustitia, et pereat mundus (essei Gerechtigkeit, auch wenn darüberdie Welt vergeht) Diese Aussprüchefinden sich häufig. Sie drücken aus,dass die totale Gesetzlichkeit der Todist. Zwar werden sie nicht zu einerallgemeinen Gesetzeskritik verarbei-tet. Sie machen aber diese Grundhal-tung gegenwärtig, aus der die Gesetz-eskritik entstanden ist.

Unsere gewöhnliche Vorstellung vomGesetz ist ganz anders. Sie geht davonaus, dass die Gerechtigkeit darin be-steht, die Gesetze zu erfüllen. Mussman aber akzeptieren, dass ein be-stimmtes Gesetz zur Ungerechtigkeitführt, muss man das Gesetz ändernund es durch ein besseres Gesetz er-setzen, das dann in seiner Erfüllungjeweils zum gerechten Handeln führt.Gerechte Gesetze sind also die Ge-setze, deren Erfüllung zu einem ge-rechten Handeln führt. Das aber ist inder jesuanisch-paulinischen Gesetzes-auffassung nicht so. Alle Gesetze,auch das Gesetz Gottes, führen zurUngerechtigkeit, wenn man die Ge-rechtigkeit in der Erfüllung des Ge-setzes sieht. So ist etwa die Pflicht,Schulden zu bezahlen, ein gültigesRecht, das keineswegs abzuschaffenist. Aber es führt zur Ungerechtigkeit,wenn man die Gerechtigkeit in seinerbloßen Erfüllung sucht. Die Erfüllungmuss jeweils beurteilt werden und dasGesetz ist zu suspendieren, wenn seinErfüllung die Lebensmöglichkeiten

des Schuldners zerstört. Eine solchePflicht kann dann natürlich auch wie-der durch ein einschränkendes Gesetzvorgeschrieben werden, aber auchdieses Gesetz unterliegt dann wiederdem Urteil, ob es nun tatsächlich oderin einem bestimmten Fall die Lebens-möglichkeiten des Schuldners zer-stört. Tut es das, muss es wiederumsuspendiert werden.Die heute eher dominante gegenteili-ge Position hierzu ist wohl die Kant-sche. Für Kant ist die Erfüllung desGesetzes das Kriterium der Gerech-tigkeit, nicht das Leben des durch dasGesetz betroffenen. So sagt er zumBeispiel (dem Sinn nach): dass dieLüge gegen einen Mörder, der unsfragt, ob unser von ihm verfolgterFreund sich nicht in unser Haus ge-flüchtet hat, ein Verbrechen sein wür-de. Das „du sollst nicht lügen“ giltabsolut. Wenn ein potentieller Mördernach dem von ihm gesuchten Opferfragt, muss ich ihm die Wahrheit sa-gen, auch wenn ich weiß, dass er ihnermorden will. Das Gesetz gilt überalle seine möglichen realen Konse-quenzen hinaus. In der paulinischenInterpretation wäre man sogar ver-pflichtet, dem potentiellen Mördernotfalls die Unwahrheit zu sagen unddies wäre dann die „wahre“ Antwort.

Aber die Kantsche Art, die Erfüllungder Gesetze zu begründen, bleibt fürunsere heutige Kultur weiterhin diegrundlegende. Sogar noch dieDisksursethik von Habermas undAppel nimmt im Prinzip diesenStandpunkt ein. Deshalb sucht sieimmer nach „gerechten“ Gesetzenund nicht nach der Gerechtigkeit inder Anwendung von Gesetzen. Dieletztere Konsequenz wird aber auchbei Marx gezogen, wenn er von dem„kategorischen Imperativ, alle Ver-hältnisse umzuwerfen, in denen derMensch ein erniedrigtes, ein geknech-tetes, ein verlassenes, ein verächtlichesWesen ist“6 spricht. Aber auch Marxführt diese Reflexion nicht zu Ende, daer davon ausgeht, dass es im Kom-munismus keine Warenproduktionmehr gibt und folglich das Problemder Gesetzeskritik selbst entfällt. Da-von können wir aber heute nichtmehr ausgehen.Dies ist dann der Grund, dass wirheute diese Gesetzeskritik, die vominneren Bruch im Gesetz ausgeht, der

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die Bedeutung des Gesetzes in ihrGegenteil verändert, wieder aufneh-men müssen. Die Kantsche Auffas-sung von definitiv „gerechten“ Ge-setzen ist in keiner Form nochhaltbar.

Die Unsichtbarkeit der ursprüng-lichen Schuldenkritik

Ich glaube, dass es notwendig ist, die-se Art von Reflexionen zu machen,wenn man verstehen will, warum dieErwähnung der Schuldenkritik bei Je-sus und Paulus so wenig Anklang fin-det. Diese Art Schuldenkritik ist fürunsere Gegenwart völlig unsichtbargemacht worden. Wir könnten unsdann fragen, wie sich dies äußert.

Dazu eine Anekdote, die ich schonhäufig erzählt habe, die aber völligwahr ist. Im Jahre 2000 war das vomVatikan erklärte Jubeljahr. Dieses Jahrsollte gerade an das SchuldenproblemLateinamerikas anknüpfen. Ich bekameinen Brief von einem protestanti-schen Hilfswerk, in dem sie mir er-klärten, dass sie für die Fastenzeitverschiedene Texte wollten, die aufdas Schuldenproblem anspielen unddie man für die Gottesdienste derFastenzeit benutzen könnte. Ich habedann einen Text geschickt, der demEntwurf des Instituts für Theologieund Politik sehr ähnlich ist und eben-falls von der entsprechenden Vater-unser-Bitte ausging. Nach kurzer Zeitbekam ich Antwort: Leider sei allerRaum für die geplante Veröffentli-chung schon besetzt. Aber man wür-de mir das abgemachte Honorar be-zahlen.

Der Zufall wollte es, das ich kurz da-nach von einem katholischen Hilfs-werk einen Brief bekam, der ganzähnlich lautete wie der vorherigeBrief des protestantischen Hilfswerks.Ich schickte daraufhin den fast glei-chen Text dahin. Und ich erhielt einenfast gleichen Antworttext wie ich ihnvorher bekommen hatte, einschließ-lich des Honorars.

Einige Monate danach bekam icheinen ganz ähnlichen Brief von Nue-va Sociedad, der von den deutschenSozialdemokraten in Lateinamerikaauf Spanisch veröffentlichten Zeit-schrift, obwohl ein bisschen anders

formuliert. Aber es ging um das glei-che Problem. Ich schickte wiedereinen Text und bekam wieder einenBrief, der besagte, dass leider schonüber den Raum disponiert sei, sie miraber das Honorar schicken würden.Das Ganze war wie verrückt.

Aber es kann wohl kein Zufall sein.Die mir diese Briefe geschickt hatten,sahen doch sicher alle die Forderung,Schulden nachzulassen oder zu ver-ringern, mit Sympathie an. Es handeltsich deshalb keineswegs um eine böseAbsicht. Warum dann die Ablehnung?Ich glaube, es ist die Ablehnung einesArguments. Wir müssen dann genauansehen, was das Vater unser eigent-lich sagt. Es ist natürlich klar, dass essich nur auf Schulden bezieht, dieunbezahlbar sind und die deshalb denSchuldner ruinieren, wenn er ge-zwungen wird, sie zu bezahlen.

Die Schulden des Menschen bei Gottsind überhaupt keine Schulden, diebezahlt werden müssen oder könnenetc. Es wird aber geschuldet und derSchuld muss entsprochen werden.Man schuldet nämlich Gott, demNächsten, der bei uns verschuldet ist,die Schulden nachzulassen (sofern ih-re Zahlung den Schuldner ruinierenwürde).

