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1 Graciela Paraskevaídis: Zwei Gespräche mit Hans-Joachim Koellreutter Hessischer Rundfunk I. Übertragung am 13. November 1984, 21.30 Uhr GP: Herr Koellreutter, Sie sind seit 1937 nicht nur Europäer beziehungsweise Deutscher, sondern auch Lateinamerikaner, Brasilianer, mit fernöstlichen Einflüssen. Sie agieren im Kreuzfeuer sehr unterschiedlicher ausgeprägter Kulturen. Wie würden Sie den Einfluss dieser an sich so gegensätzlichen Welten auf Ihr Leben und Denken, Schreiben und Komponieren definieren? HJK: Tatsächlich ist mein Schaffen von meinen Erfahrungen, die ich seit meinem 20. Lebensjahr im Ausland gemacht habe, ganz entscheidend mitgeprägt worden. Dabei sollte ich vielleicht betonen, dass ich das Ausland nie als Tourist, sondern stets als Profi besucht habe. Also immer im Kontakt mit Kollegen und mit jungen Menschen. Als ich 1937 zum ersten Mal nach Südamerika kam und beschloss, in Brasilien mich niederzulassen, brachte ich natürlich eine große Anzahl wichtiger Kenntnisse und Informationen mit. Diese hatte ich mir während meiner Studienzeit in Berlin und in Genf angeeignet. In Brasilien blieben sie nicht ohne Auswirkung. Auf einer Konzert- und Vortragsreise im Jahre 1953 machte ich die Bekanntschaft mit der klassischen Musik Indiens und mit der mittelalterlichen Hofmusik Japans. Ein Erlebnis, das mich ganz anders über Kunst im Allgemeinen und über Musik im Besonderen denken liess, als ich das vorher tat, und mich dazu veranlasste, den Stil meiner kompositorischen Arbeiten von Grund auf zu ändern. Später lebte ich dann fünf Jahre in Indien und sechs Jahre in Japan. Ich glaube, dass die Erfahrungen, die ich im Fernen Osten gemacht habe, für mich sehr wichtig waren. Weil die moderne Wissenschaft in der Zwischenzeit den Nachweis erbracht hat, dass die Forschungswissenschaften zu einer Auffassung der Welt gelangt sind, die die östliche Mystik mit ihrer intuitiven Erkenntnisweise Jahrtausende vorweggenommen hat. Dass also alte mystische Begriffe durch die moderne Wissenschaft bewiesen wurden und heute immer stärker unser Denken durchdringen. Dass sich also in unserer Zeit der Kreis sozusagen schließt. Vielleicht hören Sie sich mal einen Teil meines Tanka III für Harfe und Stimme an, in dem der Einfluss, den fremde Kulturen auf mich ausgeübt haben, ziemlich deutlich wird. GP: Können Sie mir sagen, was das Wort Tanka bedeutet? HJK: Ja. Tanka nennt man ein japanisches Kurzgedicht, ähnlich dem Haiku, das aus zwei Versen mit fünf Silben und drei Versen mit sieben Silben besteht. Diese Form, aber NUR die Form, nicht den Inhalt und die Bedeutung, habe ich übernommen. Statt Wortsilben garantieren Klanggestalten Struktur und Form. Die japanischen Worte, ein strukturalistisches Gedicht des japanischen Dichters Shutaro Mukai, haben lediglich als Tonzeichen, als Klang, Verwendung gefunden. GP: Sie sehen sich als Triebkraft zur Bewusstseinsveränderung der Gemeinschaft, in der Sie wirken. Was bedeutet für Sie, Künstler in der heutigen Welt zu sein? HJK: Meines Erachtens, Graciela, ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Künstlers unserer Zeit, die großen Ideen, die unsere Zeit geprägt haben, bekannt und bewusst zu machen. Diese Ideen können philosophisch, religiös, wissenschaftlich oder auch politisch sein. Ich will damit sagen, dass der Künstler unserer Zeit durch seine Kunst

