zum 100 geburtstag von ernst bloch

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TÜTE, 1985

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Page 1: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch
Page 2: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

INHALT

Vorwort . -............................................... S. 4

p IE AKTUALTITÄT BLOCHS Oskar Negt: Philosophie des Widerstands Ernst Bloch zum hunderts en Geburtstag ... . . ... . .. ... . -· . . . . . . . . . . . . . S. 6

PHILOSOPHIE DER PRAXIS Gajo Petrovic: Ein gewisser Ernst Bloch Erste Kontakte zwischen Bloch und der PRAXIS-Gruppe ................. . ... S. 8

UTOPIE UND BEWUSSTSEIN Helmut Fahrenbach: Ein Krisenpunkt marxistischer Theorie Utopisches Bewußtsein und gesellschaftliches Sein. Blochs Transformation einer Marxschen Formel . . . ... ....... .. ... ..... .. . .. . ......... .. S.11

ONTOLOGIE ~ Eberhard Braun : Freiheit und Natur

Ontologie des Noch-Nicht-Seins oder Ontologie des gesellschaftlichen Seins? .. ....... S.15

VERNUNFTKRITIK Winfried Thaa: Ungleichzeitigkeit und linke Rationalitätskritik Blochs Kategorie der "Ungleichzeitigkeit" und die Aufgaben linker Rationalitätskritik heute .................................... S.18

RI OCH lJND POSTMODERNE - IGerard Raulet: Bloch und die Postmoderne

Zur Rezeption Blochs in Frankreich. Ein Interview . .. ..... ......... . ... .. . S.22

THEOLOGIE DER HOFFNUNG Jürgen Moltmann : Herr Bloch, Sie sind doch Atheist? - Bin Atheist um Gottes Willen. Ein Interview .. . .. . ......... .... . .. .... .. . ...... . ...... . . .. S.29

FALSCHE ERFÜLLUNG Jürgen Fuchs: .Gegen die falsche Erfüllung . ......................... S.34

METAPHYSIK Heidrun Hesse: "Aufbrausen zum Sein" Bedenken gegen Blochs metaphysischen Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S.37

LATEINAMERIKA Laennec Hurbon: Gegen den banalen Materialismus . . .... ... .. ... .. .. . S.40

CHINA Bloch in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S.41

ERNST BLOCH UND DIE NEUE LINKE Ali Schmeissner, Bernd-IBrich Jung, Gundi Reck, Welf Schröter Hoffnung ...... .... ..... .. ... ....... .. .. . . .............. s. 43 Ernst Bloch: Ersatzgeldkampf .......... ... ........ .. .. . ...... .. s. 44 Ernst Bloch: Holger Meins . . .. .... .. ....... ... ..... . . . ....... . s. 46 Interview mit Ernst Bloch: Andere Horizonte ........ . .... . ...... ... S. 47 Gundi Reck, ASTA Tübingen: Bloch mit geballter Faust .... .......... . S. 50

Ausrufung der ERNST-BLOCH-UNIVERSITÄT ...................... s. 51 Gespräch mit Karola Bloch: Aus meinem Leben ............... _ . . ..... s. 53 BUDAPESTER SCHULE MihaJ.y Vajda : Georg Lukacs und die Budapester Schule . . . . . . . . . . . . . . s. 55

GEORG LUKAcs Rainer Kohler : Zur Aktualität von 'Geschichte und Klassenbewußtsein' ... .. .. s. 58

VERANSTALTUNG 3. Tübinger Bloch-Tage "Gesellschaft und Vernunft". 8.-9. Nov. 1985 ...................... ... .. S. 61 Objektive Phantasie Symposium aus Anlass von Ernst Blochs 100. Geburtstag 7. - 11. Okt. 1985 .......... S. 62 Verdinglichung und Utopie Bloch-Lukacs-Kolloquium 26.-29. März '85, Paris ............ . ......... .. . S. 62 Marxismus und Philosophie Fachseminar Inter-University~enter Dub~ovnik, 1. - 12. April '85 .... .. ..... . ... S. 64

KOCHREZEPT: Fromage Intellectuel ............................ s. 39

REZENSIONEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 66

Impressum ............... . ................... ... . ...... .. S. 67

Inhalt

BEILAGE • Welf Schröter

"Rotfront, Gen. Bloch" Aus Briefen Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch

TÜTE 3

Page 3: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

Vorwort

Am 8. Juli wäre der in Tübingen am 4. August 1977 verstorbene Marxist und Philosoph Ernst Bloch hundert Jahre alt geworden. Sein Tod im Alter von 92 Jahren hat nicht nur im Kreise der Philosophen sondern vor allem auch unter den Anhängern eines radikalen humanistischen Sozialismus eine große Lücke hinterlassen.

"Es gibt keinen Philosophen der Gegenwart, der in vergleichbarer Weise ein kollektives Gedächtnis der unabge­goltenen Emanzipationsansprüche der Menschen repräsentierte, aber auch der zerstörten, vertagten und ver­schobenen" (Negt).

Aus Anlaß des hundertsten Geburtstages von Bloch publiziert ein kleiner Kreis von Personen, die sich der Erb­schaft des Blochschen Werkes verpflichtet wissen, diese Sonderausgabe, in der durchaus kontrovers über das Blochsche Wirken argumentiert werden soll.

Eigens für diese Ausgabe fanden sich Oskar Negt, Gajo Petrovic, Gerard Raulet, Jürgen Moltmann und Jürgen Fuchs bereit, aktuelle Beiträge zu schreiben. Helmut Fahrenbach und Eberhard Braun ermöglichten den Ab­druck jüngster Vortragsmanuskripte. Besonderer Dank gilt der Unterstützung durch Frau Karola Bloch, die uns zur Seite stand und Einblick in die Briefe Rudi Dutschkes an sie und Ernst Bloch gewährte.

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Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen, Interviews und Texten erlaubt unseres Erachtens eine offene und vorbehaltslose Annäherung an Werk und Wirken Ernst Blochs - nicht nur in Tübingen.

4 TÜTE

Die Redaktion Juni/ Juli 1985

Page 4: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

Karola Bloch 74 Tübingen Im Schwanzer 35

Tübingen, 18.8.1977

An den ASTA der Universität Tübingen

Liebe Freunde,

von ganzem Herzen danke ich Euch, dass Ihr Eure Verbundenheit mit Ernst Bloch, Eure Liebe für ihn so leiden­schaftlich zum Ausdruck bringt.

Da ist kein Hauch zu spüren von der Apathie, die den Studenten neuerdings in die Schuhe gelegt wird. Da ist im be­sten Sinne Radikalität da, das heisst der Wille die Dinge an der Wurzel zu fassen, wie E.B. immer sagte. Und jene Solidari­tät ist da, die notwendig ist um die Welt zu verändern, sie zu einer besseren, hu­maneren werden zu lassen.

Ihr betont immer wieder: Ernst Bloch lebt! Und das ist mir ein grosser Trost. In Euch sehe ich meinen geliebten Le­bensgefährten wieder, meinen Genossen. Ihr helft mir meinen Schmerz zu über­winden. Ich bin nicht allein. Bin mit Euch verbunden, so wie Ernst Bloch mit der Jugend sich verbunden fühlte.

Karola Bloch

Vorwort

''Es gibt heute Dinge, über die man als redlicher Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann, und denen muß in einfachen Worten, sehr komprimierten und

nicht unperspektivreichen, sondern im Gegenteil, reich und mit Perspektiven sich verbindenden, entgegengetreten werden und ins Bewußtsein gebracht und

in die Hand und in die geballte Faust, die das hier zuständige Instrument ist, außer dem Begriff, der bei der Sache sein muß, wie es sich selbst versteht. "

Ernst Bloch, im Alter von 91 Jahren

TÜTE 5

Page 5: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

Oskar Negt

OskarNegt

PHILOSOPHl'E DES WIDERSTANDS ERNST BLOCH ZUM HUNDERTSTEN GEBURTSTAG

Festaufmärsche zum hundertsten Ge­burtstag dieses im besten Sinne moder- · nen materialistischen Philosophen kün­digen sich an, bei denen sich Epigonen

· und Kritiker, Verehrer und Heuchler ein Stelldichein geben. Der Reichtum der Blochschen Philosophie gibt allen etwas, und viele werden Seiten bei ihm entdek­ken, von denen man bisher nur wenig wußte. Es ist schade, daß der Tübinger Weltweise, der mit seinem absolut gesun­den Kopf diesen Geburtstag gut hätte miterleben können, schließlich doch der plumpen Materie erlag und jetzt nicht selber zu diesen Festaufmärschen Stel­lung nehmen kann. Ich vermute, hier und da hätte er andere Akzente in den Gewichten seines philosophischen Den­kens gesetzt als die, die wir, seine we­sentlich ärmeren Nachfahren, mit unse­ren kurzatmigen Orientierungsbedürfnis­sen heute zu setzen wünschen.

Es ist mir unmöglich, Bloch und sein Ge­samtwerk zu würdigen - und das wäre auch gar nicht sinnvoll. Kritisches Stu­dium seiner Schriften, die beharrliche und ernsthafte Aneignung dessen, was geschrieben steht, ist ohnehin die einzi­ge Form der Würdigung, die diesem ma­terialistischen Aufklärer angemessen ist. Wenn jetzt selbst das Land, das seine po­litische Wahlheimat gewesen war und auf dem nach wie vor die Schmach einer zweiten Vertreibung liegt, mit Klopfzei­chen Verständnis signalisiert, daß Bloch, wie es heißt, "einen gehörigen Fundus an Volksphilosophie einbringt, oft frei­lich in religiöser Gewandung, aber stets von Zuversicht und aufrechtem Gang zeigend" (so der Leipziger Professor Günter K. Lehmann), dann wird man dieses späten Lobes nicht ganz froh, ob­wohl Bloch selber diese Teilrehabilitie-

6 TÜTE

rung sicherlich freudig entgegengenom­men hätte. Als Bloch starb, habe ich in einer kurzen Totenrede Bloch "den pro­duktivsten Ketzer im Marxismus" ge­nannt. Jürgen Habermas hatte bereits Anfang der sechziger Jahre Bloch als "Ketzer in allen Richtungen" bezeich­net. Kündigt sich da eine Zeit an, in der auch die Totenruhe der Ketzer nicht mehr respektiert wird, ihr Naturrecht auf fortwirkenden, Unruhe und Verwir­rung stiftenden Eigensinn? Wenn weni­ger als zehn Jahre nach seinem Tode selbst die früheren Kritiker als Lobende

!auftreten, so ist höchste Vorsicht gebo­ten, und ich fühle mich veranlaßt, Wider­spruch einzulegen gegen diese subtile Entwertung des Blochschen Werkes zum philosophischen Klassiker. Gegen den Strom des Feierns zu schwimmen, wür-de unter heuti en gesellschaftlichen Bin­dungen bedeuten, die politische Sub­stanz des Blochschen Denkens ins rechte Licht zu rücken.

Bloch ist durch und durch ein politischer Philosoph des Widerstandes. Den Hegel­schen Satz: "Um so schlimmer für die Tatsachen" auf die Füße stellend, hat er, wie kein anderer Philosoph der Gegen­wart, die Dialektik von Parteilichkeit und Wahrheit zum treibenden Motiv des überschreitenden Denkens gemacht. Nur wer Partei er reift für das, was in den Träumen und den unverstellten, d.h. auf Befreiung gehenden Wünschen der Men­schen nach Realität drängt, aber Reali­tät noch nicht geworden ist, hat die Chance, den geschichtlichen Wiederho­lungszwang von bloßen Tatbeständen zu brechen. Es ist der Mythos des Fertigen, Abgeschlossenen, der gewaltsam ange­haltenen und stillgestellten Prozesse, ge­gen den dieses ganze Denken protestiert, und dieser Protest gegen die Suggestion

der Tatsachenwelt bildet das Nervenzen­trum aller Kategorien, mit denen der Blochsche Materialismus arbeitet.