Dies aber impliziert, dass dieserSchuldennachlass im Namen der Ge-rechtigkeit gefordert wird. DieseSchulden nicht nachzulassen, ist un-gerecht. Das ist ungerecht, auch wennder Schuldvertrag ein gültiger Vertragist. Die Forderung lässt sich nicht aufMitleid oder Barmherzigkeit reduzie-ren, obwohl immer auch Mitleid dazugehören kann. Doch es geht um Ge-rechtigkeit. Es nicht zu tun, ist nichteinfach eine Sünde, sondern ein Ver-brechen. (Ich erinnere mich daran,dass Schäuble vor Jahren in seiner zy-nischen Art sagte: Mit den Schuldenund ihrem Nachlass ist es nicht so wiebei den Sünden in der Kirche. Beidiesen geht man in den Beichtstuhlund kommt ohne Sünden wieder her-aus). Man kann ein Beispiel geben.Wenn wir einen Bettler treffen, kön-nen wir ihm ein Almosen geben. Obman es gibt oder nicht, wird nicht alsFrage der Gerechtigkeit behandelt,sondern die Haltung wird auf Mitleidreduziert. Wahrscheinlich ist auch diesnicht so einfach richtig, aber es wirdso behandelt. Der Schuldennachlass

des Vater unser aber ist ganz sicheranders. Es ist eine Pflicht, die Schul-den nachzulassen. Eine Pflicht vorGott und dem Nächsten. Es ist das,was man Gemeinwohl nennen könnteund, wie ich meine, auch nennen soll-te. Es ist allerdings nicht das aristote-lisch-thomistische Gemeinwohl. Son-dern es ist das Wohl aller, wie es Jesusund ebenso auch Paulus versteht, ob-wohl Paulus die Schuldenzahlungennicht direkt erwähnt. Das Gemein-wohl hier ist das Wohl aller und manschuldet es im Namen der Gerechtig-keit. Man schuldet es dem Vaterunsernach Gott, aber diese Schuld Gottgegenüber entpuppt sich letztlich alseine Schuld allen Menschen gegen-über, letztlich auch eines jeden sichselbst gegenüber. Daher ist sie dieeinzig wahre Form der Selbstverwirk-lichung. Es handelt sich nicht um einSelbstopfer. Bei Jesus ist diese Ge-meinwohlschuld überall gegenwärtigund wird immer gleichzeitig als eineSchuld Gott gegenüber gesehen. Soetwa: Der Sabbat ist für den Men-schen da, nicht der Mensch für denSabbat. Das ist eine Forderung desGemeinwohls, aber sie ist gleichzeitigSchuld gegenüber Gott.

Übrigens handelt es sich um einenBegriff des Gemeinwohls, der dasaristotelisch-thomistische Gemein-wohl weit hinter sich lässt. Geradeheute scheint mir diese Neufassungdes Begriffs notwendig.

Geht man hiervon aus, kann man dieallgemein sichtbare Gleichgültigkeitgegenüber der Schuldenbitte des Va-terunser verstehen. Es ist nicht, dassnicht verstanden würde, was sie be-sagt. Man lehnt sie ab, weil man ver-standen hat, was sie sagt. Man bestehtdarauf, dass alles auf ein Mitleid re-duziert wird, das im Grunde den an-dern darauf reduziert, Objekt zu sein.Statt einer Pflicht folgt man danneben nur einer Neigung. Die Schuldenzu erlassen, hat jetzt den Charaktereines Almosens. Es ist nicht mehr einvernünftiger Akt, der aus der Ge-rechtigkeit entspringt und Pflicht ist,sondern ein eher irrationaler Akt dersich im Gefühlsleben der Person desGläubigers abspielt. Vom Standpunktdieser Wirtschaftsvorstellung ist es einAkt, der der wirtschaftlichen Rationa-

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lität widerspricht, während es sich inder Vorstellung der jesuanisch-pauli-nischen Gesetzeskritik um einen Akthandelt, der der wirtschaftlichen Ra-tionalität entspringt. Die Schuldennachzulassen ist, auch wirtschaftlichgesehen, der rationale Akt. Er ist Teileines schöpferischen Zusammenle-bens.

Jesus fasst das Urteil über diese Un-gerechtigkeit in einem Gleichnis zu-sammen:

„Deshalb ist es mit dem Himmelreich wie miteinem König, der Abrechnung halten wollte mitseinen Knechten. Da er nun anfing abzurechnen,wurde einer vor ihn gebracht, der zehntausendTalente schuldig war. Da er nicht zahlen konnte,befahl der Herr, ihn zu verkaufen samt seinerFrau und seinen Kindern und seiner ganzen Ha-be und (so) die Zahlung zu leisten. Da fiel ihmder Knecht zu Füßen und flehte ihn an: 'HabeGeduld mit mir, ich will dir ja alles bezahlen.'Da erbarmte sich der Herr jenes Knechtes, ließihn frei und erließ ihm die Schuld. Kaum waraber jener Knecht draußen, da traf er einen sei-ner Mitknechte, der ihm hundert Denare schul-dig war. Den packte er, würgte ihn und sagte:'Bezahle, was du schuldig bist.' Da fiel der Mit-knecht ihm zu Füßen und bat ihn: 'Habe Ge-duld mit mir, ich will es dir ja bezahlen.' Aberder wollte nicht, sondern ging hin und ließ ihn insGefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt hätte.Als nun seine Mitknechte sahen, was da vor sichging, empörten sie sich darüber, gingen hin undberichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war.Da ließ der Herr ihn zu sich rufen und sprachzu ihm: 'Du böser Knecht, jene ganze Schuldhabe ich Dir erlassen, weil Du mich gebeten hast.Hättest nicht auch du dich deines Mitknechteserbarmen müssen, so wie ich mich deiner erbarmthabe?' Und voll Zorn übergab ihn der Herr demGericht, bis er ihm die ganze Schuld bezahlthätte. So wird auch mein himmlischer Vater miteuch verfahren, wenn nicht jeder von euch seinemBruder von Herzen verzeiht.” Mt 18,23-35.

Hier entspricht der Ungerechtigkeiteine Strafe, die zur Rückkehr der Un-gerechtigkeit verurteilt.

Ich glaube, wir müssen darauf drin-gen, diesen gesamten Zusammenhangzu diskutieren. Andernfalls bleibenwir auf der Oberfläche des Problems.Es geht hier um das Problem, dasHelder Camara ansprach, als er sagte:Wenn ich dem Hungernden ein StückBrot gebe, nennt man mich einenHeiligen. Wenn ich aber frage, warumgibt es überhaupt Hunger, dann nenntman mich einen Kommunisten.

Die Ersetzung der ursprünglichenSchuldentheologie durch Anselmvon Canterbury

Für diese Diskussion aber scheint esmir notwendig, nicht nur das Ver-schwinden der jesuanisch-paulini-schen Schuldenkritik und Schulden-theologie zu sehen, sondern ebensodie theologische Herausarbeitung ei-ner völlig veränderten Schuldentheo-logie, die an die Stelle der jesuanisch-paulinischen Schuldentheologie tritt.Sie ist fast das genaue Gegenteil derersten Schuldentheologie. Es handeltsich um die Schuldentheologie An-selms von Canterburys aus dem 11.Jahrhundert, die auch heute noch diechristliche Theologie des westlichenChristentums in fast all ihren Rich-tungen weitgehend beherrscht.