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Graciela Paraskevaídis: Zwei Gespräche mit Hans-Joachim Koellreutter Hessischer Rundfunk I. Übertragung am 13. November 1984, 21.30 Uhr GP: Herr Koellreutter, Sie sind seit 1937 nicht nur Europäer beziehungsweise Deutscher, sondern auch Lateinamerikaner, Brasilianer, mit fernöstlichen Einflüssen. Sie agieren im Kreuzfeuer sehr unterschiedlicher ausgeprägter Kulturen. Wie würden Sie den Einfluss dieser an sich so gegensätzlichen Welten auf Ihr Leben und Denken, Schreiben und Komponieren definieren? HJK: Tatsächlich ist mein Schaffen von meinen Erfahrungen, die ich seit meinem 20. Lebensjahr im Ausland gemacht habe, ganz entscheidend mitgeprägt worden. Dabei sollte ich vielleicht betonen, dass ich das Ausland nie als Tourist, sondern stets als Profi besucht habe. Also immer im Kontakt mit Kollegen und mit jungen Menschen. Als ich 1937 zum ersten Mal nach Südamerika kam und beschloss, in Brasilien mich niederzulassen, brachte ich natürlich eine große Anzahl wichtiger Kenntnisse und Informationen mit. Diese hatte ich mir während meiner Studienzeit in Berlin und in Genf angeeignet. In Brasilien blieben sie nicht ohne Auswirkung. Auf einer Konzert- und Vortragsreise im Jahre 1953 machte ich die Bekanntschaft mit der klassischen Musik Indiens und mit der mittelalterlichen Hofmusik Japans. Ein Erlebnis, das mich ganz anders über Kunst im Allgemeinen und über Musik im Besonderen denken liess, als ich das vorher tat, und mich dazu veranlasste, den Stil meiner kompositorischen Arbeiten von Grund auf zu ändern. Später lebte ich dann fünf Jahre in Indien und sechs Jahre in Japan. Ich glaube, dass die Erfahrungen, die ich im Fernen Osten gemacht habe, für mich sehr wichtig waren. Weil die moderne Wissenschaft in der Zwischenzeit den Nachweis erbracht hat, dass die Forschungswissenschaften zu einer Auffassung der Welt gelangt sind, die die östliche Mystik mit ihrer intuitiven Erkenntnisweise Jahrtausende vorweggenommen hat. Dass also alte mystische Begriffe durch die moderne Wissenschaft bewiesen wurden und heute immer stärker unser Denken durchdringen. Dass sich also in unserer Zeit der Kreis sozusagen schließt. Vielleicht hören Sie sich mal einen Teil meines Tanka III für Harfe und Stimme an, in dem der Einfluss, den fremde Kulturen auf mich ausgeübt haben, ziemlich deutlich wird. GP: Können Sie mir sagen, was das Wort Tanka bedeutet? HJK: Ja. Tanka nennt man ein japanisches Kurzgedicht, ähnlich dem Haiku, das aus zwei Versen mit fünf Silben und drei Versen mit sieben Silben besteht. Diese Form, aber NUR die Form, nicht den Inhalt und die Bedeutung, habe ich übernommen. Statt Wortsilben garantieren Klanggestalten Struktur und Form. Die japanischen Worte, ein strukturalistisches Gedicht des japanischen Dichters Shutaro Mukai, haben lediglich als Tonzeichen, als Klang, Verwendung gefunden. GP: Sie sehen sich als Triebkraft zur Bewusstseinsveränderung der Gemeinschaft, in der Sie wirken. Was bedeutet für Sie, Künstler in der heutigen Welt zu sein? HJK: Meines Erachtens, Graciela, ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Künstlers unserer Zeit, die großen Ideen, die unsere Zeit geprägt haben, bekannt und bewusst zu machen. Diese Ideen können philosophisch, religiös, wissenschaftlich oder auch politisch sein. Ich will damit sagen, dass der Künstler unserer Zeit durch seine Kunst