Viele Leute ,die sich (häufig in durchaus ehrenwerter Zuneigung) auf Bloch bezie­hen, machen ihn zu einem platten "Hoff­nungs"-Philosophen; allem, was sie in die Hand nehmen, kleben sie die ontolo­gische Kennmarke des Noch-Nicht an. Sie übersetzen das, was die Bodennähe und Schwerkraft seines Materialismus ausmacht, wiederum in den idealisti­schen und theologischen Faden der Ret­tung und des Heils. Sie mi~~verstehen

Bloch gründlich. Nichts, was in Natur und Gesellschaft auftritt, ist gesichert und verbürgt, schon gar nicht Fortschritt und Humanität. Die Trompetensignale , X die Befreiung und Glück ankündigen, sind selten genug. Geschichte gleicht eher einem Trümmerhaufen zerstörter, abgelenkter und gebrochener Hoffnun­gen, als einer nach Stufen der Aufhe­bung organisierten Fortschrittslogik. Nicht die Sieger sind Blochs Thema, sondern die Geschlagenen, die Unter­drückten, die Entwürdigten und Entrech­teten, die allerdings Zeichen in die Welt setzen, die aus der kollektiven Erinne­rung der Menschen in der Regel nicht mehr zu tilgen sind.

Als ich Bloch kurz vor seinem Tode be­suchte, drehte sich das mehrstündige Ge­spräch mit ihm immer wieder um die ro e -auernrevo:utiün. Mehrfach er- f

wähnte er das Lied jenes mutigen, ledig­lich mit Mistgabeln, Sensen und Stöcken bewaffneten Bauernheeres, das sich in Frankenhausen auf eine Schlacht einge­lassen hatte und jetzt geschlagen abzog : "Geschlagen ziehen wir nach Haus', un­sere Enkel fechten's besser aus."

Das ist es, was er mit der docta spes l meinte, einer wissenden Hoffnung, wel-che die Niederlage überleben läßt, sich aber im Schmerz und in der Trauer nicht einrichtet, sondern den Auftrag für einen neuen Sieg weitertreibt. Es ist eben nicht, die Blindheit mit der sich der Spießer auf dem geschichtlichen Boden bewegt, der die Niederlage als Schicksal hin­nimmt und im Sieg übermütig und rach­süchtig wird, sondern der todernste, exi­stentielle Mut desjenigen, der sich für eine menschenwürdige und gerechte Sa­che eingesetzt hat und der erfahren muß­te, daß Macht und Gewalt selbst die menschlichsten Ziele durchkreuzen. Der aber gleichzeitig nicht bereit ist, die Wut nach innen zu drücken und im übrigen die Welt so zu lassen, wie sie ist.

Page 6: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

'"Der Lernende ist wichtiger als die Leh­re". hat Brecht gesagt . Diesen Satz hätte Bloch auch für sei_ne eigene Philosophie anerkannt . Was können wir heute also aus ihr lernen? Wenn ich wir sage. dann will ich nicht für alle sprechen, die sich in der einen oder der anderen Hinsicht auf Bloch beziehen, sondern nur für die die sich den Ehrentitel der Linken geben d.h. radikale Politik im Wortsinne betrei­ben: das Übel an der Wurzel zu fassen suchen.

Bedrohlichstes Merkmal des gegenwärti­gen Zustandes der Linken ist, daß sie sich in einen schwindelerregenden Wech­sel von theoretischen Moden und politi­schen Organisationsansätzen verloren hat. Was nicht durch einen einzigen, de­monstrativen Kraftaufwand den ganzen, in diese Hebelwirkung gesetzten Eman­zipationhoffnungen Realität verleiht, wird nach und nach verabschiedet. Die Geduld der Maulwurfsarbeit, der Tätig­keit jenes Wühlers, von dem Marx als ei­nem alten Freund liebevoll sprach, ist ei­nem Denken fremd, das nichts wirklich austrägt, das vielmehr von einer Position zur anderen springt und Theorien wie politische Organisationsansätze ablegt, als wären es abgetragene Schuhe.

Es gibt keinen Philosophen der Gegen­wart , der in vergleichbarer Weise ein kol­lektives Gedächtnis der unabgegoltenen Emanzipationsansprüche der Menschen repräsentierte, aber auch der zerstörten, vertagten und verschobenen. Diese Kol­lektivleistung der Aufbewahrung hatte man bisher nur geschichtlichen Organi­sationen und lebensfähigen Bewegungen zugetraut. Darin sehe ich eine Heraus­forderun für die Linke dieen:dlich be­greifen muß, aß Herrschaftsverhältnisse ohne die Arbeit des Begriffs und ohne die Zeiterfahrung der Erinnerung aus­kommen mögen, nicht aber wirkliche Emanzipationsbewegungen. Bloch gibt uns ein Lehrbeispiel dafür, wie wir uns dem Vergangenen gegenüber zu verhal­ten haben, wenn wir die . Zukunft nicht verspielen wollen; daß es keineswegs im­mer nur darum geht, das Vergangene an ,Kriterien der Gegenwart zu messen. Wirkliche Verantwortung ist vielmehr eine Frage, ob wir denn des geschichtli­chen Erbes auch nur würdig sind. Ob wir, wenn wir z.B. die von Bloch in Erinne­rung gebrachten Naturrechtstheorien der bürgerlichen Aufschwungsperiode den gegenwärtigen Maßstäben von Über­holtem und Gültigem unterwerfen, den Bewußtseinsstand dieser Theorien über-

haupt schon erreicht haben. Ob wir, wenn wir mit hohlem Objektblick der Natur gegenübertreten und uns die Ar­roganz erlauben, abschätzig von den al­chimistischen Goldsuchern zu reden, auch nur begriffen haben, was diese ''vorwissenschaftlichen" Experimen tato­ren mit der "Qual der Materie", mit Na­tur als einem offenen und geheimnisvol­len subjekthaften Prozess des Produzie­rens meinten, also mit natura naturans. Ob wir schließlich, wenn wir uns so stolz geben , die ökologiefrage neu entdeckt zu haben, schon einmal darüber nachge­dacht haben, auf welche riesigen Natur­Laboratorien wir uns stützen könnten, um das, was unmittelbar aktuell ist, als etwas Uraltes zu erkennen, was wir nur aus der Erinnerung getilgt haben.

* Alles das gehört zum unabgegoltenen In­haltsreichtum der docta spes, der mit Wissen angefüllten und praktisch klug gewordenen Hoffnung. of nun in dieser Breite und Tiefe gefaßt,~ politische Kategorie und keine der tradi­funellen, mit eschatologischen Geheim­artikeln versetzten Philosophie. Eine po­litische Kategorie ist sie insoweit, als sie für handelnde Subjekte eine Herausfor-

1 derung darstellt, Humanisierung der Na­tur und Naturalisierung des Menschen als verpflichtende Aufgabe zu begreifen. Zweifellos, den meisten der heutigen, durch viele Eiswüsten der Abstraktion gegangenen Menschen fällt es schwer, sich ein Natursubjekt vorzustellen, nach­dem der ganzen europäischen Kulturge­schichte des Denkens der Stempel der Polarisierung von identitätsstifteDdem Ich und subjektverlassenem, chaoti­schem Naturmaterial aufgedrückt wor­den ist. Wird diese Geschichte als Resul-tat anerkannt, ist bereits ein Verhalten des Wissenschaftlers und Technikers ge­setzt, denen jede Verantwortungsbezie­hung zur Natur fehlt. Natura naturata kennt kein Leben und kann deshalb le­bendige Menschen auch nicht verpflich­ten. Bloch dagegen sagt: "An der Stelle des bloßen Überlisters oder Ausbeuters steht konkret das gesellschaftlich mit sich selbst vermittelte Subjekt, das sich mit dem Problem des Natursubjekts wachsend vermittelt."

Die Linke hat kein proportionales, das heißt: angemessenes, aufkonkrete Erfah­rungen gegründetes Verhältnis zur Tech­nik. Sie schwankt in ihrer Geschichte zwischen der Angstlust einer apokalypti­schen Katastrophe und dem Fortschritts-

I mythos. Was Bloch als das Programmei-

Die Aktualität Blochs

ner Allianztechnik bezeichnet, welche Mitproduktivität der Natur in allen Pro­zessen von menschenwürdiger Gesell­schaftsveränderung voraussetzt, gibt uns einen Hinweis darüber, daß wir aus der Welt der Technik und der Wissenschaft nicht einfach herausspringen können und daß wir doch die Möglichkeit haben, Allianzen mit der Natur herzustellen, die auch gewaltige Befreiungsmittel sein können.

Was wir dazu benötigen, ist freilich mehr, als ein bloßes geschwisterliches Eintau­chen in die Natur. Wir brauchen ihr ge­genüber und im Verhältnis zu den Wis­senschaften insgesamt eine neue, auf das Noch-Nicht, auf die wissbaren Zukunfts­folgen unseres gegenwärtigen Handelns gerichtete Verantwortungsethik . Diese werden wir nicht gewinnen, wenn wir uns zurückziehen und Kritik an der Übermacht der Technik und an den le­bensfeindlichen Prinzipien der wissen­schaftlichen Zivilisation lediglich als ma­gische Wortpraxis der Beschwörung ver­stehen, sondern nur, wenn wir in deren Mikrostrukturen eindringen, deren inne­re Widersprüche bewußt zuspitzen, um Tendenzen und Latenzen politischem Handeln greifbar und nützlich zu ma­chen. Bloch gibt genügend Fingerzeige, wie ein solcher Standpunkt der politi­schen Moral zu erreichen ist, daß wir uns in einer geschichtlichen Situation befinden, in der der hippokratische Eid nicht nur Geltung hat für die Medizin, sondern, müßte auf den jeweiligen Er­kenntnisbereich umformuliert von je­dem Wissenschaftler geleistet werden, der über Wissen von der Natur und der Gesellschaft verfügt und dessen Hand­lungsfolgen wissen könnte, sie von sei­ner Verantwortung jedoch abkoppelt und die Erkenntnis der Verwendungs­macht des Stärkeren überläßt.

Heimat ist Zielinhalt und prozessieren­der Widerspruch, der nie zur Ruhe kommt, in einem. Wenn Bloch am Ende des "Prinzips Hoffnung" die Kategorie Heimat setzt, dann sicherlich nicht im Sinne der spießerhaften Einrichtung in der Privatsphäre, der Stadt oder dem Dorf. ezmat ist eine Prozeßkate orie Sie ist in jedem Augenblick bedroht und muß in jedem Augenblick, weil Men­schen anders keine Glückserfahrungen machen können, wieder hergestellt wer­den können. Politischer Kampf ist der einzi e Weg zur erste ung ~ elt, in der sich die Menschen in ihren Träu­.m.en und Hoffnungen wiedererkennen.•

TÜTE 1

Page 7: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

Gajo PetroviC

BLOCH UND DIE JUGOSLAWISCHE PRAXIS-GRUPPE

Als im Frühjahr dieses Jahres Gajo Petrovic, führender Vertreter der Zagreber Gruppe der jugoslawischen PRAXIS-Philosophie in die Bundesrepublik kam, um über das Verhältnis der PRAXIS-Gruppe zur 'Frankfurter Schule' zu sprechen, wandelte sich sein Vortrag von der massiven Kritik an Habermas spontan zu einer das Blochsche

i Gesamtwerk würdigenden Rede. Die enge freundschaftliche und philosophische Be­ziehung Bloch-Petrovic trat als sich bedingende humanitäre 'Philosophie der Praxis' in Erschein~ng. Gajo Petrovic hatte wie der PRAXIS-Philosoph Svetozar Stojanovic großen Anteil an Aufbau und Entwicklung der Arbeitsbeziehungen zu dem "Wahl"tü­binger- Bloch.