Diese Schuldentheologie Anselmsgeht zwar auch von der Frage derSchulden des Menschen vor Gott aus,aber in der ersten und ursprünglichenSchuldentheologie liegt die Initiativebeim Menschen. Die Schulden beiGott sind nicht zu bezahlen und sol-len auch nicht bezahlt werden. Aberder Mensch kann sie auflösen. Er löstsie dadurch auf, dass er selbst seinenMitmenschen gegenüber derenSchulden immer dann nachlässt, wennsie unbezahlbar geworden sind. In derTheologie Anselms gibt es denSchuldenerlass überhaupt nicht. An-selm geht sogar soweit zu sagen, dassGott diese Schulden ohne Bezahlunggar nicht erlassen kann, weil das eineUngerechtigkeit wäre. Gott aber istein gerechter Gott. Die Schuldenzah-lung ist einfach als solche gerecht.Gott kann die Schulden nur verzei-hen, wenn sie bezahlt sind.

Hier führt dann Anselm die unbe-zahlbaren Schulden ein. Alle Schuldendes Menschen vor Gott - es sind dieSchulden, die der Mensch als Sündenanhäuft und die Beleidigungen Gottesdarstellen, da sie seinen Willen nichtachten - sind unbezahlbar. Für An-selm sind es daher Schulden, die nurdurch Blut gezahlt werden können.Aber da das Blut des Menschen dengöttlichen Stolz niemals besänftigenkann, ist dieses Blut des Menschenzwar eine Zahlung, kann aber nicht

die Schulden bezahlen. Doch es wirdund muss ständig bezahlt werden -alles menschliche Leiden ist Zahlungdieses Blutes - ohne jemals die Schul-densituation lösen zu können. Anselmkonstruiert dann von der Theologieher das Blut eines Menschen, dergleichzeitig Gott ist, das dies errei-chen kann. Das ist für ihn der Got-tessohn Christus, der dann auf dieWelt kommt, um sterbend sein Blutzur Zahlung der Schulden des Men-schen bei Gott zu vergießen. Erkommt überhaupt nur auf die Welt,um dieses sein Blut für die Menschenzu vergießen und sie dadurch zu erlö-sen. Er kommt nicht um zu leben,sondern er kommt um zu sterben.Dies ist dann der Ausdruck der LiebeGottes. Gott kann die Schulden desMenschen nicht erlassen, weil seineGerechtigkeit ihn daran hindert under schickt seinen göttlichen Sohn auslauter Liebe in die Welt, um durchseinen Tod das Blut zu vergießen,dass dann fähig ist, die Schulden beiGott zu bezahlen und damit denMenschen zu erlösen. Aber diese Er-lösung ist nicht automatisch gegeben.Der Mensch muss sie sich verdienen,indem er jetzt den Willen Christi tutund damit verdient, durch das BlutChristi erlöst zu werden. Aber dieserWille Christi ist selbst wieder Blut-zahlung des Menschen. Alles ersticktgeradezu im Blut.7

Das ganze ist eine Projektion in denHimmel, die dann im 14. und 15.Jahrhundert mit dem frühen Kapita-lismus auf die Erde kommt. Luther,der dem Frühkapitalismus sehr kri-tisch gegenüber stand, ist hier eineAusnahme. Er weigerte sich, die An-selmsche Schuldentheologie zu über-nehmen. Doch nach Luther über-nahm sie dann auch die lutherischeKirche, sodass sie fast einstimmig daswestliche Christentum bis heute be-herrscht.8

War die erste Schuldentheologie einAufruf an die Menschen, menschlichzu werden, so ist diese AnselmscheSchuldentheologie der Aufruf an dieMenschen, sich bedingungslos diesemunmenschlichen neuen Schuldensys-tem zu unterwerfen, das dann nachdem 14. Jahrhundert vom Himmel aufdie Erde kommt und jetzt der kapita-

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listischen Be-handlung derSchulden die Be-gründung gibt. Sieruft auf, sich demunmenschlichenSystem bedin-gungslos zu un-terwerfen.Die erste Schuldentheologie ruft zurMenschlichkeit auf, die zweite zurUnmenschlichkeit. Auf diese neue Si-tuation angepasst, können wir danndas Buch von Thomas Kempis, Imi-tatio Christi, als Quelle benutzen.

Diese zweite Schuldentheologie wirddann natürlich säkularisiert und bleibtals solche völlig herrschend. In denherrschenden Tendenzen des Neoli-beralismus kommt das klar zum Aus-druck. Wer kein Geld hat, hat auchkein Lebensrecht und die Tatsache,dass er kein Geld hat, ist der Beweis,dass er nicht bereit ist, unter denwirtschaftlich angeblich rationalenBedingungen der neoklassischenWirtschaftspolitik selbst seinen Un-terhalt zu verdienen. Er verdient ihndann auch nicht. Er muss mit Blutseine Unfähigkeit, das zu tun, was erdiesem Wirtschaftssystem schuldet,zahlen. Leon Bloy sagte: Das Geld istdas Blut der Armen. Dies ist seineAntwort auf den Leviathan vonHobbes, von dem Hobbes sagt, dassdas Geld das Blut des Leviathans ist.Es ist als Blut des Leviathans das Blutder Armen. Dieses Blut fließt jetztwieder vor allem in Griechenland undwird in unseren Banken zur klingen-den Münze.

Alle Schuldenproblematik, aber auchalle Geldproblematik, wird damit zurBlutmystik. Die Autoritäten dieserBlutmystik können dann nur zum ex-tremen Sadismus tendieren, jedenfallsist es ihre konstante Versuchung. Esist der Sadismus derer, die die Leidender Verurteilten genießen können, dasie rein menschliche Genüsse nichtmehr hoch bewerten können. DerSadismus ist das Schmieröl für dieEntmenschlichung durch die Macht-haber, die hier Gläubiger sind.

Die deutschen Schuldenkrisen des20. Jahrhunderts

Ich möchte jetzt noch ein anderesProblem ansprechen, das viel aktuel-ler ist und im Zusammenhang mit derDiskussion über das Gemeinwohl in-nerhalb der Schuldenzahlung aufge-zeigt werden muss. Es handelt sichum die Schuldenkrisen Deutschlandsim 20. Jahrhundert, in dem Deutsch-land drei große Schuldenkrisendurchgemacht hatte. Es handelt sichum die Schuldenkrise nach dem I.Weltkrieg, um die Schuldenkrise nachdem II. Weltkrieg und die Schulden-krise nach der Wiedervereinigung,von der wir kaum ein Bewusstseinhaben. Ohne die Diskussion dieserdeutschen Schuldenkrisen können wiruns nur schwer ein Urteil über dasbilden, was wir heute Griechenlandantun.

Für alle drei Schuldenkrisen Deutsch-lands gilt, dass Deutschland nicht eineinziges Mal seine Schulden bezahlthat.

Die erste Schuldenkrise ergab sichanlässlich der Friedensverhandlungenvon 1919 in Versailles. Diese Ver-handlungen waren so grotesk wie esdie deutschen Verhandlung in diesemJahre 2015 mit den Griechen waren.Es wurde gar nicht wirklich verhan-delt, sondern erpresst, bis derSchuldner „freiwillig“ alle Bedingun-gen annahm. Wenn wir verstehenwollen, wie Deutschland in Versaillesbehandelt wurde, brauchen wir nur zuverstehen, wie Griechenland durchDeutschland heute behandelt wordenist. Die Drohung ist in jedem Falle,die überlegene Macht des Gläubigersso auszunutzen, dass im Schuldner-land noch schlechtere Bedingungenals die Bedingungen der erpressendenLänder für das entsprechende Landentstehen. Es ist eine Erpressungs-

strategie, die auch der Weltwährungs-fonds ständig angewendet hat. Eshandelt sich um eine Despotie, dieüberhaupt keine demokratische Kon-trolle zulässt. Deutschland erholtesich nicht von den damit geschaffe-nen wirtschaftlichen Problemen, ob-wohl in den 20er Jahren mehrereSchuldenschnitte erfolgten. 1933,nach der Machtübernahme durch denNazismus, hat das Nazi-Regime ein-fach die Zahlungen eingestellt und einMoratorium erklärt. Die Gläubiger-länder reagierten kaum, was unter an-derem darauf schließen lässt, dass siedieses Regime mit sehr sympathischenAugen ansahen.