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den Hörer oder Beschauer geradezu dazu zwingen sollte, über diese Ideen nachzudenken und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. GP: Und was für eine Funktion hat Ihrer Meinung nach der schaffende Künstler in der Dritten Welt? HJK: Im Grunde dieselbe. Künstler in der Dritten Welt zu sein, heißt, meiner Auffassung nach, zur Entstehung eines Bewusstseins beizutragen, dass die Kulturen der Dritten Welt sowohl ihrer Tradition als auch der modernen technologischen Welt verpflichtet sind. Ein Thema, das die Jugend in Südamerika sehr beschäftigt. GP: Sie sind für uns in Lateinamerika ein Teil unentbehrlicher Musikgeschichte geworden. Als aktiver Interpret, Dirigent, Lehrer, Theoretiker, Komponist und Wegbereiter der Neuen Musik in all ihren Formen haben Sie sich tagtäglich seit 47 Jahren für neue Wege in der Musik eingesetzt. Diesem ununterbrochenen Einsatz liegt eine tiefe durchgehaltende Überzeugung und ein ethisches Engagement zugrunde. Welche Stationen dieser langjährigen Praxis würden Sie als für Sie besonders relevant bezeichnen? HJK: Alle Phasen, in denen ich mich mit Gegnern auseinandersetzen musste. Schauen Sie, ich habe einen Teil meiner Studienzeit im nationalsozialistischen Deutschland verbracht. Eine Tatsache, die natürlich nicht ohne Einfluss auf mein zukünftiges Leben geblieben ist. Ich fühle mich sozusagen als Produkt der Reaktion auf die damalige Erziehung und Ausbildung. Ich hatte daher eine sehr unsystematische planlose Ausbildungszeit, die mich ständig hin und her geworfen hat, weil ich politisch militant war. So gründete ich zum Beispiel den “Arbeitskreis für Neue Musik” in Berlin, eine Art Widerstandsorganisation gegen die Kulturpolitik der nationalsozialistischen Regierung Hitlers, und musste schliesslich in der Schweiz meine Studien recht und schlecht fortsetzen. Ich kann wohl sagen, dass ich zu 50% Autodidakt bin und die restlichen 50% meinen Meistern verdanke, von denen mich Hermann Scherchen wohl am stärksten und entscheidendsten menschlich und künstlerisch geformt hat. GP: Sagen Sie mir, warum haben Sie sich ausgerechnet in Brasilien niedergelassen? HJK: Auf einer Konzert- und Vortragsreise durch Lateinamerika - ich bin von Haus aus Flötist - habe ich mich entschlossen, in Brasilien zu bleiben, da ich nach Deutschland nicht mehr hätte zurückkehren können. GP: 1939 haben Sie in Rio de Janeiro die Gruppe Música Viva gegründet, zu der bekannte Komponisten wie Cláudio Santoro – der übrigens zehn Jahre an der Mannheimer Hochschule für Musik wirkte – Guerra-Peixe, Eunice Katunda und Edino Krieger gehörten, eine Gruppe, die überall viel Beachtung fand. HJK: Es ging damals in erster Linie darum, eine kritische Bewegung zu schaffen, die den veralteten unzeitgemäßen Musikbetrieb in den Großstädten anprangern sollte. In zweiter Linie ging es darum, das zeitgenössische Schaffen, die Neue Musik zu verbreiten. So erklangen zum ersten Mal in den Konzerten der Gruppe Música Viva in Rio de Janeiro und São Paulo Werke von Hindemith, Schönberg, Webern, Strawinsky und Bartók. GP: Meiner Ansicht nach war auch ein Zielgedanke der Angehörigen der Gruppe Música Viva, den im Lande damals üblichen falschen Nationalismus in Frage zu stellen. HJK: Was verstehen Sie unter “falsch”? GP: Unter falschem Nationalismus verstehe ich in der Musik einen exotischen, künstlich gefärbten, oberflächlichen, äußerlichen Nationalismus, der im Grunde für den Export bestimmt war. Wie zum Beispiel im Fall von Villa-Lobos, Carlos Chávez