Ähnlich wie Petrovic ist auch Stojanovic stark vom Blochschen 'Blitz' getroffen: "Nach dem Bruch mit Stalin 1948 kam die Zeit der großen Hoffnungen und der Liberalisierung. Wir begannen mit der Losung 'Zurück zu Marx, zum echten Marx'. Man konnte natürlich den Weg nicht direkt gehen, man brauchte Bloch die Frankfur­t:r Schule, Korsch, Lukacs, Rosa Luxemburg - alle die großen Namen'. Bloch spielte eme sehr große Rolle für uns bei der Reinterpretation des Marxismus als radikalen Humanismus.:' Stoja?ovic, der ~ehr von Blochs Konzept des "aufrechten Ganges" an­getan war, ermnert sich noch eme Kontroverse auf Koreula 1968: "Zwischen Bloch und Marcuse entwickelte sich ein direkter Meinungsaustausch über den Humanismus. ~arcuse tendie~te damals dazu, Humanismus in allen Formen als bürgerliche Ideolo­gie zu fassen, die es zu enthüllen galt. Bloch antwortete scharf. Man solle den Huma­nismus nicht verlassen, sondern die bürgerliche Ideologie im Namen des Realen, des konkreten Humanismus immanent kritisieren." Heute sieht Sveta Stojanovic die Gedanken Blochs kritischer. Es gebe keine Demokra­tie ohne Humanismus, aber das sei nicht konkret genug. Sveta: "Mit anderen Worten geh~ es ~icht oh~e Bloch ~nd schon ~ar n~cht gegen ihn. Aber Bloch ist nicht genug." StoJanovic ~e~~1st _auf di~ .Notwendigkeit k~nkreter politische~ Analyse und politi­sch~~ Theone:. M~me Kntik an Bloch habe ich nie publiziert. Ich gehe in Richtung politische Soziologie, konkrete Ethik. Für mich waren die Fragen, mit denen sich Bloch b~schäftigte, weil ich mich mit konkreter Politik besc~äftigte, immer ein wenig zu utopISch. Ich habe das Bedürfnis im Marxismus nach Utopiekonstruktionen immer verstanden. Ohne das geht es nicht. Aber ich sage für meinen Geschmack für mich persönlich, ist das ein wenig zu utopisch." Diese Auszüge entstammen eine~ längeren Gespräch im Herbst 1984.

Doch trotz aller Kritik an Bloch sieht auch Stojanovic wie Petrovic in Bloch einen der wichtigsten marxistischen Philosophen. I? der nachfolgenden Episode beschreibt Gajo Petrovic wie in den fünfziger und sech­ziger Jahren das Blochsche Schaffen in Jugoslawien rezipiert wurde. Er schrieb diese persönlichen und politischen Zeilen auf besondere Bitte gerade für diese Ausgabe. Hierfür sei ihm besonders gedankt.

Welf Schröter

s TÜTE

Der Einfluß Blochs auf die jugoslawi­sche Philosophie begann in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Die jugosla­wischen Philosophen, die nach dem Bruch mit Stalin im Jahre 1948 die stalinistische Version der marxistischen Philosophie (den sogenannten "Dialek­tischen und Historischen Materialis­mus") allseitig und radikal kritisiert haben und an Hand der Marxschen Texte (einschließlich seiner Jugend­schriften, die im Stalinismus proskri­b_iert waren) eine humanistische Ver-"~ s1on der marxistischen Philosophie zu / ' entwickeln bestrebt waren, haben sich im Laufe der fünfziger Jahre im inter­nationalen Maßstab ziemlich einsam gefühlt. Es schien so, als ob alle Marxi­sten in der Welt die stalinistische Inter­pretation der marxistischen Philoso­phie billigten, den jugoslawischen "Re­visionismus" verurteilten und zu kei­ner Zusammenarbeit am Projekt der Wiederbelebung und der Weiterent­wicklung des ursprünglichen Denkens von Marx bereit waren. Man erwartete etwas zunächst von G. Lukäcs und H. Lefäbvre, die schon früher den Ruf der Nicht- (oder wenigstens nicht ganz-) dogmatischen marxistischen Philoso­phen erworben hatten. Am Anfang der fünfziger Jahre schienen sich aber die beiden grundsätzlich im Rahmen des offiziellen "Marxismu~" zu bewegen.

',/-"'\ Nun kam im Jahre 1957/klie Nachricht, \ · daß ein ostdeutschhPfiilosoph, ein ge- /\ wisser Ernst Bloch, von der offiziellen/ Seite heftig angegriffen und verurteilt wurde. Die Hoffnung meldete sich so­fort: vielleicht ist der Angegriffene nicht ein zufälliger Sündenbock, son­dern ein "Revisionist" im ähnlichen Sinne wie wir? Man griff nach den zu-

Page 8: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

gänglichen Schriften von Bloch und der Befund überstieg alle Erwartungen. Man hatte nicht nur einen undogmati­schen marxistischen Philosophen ent­deckt, sondern einen Denker von Großfonnat und überraschender Tiefe. Man schrieb über ihn und suchte nach einem zur Übersetzung geeigneten Buch von ihm. So fand man Subjekt­Objekt. Stanko Bosnjak und Milan Kangrga besorgten die Übersetzung und Danko Grlie ein Nachwort dafür. Im Jahre 1959 ist das Buch erschienen im Verlag ''Naprijed" in Zagreb.

Nachdem Bloch Anfang der sechziger Jahre nach Tübingen übergesiedelt war und speziell nachdem die Zeitschrift "Praxis" 1964 zu erscheinen begon­nen hatte, suchte man auch persönli­che Kontakte zu Bloch aufzunehmen. Man schickte ihm die Zeitschrift, man lud ihn zur Mitarbeit ein und bat ihn ( 1966), in den eben zu gründenden Re­daktionsrat der Zeitschrift einzutreten. Diesen Vorschlag nahm er gerne an. Er wurde auch zur Sommerschule von Koreula eingeladen, kam aber nicht.

Ende 1967 reisten mein im vorigen Jahre verstorbener Freund Danko Grlic und ich in die Bundesrepublik. Wir schrieben an Bloch und baten ihn um Empfang. In seinem Antwortschrei­ben freute er sich im voraus auf diesen Besuch, der, wie er sich äußerte, schon längst "fälli( .. \.\'a~: So gingen wir zu ihm nach <T11121.ngen und führten lange Gespräche über alle möglichen Themen mit Karola und mit ihm. Wir sprachen in seinem Hause, begleiteten ihn zum Seminar und sassen mit seinen Studen­ten und ihm in einer Kneipe bis spät in in die Nacht.

Unter anderem wollten wir ihn über­zeugen3 ~r n:i~e im nächsten Sommer nach ~o~s!Jla? kommen. Darauf ant­wortete ·er zunächst ziemlich auswei­chend. Er sagte, er möchte kommen, im Moment ginge es aber nicht. Wir in­sistierten auf unserem Vorschlag und endlich sagte er zu, fürchtete aber, daß er von den jugoslawischen Behörden den DDR-Behörden ausgeliefert wer­den könnte. Darauf konnten wir nur lachen und sagen, so eine Gefahr beste­he überhaupt nicht, wir könnten ihm garantieren, daß so etwas nicht gesche­he.

Seine Reaktion war erregt, fast verär­gert: "Meine Freunde, Sie werden in der Welt als eine Gruppe dargestellt,

die die ganze Zeit in Jugoslawien in Schwierigkeiten ist. Auf meine Frage, ob Sie auch verhaftet werden können, haben Sie geantwortet, das sei nicht ausgeschlossen. Und nun geben Sie mir die Garantie, daß ich nicht ausgeliefert werden kann. Wie können Sie so etwas garantieren? Sind Sie vielleicht doch an der Macht da?"

Darauf lachten wir wieder und sagten: "Sicherlich können wir Ihnen die Ga­rantie geben, und zwar nicht weil wir an der Macht sind, sondern weil wir unsere Macht sehr gut kennen. Es kann in der Tat geschehen (was wir im Mo­ment nicht erwarten), daß einige von uns (oder auch wir alle) verhaftet wer­den. Aber sogar in so einem Fall wird Ihnen, unserem Freund, der kein Jugos­lawe, sondern ein Ausländer ist, nichts schlechtes passieren. Sogar dann wer­den Sie in allen Ehren behandelt wer­den, und vielleicht wird es Ihnen er­laubt sein, uns Kuchen ins Gefängnis zu bringen."

Da lachte auch Bloch und sagte: "Nun gut. Im nächsten Sommer komme ich nach Koreula, und wenn ich doch an die DDR-Polizei ausgeliefert werden, dann nehme ich Sie beide mit."

Im Jahre (f~_a:>war die Tagung der Sommerschule von Koreula dem The­ma "Marx und Revolution" gewidmet. Die Schule tagte vom 14. bis zum 24.

1968. Der Pariser Mai und der '""""''n"' Juni waren schon vorbei.

der erlittenen Niederlagen war die Studentenbewegung noch nicht tot. Die Studenten aus der ganzen Welt (speziell auch aus der Bundesrepublik) waren in großer Zahl angereist .. Die ju-

Philosophie der Praxis

goslawischen Studenten hatten im Zentrum von Koreula einige Häuser und ein großes Treppenhaus mit ihren Losungen in Rot bemalt. Wie verspro­chen war Bloch rechtzeitig an der Stel­le. Unter den Teilnehmern waren auch Herbert Marcuse, Lucien Goldmann, Serge Mallet, Alfred Sohn-Rethel, Eu­gen Fink, Jürgen Hab_~II!?:~~' Kostas Axelos, Norman Birnbaum, Tom Bott~~ore, Kurt Wolff, Ossip Flecht­heim, Michael Landmann, !ring Fet­scher, Arnold Künzli, Günther Nenning,

7UiiUsStrinka, Agnes Heller, Zador Tor­dai und viele andere. Erich Fromm und Ernst Fischer, die vor dem Beginn der Tagung absagten, haben ihre Texte zugeschickt. Die jugoslawischen Praxis­Philosophen waren fast alle da (Branko Bofojak, Danko Grlic, Milan Kangrga, Ivan Kuvacic, Veljko Cvjetieanin, Mla­den Caldarovic, Mihailo Duric, Zaga Golubovic, Veljko Korac, Andrija Kresic, Mihailo Markovic, Dragoljub Mieunovic, Vojin MiliC, Zarko Puhovs­h, Svetozar Stojanovic, I.Jubornir Ta­dic, Miladin Zivotic und die anderen). Nur Rudi Supek, der Präsident der Schule, der ein paar Monate vor dem Beginn der Tagung einen schweren Beinbruch erlitten hatte fehlte bei der Eröffnung. Noch immer hinkend und blass, sich auf einen Stock stützend, er­schien er aber im Laufe der Tagung.

In der Abwesenheit von Supek wurde ich beauftragt, die Tagung der Schule zu eröffnen. In der kurzen Eröffnungs­rede habe ich speziell Bloch gegrüßt und, wie im voraus vereinbart, ihn ge­beten, ein paar Worte zu sagen. Im er­sten Satz seiner Rede bedankte sich Bloch für die freundliche Begrüßung "in einem Land, zu dem ich mich durch die "Praxis" und den Zagreber Kreis schon lange verbunden fühle". Die nächsten Sätze waren schon nicht mehr zu hören. Plötzlich begann ein Gewitter mit starkem Donnern, Regen und Wind. Die Sonne, die durch die Fenster und die Türe den Saal im 'Haus der Kultur' beleuchete, verschwand, aus Tag wurde Nacht. Das elektrische Licht ging aus. Es grollte wie bei dem Weltuntergang. Bloch wollte seine Re­de nicht unterbrechen. Er schrie in die Finsternis, kämpfte mit dem Donner bis er es endlich überschrie. Nach ein paar Minuten kam das Licht wieder, der Donner wurde schwächer, und die Stimme von Bloch, immer stärker, war gut zu hören.