Keynes, der Mitglied des englischenVerhandlungsteams in Versailles ge-wesen war, schrieb danach ein Buch,in dem er seine Annahme entwickelte,dass dieser erpresste Vertrag eineneue Katastrophe hervorbringenkönnte. Tatsächlich ist sehr deutlich,dass die durch die Schuldenzahlungenproduzierten wirtschaftlichenSchwierigkeiten mit der Möglichkeiteines Aufstiegs der Nazipartei in den20er Jahren sehr eng verknüpft ist.

Die tatsächlichen Zahlungen warennicht in der Lage, die Schulden abzu-tragen, schafften allerdings eine inter-ne Katastrophe in Deutschland, dieeiner der Ausgangspunkte des II.Weltkriegs wurde.

Nach dem II. Weltkrieg ergab sich diezweite Schuldenkrise, die aus denSchulden von vor dem Krieg, aus denKriegsschulden selbst und aus allenReparationsforderungen hervorgin-gen. Die USA aber verfolgten vonAnfang an eine ganz andere Strategieals die nach dem I. Weltkrieg. Sie gin-gen davon aus, dass die Schulden, diein der Kriegszeit erwachsen waren,überhaupt nicht zu bezahlen seien.Ihr Projekt war von Anfang an dasProjekt eines Wiederaufbaus Westeu-ropas. Dieses Projekt war nur im Falleines generellen Schuldenschnittsmöglich. In diese Politik wurde auchdie Bundesrepublik nach der Wäh-rungsreform von 1948 eingeschrie-ben.

Teil I I : Der Konflikt um dieAuslandsverschuldung

Griechenlands

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Die USA taten dies aber offensicht-lich nicht vorwiegend deshalb, weil sieetwa aus den Erfahrungen mit derSchuldenpolitik nach dem I. Weltkrieggelernt hätten. Dies ist nur zum Teilder Fall. Der Hauptgrund war wohl,den kalten Krieg zu führen und zugewinnen. Dazu brauchte man ein„menschliches Antlitz“ für den Kapi-talismus und verfolgte dieses nichtnur durch die Dynamisierung desWirtschaftswachstums, sondern ins-besondere auch durch die außeror-dentliche Erweiterung des Sozialstaatsin allen westeuropäischen Ländern.Diese bereits eingeschlagene Politikwurde dann im Londoner Schulden-abkommen 1953 festgeschrieben.Danach wurde die Mehrheit derSchulden Deutschlands erlassen,während die restlichen Schulden aufunbefristete Zeit in Form von Mora-torien gestundet wurden, die nichtverzinst wurden. Die Behandlung deretwa zu fordernden Reparationenwurde auf den Zeitpunkt nach derWiedervereinigung Deutschlands ver-schoben, um sie in dem dann folgen-den Friedensvertrag zu behandelnund darüber zu entscheiden.

Die ganze Ausrichtung dieser Schul-denpolitik zeigt sich auch sehr deut-lich in der Politik gegenüber der So-wjetunion. Die USA hatte derSowjetunion im Krieg einen Unter-stützungskredit von zehn MilliardenDollar gegeben. In diesem Falle for-derte die USA die Rückzahlung dieseraußerordentlichen Summe gegenübereinem Land, das lange Jahre an derGrenze der Hungersnot lebte. Manversuchte ihm gegenüber genau diegleiche Politik anzuwenden, die mannach dem I. Weltkrieg Deutschlandgegenüber durchgesetzt hatte.

Durch diese Politik Westeuropas ge-genüber konnten die USA relativleicht den Wiederaufbau nach demKrieg ermöglichen, sodass sie als Er-gebnis davon den kalten Krieg ge-wannen.

Die Identitätskrise des Kapitalis-mus und die Aufhebung der Men-schenwürde

Als dieser aber gewonnen war, ergabsich für fast sämtliche kapitalistischen

Länder eine schwierige Situation, dieletztlich nur durch ideologischeGründe erklärbar ist. Man hatte einesozialstaatliche Demokratie begrün-det, die eine weitgehende Achtungwirklich allgemeiner Menschenrechtedurchsetzte und in ihrer Tendenz dieIdentität der Gesellschaft als kapita-listischer Gesellschaft weitgehendveränderte. Der kapitalistische Kernder Gesellschaft war zwar keineswegsabgeschafft, aber er war relativiertworden. Das Bewusstsein diesesIdentitätsverlustes der kapitalistischenGesellschaft setzte sich in den 70erJahren des vergangenen Jahrhundertsdurch. Er führte zu dem Versuch, derjetzt weiterhin im Gange ist, dennackten Kapitalismus zurückzuge-winnen und das Wesen des Menschendarauf zu reduzieren, Humankapitalzu sein.

Damit werden dann tatsächlich auchdie Menschenrechte abgeschafft. Siewerden durch eine völlig metaphysi-sche Auffassung des Privateigentumsund der Rechte des als Humankapitalangesehenen Menschen als Eigentü-mer ersetzt. Etwa das Recht auf deneigenen Körper wird als Privateigen-tum gesehen, selbst die Folter folglichals eine Eigentumsverletzung durchdie Verletzung von Rechten, die imNamen des Privateigentums vertretenwerden. Die Folter ist dann eine Ent-eignung des Körpers, und eine Ent-eignung kann eben auch legitim sein.Damit ist dann die Menschenwürdeals Bezugspunkt aller Menschenrechtefaktisch abgelöst. Marx hatte dieseMenschenwürde noch betont, indemer sagte, dass „der Mensch dashöchste Wesen für den Menschen“sei. Diese Analyse der Menschen-rechte läuft völlig parallel zu der Be-tonung der Menschenwürde in derchristlichen Tradition. Marx hat dieseseine Betonung der Menschenwürdenie aufgegeben oder verlassen, ob-wohl sie in der marxistischen Traditi-on häufig übergangen wurde. Diesegesamte Tradition wird jetzt innerhalbder kapitalistischen Länder als abge-schafft erklärt. Dies taten zuerst derNazismus und der Faschismus, heuteaber tut es die extremistische Auffas-sung der kapitalistischen Gesellschaftals einer Gesellschaft des totalenMarktes. Sie wird durch den heute alsgültig erachteten Neoliberalismus

ausgedrückt. Mit Stolz verkündet erdas Ende der Menschenrechte undführt da, wo er kann, eine Politikdurch, die voraussetzt, dass die Men-schenrechte keine Geltung mehr ha-ben.

Wenn heute Frau Merkel von unserenwestlichen Werten spricht, kann siesich eigentlich nur auf diese Formentwerteter Werte beziehen. Sie undHerr Schäuble haben ja gerade diesehohen Werte unserer heutigen kapita-listischen Gesellschaft gegenüber derjetzigen griechischen Regierung vonTsipras sehr klar angewandt, indemsie die Schuldenzahlung zu absoluterNotwendigkeit erklärten, und zwargerade in dem Sinne dessen, was wirweiter oben als Formulierung zitier-ten: fiat iustitia, et pereat mundus (essei Gerechtigkeit, auch wenn darüberdie Erde untergeht). Das pereat mun-dus gilt zumindest für sehr vieleGriechen heute. Etwas Ähnlicheswurde ebenfalls durch eine Kampa-gne heutiger spanische Regierungs-kreise ausgedrückt, die in Katalonienverbreitete: Es gibt nicht mehr genugfür alle.