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oder Aaron Copland - Komponisten, die einfach exotisches Putzwerk in europäische Modelle hineingeworfen haben. Im Gegensatz dazu haben sich andere, weniger bekannte Komponisten wie Luciano Gallet, Silvestre Revueltas und Amadeo Roldán tiefer und aufrichtig um eine glaubwürdige Identität ihres Schaffens bemüht. HJK: Ja. Das war in der Tat die Situation der Musik in Lateinamerika, als ich in Brasilien begann, die Zwölftontechnik zu lehren und bekannt zu machen. Vielleicht war die Zwölftontechnik damals die einzige Alternative zur Stagnation der auf dem ganzen Kontinent vorherrschenden epigonalen Tonsprache eines oberflächlichen Nationalismus. GP: Aber sprechen wir jetzt über Ihre kompositorische Arbeit. Ihre Anfänge, zum Beispiel die zwei Flötensonaten aus den Jahren 1937 und 1939 gehören dem tonalen Bereich an. Darüber hinaus kommt es in den nächsten Jahren allmählich zur Anwendung der Schönbergschen Zwölftontechnik. Die Klaviermusik 1941 hat seinerzeit viel Aufsehen erregt. HJK: Ja, damals haben besonders die Oktaven die orthodoxen Zwölftöner aufgeregt. Dallapiccola hat seinerzeit sehr militant das Stück verteidigt. Hören Sie sich die berühmten Oktaven der Música 1941 einmal an.

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GP: Wie stehen Sie zu den Werken, die Sie zwischen 1941 und 1953 komponiert haben? HJK: Die habe ich fast alle vernichtet. Was übrig geblieben ist, ist zufällig übrig geblieben. Vielleicht soll man überhaupt aufhören, für die Zukunft zu schreiben. Weil in einer Welt, in der alles fließt, ein für die Nachwelt geschaffenes Kunstwerk ein

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Hemmschuh ist. Ich bin der Meinung, das, was der Mensch produziert, produziert er für seine Gesellschaft, das heißt für die Gesellschaft, in der er lebt. GP: 1960 beginnt dann eine neue Schaffensperiode, in der Sie serielle und planimetrische Essays geschrieben haben. Darunter verstehen Sie sowohl präzis als auch graphisch notierte, aleatorische Kompositionen. Können Sie mir den Begriff “planimetrisch” etwas genauer erläutern? HJK: Unter Planimetrie verstehe ich die Kompositionstechnik zur Herstellung der Grundstruktur multidirektionaler Musik. Also von Musik, die nicht unbedingt linear, sozusagen von links nach rechts, in Richtung auf Zukünftiges abläuft. Eine Grundstruktur, auf die alle Komponenten der Komposition bezogen werden. GP: Und wie ist das Reihenprinzip in diesen Kompositionen angewandt? HJK: Das Reihenprinzip in der Planimetrie spielt eine große Rolle und wird hauptsächlich auf die Parameter Frequenz und Dauer angewandt. GP: Können wir einen Teil eines planimetrisch komponierten Stücks hören? HJK: Ich kann Ihnen einen Teil aus Issei vorspielen, ein Stück für Stimme und Soloinstrumente. Issei heißt der Einleitungsgesang der Noh-Spiele, ein Gesang ohne chronometrische Ordnung, also ohne Takt und Metrik.

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GP: Welche Rolle spielt Aleatorisches in Ihrem1979 geschriebenen Stück Acronon für Klavier und Orchester? HJK: In diesem Stück spielt der Solist aus einer durchsichtgen Glaskugel, die die Solostimme ersetzt. Auf dieser Kugel sind alle Zeichen komplementär. Es gibt also sozusagen beim Akt der Auswahl keine Vergangenheit und keine Zukunft. Fest liegen ausschließlich Beziehungen und Verhältnisse, das heißt Proportionen. Die Parameter Frequenz und Dauer, also Tonhöhe und Tondauer sind aleatorisch. Wollen Sie einen Teil aus Acronon hören? GP: In einer großen Anzahl Ihrer Stücke sind fernöstliche Einflüsse deutlich spürbar. Sie übernehmen zwar anscheinend, wie Professor Tanaka aus Tokyo bemerkt hat, gewisse Züge der japanischen Musik, ohne sich jedoch zu einer stilistischen Japanisierung verleiten zu lassen. Vor allem denke ich dabei an den Zeitbegriff und an die Wahrnehmung einer intuitiven psychologischen Zeit (wie zum Beispiel in Ihrem Stück Konkretion von 1960).