TÜTE 9

Page 9: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

Gajo PetroviC

An der Tagung 1968 waren mehr als 400 Teilnehmer anwesend. Zwei Wo­chen lang diskutierte man leidenschaft­lich im Saal und im Vorhof des 'Hau­ses der Kultur', in Restaurants und Ca­fes von Koreula, am Strand und auf der Straße. Zusätzlich zu seiner Eröff­nungsrede hielt Bloch ein Referat, nahm teil in der Diskussion und hielt viele individuelle Gespräche . In der entformalisierten Atmosphäre von Koreula, wo die Teilung in Professoren, Assistenten und Studenten keine Rolle spielte und alle zusammen auf dem glei­chen Fuß über die brennenden Proble­me der Gegenwart diskutiert haben, hat sich Bloch gut gefügt. Er fühlte

\

sich wie zuhause, und die Teilnehmer haben das Gefühl gehabt, als ob er da nicht zum ersten Mal erschienen ist, sondern schon länger dabei war und dazu naturgemäß, und zwar als das Zentrum, gehörte. Herbert · Marcuse, der schon im Jahre -r964 m Koreula war und der im Jahre 1968 überall als der Hauptheld galt, mußte sich in Kor­eula mit der Rolle der "zweiten Violi­ne" begnügen. Das ist ihm nicht schwer gefallen. "I am ... happy and honored to talk to you in the presence of Ernst Bloch today ... " sagte er in der Einlei­tung zu seinem Vortrag.

Am 21. August, früh am Vormittag, kam die Nachricht , daß die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschecho­slowakei einmarschiert waren. Die nor­male Arbeit der Schule wurde auf ei­nen Tag unterbrochen und durch eine Protestversammlung ersetzt. Während der Unterbrechung bereitete eine klei­nere Arbeitsgruppe den Text des Auf­rufs an die Weltöffentlichkeit vor. Wir anderen gingen in den Vorhof, um dort Transistorradios zu hören, oder in klei­nen Grüppchen weiter zu diskutieren (oder eher zu schweigen). So kann ich mich gut erinnern, wie ich mit Bloch, Marcuse und den anderen im Kreise stand. Bloch war schweigend, finsterer als die Nacht. Die ganze Zeit drehte er seine Pfeife im Mund. Nachdem der Text des Aufrufes vorbereitet und kurz durchdiskutiert war, unterzeichnete ihn Bloch als erster, dann folgten die anderen. Vermutlich war es die erste repräsentative internationale Reaktion auf die Okkupation der Tschechoslo­wakei.

~ Im Jahr ~70 am Bloch wieder nach '}\'\Korfola und<prach über die "Geschicht­

liche Vermittlung und das Novum bei

.10 TÜTE

Hegel". Er wollte auch im Jahre 1973 dabei sein, aus gesundheitlichen Grün­den mußte er aber absagen. So schick­te er ein Tonband mit seinem Beitrag. Das Tonband wurde bei der Eröffnung der Tagung gespielt und der entspre­chende Text ("Die bürgerliche Welt und der Sozialismus") in der Zeitschrift

"Praxis" gedruckt. Im Jahre 1969 wur­de Bloch zum Ehrendoktor der Univer­sität Zagreb ernannt. Das war die erste Ehrendoktorwürde, die ihm überhaupt erteilt worden war. Zusammen mit Ka­rola flog er zur feierlichen Promotion aus Zürich, doch konnte das Flugzeug wegen des plötzlich eingetretenen Ne­bels nicht landen und mußte nach ver­geblichem Kreisen über Zagreb nach Zürich zurückkehren. So wurde er in Abwesenheit am 18. Dezember '69 promoviert und hat seine für die Pro­motion . vorbereiteten "Worte des Danks ... " dem Rektor der Universi­tät Zagreb zugeschickt.

In diesem Dankwort äußerte er sich

speziell über die Zeitschrift "Praxis": "Im besonderen ist Zagreb sozusagen die Heimatuniversität von tonangeben­den Philosophen der Zeitschrift "Pra­xis'', diesem so wichtigen gegenwärtig fast einzigen Organ eines lebendigen innegehaltenen Marxismus. Die "Pra­xis" hat dadurch nicht nur internatio­nale Bedeutung, sie trägt auch zum gei­stigen Ruhm Jugoslawiens bei, .... Hohes Niveau ist in dieser Zeitschrift so selbstverständlich, wie es in bedeu­tend offizielleren außerhalb Jugosla­wiens eine Ausnahme wurde."

Inzwischen wurden fast alle wichtigen Werke von Bloch in Jugoslawien veröf­fentlicht ("Geist der Utopie", "Das Prinzip Hoffnung", "Naturrecht und menschliche Würde", "Tübinger Einlei­tung in die Philosphie", "Experimen­tum mundi", "Philosophische Grund­fragen", "Universität, Marxismus, Phi­losophie", "Politische Messungen" usw.). Einige von den noch nicht ver­öffentlichten sind schon übersetzt und sollten auch bald erscheinen ("Atheis­mus im Christentum", "Das Materialis­musproblem"). Die Bibliographie der jugoslawischen Arbeiten über Bloch beträgt schon mehr als 200 Einheiten. Eine Reihe jugoslawischer Zeitschrif­ten widmeten Bloch ihre spezielle Nummer, und nebst einer Reihe jugos­lawischer Symposien über Bloch wur­den in Dubrovnik auch zwei interna­tionale Symposia über Bloch gehalten (1980 und 1985).

Vermutlich war Bloch in keinem ande­re Land so intensiv "rezipiert" wie in Jugoslawien . Eine Reihe jugoslawi­scher Philosphen haben behauptet, Bloch sei der größte marxistische Phi­losoph des 20. Jahrhunderts, eine Be­wertung, die einige auch in Frage ge­stellt haben . Bloch hat seinerseits be­hauptet, die Zeitschrift "Praxis" sei "wohl die beste philosophische Zeit­schrift unserer Zeit", eine Behauptung, die sicherlich nicht allgemein aner­kannt war.

Über alle diese Sachen kann ich bei \ dieser Gelegenheit abernicht schreiben. 1 Das Thema "Bloch und die jugoslawi­sche Philsoophie" ist allzubreit für ein kurzes Interview. Deshalb habe ich mich diesmal hauptsächlich auf die er­sten Kontakte zwischen Bloch und den jugoslawischen Philosophen be­schränkt.

Gajo Petrovic

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HelmutF hre eh

UTOPISCHES BEWUSSTSEIN UND GESELLSCHAFTLICHES SEIN. BLOCHS TRANSFORMATION EINER MARXSCHEN FORMEL.

1. Seit einiger Zeit ist (wieder einmal), insbesondere natürlich von den Gegnern, aber doch auch von den Anhängern bzw. Sympathisanten marxistischer Theorie von deren Krise die Rede. Und wer woll­te und könnte dem einfach und leichthin widersprechen? Wichtig, ja entscheidend ist dabei jedoch die Differenzierung der pauschalen FormeLd.h. der Versuch, sich klar zu machen, worin die Krise heute besteht und was und wen sie im Feld marxistischer Theorie vor allem betrifft.

In gewisser Weise ist der Marxismus (So­zialismus) als historische und praxisbezo­gene Theorie innerhalb der kapitalisti­schen Gesellschaftsformation immer in einer kritischen Situation, sofern das für eine praktisch-kritische Theorie zentrale Problem der Theorie-Praxisvermittlung für die jeweilige Gegenwart und ihren Zu­kunftshorizont stets neu in Frage steht und situationsbezogen beurteilt werden muß. In diesem Rahmen bestimmen sich auch die besonderen Krisenpunkte mar­xistischer Theorien in der Gegenwart. Sie leiten sich einmal von einem schon etwas älteren Problem dieses Jahrhunderts her, nämlich der zunehmend ratloser gewor­denen Frage und Suche nach dem oder einem '·revolutionären Subjekt" system­verändernder Praxis, angesichts der of­fenbar stabilisierungs- und reproduk­tionsfähigen objektiven Produktions-Ver­hältnisse (Lefäbvre) und des in irgendei­ner Form unvermeidbaren "Abschieds" von den klassischen Theorien des Prole­tariats und der Revolution (Marcuse, Gorz, Lefäbvre, Habermas, Bahro u.a.). Dazu kommt, daß die neu aufgekomme­nen gesellschaftskritischen Al ternativbe-

-wegungen (Ökologie, Friedens-, Frauen­bewegung) in ihren unterschiedlichen Orientierungen zwar manchen Bezugs-

punkt zur marxistisch-sozialistischen Kri­tik kapitalistischer Gesellschaften auf­weisen, aber doch auch wesentliche theo­retisdi-praktische Differenzen, die sich jedenfalls nicht bruchlos mit einem (gar noch "orthodoxen")marxistischen Theo­rie-Praxis-Konzept vermitteln lassen.

Es ist klar, daß einer solchen Lage, in der (kritisches) Bewußtsein und gesellschaft­liches Sein in vielfältiger Weise auseinan­dertreten, das theoretisch und praktisch relevante Problem ihrer Verhältnisbe­stimmung neu auf geworfen wird und in den Mittelpunkt rückt; und auch, daß nicht-objektivistische Positionen (wie die von Bloch, Marcuse, Sartre, Lefäbvre, Habermas), in deren Ansatz die offene Dialektik von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein gewahrt wird, am ehesten in der Lage sind, die gegenwärtige Problem­situation marxistischer Theorie zu erhel­len und zu lösen. Zu einer solchen Erhel­lung gehört unabdingbar auch die Erörte­rung der Bezüge und Differenzen zur Marxschen Problemkonstellation und d.h. der gegenidealistischen Formel von Marx und Engels "Es ist nicht das Be­wußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt".

2. Im Umkreis der marxistischen Theo­retiker und Philosophen, die der von Marx unterschiedenen gegenwärtigen Problemlage u.a. durch eine Neufassung des Bewußtseinsthemas im dialektischen Verhältnis von Bewußtsein und gesell­schaftlichem Sein zu entsprechen such­ten, ist Ernst Bloch gewiß nicht derjeni­ge, der die gegenwärtige Lage am gründ­lichsten analysiert hat, wohl aber hat er die veränderte Beurteilung des Bewußt­seinsfaktors sowohl in historisch-gesell­schaftlicher als in philosophisch-struktu-

Utopie und Bewußtsein

reller Hinsicht auf eine grundlegend-um­fassende und produktive Weise themati­siert, die zudem durch ihre immanent kritischen Bezüge zu Marx und ihre Pa­rallelen zu Sartre, Lefäbvre, Marcuse u.a. für die weitere Diskussion von besonde­rer Bedeutung ist.

a) Eine für die historisch-gesellschaft­liche Analyse fruchtbare Differenzierung der Bewußtseinsdimension und der Dia­lektik von Bewußtsein und gesellschaft" lichem Sein hat Bloch vor allem in sei­nen Diagnosen der -gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnis­se, Entwicklungen und Tendenzen der Wei,marer Zeit (die 1935 in "Erbschaft dieser Zeit" gesammelt erschienen) vor­genommen. Darin wird das Konzept einer "mehrschichtigen" (bzw. "m'ehr­rä umigen ") Dialektik "gleichzeitiger" und "ungleichzeitiger" Widersprüche im und zum kapitalistischen System ent­wickelt und an den Zeitanalysen (zu­mal angesichts der Verführbarkeit be­stimmter Schichten durch den National­sozialismus/Faschismus und die Ver­säumnisse der marxistischen Gegenbe­wegung) konkret bewährt. Dieses Kon­zept sollte zwar keine Ersetzung, sondern eine theoretisch und praktisch notwen­dige Horizonterweiterung und Differen-. zierung der dialektischen Methode mar­xistischer (ideologiekritischer ), Bewußt­seins- und Gesellschaftsanalyse sein, zu­mal gegenüber ihrer zeitgenössischen Verkümmerung zu einem erfahrungs­und phantasielosen Schema. (Eine Kritik, die Sartre später ganz ähnlich am offi­ziellen Marxismus geübt hat.) Der gleich­zeitige und dem kapitalistischen System immanente Grundwiderspruch - zwi­schen Lohnarbeit und Kapital, gesell­schaftlicher Produktion und privater An-