Die Gesellschaftohne Menschenrechte

Ich will nur einige Zitate von neoli-beralen Gurus bringen, die man be-liebig vermehren könnte. Ich gehevom Gründer dieses Neoliberalismus,Ludwig von Mises, aus. SowohlFriedrich v. Hayek wie auch MiltonFriedman betrachteten ihn als ihrenLehrmeister. Er sagte:

„Man geht immer von einem fundamentalen Irr-tum aus, der weit verbreitet ist. Es ist der Irr-tum, dem gemäß die Natur dem Menschen un-verzichtbare Rechte gegeben hat aus dem bloßenGrunde, weil er geboren wurde.“ 9

In einem ganz ähnlichen Sinne sagteHayek:

„Ganz so wie die Vorväter, die in Höhlenwohnten, muss auch der heutige Mensch die tra-ditionelle demographische Kontrolle akzeptieren:Hungersnöte, Pestkrankheiten, Kindersterblich-keit etc.“10

Ebenfalls sagte Hayek in einem ande-ren Interview in Santiago 1981:

„Eine freie Gesellschaft braucht Moral, die sichin letzter Instanz auf die Erhaltung von Lebenreduziert: nicht auf die Erhaltung allen Lebens,denn es könnte notwendig sein, individuelles Le-ben zu opfern, um eine größere Zahl anderer Le-ben zu retten. Daher sind die einzigen Regeln derMoral diejenigen, die zu einem 'Kalkül des Le-bens' führen: das Eigentum und der Vertrag.”11

Das „Eigentum und der Vertrag“können überhaupt keine Menschen-rechte vermitteln, sondern uns nur ihrEnde mitteilen.

Der ehemalige Kanzlerkandidat dersozialdemokratischen Partei Deutsch-lands (SPD) hat hierfür kürzlich einensehr klaren Ausdruck gefunden, wieder Tagesspiegel schrieb:

„Peer Steinbrück belehrt mit seinem neuen Buch'Vertagte Zukunft' die SPD. Sein Rat: Rücktin die Mitte. Mit dem Ausbau des Wohlfahrts-staates sei die Partei nicht auf der Höhe derZeit.“12

Man sieht: Hier haben Menschen-rechte keinen Platz. Das Regime vonPinochet war für Friedman einfachnur ein freiheitliches Regime, das einediktatorische Form hatte. Es gibt inder neoliberalen Vorstellung keineMenschenrechte, der Mensch ist ein-fach nur „Humankapital“.

Das ist jetzt der Aufruf, definitiv dendemokratischen Sozialstaat aufzuge-ben. Aber ohne Sozialstaat kann eskeine realistische Anerkennung derMenschenrechte geben. Es gibt nurnoch ihre völlige Entleerung unterder Perspektive politischer Sonntags-predigten. Steinbrück erklärt, dass dasbedeutet, in die Mitte zu rücken. Dasist Teil seiner Demagogie, die vorgibt,zu denken, was die Mittelklasse denkt.Das gilt dann als Zentrum und Mitte.Doch das ist Unsinn. Auch der Na-zismus war hauptsächlich ein Denkender Mittelklasse, aber doch wohl nichteine Position der Mitte. Auch das, wasSteinbrück der Mittelklasse vor-schlägt, ist keine Position der Mitte,sondern die Position eines neuen Ex-tremismus des Marktes, und zeigt,dass er dabei ist, den Totalitarismusdes totalen Marktes definitiv durch-zusetzen. Das aber ist das Ende derMenschenrechte. Die Vertretung derMenschenrechte und der Menschen-würde wird zur Ausnahme, obwohlder Gebrauch dieser Worte geradezuinflationiert.

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„Eine freie Gesellschaft braucht Moral, die sichin letzter Instanz auf die Erhaltung von Lebenreduziert: nicht auf die Erhaltung allen Lebens,denn es könnte notwendig sein, individuelles Le-ben zu opfern, um eine größere Zahl anderer Le-ben zu retten. Daher sind die einzigen Regeln derMoral diejenigen, die zu einem 'Kalkül des Le-bens' führen: das Eigentum und der Vertrag.”11

Das „Eigentum und der Vertrag“können überhaupt keine Menschen-rechte vermitteln, sondern uns nur ihrEnde mitteilen.

Der ehemalige Kanzlerkandidat dersozialdemokratischen Partei Deutsch-lands (SPD) hat hierfür kürzlich einensehr klaren Ausdruck gefunden, wieder Tagesspiegel schrieb:

„Peer Steinbrück belehrt mit seinem neuen Buch'Vertagte Zukunft' die SPD. Sein Rat: Rücktin die Mitte. Mit dem Ausbau des Wohlfahrts-staates sei die Partei nicht auf der Höhe derZeit.“12

Man sieht: Hier haben Menschen-rechte keinen Platz. Das Regime vonPinochet war für Friedman einfachnur ein freiheitliches Regime, das einediktatorische Form hatte. Es gibt inder neoliberalen Vorstellung keineMenschenrechte, der Mensch ist ein-fach nur „Humankapital“.

Das ist jetzt der Aufruf, definitiv dendemokratischen Sozialstaat aufzuge-ben. Aber ohne Sozialstaat kann eskeine realistische Anerkennung derMenschenrechte geben. Es gibt nurnoch ihre völlige Entleerung unterder Perspektive politischer Sonntags-predigten. Steinbrück erklärt, dass dasbedeutet, in die Mitte zu rücken. Dasist Teil seiner Demagogie, die vorgibt,zu denken, was die Mittelklasse denkt.Das gilt dann als Zentrum und Mitte.Doch das ist Unsinn. Auch der Na-zismus war hauptsächlich ein Denkender Mittelklasse, aber doch wohl nichteine Position der Mitte. Auch das, wasSteinbrück der Mittelklasse vor-schlägt, ist keine Position der Mitte,sondern die Position eines neuen Ex-tremismus des Marktes, und zeigt,dass er dabei ist, den Totalitarismusdes totalen Marktes definitiv durch-zusetzen. Das aber ist das Ende derMenschenrechte. Die Vertretung derMenschenrechte und der Menschen-würde wird zur Ausnahme, obwohlder Gebrauch dieser Worte geradezuinflationiert.

Das hat dann auch eine sehr symboli-sche religiöse Perspektive. Unter denBedingungen, die die Erpressungdurch unsere Markttotalitären denGriechen aufzwang, war eine ganzbesonders primitive Bedingung: diegriechische Regierung solle an denSonntagen die Öffnung aller Ge-schäfte durchsetzen. Ich will jetztnicht auf das vollkommen Lächerli-che einer solchen Forderung einge-hen. Aber sie zeigt etwas: Der Sonn-tag wurde früher immer als Tag desHerrn bezeichnet. Das bedeuteteeben als Tag Gottes. Unsere Schäub-les wollen dabei bleiben. Der Sonntagsoll der Tag Gottes bleiben. Aber siewollen einen anderen Gott aufzwin-gen, der das Geld ist. Und diesenGott sollen auch die Griechen jedenSonntag in ihren Einkaufszentren fei-ern. Diese Forderung, gerade und vorallem, wenn sie von deutscher Seitevorgebracht wird, wird von einemLand erhoben, in dem bisher die Ge-schäfte sonntags nicht öffnen dürfen.„Der Warengott ist der wahre Gott“,so vertraten schon vorher deutscheSoziologen diese gleiche Denkhal-tung.13 Was jetzt noch fehlt, ist, dassendlich der Deutschen Bank das Ei-gentum an der Akropolis zugespro-chen wird, um auch Zeus genüge zutun.