Auch die Stille wird zu einem wichtigen Element, das Ausdruck, Spannung und sogar Bewegung erzeugt. Stille ist hier mehr als Abwesenheit des Klanges. Wie Sie sagen: Klang ist Stille und Stille ist Klang. Und der Klang hat die Funktion Stille zu erzeugen, zu unterstreichen und bewusst zu machen. Das hört man sehr deutlich in Ihrem Stück Yugen für Stimme und traditionelle japanische Instrumente. Und was bedeutet das Wort Yugen? HJK: Yugen ist schwer zu übersetzen, aber bedeutet ungefähr Tiefe, Unergründlichkeit und Reflexion.

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GP: Sie haben soeben über die bestehende Verwandtschaft zwischen dem modernen wissenschaftlichen Denken und den traditionellen Begriffen der alten mystischen Kulturen des Fernen Ostens gesprochen. Ich habe das Gefühl, dass manche Parallelen nicht nur zwischen dem Westen und dem Osten festgestellt werden können, sondern auch zwischen dem Westen und bestimmten Kulturen, die trotz aller Exterminierungsversuche in Afrika und Lateinamerika immer noch bestehen. HJK: Ja, Graciela, ich habe mich in letzter Zeit viel mit Ausdruck und Charakter der musikalischen Manifestationen brasilianischer Indianer beschäftigt. Dabei ist unglaublich interessant, wie bestimmte Eigenschaften und Begriffe der indianischen Gedankenwelt als Grundelemente der modernen Musikästhetik eine nicht unerhebliche Rolle spielen. So zum Beispiel ihr Einheitsbegriff und die von ihnen vermutete gegenseitige Beziehung aller Dinge und Ereignisse, die im Grunde gleichwertig und austauschbar sind, das Fehlen des individualistischen Ego, ihre punktuelle Welt und das Nichtexistieren eines rationalen Raum- und Zeitbewusstseins. Hören Sie sich doch bitte einmal aus dieser Perspektive meinen Tanka V für Klavier an.