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Helmut Fahrenbach

~ignung - und der Klassengegensatz bleiben objektiv und subjektiv entschei­dend für eine revolutionäre Umwäl­zung durch das klassenbewufüe Prole­tariat. Aber für den revolutionären Pro­zef~ muf~ das Widerspruchspotential ge­gen die bürgerlich-kapitalistische Ge­sellschaft einbezogen und aktiviert wer­den, das aus älteren "ungleichzeitigen" Phasen der gesellschaftlichen Entwick­'lung und Schichten des Bewufüseins noch gegenwärtig ist und sich in kapita­lismus-kritischen Bewußtseinslagen, Ein­stellungen und Verhaltensweisen aus­wirkt. b) Im Rahmen seiner Grundlegung der marxistischen Philosophie (Theorie-Pra­xis) der Weltveränderung gibt Bloch "alles Weitere fundierend und tragend" eine neue Auslegung des Bewußtseins­faktors, d.h. der Bewußtseinsform, die dem praktisch-theoretischen Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst vorrangig zugehört: das "antizi­pierende Bewußtsein". (Unter diesem Titel steht der 2. Teil, die "Grundle­gung" des Prinzip Hoffnung Zit. = PH). Mit dem 'antizipierenden Bewußtsein' kennzeichnet Bloch die für die mensch­liche Lebensform grundlegende Bewußt­seinsdimension, in deren Richtungsbe­stimmung der für das "nach vorn" orien­tierte zeitliche Dasein und Werden we­sentliche und vorrangige Möglichkeits­und Zukunftsbezug erhellt wird. Denn im antizipierenden Bewußtsein wird in verschiedenen Weisen des Vorgriffs auf Mögliches und Künftiges (in Tagtäumen, Wünschen, Hoffnungen, Prognosen, Ent­würfen, Plänen) die Dimension der Zu­kunft, die an der Front allen Werdens und für das menschliche Leben auch im Bewußtseins- und Praxishorizont liegt, perspektiv eröffnet und das faktisch Ge­gebene (Gegenwärtige) auf vorgestelltes Mögliches, Anderes, Neues hin "über­schritten", wenn es auch erst durch prak­tische Realisierung verändert zu werden vermag. Blochs Bestimmung des antizipierenden Bewußtseins schließt aber auch dessen anthropologische (trieb dynamische) Voraussetzungen ein (die mit der Be­dürftigkeit und dem drängenden Be­gehren leibhaften Lebens gesetzt sind und als Triebfedern auch im proten­dierenden Bewußtsein wirksam bleiben) und die "ontologischen" Bezüge zu .dem durch das antizipierende Bewußtsein er­schlossenen Korrelat d~r unfertigen, möglichkeitsoffenen Wirklichkeit (in Geschichte, Gesellschaft und Natur),

12 TÜTE

innerhalb deren die geschichtlich-ge­sellschaftlichen Bedingungen analytisch und praktisch das Feld konkreter Anti­zipation (Utopie) und real möglicher Praxis umreißen. Erst und nur in diesem Bezugsrahmen fungiert das antizipie­rende. Bewußtsein als grundlegende Kate­gorie und anthropologisch zentraler An­satzpunkt für Blochs Auslegung des Ver­hältnisses von Bewußtsein und gesell­schaftlichem Sein. Im Kontext dieses Be­zugsrahmens zeigen sich mannigfach Be­züge, aber auch Differenzen zur Marx­schen Position. c) So sehr Bloch daran liegt, seine utopi­sche Philosophie, zumal ihrer geschicht­lich-praktischen Bestimmung nach, von Marx und der epochalen Bedeutung sei­ner Theorie-Praxis herzuleiten, so ist er sich doch auch bewußt, an bestimmten Punkten aus einem weitergespannten Horizont philosophischer Einsicht Kon­sequenzen aufweisen, Verengungen be­seitigen und Weiterentwicklungen vor­nehmen zu müssen. Ein für die hier verfolgte Fragestellung zentraler Punkt, an dem Bloch die Re­flexion objektiv und subjektiv relevanter Konsequenzen für nötig hält, ist gerade der für Bloch entscheidende neue Zug am Marxschen Denken und in marxistischer Philosophie gegenüber der Tradition, nämlich die Umwendung der Grundrich­tung des Denker.s von der Vergangen­heit zur Zukunft hin. Wenn im "Kom­munistischen Manifest" gesagt wird. daß in der kommunistischen Gesellschaft, im Gegensatz zur bürgerlichen, "die Gegen­wart über die Vergangenheit herrscht". so ergänzt Bloch, "und es herrscht die Gegenwart zusammen mit dem Horizont in ihr, der der Horizont der Zukunft ist..." (PH 329. vgl. 725). Und eben die­ser Horizont der Zukunft. in dem "die beginnende Philosophie der Revolution eröffent wurde," ist "in und an Marx selber noch kaum völlig reflektiert wor­den" (a.a.O.). Die hier nötige und von Bloch durchgeführte philosophische Re­flexion betrifft vor allem die anthropo­logischen und ontologischen Vorausset­zungen und Perspektiven des Zukunfts­horizontes alles prozeßhaft Wirklichen in Mensch und Welt, Natur und Ge­schichte, der im antizipierenden Be­wußtsein als objektiv zum Realen gehö­rende und zu bestimmtende Möglich­keitsdimension erschlossen wird. Insbesondere die Auszeichung des anti­zipierenden Bewußtseins gibt dem Ver­hältnis von Bewußtsein und gesellschaft­lichem Sein bei Bloch gegenüber Marx

andere Konturen und Schwerpunkte. Denn das antizipierende Bewußtsein kann weder in der Möglichkeit und Funktion des Überschreitens der Reali­tät noch in den Gehalten utopischer Phantasie als durch das faktische C) ge­sellschaftliche Sein direkt bestimmt oder präformiert bzw. als dessen bloßer Aus­druck gedacht werden. Dem transzendie­renden Entwurf des Möglichen, d.h. Nicht-wirklichen bzw. im Hinblick auf Künftiges des Noch-nicht-Seins, muß viel­mehr eine wesentliche Unabhängigkeit gegenüber dem faktisch Gegebenen zuge­standen werden. Es kommt Bloch (wie Sartre) zunächst vor allem darauf an, die­sen überschreitenden Zug im menschli­chen Bewußtsein und Leben. den theore­tisch-praktischen Ausgriff ins Offene der Zukunft und des Möglichen (inmitten und trotz aller realen Bedingtheit) als ei­ne entscheidende Funktion und Bedin­gung des "Aktivitätsfaktors" im Subjekt kenntlich zu machen und offen zu hal­ten, zumal sich darin die existentielle und metaphysische "Tiefendimension des subjektiven Faktors" (PH 168). wie auch des Geschichts- und Weltprozesses enthüllt, das "Eigentliche im ~1enschen wie in der Welt noch ausstehend ist" (PH 285) und als utopischer Ziel- und Sinngehalt eines gelungenen Lebens und erfüllter Gegenwart in der Welt gesucht wird. Diese Tiefendimension, die zugleich den weitesten "prospektiven Horizont" (PH 257) für Geschichte und Weltprozeß vorzeichnet. gilt es auch dem Marxismus. gegen alle Reduktionen als ''Reichtum'' und "Leben der Tiefe" seines humanen Gehalts zu erhalten bzw. wieder zuzu­eignen (PH 726, vgl. Kap. 55 ).

Das bis jetzt Gesagte könnte freilich den Eindruck erwecken. hier ginge es doch wieder nur um eine neue Variante des von Marx kritisierten verselbständigten Bewußtseins, von dem auch noch gut idealistisch angenommen wird. daß es das - künftige - gesellschaftliche Sein be­stimme oder zumindest bestimmen kön­ne. Zudem scheint das die Realität "überschreitende'' oder überfliegende antizipierende Bewußtsein allzu leicht eine idealistisch "ideologische" Funktion ausüben zu können. Dies wäre jedoch ei­ne irrige Auffassung. Es kann natürlich keine Rede davon sein, daß das so be­stimmte antizipierende Bewußtsein als solches das gesellschaftliche Sein bestim­me, sofern es lediglich Möglichkeiten entwirft. Wirklichkeit bzw. gesellschaft­liches Sein zu bestimmen, ist indessen

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allein Sache erhaltender oder verändern­der Praxis (PH 1618). Die dem antizipie­renden Bewußtsein allerdings zugedachte Erschließung der Ziele und Möglichkei­ten verändernder Praxis erfordert aber gerade seine Vermittlung mit der Reali­tät zu "konkreter Antizipation'', in der sich auch der Schein ideologischer Funk-

• tion auflösen muß.

d) Durch die Forderung „konkreter Antizipation' bzw. 'konkreter Utopie'' wird das antizipierende Bewußtsein ent­gegen einem phantastischen überfliegen der Realität ("Utopismus") in die Wirk­lichkeit des gese llschaftlich-geschich tli­chen Seins zurückbezogen. ohne den umfassenden utopisch-prospektiven Ho­rizont preiszugeben oder ihn auf das jetzt real Mögliche bzw. möglich Schei­nende zu verkürzen. Mit dieser konkre­tisierenden ('"verendlichenden") Bewe­gung wird erst das dialektische Verhält­nis bzw. die Vermittlungzwischen utopi­schem ·Bewußtsein und gesellschaftli-

ehern Sein erreicht. Denn ein 'antizipie­rendes' - und nicht nur ins Phantastische ausschweifende - Bewußtsein muß sich im Wirklichkeits- und Möglichkeitsfeld des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins selbst 'situieren', gerade um die 'trans­zendierende' Dimension der realen Mög­lichkeit einer besseren Zukunft erschlies­sen zu können. Die Ansatzpunkte "konkreter" Antizi­pation (Utopie, Phantasie, Hoffnung) be­stehen darin, " ... Vorhandenes in die zukünftigen Möglichkeiten seines An­dersseins, Besserseins antizipierend fort­zusetzen. Wonach sich die so bestimmte Phantasie der utopischen Funktion von bloßer Phantasterei eben dadurch unter­scheidet, daß nur erstere ein Noch-Nicht-

Sein erwartbarer Art für sich hat, das heißt, nicht in einem Leer-Möglichen herumspielt und abirrt, sondern ein Real­Mögliches psychisch vorausnimmt" (PH 163, vgl. l 79f., 256, 723ff.).

So entschieden und überzeugend Bloch - gegen "Utopismus" und "Empiris­mus" / "Positivismus" - das Konzept ."konkreter Utopie" als die Vermittlung zwischen antizipierendem Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein (Utopie und Praxis) in den Mittelpunkt zumal der marxistischen Theorie-Praxis rückt und festhält, so ist damit zunächst lediglich eine notwendige Problemstellung begrün­det und eine Aufgabe formuliert. Die wesentlich situationsbezogene Einlösung der Aufgabe (der realitä tsvermittelten „Konkretisierung" von Utopie, Antizi­pation) ist dadurch keineswegs schon gesichert oder gar geleistet. Denn eine solche Einlösung muß unabdingbar, wenn auch nicht nur, in der Gegenwarts­bzw. Situationsanalyse Fuß fassen, um

im Möglichkeitsfeld des gesellschaftli­chen Seins die utopischen Entwürfe und Antizipationen als solche realer Möglich­keit zu konkretisieren. Hinsichtlich der Situations- und Gesell­schaftsanalyse rekurriert Bloch oft allzu pauschal und ohne zureichende histo­risch-kritische Reflexion der weiteren geschichtlich-gesellschaftlichen Entwick­lungen auf die Grundbestimmungen der Marxschen Kapitalismusanalyse. Bloch hat zwar - wie angedeutet - für die Weimarer Zeit eine sachlich und metho­disch originäre Zeitanalyse ·entwickelt, die ihren "konkret-utopischen Hinter­grund" an den Umbruchs- und über­gangsphänomenen im Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der Zeit zu be-