Man sieht, dass hier eine völlige ideo-logische Umwertung stattgefundenhat. Etwas, was tendenziell natürlichschon vorher da war, wird jetzt defi-nitiv umgesetzt.

Das, was hier gesagt wird, finden wirbereits in den Worten von Primo deRivera, dem Gründer der spanischenfaschistischen Falange: „Wenn ich dasWort Humanität höre, habe ich Lust,die Pistole zu ziehen.“ Im Neolibera-lismus hören wir das gleiche mit an-deren Worten. Der Neoliberalismusist tatsächlich ein legitimer Nachfolgerdes Faschismus.

Die Kritik an der Wirtschaft derNachkriegszeit

Dem entspricht eine sehr oberflächli-che, streng dogmatische Kritik daran,was die Ökonomie der Nachkriegszeiteigentlich gebracht hatte. Faktischwurde von den 80er Jahren an die In-terpretation dieser Zeit weitgehend

umgestellt. Die Ökonomie der Nach-kriegszeit und ihre Stellung zur Ver-schuldungskrise wurde kaum nocherwähnt. Der wohl bedeutendsteWirtschaftswissenschaftler des 20.Jahrhunderts, Keynes, wurde kaumnoch diskutiert und kaum noch anden Universitäten studiert. An dieStelle seiner Theorie trat eine Markt-analyse, deren Objekt nicht mehr ist,als das Lob dafür, viel Geld zu ver-dienen und die Mechanismen zu stu-dieren, die dabei helfen können. DieWirtschaftswissenschaften verarmtendramatisch und hatten nur noch daseine Zentrum, das diese neoklassischeWirtschaftslehre war, die über jedenZweifel erhaben war. Es gab auchkaum noch das Studium der Kon-junkturzyklen. Das war nicht mehrnötig, denn es gibt ja keine Konjunk-turanalyse mehr, sondern nur nochdie punktuelle Diskussion von Kon-junkturbewegungen. Die wichtigsteErklärung für die Arbeitslosigkeit warder Hinweis auf die Faulheit derMenschen und ihre Weigerung, Ar-beitsplätze anzunehmen, die nicht ih-ren Vorstellungen von dem, was sieverdienen müssen, entsprechen. DerMensch hat nur Wunschvorstellun-gen, die sich realistisch anpassenmüssen. Dass der Mensch Bedürfnis-se hat, fällt diesen Ökonomien nichtein. Für sie gibt es nur Kaufanreizeund Nutzeneinschätzungen, wobeider Nutzen einfach nur eine psycho-logische Tendenz ist und sonst nichts.

Diese neue Art die Wirtschaft zudenken, zu interpretieren und zumObjekt der Politik zu machen, ver-band sich mit einem Geschichtsvor-fall. Dieser war der chilenische Mili-tärputsch von 1973, auf den dann dieerste Regierung von Thatcher unddann ab 1980 die Regierung Reagansfolgten. Besonders in Lateinamerikawurde diese Wirtschaftsart durch denStaatsterrorismus der totalitären Dik-taturen der Nationalen Sicherheitdurchgesetzt.

Dies führt uns dann zur dritten deut-schen Schuldenkrise, die tatsächlichvon den Kommunikationsmedienkaum herausgestellt wurde. Sie be-zieht sich auf die Schulden an Repa-rationen, von denen der LondonerSchuldenkongress sagte, dass sie nachder Wiedervereinigung im darauf fol-genden Friedensvertrag zu regeln sei-

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en. Diese Situation wurde einfach bü-rokratisch geregelt. Man sprach fastnicht von einem Friedensvertrag.Stattdessen war die Wiedervereini-gung ein Beitritt der Länder der DDRzur Bundesrepublik. Dadurch verwei-gerte Deutschland faktisch die Zah-lung von Reparationen. Die anderenLänder akzeptierten, sodass hierüberkein Konflikt entbrannte. AberDeutschland bewegt sich am Randedes Betrugs.

Doch ein Konflikt ergab sich späterin den Auseinandersetzungen derdeutschen Regierung mit der neuengriechischen Regierung unter Tsiprasim Jahre 2015. Die Griechen forder-ten die Anerkennung der deutschenRegierung ihrer Zahlungsverpflich-tung für eine Zwangsanleihe, dieGriechenland in der Zeit der Beset-zung durch deutsche Truppen im II.Weltkrieg durch die Naziregierungauferlegt wurde. Es handelte sich umetwa 8 Milliarden Reichsmark.

Die Mitglieder der griechischen Re-gierung heute brachten diese deut-schen Schulden in die Diskussionüber die griechische Verschuldungein. Schäuble hingegen unterbrachsofort diese Diskussion und erklärte,eine solche Schuld bestehe nichtmehr. Zwar hatte das Nazideutsch-land diese Summe bekommen, aber inden dem Krieg nachfolgendenSchulddiskussionen hätte Griechen-land auf die Zahlung dieser Schuldenverzichtet. Deutschland braucht keineSchulden zu bezahlen, Griechenlandaber muss jeden Pfennig bezahlen,nichts wird geschenkt. Dies erklärt jaauch Frau Merkel ständig.

In Wirklichkeit hatte Griechenlandnach dem Krieg nicht freiwillig aufdiese Schuldenzahlung verzichtet. Eswar vielmehr durch die USA gezwun-gen worden, die äußerstes Interessefür den deutschen Wiederaufbau, aberüberhaupt kein Interesse am griechi-schen Wiederaufbau hatte. Das Inter-esse für den Wiederaufbau Deutsch-lands war einfach durch denbeginnenden kalten Krieg gegeben.Der kapitalistische Wiederaufbau warvöllig untypisch. Der Sozialstaat wur-de gefördert, die Schulden nachgelas-

sen, die hohen Einkommen außeror-dentlich hoch versteuert und vielesmehr. Der Grund dafür war der kalteKrieg. Die Kosten für den Sozialstaatwaren tatsächlich Kriegskosten. Da-her wurden sie, sobald der Sieg imkalten Krieg sichtbar wurde, sofortwieder mit aller Kraft zurückgenom-men und es begann der systematischeAbbau des Sozialstaats unter den Re-gierungen von Pinochet, Thatcherund von Reagan. Der eventuelle Wie-deraufbau Griechenlands war unterdiesem Gesichtspunkt völlig uninter-essant. Griechenland wurde gezwun-gen, „freiwillig“ auf alle möglichenForderungen an Deutschland zu ver-zichten. Diese Freiwilligkeit war ge-nau die gleiche wie es die angeblicheFreiwilligkeit der Unterwerfung vonTsipras unter das despotische Diktatvon Schäuble heute ist. Dieser Art„Verpflichtungen“ haben nicht diegeringste legitime Gültigkeit. Manversteht dann aber, warum wir heutefast nichts zu hören bekommen vonder Wirtschaftsordnung, die nachdem II. Weltkrieg begründet wurdeund bis in die 70er Jahre des vergan-genen Jahrhunderts weitergeführtwurde. Der Grund ist sehr einfach. Eshandelte sich um eine Wirtschafts-ordnung, die sich heute nicht einmaldie europäische Linke vorzuschlagentraut. Sie gilt heute als linksradikal. Sieist fast das genaue Gegenteil der heu-te vom Neoliberalismus angeführtenWirtschaftsordnung. Außerdem hatsie die höchsten Wachstumsratenhervorgebracht, die bisher in der eu-ropäischen Wirtschaft aufgetretensind. Diese Zeit ist daher die wirklicheWiderlegung alles dessen, was heutegegen den Sozialstaat und für die ab-solute Privatisierung unserer Wirt-schaft vorgebracht wird. Daherspricht man gar nicht über diese Zeit.Sie wäre das große Argument gegenalles das, was man uns heute als ratio-nale Wirtschaft anbietet. Einer dieserZeit entsprechenden Wirtschaftspoli-tik würde sich auch die heutige grie-chische Regierung keineswegs ver-weigern. Ganz im Gegenteil. Es istdas Äußerste, was sie sich erträumenkann. Aber als Argument ist diesheute schlechthin verboten und unse-re Kommunikationsmedien respek-tieren fast gänzlich dieses Verbot. Esgibt nur einige seltene Ausnahmen.