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II. Übertragung am 20. November 1984, 21.30 Uhr GP: Heute, Herr Koellreutter, würde ich Ihnen gern einige Fragen über Ihre pädagogische Tätigkeit stellen. Sie haben in Brasilien Schule gemacht und das Musikdenken verändert. Können Sie mir sagen, mit welcher Absicht Sie 1952 die Freie Hochschule für Musik in São Paulo gegründet haben? HJK: Ja. Als ich spürte, dass das Grundproblem des brasilianischen Musiklebens eigentlich die Musikausbildung ist, entwarf ich das Projekt einer Musikhochschule, in der es kein vorbestimmtes Unterrichtsprogramm, keine feststehenden Unterrichtsjahre und – außer einer Aufnahme- und einer Abschlussprüfung – keine Semesterprüfungen geben sollte. Diese Schule, eine Freie Hochschule für Musik – frei von einem staatlich verpflichtenden Curriculum – wurde 1952 von mir in São Paulo gegründet, wobei ich mit der wirtschaftlichen und moralischen Unterstützung der Konzertgesellschaft Pro Arte, die von dem Münchner Theodor Heuberger geleitet wurde, rechnen konnte. Diese Schule wurde zum Vorbild des ebenfalls von mir gegründeten Musikinstituts des Bundesuniversität Bahia in Salvador und in der Folge der Musikabteilungen fast aller brasilianischen Universitäten sowie der für Fortbildung und Aktualisierung der Lehrer und Musikstudenten wichtigen Freien Musikseminare, die heute überall in Brasilien regelmäßig stattfinden. GP: Sie sind ja jetzt der Leiter des Staatlichen Konservatoriums für Musik und Darstellende Künste in Tatuí. Können Sie mir kurz über Ihre Pläne berichten, die Sie dort realisieren möchten? HJK: Das Staatliche Konservatorium für Musik und Darstellende Künste in Tatuí, dessen Leitung ich vor kurzem übernommen habe, wird zur Zeit, nach einem von mir entworfenen Plan, in eine Musikschule umgeformt, in der nicht gelehrt wird im traditionellen Sinn des Wortes, sondern in der der Schüler präfigurativ orientiert und geführt wird, das heißt, eine Schule, in der der Schüler das studiert, von dem man glaubt, dass es in der entstehenden Gesellschaft von Wichtigkeit sein wird oder sein könnte, oder von dem man befürchtet, dass es von Wichtigkeit sein könnte. Die Schule verfügt über eine stark besuchte unabhängige “Abteilung für ludische Musikaktivitäten” und eine Abteilung mit höchstmöglichem Niveau für die Ausbildung zukünftiger Berufsmusiker, in die nur wenige Studenten aufgenommen werden. Das neue Staatliche Konservatorium ist als eine Modellschule für zukünftige Unternehmen dieser Art gedacht, die die Regierung einzurichten beabsichtigt. GP: Herr Koellreutter, wie verfahren Sie eigentlich im Kompositionsunterricht? HJK: Obwohl ich der Meinung bin, dass man in Ausnahmefällen auch Komposition ohne traditionellen Kontrapunkt und Harmonielehre unterrichten kann, verlange ich eine gründliche klassische Vorbildung, das heißt ein nicht nur theoretisches sondern auch phänomenologisches Musikstudium des Kontrapunkts und der Harmonielehre, sowie eine permanente Beschäftigung mit vergleichenden Analysen. GP: Ihr Lehrbuch Funktionelle Harmonielehre trägt den Untertitel Theorie der harmonischen Funktionen, ein auf das Wesentliche konzentriertes Lehrbuch und ein überzeugendes Beispiel klarer Darstellung. Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben? HJK: Die Funktionelle Harmonielehre ist eigentlich ein Handbuch für harmonische Analysen und Improvisationen. Wenn Sie wollen, eine Einführung in funktionelles, phänomenologisches Hören und Wahrnehmen. Ich habe es für meine Schüler geschrieben, weil die Theorie der harmonischen Funktionen nicht bekannt war und weil ich glaubte, dass die Kenntnisse dieser Theorie für den Komponisten populärer

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Musik, die in Brasilien eine große Rolle spielt, besonders auch für die Arrangeure, sehr wichtig ist. GP: Könnten wir als Beispiel das Stück eines Schülers von Ihnen hören, der sich mit populärer Musik befasst? HJK: Ja. Hören Sie sich einmal Transformation von Homero Lobato an. Außer den Schülern, die solche Musik schreiben, habe ich eine große Anzahl von Studenten, die sich sehr intensiv mit dem Problem einer Musik beschäftigen, die Populäres und Experimentelles mischt, ohne in Unterhaltungsmusik auszuarten oder in den Stil epigonaler, oberflächlicher Nationalmusik zurückzufallen. Hören Sie sich einmal ein Beispiel meines Schülers Luís Francisco (Chico) Mello an. Matraca (Ensemble)

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GP: Wie verfahren Sie im Unterricht bei Studenten, die experimentell komponieren wollen? HJK: Im allgemeinen beginne ich mit einem strengen Studium der seriellen Kompositionstechniken, das Zwölftonsystem natürlich eingeschlossen. Hier ist ein Beispiel meines Schülers Luís Rescala, eine Musik für Berimbau und kleines Ensemble. Berimbau ist ein nordbrasilianisches Schlaginstrument, das hauptsächlich zur Begleitung von Capoeira, einem Mittelding zwischen Tanz und Kampf, benutzt wird. Fortgeschrittene Studenten unterrichte ich auf der Grundlage der Gestaltpsychologie und Informationstheorie. Selbstverständlich spielen auch hier phänomenologische vergleichende Analysen der Meisterwerke unseres Jahrhunderts eine große Rolle. Música para berimbau e fita magnética