Utopie und Bewußtsein

währen suchte und dafür mit der mehr­schichtigen Dialektik der gleichzeitigen und ungleichzeitigen Widersprüche eine zweifellos fruchtbare Differenzierung und Erweiterung der marxistischen Methode gesellschafts- und ideologie­kritischer Analyse vornahm (der gegen­über z.B. G. Lukics in einerunveröffent­lichten Rezension der "Erbschaft" die ganze Verständnislosigkeit der Ortho­doxie dokumentierte). Blochs Dialektik der ungleichzeitigen Widersprüche bleibt jedoch an den gleichzeitigen und theo­retisch wie praktisch entscheidenden ökonomischen Grundwiderspruch zwi­schen Kapital und Arbeit 1 den Klassen­gegensatz und die revolutionäre Rolle des Proletariats gebunden. So begründet die­se Konzeption für die Analyse der Wei­marer Zeit auch noch gewesen sein mag, eine unkritische übertragun_g dieses klas­sischen Konzepts (auch in seiner diff e­renzierteren Form) auf die neueren Ent­wicklungen und die Gegenwart wäre je­doch zweifellos problematisch ·(und sie ist von Bloch auch nicht direkt vollzo­gen worden). Von der heutigen Lage aus ist jedenfalls zu sagen, daß der für Blochs Konzeption tragende Pfeiler des gleich­zeitigen Grundwiderspruchs brüchig ge­worden und selbst der mehrschichtigen Dialektik verfallen ist. Damit hat Blochs dialektisch-kritische Hermeneutik zwar ihr revolutionäres Zentrum, aber nicht ihre Bedeutung verloren. Blochs Konzep­tion einer mehrschichtigen Dialt(ktik könnte vielmehr gerade dadurch die Flexibilität und Offenheit gewinnen, die nötig ist, um die heute selbst als nicht zentralisiert und vielschichtig auftreten­den gesellschaftlichen Bewegungen zu begreifen, zumal darin utopisch-kriti­sche Intentionen und Gehalte veränder­ter Bedürfnisse, Einstellungen und Le­bensformen eine wesentliche Rolle spie­len. 3. Daß gegenwärtig konkret utopisches Denken für eine das Wirklichkeits- und Möglichkeitsfeld erhellende materiale Gesellschaftsanalyse von wesentlicher Bedeutung ist, läßt sich, deutlicher als an Bloch, selbst besonders an H. Mar­cuse und H. Lefäbvre (aber auch an Sartre, Bahro u.a.) erkennen, die ihre materiale Gesellschaftsanalyse und -kritik am Leitfaden der Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit (Aktuali­tät und Potentialität) und konkreter Uto­pie orientieren und dabei ebenfalls die· aktive Bedeutung des (in Phantasie und Wünschen) transzendierenden "über­schüssigen" Bewußtseins (Bahro, Mar-

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Helmut Fahrenbach

cuse) im subjektiven Faktor für die Er­schließung konkreter, realer Möglichkei­ten verändernder gesellschaftlicher Praxis herausheben. Eben dafür hat Bloch den Blick in den weitesten Horizont der nor­mativ-utopischen Sinngehalte und Ziele einer besseren Zukunft der Menschen ge­öffnet und ihn zugleich mit der F orde­rung konkreter Utopie auf die gesell­schaftlich-geschichtliche Nähe gelenkt. Die überschreitende Bewegung des kon­kret utopisch "transzendierenden" Be­wußtseins hält sich prinzipiell in der Dimension von Zeit und Geschichte und bleibt dadurch (im Unterschied zu einem gleichsam vertikalen (statischen) "meta­physischen" Transzendieren) zu einer an­deren, eigentlichen Wirklichkeit in sich auf Zukunft als die Zeitdimension mög­licher Praxis bezogen. Dem korrespon­dieren sowohl Marcuses Unterscheidung von "metaphysischem" und "geschicht­lichem" Transzendieren (in "Der eindi­mensionale Mensch", 1967, S.13, 35) als auch die strukturellen Bestimmungen. der entwerfend "überschreitenden" Pra­xis bei Sartre und Lefäbvre; auch wenn in Blochs Verzeitlichung und Historisie­rung der Metaphysik mehr an traditionel­len metaphysischen Problemen und Per­spektiven, den Zusammenhang und Pro­zeßsinn des Seienden im ganzen betref­fend, eingehen.

Konvergenzen und Parallelen zeigen sich weiter in der methodischen Bestimmung des Theorie-Praxis-Verhältnisses auf der generellen Basis der Wechselwirkung (Oszillation) von Theorie und Praxis. Wenn Bloch auf dieser Basis vom "Prius

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(Vorgängigkeit) der Theorie und Primat (Vorrang) der Praxis" spricht, dann ist die Vorgängigkeit der Theorie gerade auf ihre (situationsanalytisch und nor­matiy-utopisch) begründete antizipatori­sche Funktion bezogen, denn dadurch ist sie auf den Vorrang verändernder Praxis gericht~t. Genauso formuliert Marcuse das Verhältnis, indem er, gegen die Vorstellung einer unmittelbaren Ein­heit von Theorie und Praxis und für das Spannungsverhältnis aus der Struktur der Theorie plädierend, sagt: die Theo­rie "hat eine antizipierende, kritische Qualität. Auf Grund der Analyse der ge­gebenen Gesellschaft projiziert, entwirft die Theorie mögliche Praxis. Das ist das geschichtliche A priori der Theorie". (Zeit-Messungen, 1975, S. 21). Auf ähn­liche Weise bestimmen Lefäbvre und Sartre die praxis- und möglichkeitsbezo­gene kritische und projektive Funktion der Theorie. Mit dem Konzept '"konkreter Utopie" hat Bloch seine Jnterpretation der offe­nen Dialektik von Bewußtsein und ge­sellschaftlichem Sein, die durch eine korrektive Akzentuierung des antizipa­torischen Bewußtseins- und Aktivitäts­faktors für das praktische Weltverständ­nis bestimmt ist, so auf den (program­matischen) Begriff gebracht, daß sie als Aktualisierung und Transformation der

Marx/Engelsehen Formel, bei Wahrung ihres kritischen Sinnes, verstanden wer­den kann. Denn das antizipierende Be­wußtsein kann sich auf Grund seiner ihm immanenten Protention auf mögli­che, künftige Praxis und Wirklichkeit

weit weniger leicht von der Realität ab­lösen bzw. abgelöst halten und sich ideologisch verselbständigen (als das vor­stellend interpretierende Bewußts~in), ohne nicht alsbald an sich selbst den Status des Phantastischen, Illusionären zu erkennen zu geben und zu erfahren. Darum bleibt auch dem Denker des ''Prinzips Hoffnung" bewußt, daß '· ... Hoffnung den (jeweils vorgegebe­nen_ H.F.) HoriZont nur übersteigt, wäh­rend erst Erkenntnis des Realen mittels der Praxis ihn auf solide Weise ver­schiebt ... " (PH 1618 ). Aus dem glei­chen Grunde des virtuellen Praxisbezu­ges vermag andererseits das konkret-uto­pische Bewußtsein eine aktivere und be­stimmendere Funktion an der "Front" des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins als Werden für die Orientierung und Mo­tivation emanzipatorisch verändernder Praxis auszuüben:. Und es kann dafür auch die normativen und kritischen Ge­halte, die das utopische Bewußtsein in geschichtlichen und oft abstrakten Formen hervorgebracht hat, durch eine die ideologische und utopische Funk­tion unterscheidende kritische Herme­neutik aktualisieren. Dieser in der Marx­schen Kritik des religiösen Bewußtseins lediglich angedeutete Aspekt ist von Bloch zu einer umfassenden Interpreta­tion der uneingelösten utopischen Ge.­halte des geschichtlich-kulturellen Erbes von den unscheinbarsten alltäglichen Träumen und Wünschen bis zu den Ent­würfen des höchsten Gutes in der Welt entwickelt und fruchtbar gemacht wor­den. Ernst Bloch hat seine Transformation der Marxschen Formel selbst auf eine Formel gebracht: "Das Sein, das das Be­wußtsein bedingt, wie das Bewußtsein, das das Sein bearbeitet, versteht sich letzthin nur aus dem und in dem, woher und wonach es tendiert" (PH l 7f.). Die darin zusammengefaßte Transformation ist über ihre Relevanz für Philosophie und marxistische Theorie hinaus von be­sonderer Bedeutung in einer Zeit. in der die Zukunft primär die Züge des Bedroh­lichen zeigt, bis hin zur Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit, und in der objektive Faktoren und Tenden­zen einer Wendung zum Besseren kaum auszumachen sind. Dann hängt das Ge­wicht der möglichen und wirklich wer­denden Zukunft verstärkt an der kon­kreten Phantasie des antizipierenden Be­wußtseins und an der motivierenden Kraft der Hoffnung für das an einer bes­seren Zukunft arbeitende Handeln.

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ONTOLOGIE DES NOCH-NICHT-SEINS ODER ONTOLOGIE 'DES GESELLSCHAFTLICHEN SEINS?

·'Erinnerung: Als einer zu seinem weisen Freund sagte: unsere Gespräche mögen fein und tief sein, aber wie stumm sind die Steine und wie unbewegt bleiben sie von uns; wie groß ist das Weltall und wie armselig steht die 'Höhe' unserer Peters­kirche davor; was müßte erst die Erde selber zu sagen haben, wenn sie einen Mund von Lissabon bis Moskau öffnete und nur wenige Worte donnerten, or­phis~h; - da erwiderte der weise Freund, als Lokalpatriot der Kultur: eine Ohrfei­ge ist kein Argument und die Erde? sie würde vermutlich lauter Unsinn reden, denn sie hat weder Kant noch Platon ge­lesen."1

Das Gespräch mit dem weisen Freund -Georg Lukacs - kreist um ein Problem: das Verhältnis von Freiheit und Natur. Beide, Bloch und Lukacs, verfolgen in ihren Spätphilosophien ontologische In­tentionen. Doch hat Bloch genau den Kernpunkt festgehalten, worin beide sich trennen.

Lukacs begreift das Verhältnis von Frei­heit und Natur als Perfektion der Herr­schaft, wodurch der Spielraum der Frei­heit sich öffnet und erweitert. Ontolo­gisch läßt er diese Herrschaft über die äußere, nichtmenschliche wie die innere, menschliche Natur der Arbeit entsprin­gen. Die Analyse der Arbeit steht deshalb im Mittelpunkt der 'Ontologie des gesell­schaftlichen Seins'. Lukacs meint, Mar­xens Kritik der politischen Ökonomie fortzuführen, in der Tat aber restauriert er den bürgerlichen Arbeitsbegriff. Bloch hingegen bestimmt das Verhältnis des Menschen zur Natur utopisch als V ersöh­nung. Er beruft sich aufMarxens 'Pariser Manuskripte', worin die Naturalisierung des Menschen und die Humanisierung der

Natur eine zentrale Rolle spielt. Dabei modifiziert Bloch den ursprünglichen Sinn und reduziert Natur auf äußere Na­. tur, während Marx Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur als Chiasmus meint: Natur bedeutet menschliche Natur, die äußere Natur hat bei ihm kein Wesen im emphatisch-nor­mativem Sinn. 'ßloch kann dies, weil er das Sinnproblem nicht nur gesellschaft­lich, sondern allumfassend kosmologisch denkt, als Problem des Endzwecks der Welt. Er faßt das Experiment Welt als Laboratorium möglicher Wendung zum Guten, aber dessen Zukunft noch nicht entschieden ist, freilich um den Preisei-. ner teleologischen Betrachtung der Ma­terie. Im Zentrum der Ontologie des Noch-Nicht-Seins steht das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks, das Bloch als utopisch gefaßte Identität von Sub­jekt und Objekt in der Natur versteht.