Eine dieser Ausnahmen ist der großeFinanzspekulant George Soros. In ei-nem Spiegelinterview sagt er:„SPIEGEL ONLINE: Was erwarteten Sieeigentlich für Europa, als der Zweite Weltkriegendlich zu Ende ging? Konnten Sie überhauptdaran glauben, dass der Kontinent jemals Friedenfinden würde?

Soros: Unser großes Glück nach dem Ende desKrieges war der Marshall-Plan. Ohne ihn ist dieEuropäische Union überhaupt nicht denkbar, erwar ihr Geburtshelfer. Der Plan war wahr-scheinlich das erfolgreichste Entwicklungshilfe-projekt der Weltgeschichte. Und er zeigte, zuwelch guten Taten die Vereinigten Staaten fähigwaren, die damals weltweit so dominant warenwie heute Deutschland in Europa. Amerikakonzentrierte sich auf den Wiederaufbau desKontinents, auf dem es gerade noch erbittertKrieg geführt hatte. Das ist der große Unter-schied zum heutigen Verhalten Deutschlands:Amerika war bereit, die Sünden der Vergangen-heit vielleicht nicht zu vergessen, aber zu verge-ben. Deutschland hingegen scheint es bloß umSanktionen und Strafe zu gehen, ohne dass dasLand dem Rest Europas eine ähnlich positiveVision bietet, wie sie damals die Amerikanerauch den Deutschen boten.“14

Nimmt man jetzt die SchuldenDeutschlands für diese Zwangsanlei-he, zu der Griechenland unter derdeutschen Besetzung gezwungenwurde und wendet man darauf dieüblichen gewaltsamen Bankenstrate-gien an, so handelt es sich um Schul-den, die seit über 70 Jahren nicht be-dient wurden und die nachkapitalistischer Logik für diese ge-samte Zeit zu verzinsen sind. Tut mandies, so sind diese deutschen Schuldenheute viel höher als die heutige grie-chische Auslandsverschuldung insge-samt. Wir reden nicht einmal darüber.Aber wenn die Griechen sich heuteverspäten, müssen sie natürlich fürjeden entsprechenden Zeitraum Zin-sen, möglichst sogar höhere als nor-male Zinsen bezahlen.

Natürlich wird man nichts davon er-wähnen. Quod licet Iovi, non licetbovi. Für diese ganze Auseinander-setzung spielen die Gesetze über-haupt keine Rolle, sondern sie sindder Vorwand, unter dem immer derStärkere Recht bekommt. Man musswissen, wer stärker ist und folglichmehr Geld hat, um zu wissen, werRecht hat. Dafür gibt es natürlichAusnahmen, aber sie sind eben nurdas: seltene Ausnahmen.

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Ich möchte diese Analyse mit einemZitat aus einem Interview mit demHistoriker Heinrich August Winklerin der Süddeutschen Zeitung vom18.08.2015 beenden:

„Süeddeutsche: Im Falle Griechenlands gibt esnoch die Frage der Reparationen für die deutscheBesatzung und Verbrechen während den ZweitenWeltkriegs. Sollte Berlin seine Meinung ändernund zahlen?

Winkler: Wenn man dieses Kapitel noch einmalanginge, würde man die Büchse der Pandora öff-nen. Es gäbe einen Dominoeffekt. Auch andereLänder würden entsprechende Forderungen stel-len, und zwar nicht nur an Deutschland. Rometwa könnte auch von Griechenland und denNachfolgerepubliken Jugoslawiens zur Kasse ge-beten werden, auch von Äthiopien und Libyen,wo die Italiener Kriegsverbrechen begangen haben.Die ehemaligen Kolonien könnten ebenso Forde-rungen stellen an frühere Kolonialmächte und soweiter. Das wäre das Ende von internationalerRechtssicherheit und würde die Weltwirtschaft ingewaltige Turbulenzen stürzen, von den politi-schen Verwerfungen ganz zu schweigen. Deshalbsollten wir die Reparationsfrage nicht neu auf-greifen. Das lehrt auch die Zeit nach dem ErstenWeltkrieg.15

Das Argument ist zwar richtig, aber eshat eine besondere Form. Es sagt dieWahrheit, benutzt aber diese Wahrheitum zu lügen. Winkler macht es zu ei-nem Argument eines Deutschland-Egozentrikers. Er kann gar nichtgleichzeitig an andere denken, undschon überhaupt nicht an Griechen-land. Was Winkler sagt, ist, dass dieZahlungen, die Deutschland für dieSchäden des II. Weltkriegs schuldet,zu einer Katastrophe für Deutschlandund möglicherweise auch Europaführen müssten. Daraus schließt ervöllig richtig, dass solch ein Zah-lungsprozess einfach deshalb zu ver-meiden ist, weil er nicht mit dem Ge-meinwohl vereinbar ist.Was er aber nicht sagt und geradezubetrügerisch verschweigt, ist, dass diesgerade im gleichen Maß das Argu-ment dafür ist, die griechische Aus-landsschuld zu erlassen. Die Zahlungzerstört jedes Gemeinwohl diesesLandes und auch Europas und dieGerechtigkeit verlangt, die Schuld zuerlassen.Nach Winkler gilt ein solches Argu-ment zwar für Deutschland, aberdoch nicht etwa für Griechenland. In

dem gesamten Interview wird einegeradezu skandalöse Menschenver-achtung gegenüber den Griechensichtbar und fühlbar. Als ich das Inter-view las, hörte ich von weitem und nochsehr leise die Töne des Deutschlandlieds:Deutschland, Deutschland über alles.Man kann sie heute in Deutschlandüberall hören, obwohl wohl niemandsie singt. Jedenfalls bin ich einer vondenen, die diese Töne ständig hören

Anmerkungen:

1. Ich übersetze mit Verbrechen das, was normalerweise mit Sünde übersetzt wird. Ichglaube, dass der Ausdruck Sünde nicht das wiedergibt, was bei Paulus gemeint ist. Viel-leicht ist nicht jede Sünde ein Verbrechen, aber ganz sicher ist jedes Verbrechen eine Sün-de. Unsere herrschenden Vorstellungen von der Sünde sind ganz anders. Sie werden amdeutlichsten mit einem sehr alten Filmtitel: „Auf der Alm da gibts kein Sünd.“ Das WortSünde ist einfach nicht mehr geeignet, das zu übermitteln, was Paulus tatsächlich sagte.2. Lévinas, Emmanuel: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheitvon Transzendenz. Alber. Freiburg/München 1999. S.115.3. Boer, Dick: Erlösung aus der Sklaverei. Versuch einer biblischen Theologie im Dienstder Befreiung. Edition ITP-Kompass, Münster 2008, S.108.4. Kahl, Brigitte: Paulus und das Gesetz im Galaterbrief: römischer Nomos oder jüdischeToras? In: Duchrow, Ulrich/ Carsten Jochum-Bortfeld (Hg.): Befreiung zur Gerechtigkeit.Liberation toward Justice. LIT Verlag. Berlin 2015, S. 97, Anm. 38.5. Kahl, Brigitte a.a.O. S. 106.6. Marx, Karl: Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW 1,Berlin 1981, S. 385.7. Vgl. hierzu Hinkelammert, Franz J.: Luzifer und die Bestie. Eine fundamentale Kritikjeder Opfertheologie. Luzern 2009. Dort insbesondere Teil II. Und Hinkelammert, FranzJ.: Der Totalitarismus des totalen Marktes: Der Thermidor des Christentums und die an-deren Thermidore. Siehe besonders Kapitel II: Der Thermidor des Christentums als Ur-sprung der christlichen Orthodoxie. Die christlichen Wurzeln des Kapitalismus und derModerne. Zu finden unter www.pensamientocritico.info.8. Vgl. Aulén, Gustaf: Christus Victor: An historical study of the three main types of theidea of the atonement. New York 1961. S. 127.9. Mises, Ludwig von: La mentalidad anticapitalista (1956). Madrid, Unión Editorial 2011,S. 79. Siehe hierzu auch das ausführliche Buch zu diesem Thema: Biagini, Hugo E./Fernández Peychaux, Diego: El neuroliberalismo y la ética del más fuerte. Editorial Uni-versidad Nacional, Heredia, Costa Rica, 2015.10. Hayek, Friedrich von: (1981) Zeitschrift Realidad. Santiago, Nr. 24 Jahr 2.11. Hayek, Friedrich von. Entrevista Mercurio 19.4.81.12. http://www.tagesspiegel.de/politik/vertagte-zukunft-peer-steinbrueck-belehrt-die-spd/11485670.html (abgerufen am 13.09.2015). Zur Ideologie des Neoliberalismus vgl.auch: Hinkelammert Franz J.: Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik desKapitalismus. Exodus. Freiburg (Schweiz) / Münster 1985. Hier besonders das Kapitelüber Milton Friedman S. 81-104.13. Bolz, Norbert/ Bosshart, David: Kult-Marketing. Die neuen Götter des Marktes.Econ. Düsseldorf, 1995.14. Interview mit George Soros auf Spiegel online, 05.03.2014: ttp://www.spie-gel.de/wirtschaft/soziales/george-soros-mahnt-deutschen-grossmut-gegenueber-krisen-laendern-an-a-956656.html (abgerufen am 13.09.2015).15. http://www.sueddeutsche.de/politik/historiker-winkler-warum-die-buerger-ueber-eu-ropas-einigung-abstimmen-sollten-1.2611820 (abgerufen am 13.09.2015).

und sich dann abwenden.Marx spricht hier von Ideologie imSinne eines „falschen Bewusstseins“.Paulus sagt von dieser Art Argumen-ten, dass sie „die Wahrheit in der Un-gerechtigkeit gefangen“ halte (Röm,1,18).

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Mit vorl iegenden autobiographischen Buch liegtgewissermassen eine Einführung in das Denken desBefreiungstheologen Franz Hinkelammert vor. FranzHinkelammert, ein „ausgewanderter Deutscher",1 931 im münsterländischen Emsdetten geboren, istWirtschaftswissenschaftler und Theologe, Europäerund Lateinamerikaner, weil seit 1 963 inLateinamerika lebend. Diese zweifache„Doppelexistenz" macht ihn fähig, Plausibi l itätenaufzubrechen, die in Europa das Denken häufigunerkannt beherrschen und damit beschränken. WieHinkelammert im Laufe seines nunmehr 80-jährigenLebens die Original ität seines Denkens zu entwickelnlernt; wie er durch den Vater auf die Spur gesetztwird, dass weder Pädagogik noch Philosophie oderTheologie ohne Ökonomie zu verstehen seien, wie er

Karl Marx schöpferisch rezipiert und wie er schließlich in Paulus von Tarsus denBegründer eines kritischen Denkens entdeckt, das von den „Plebejern und Verachteten"aus zu fundamentaler Gesetzeskritik befähigt – das lässt die hier von ihm selbst erzählteLebensgeschichte authentisch nachverfolgen.sein Denken vor. Franz Hinkelammert, ein„ausgewanderter Deutscher", 1 931 im münsterländischen Emsdetten geboren, istWirtschaftswissenschaftler und Theologe, Europäer und Lateinamerikaner, weil seit 1 963in Lateinamerika lebend. Diese zweifache „Doppelexistenz" macht ihn fähig,Plausibi l itäten aufzubrechen, die in Europa das Denken häufig unerkannt beherrschenund damit beschränken. Wie Hinkelammert im Laufe seines nunmehr 80-jährigen Lebensdie Original ität seines Denkens zu entwickeln lernt; wie er durch den Vater auf die Spurgesetzt wird, dass weder Pädagogik noch Philosophie oder Theologie ohne Ökonomie zuverstehen seien, wie er Karl Marx schöpferisch rezipiert und wie er schließlich in Paulusvon Tarsus den Begründer eines kritischen Denkens entdeckt, das von den „Plebejernund Verachteten" aus zu fundamentaler Gesetzeskritik befähigt – das lässt die hier vonihm selbst erzählte Lebensgeschichte authentisch nachverfolgen. Befreiung denken -Grenzgänge zwischen Kontinenten und Wissenschaften

Franz J. Hinkelammert. Befreiung denken - Grenzgänge zwischen Kontinenten und

Wissenschaften, 1 2,80 EUR zzgl. Versandkosten

Weitere Bücher von Franz J. Hinkelammertim Verlag edition itp-kompass

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„Die Kritik einer kritischen Theorie ist konstituiert durch einen bestimmtenGesichtspunkt, unter dem sie stattfindet. Dieser Gesichtspunkt ist der der menschlichenEmanzipation und also der Humanisierung der menschlichen Beziehungen selbst undder Beziehung zur Natur insgesamt.“ Mit dieser schl ichten Erinnerung ist derAusgangspunkt des neuen Buches von Franz J. Hinkelammert präzis beschrieben. Diegesammelten Aufsätze des hier vorl iegenden Buches drehen sich alle um diesen einenPunkt: Um die Analyse und Kritik einer Moderne, die al les andere ist als dieses kritischeDenken.Der Autor rekonstruiert mit scharfem Blick eine Moderne, die nur Verwüstung und Elendproduziert, Kriege führt und Umweltverwüstung vorantreibt - und das alles im Nameneines vermeintl ichen Allgemeininteresses, das die Menschen unter das Diktat einesWirtschaftsl iberal ismus stel lt. Gegen diese Logik derWelt fordert er eine Ethik derkonkreten und endlichen, der körperl ichen Subjekte. Eine solche Ethik wäre der einzig

sichere Fluchtpunkt für eine Welt, die vomNutzenkalkül so durchdrungen ist, dass siedessen verheerenden Folgen nur noch alsKolateralschäden wahrzunehmen in der Lage ist:Franz J. Hinkelammert, der seit Jahrzehnten inLateinamerika lebt, hat für sein Werk 2006 denerstmalig ausgelobten Preis "Premio Libertador alPensamiento Crítico" der venezuelanischenRegierung erhalten. Damit wurde seinsozialphi losophisches Werk kritischen Denkens imstrengsten Sinne des Wortes honoriert und seineBedeutung als Sozialphi losoph, Ökonom undTheologe für Lateinamerika unterstrichen. Und inZeiten der Globalisierung dürfen wir wohl auchsagen: auch für Europa.

Franz Hinkelammert, Das Subjekt und das

Gesetz. Die Widerkehr des verdrängten

Subjekts, Münster 2007, 456 S., 34,00 EUR

zzgl. Versandkosten

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