Als Beispiel für einen fortgeschrittenen Schüler hören Sie ein Stück für ein melodisches Soloinstrument und Klavier von Mauro Muszkat. GP: Das ist - wie ich sehe - ein graphisch aufgezeichnetes Stück, das der Improvisation große Möglichkeiten bietet. Sind eigentlich die stilistischen Tendenzen Ihrer Schüler, die sich mit experimenteller Musik beschäftigen, sehr ähnlich? HJK: Nein, keineswegs. Ich lege großen Wert darauf, dass die jungen Leute von Anfang an versuchen, einen eigenen Stil zu entwickeln. Weil der Persönlichkeitsstil Kriterium ist. Die Arbeiten meiner Schüler sind daher alle eigentlich sehr verschieden. Hier ein Beispiel meines Schülers Antônio Carlos Cunha. Das Stück heißt Monolith und ist für Akkordeon geschrieben. Vielleicht vergleichen Sie noch mit Antônio Carlos Cunha den Stil meines Schülers Tato Taborda Júnior. Organismo (vier Gitarren)

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GP: Es fällt auf, dass sich im Gegensatz zu Europa, wo komponierende Frauen noch relativ selten sind, unter Ihren brasilianischen Schülern eine Reihe bekannter Komponistinnen befindet. Worauf führen Sie das zurück? HJK: Unter unseren Musikstudenten, die Komposition studieren, befindet sich zweifellos eine relativ große Anzahl von Komponistinnen. Die bekanntesten sind meine ehemaligen Schülerinnen Eunice Katunda, auch hervorragende Pianistin, die sich wiederholt in Europa vorgestellt hat, und die leider früh verstorbene Esther Scliar. Beide Künstlerinnen haben einen persönlichen Stil entwickelt, von dem man eigentlich noch nicht sagen kann, in wieweit er zur Entwicklung der brasilianischen Musik konkret beigetragen hat. GP: Welche populären Musiker haben Sie in Brasilien ausgebildet? HJK: Unter anderen Tom Jobim der Bossa Nova, K-chimbinho, Cipó, Gaya, Severino Araújo... GP: Welche Erfahrungen haben Sie mit ihnen gemacht? HJK: Meine Erfahrungen haben ausnahmslos gezeigt, dass die größten Talente unter den Studenten, die sich der populären Musik widmen, zu finden sind, und nicht unter denen, die sich mit sogenannter ernster Musik beschäftigen. Sie sind nämlich freier, vorurteilsloser und musikalischer. GP: Herr Koellreutter, zum Schluss noch eine Frage: Wie fühlen Sie sich als Künstler, der heute der lateinamerikanischen Gesellschaft angehört? HJK: Sehen Sie, Lateinamerika ist ein Teil der Dritten Welt. Und ich bin davon überzeugt, dass die Integration kultureller Werte der Dritten Welt für das Überleben der menschlichen Kultur und Zivilisation als Ganzes sehr wichtig, wenn nicht entscheidend ist. Weil wir nicht zulassen dürfen, dass sich die Kluft, die zwischen den von uns geschaffenen Zivilisationen und unserem zwischenmenschlichen Verhalten besteht, ständig weiter vergrößert. Es geht dabei darum, den Mut und die Kraft zu einer neuen Lebensweise zu finden. Eine Lebensweise, die ohne Umdenken und ohne Verzicht auf Traditionelles nicht erdacht werden kann. Diese Problematik dem Menschen ins Bewusstsein zu rufen, ist mit Sicherheit eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst unserer Welt. Unter diesem Gesichtspunkt müssen auch – meiner Meinung nach – alle ästhetischen und musikerzieherischen Probleme gesehen werden. In der Ersten, in der Zweiten und in der Dritten Welt. Dass ich in diesem Sinne in Lateinamerika wirken durfte und noch immer darf, ist für mich bis zum heutigen Tag eine große Genugtuung, für die ich sehr dankbar bin. .............