1. Ontologie des Gesellschaftlichen Seins. Ihr Kernbegriff: Arbeit als teleologische Setzung

Gegenstand der Ontologie ist für Lukacs primär, wie der Titel des späten Werks anzeigt, das gesellschaftliche Sein.Dieses konstituiert sich in der Arbeit. Systema­tisch am Anfang der 'Ontologie des ge­sellschaftlichen Seins' steht deshalb die "Analyse der Arbeit" 2

: "In der Arbeit sind alle Bestimmungen, die .... das We­sen des Neuen am gesellschaftlichen Sein ausmachen, in nuce enthalten. Die Arbeit kann als Urphänomen, als Modell des gesellschaftlichen Seins betrachtet werden"3

. Arbeit ist für Lukäcs "die on­tologische Zentralkategorie"4

Lukacs scheint vom Ersten Band des Ma~xschen 'Kapitals' auszugehen. Dort wird die Arbeit bestimmt als "ein Prozeß

Ontologie

zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat ver­mittelt, regelt kontrolliert" 5

. Arbeit ist nach Marx "zweckmäßige Tätigkeit"6

,

denn "am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Be­ginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhan­den war."6 Luk:ics scheint nun lediglich diesen Arbeitsbegriff ontologisch auszu­legen, wenn er Arbeit als "teleologische Setzung begreift. Doch eines ist ganz ent­scheidend: die Funktion dieser Defini­tion im Ganzen der "Kritik der politi­schen Ökonomie": Lukics nimmt sie für das Ganze, während sie in Marxens Theo­rie nur einen untergeordneten Teil aus­macht: die Hauptsache, das spezifisch Historisch-Gesellschaftliche, welche die politische Ökonomie erst in .Kritik um­schlagen läßt, ist bei Lukacs ausgelassen .

Lukacs konstruiert die Arbeit als "onto­logische Genesis der Freiheit" 7

, de.nn Ar­beit unterstellt autonome Zwecksetzung, welche der Ausführung vorhergeht: Frei­heit als Wahl zwischen Möglichkeiten und als bewußtes Verändernwollen der Wirklichkeit 3

. Hieraus resultiert die Dif­ferenz von natürlichemund gesellschaft­lichem Sein, sodann die Differenz von Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein, die Scheidung von Theorie und Praxis.

. Beide Differenzen fußen auf der Tren­nungvon Subjekt und Objekt. "Diese 9e­wußt gewordene Trennung von Subjekt und Objekt ist ein notwendiges Produkt des Arbeitsprozesses und zugleich Grund­lage für die spezifisch menschliche Exi­stenzweise. "9

Arbeit, die nicht nur gesellschaftliches Sein vom natürlichen Sein scheidet, son­dern auch das Bewußtsein vom gesell­schaftlichen Sein, produziert auch die Sprache10. Subjekterfassung kommt aus­schließlich dem arbeitenden Menschen zu, denn das "Phänomen der Freiheit" bleibt "derNaturvölligfremd ... " 11

• Ar­beitend transzendiert der Mensch die Na­tur und errichtet die neue Sphäre spezi­fisch menschlichen Seins, das gesellschaft­liche Sein. Er erwirbt die Fähigkeit, die Natur durch die bewußte Kontrolle zu beherrschen. Die Verwirklichung teleolo­gischer Setzungen bedarf äußerer Mittel, welche der Mensch in der äußeren Natur vorfindet. Dazu aber muß er die äußere Natur in ihren Wirkungsweisen kennen. Bewußte Teleologie im gesellschaftlichen Sein der Arbeit und blinde, weil völlig zweckfremde Kausalität der Natur bedin-

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Eberhard Braun

gen sich wechselseitig, "wobei dem Sol­len die Funktion des übergreifenden Moments zukommt." 12 Die Herrschaft über die äußere, nichtmenschliche Natur begleitet die Beherrschung der inneren menschlichen Natur . "Die Selbstbeherr­schung des Menschen, die notwendiger­weise zuerst als Wirkung des Sollens in der Arbeit auftaucht, die wachsende Herrschaft seiner Einsicht über die eige­nen spontan biologischen Neigungen, Ge­wohnheiten etc. wird durch die Objekti­vität dieses Prozesses geregelt und ge­lenkt"13. Lukacs beschreibt den Fort­schritt, der sein Fundament im ökono­mischen hat, denn auch konsequent als "Prozeß des Zurückweichens der Natur­schranke"14, der äußeren wie der inne­ren, und er schränkt ein: "die Natur­schranke kann nur zurückweichen, aber niemals völlig verschwinden" 15 . Lukics zieht hieraus die Konsequenz: "Man kann sogar sagen: der kampfvolle Weg der Selbstüberwindung von der naturh4ften Instinktdeterminiertheit bis zur bewuß­ten Selbstbeherrschung ist der einzig rea­le Weg zur wirklichen menschlichen Frei­heit."16

In seiner Konstruktion des Arbeitsbe­griffs beruft sich Lukacs auf Hegels 'Je­naer Realphilosophie' und das Kapitel über Teleologie aus der 'Großen Logik'. Zustimmend zitiert er Hegels Konzep­tion der Arbeit als Überlisten der äuße­ren Natur. Diese Natur ist rein kausal, den Zwecken des Menschen völlig äußer­lich. Die enge Verwandtschaft von Lu­kacs' Analyse der Arbeit mit Hegel kann ein Blick auf die 'Phänomenologie des Geistes' bezeugen. Hegel konstruiert Ar­beit als Gestalt des Selbstbewußtseins, als Übergang vom natürlichen Sein der Be­gierde zum geistigen Sein der Freiheit des Denkens. Durch Arbeit, welche die na­türliche Begierde hemmt, löst sich das Bewußtsein von den Fesseln der Natur und befreit sich arbeitend, zum Denken. Trotz großer kritischer Vorbehalte ge­genüber Hegel 17 konserviert Lµkacs we­sentliche Elemente Hegels, insbesondere den supranaturalen Charakter der Frei­heit. Er bekundet sich vor allem in der Perfektion der Herrschaft über eine Na­tur, welche dem Menschen fremd bleibt und als äußerliche nur durch überlistung in den Dienst menschlicher Zwecke ge­stellt werden kann. Auch bei Hegel er­·gänzen sich Kausalität und Teleologie, äußere Zweckmäßigkeit wechselseitig. Lukacs' äußerst repressives Verhältnis zur Natur, zur menschlichen wie zur aus­sermenschlichen, sperrt sich von vorµhe-

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rein gegen jegliche Form einer Emanzipa­tion der Sinnlichkeit.

Mit dieser Konstruktion der Arbeit be­gibt sich Lukacs in Widerspruch zu Mar­xens Arbeitsbegriff im 'Kapital'. Arbeit, als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur genommen bleibt im Bereich des Natürlichen. Der Mensch tritt im Stoff­wechsel mit der Natur dieser als eine "Naturmacht" gegenüber; Gesellschaft­liches Sein wird Arbeit erst, wenn man die spezifischen gesellschaftlichen Form­bestimmu ngen in die Analyse einbezieht. übersinnlichen Charakter aber nimmt sie erst in der bürgerlichen Gesellschaft an, als Waren produzierende Arbeit, worin sie sich verdoppelt in konkrete, Ge­brauchswerte herstellende und abstrakte, Wert produzierende Arbeit. Ein suprana­turales gesellschaftliches Sein zu konsti­tuieren, kommt allein einer bestimmten ~.

historischen Form der Arbeit zu, und · diese Form bestimmt Marx nicht ontolo­gisch, sie wird bei ihm Gegenstand histo­rischer Kritik. Weil aber Lukacs diese Kritik wieder in ontologische Affirma-

tion zurücknimmt, muß er in seinem Freiheitsbegriff typisch idealistische, in diesem Fall Kantische Züge konservieren und an der typisch bürgerlichen Idee der Perfektion der Naturbeherrschung fest­halten.

2. Ontologie des Noch-Nicht-Seins. Ihr Kernbegriff: Dunkel des gelebten Augenblicks

In allen seinen Werken setzt Bloch ein mit der Frage nach uns selbst. "Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?" So hebt das Hauptwerk 'Das Prin­zip Hoffnung' an. Bloch antwortet, der Mensch in der Unmittelbarkeit und Nä­he seiner Existenz sei sich seiner selbst lediglich fragmentarisch bewußt, er wisse nicht wirklich, wer er sei. Doch beruht dieses sehr unzulängliche Wissen nicht bloß auf der Kürze menschlicher Erkennt­nis, es hat vielmehr einen objektiven Grund: die in Frage stehende Sache ist selber noch durch und durch unfertig. Der Mensch ist drängendes Triebwesen,

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das sich selbst noch nicht hat und deshalb nach Erfüllung hungert, und zwar zu­nächst wünschend in Gestalt von Tag­träumen eines besseren Lebens. Solche Wünsche drängen nach Erfüllung, sie können aber nur wirklich werden, wenn die Welt so beschaffen ist, daß die uto­pisch nach vorwärts träumende Phanta­sie• ein Korrelat in ihr findet. Die Welt selber muß die Verfassung der Unfertig­keit haben, Prozeß sein, der für Neues, echte Zukunft offen steht. Das objekti­ve Korrelat in der Welt ist ein Noch­Nicht-Sein, ein Seiendes, das sich im schlecht Vorhandenen nicht vorfindet, dessen Dasein aber in der bestehenden Welt als objektive-reale Möglichkeit an­gelegt ist, als Möglichkeit, die wirklich werden, aber auch scheitern kann. Das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks, das zunächst subjektiv erfahren wird, stellt sich dar als ein objektives Dunkel der prozeßhaft-unfertigen Welt, als teleo­logischer Prozeß der Materie mit der ob­jektiv-realen Möglichkeit des Heils der Welt im ganzen. Das heißt für Bloch: das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks ist philosophisch kein bloß anthropolo­gisches, sondern vor allem ein kosmolo­gisches Problem, das Kernthema seiner Ontologie des Noch-Nicht-Seins.

Welt und Mensch als Teil dieser Welt sind primär Natur, Materie, woraus Gesell­schaft als spezifisch menschliche Materie erst hervorgeht. Materialismus heißt für Bloch wie für Engels: Erklärung der Welt aus sich selbst.

Der Mensch kann sich über die Welt nicht erheben, er kann sie nur, soweit es in sei­ner Möglichkeit steht, verändern; er kann nur den gegenwärtigen Weltzustand, nicht aber die Welt schlechthin über­schreiten, wie dies die traditionelle idea­listische Philosophie von Platon zu Hegel unterstellte. Diese Bewegung nennt Bloch Tranzendieren ohne Tranzendenz. Deshalb kann der Mensch auch nur in der Totalität seines Weltverhältnisses verstan­den werden: der Mensch als Frage - die Welt als Antwort, die Welt als Frage -der Mensch als Antwort. Deshalb bedarf die Frage nach dem Menschen, nach dem gesellschaftlichen Sein der ontologi­schen Erweiterung seiner Theorie des Endzwecks der Welt, der teleologischen Werdemöglichkeit der Materie.

Dennoch wahrt Bloch das Primat gesell­schaftlicher Praxis, die gesellschaftliche Utopie bleibt für ihn die praktisch wich­tigste, weil aktuellste - in Sachen Praxis sei er nach wie vor Ptolemäer, versichert

Bloch. Selbstverständlich ist für ihn das vorrangige Subjekt, sowohl theoretisch wie praktisch, der Mensch, der arbeitend seine Geschichte erzeugt. Doch, wendet Bloch ein, darf Natur nicht auf bloßes be­herrschbares Arbeitsmaterial reduziert werden. Als das überwölbenden, Allum­fassende ist sie mehr als das, Wohnstätte des Menschen, die Heimat werden kann. Hier greift Bloch Marxens Formel von der Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur auf und gibt ihr eine Bedeutung, die weit über Marx hinausgeht. Nach Blochs Auslegung bedeutet diese Formel: der Mensch be­freie sich aus aller Fremdheit der äuße­ren Natur, und die Natur selber könne von sich aus sich menschgemäßen For­men nähern, so das die Natur in ihren produktiven Möglichkeiten entbunden wird. Der bürgerlichen List - und Herr­schaftstechnik, die auch Lukacs verficht, stellt Bloch die Utopie einer Allianztech­nik entgegen, die nicht auf Entfesselung der Produktivkräfte um jeden Preis setzt, sondern diese in den Dienst der Lebens­bedürfnisse der '"Menschen stellen will. Dies veranlaßt Bloch, eine teleologische Mitproduktivität der Natur anzunehmen, ein mögliches Subjekt der Natur zu vermu­ten, eine natura supernaturans. Diese Hy­pothese öffnet Bloch den Blick für Na­turbilder nicht-technischer Art, mythi­sche und ästhetische. Bloch weiß sich mit Lukacs einig, daß Dialektik im Subjekt- · Objekt-Verhältnis zu verankern ist, er ak­zeptiert" indes die Reduktion des Sub­jekts auf den Menschen nicht. Die An­nahme eines hypothetischen Natursub­jekts gestattet ihm auch von einer Dia­lektik der Natur zu sprechen, die Lu~acs gerade leugnet, auch im Spätwerk. Sie fußt auf der utopischen Öffnung des Verhältnisses des Menschen zur Natur: Freiheit basiert nicht auf der Beherr­schung einer fremden Natur, sondern auf der Versöhnung mit einer total ver­menschlichten, heimisch gewordenen.

Mit der Errichtung der klassenlosen Ge­sellschaft ist für Bloch die letzte utopi­sche Zielintention noch nicht erfüllt. Die stärkste Nicht-Utopie, woran mensch­liches Wünschen letztlich abprallen muß, ist der Tod, der auch in der klassenlosen Gesellschaft noch ein Rätsel bleibt, und zwar Tod nicht nur als ein individuelles Problem des Lebensendes, vielmehr ebenso als kosmisches Problem des Wär­metods des Weltalls. Das Dunkel des ge­lebten Augenblicks zeigt an, daß die Existenz, das Daß, utopische Wesen, das Was, noch nicht gefunden hat. In äußer-

Ontologie

ster spekulativer Konstruktion deutet Bloch den Tod ontologisch als Signum der unzulänglichen Vermittlung von Er­scheinung und utopischem Wesen, so daß die vollkommene Lichtung des dunklen Augenblicks zusammenfällt mit dem Sieg über den Tod. Erst dann würde wirklich Quid pro Quod existieren, das Daß hätte dann erst sein adäquates Was gefunden. Diesen absolut erfüllten Au­genblick beschreibt Bloch als absolute Identität, worin der Prozeß vollendet und stillgelegt, als Substanz, die ganz und gar Subjekt geworden ist. Bloch ver­sucht hier, die Hegelsche spekulative Identität in den utopischen ·Materialis­mus hinüberzuretten. Genau hier trans­zendiert Bloch seine materialistische Lo­sung des Transzendierens ohne Transzen­denz: Utopie wird abstrakt, und zwar derart, daß sie sich nicht mehr verweltli­chen läßt. Blochs Materialismus über­schlägt sich, formal schließt er kurz zum Zirkel, und material stellt die Utopie der Unsterblichkeit keine Möglichkeit dar im Sinn partialen Bedingtseins, das Un­bedingte kann per Definitionem gar nicht -partial- bedingt sein. Die erste Fassung der eingangs zitierten "Erinnerung", die sich in der ersten Auflage der Essay­samrnlung 'Durch die Wüste' findet, schließt mit dem Satz: "Die Welt ist ei­ne pu,re Nachtwolke, die sich sogleich in Tau auflöste, wäre nur erst die rechte Sonne gekommen" 15 Er freilich ist in den 'Spuren' verschwunden.

Anmerkungen

1 Ernst Bloch, Spuren, Gesamtausgabe Suhr­kamp, S. 190

2 Georg Lukäcs, Zur Ontologie des gesell­schaftlichen Seins. Die Arbeit, Sammlung Luchterhand 92, Neuwied und Darmstadt 1973, S. 5

3 a.a.0., S. 9 4 a.a.0., S. 13 5 Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 192 6 a.a.0., S. 193 7 Lukäcs, Die Arbeit, S. 134 8 vgl. a.a.O., S. 135 9 a.a.0., S. 36

10 a.a.0., S. 120 ff. 11 a.a.0., S. 135 12 a.a.0., S. 84 13 a.a.O., S. 90 14 a.a.0., S. 29 15 a.a.0., S. 47 16 a.a.0., S. 158 17 vgl. Georg Lukäcs, Zur Ontologie des ge­

sellschaftlichen Seins. Hegel, Sammlung · Luchterhand 49

18 Ernst Bloch, Durch die Wüste. Kritische Essays, Berlin 1923, S. 159

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Winfried Thaa

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BLOCHS KATEGORIE DER "UNGLEICHZEITIGKEIT" UND DIE AUFGABEN UNKER RATIONALITÄTSKRITIK HEUTE.

Blochs Denken im allgemeinen und sei­ne politischen Schriften, soweit sie unter der zentralen Kategorie der "Ungleich­zeitigkeit" stehen im besonderen, galten der westdeutschen Linken immer als Ge­genpol zur ökonomistischen und objek­tivistischen Traditionslinie des Marxis­mus. Mit dem bis zur Bedeutungslosig­keit gesunkenen politischen und theo­retischen Gewicht dieser Tradition in den gesellschaftlichen Konflikten der letzten Jahre stieg aber keineswegs, wie zu erwarten gewesen wäre, die Attrakti­vität Blochs. Statt dessen war eine breite Abkehr vom Marxismus und vom gesell­schaftstheoretischen Denken überhaupt zu beobachten. Es fragt sich deshalb, ob Blochs Schriften, die als Durchbrechen der marxistischen Orthodoxie aufgenom­men wurden, nicht gerade darin auf sie bezogen blieben. Die Gegenthese lautet, daß sie Impulse enthalten, die erst nach Überwindung der auch bei Bloch reich­lich vorhandenen Orthodoxie zu entfal­ten sind. Der vorliegende Artikel ver­sucht, die, angesichts der Irrationalismen von Baghwan bis Bahro, zumindest vor­dergründig hochaktuelle Kategorie der Ungleichzeitigkeit daraufhin abzuklop­fen. Kleinere Ausflüge zu Weber und Lukacs, und damit zur Rolle der Ver­nunft in der marxistischen Theorie, schienen mir unvermeidlich.

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Reichtum der Vernunft statt dürrer Ab­straktion

Tatsächlich sieht Bloch während der 20er und 3 Oer Jahre in seinen Schriften keines­wegs einen Gegenentwurf zum orthodo­xen Marxismus seiner Zeit, und das ist: zum ·Stalinismus der KPD. Vielmehr spricht er seinem Denken selbst den Sta­tus einer Ergänzung oder Erweiterung der in den Grundzügen geteilten Gesell­schaftsanalyse und Geschichtsphiloso­phie des Marxismus-Leninismus zu. Poin­tiert formuliert er dieses Verhältnis noch Jahre nach der katastrophalen Niederla­ge der Arbeiterbewegung mit dem be­rühmt gewordenen Satz: " ... Was die Par­tei vor dem Hitlersieg getan hat, war voll­kommen richtig, nur was sie nicht getan hat, das war falsch." 1

Bloch stellt sich dem Nichtverfangen lin­ker Aufklärung in einer gesellschaftlichen und ökonomischen Krise, die, marxisti­schen Lehrbüchern zufolge, doch alle Voraussetzungen mitbrachte, um zurre­volutionären Situation zu werden. Be­reits 1930 wendet er sich gegen den Op­timismus der KPD-Zentrale, die noch zu­versichtlich hofft; die von SA und NSDAP faszinierten Massen gewinnen zu können, sobald die Gewalt der wirtschaft-

liehen Fakten die Phraseologie Hitlers vertrieben haben würde. Bloch erkennt. daß neben dem ökonomischen Wider­spruch, in dem auch Arbeitslose und ver­elendender Mittelstand zum Kapital ste­hen, noch ein zweiter, nicht weniger wirksamer die Menschen treibt, der Wi­derspruch zur Abstraktion und Sach­lichkeit, zur Mechanisierung und Seelen­losigkeit des Kapitalismus. Diesen Wider­spruch nicht aufgegriffen und den Nazis überlassen zu haben, darin sieht Bloch die verhängnisvolle Unterlassung der Linken während der Weimarer Republik. Eine Unterlassung, die dazu führte, " ... , daß auch der Kommunismus noch als Mecha­nei dargestellt werden kann; als Fortsatz der Entpersönlichung und Rationalisie­rung, ja, als bloße Kehrseite der Kapita­lismen. "2

Gerade in Deutschland, das später als Eng­land oder Frankreich kapitalistisch indu­striaJisiert wurde, existieren Reste frühe­rer Lebensformen -etwa imHandwerk,in der bäuerlichen Produktion oder der Kul­tur provinzieller Kleinstädte - ebenso weiter, wie Bewußtseinsinhalte einer tat­sächlich, oder auch nur in ihren Verspre­chungen, besseren Vergangenheit. "Le­ben", "Seele", "Ganzheit", ·"Natur". aber auch "Volk" und "Reich" sind die -höchst aktuell klingenden - "Anti-Me­chanismen, die die Nazi-Propaganda auf­greifen konnte, weil sie von der aufkläre­rischen Linken liegengelassen wurden. "Man hat das Verhältnis der "Irratio" innerhalb der unzulänglichen kapitalisti­schen "Ratio" allzu abstrakt ausgegrenzt. als daß es von Fall zu Fall untersucht worden wäre und der eigene Widerspruch dieses Verhältnisses gegebenenfalls kon­kret besetzt."3

Bloch fordert gegenüber der Ausgren­zung des Irrationalen, wofür er das Schimpfwort "Aufkläricht" benutzt, den gleichzeitigen Widerspruch zwischen Ka­pital und Proletariat, um den ungleich­zeitigen aus "unabgegoltener Vergangen­heit" zu erweitern und so eine "mehr­schichtige revolutionäre Dialektik" zu entwickeln, die es vermag, die Totalität einer Gesellschaft zu erfassen, die über das Kapitalverhältnis hinaus auch Reste und Vorwegnahmen, Erinnertes und Utopisches enthält. Diese Absicht der Erweiterung kennzeichnet nicht nur Blochs Auseinandersetzung mit dem Na­tionalsozialismus, sein Denken insgesamt bemüht sich um einen "Verstand, der kein abstrakt auslassender ist"4

, sondern

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die subversiven und utopischen Momente in Vergangenem, in Träumen und Wün­schen, in Kunst und auch in der Religion hereinnimmt. Unausgesprochene Voraussetzung der Blochschen Erweiterung des Wider­spruchspotentials der kapitalistischen Gesellschaft bildet die Erkenntnis des Auseinanderfällens der Einheit von tech­nokratisch-modernisierendem und huma­nisierend-emanizipativem Fortschritt. Nur weil er sieht, daß sie, die bürgerli­chen Fortschrittglauben und objektivi­stischen Marxismus für 2 Seiten dersel­ben Medaille halten, zumindest partiell auseinandertreten, kann Bloch sich po­sitiv auf vorkapitalistische Lebensfor­men beziehen.

Die Richtschnur bleibt

In dieser Erweiterungsintention nahm die undogmatische Linke Blochs Schriften während der 60er und 70er Jahre auf, und sie verdankt ihnen keineswegs nur Faschismusanalysen, die begreifbar ma­chen, wie der Nationalsozialismus nicht nur Millionen der Großindustrie, son­dern, viel wichtiger, die Köpfe und Her­zen der Menschen gewann. Ohne die An­stöße Blochs wäre darüberhinaus die öff-

ihrer privaten Aneignung bestimmt. Auf die oben technokratisch-modernisierend und humanisierend-emanzipativ genann­ten Seiten des Fortschritts bezogen, heißt das, daß Bloch, jedenfalls dort, wo er sich explizit zum Grundwiderspruch äußert, in der Produktivkraftentwicklung und der gesellschaftlichen Arbeit immer noch beide Seiten synthetisiert sieht und lediglich fordert, zur Verbreiterung auch Widerspruchspotential aus anderen (v.a. zeitlichen) Sph.ären daran zu binden. Wie wenig Bloch tatsächlich eine inhaltliche Priorität des Grundwiderspruches durch­hält, werden wir noch sehen. Festzuhal­ten bleibt aber zunächst das Unterord­nungsverhältnis, für das er unmißver­ständliche Ausdrücke findet, wie "mili­tärisch besetzen", "ummontieren", und "funktionalisieren". Und Bloch hüllt das Proletariat im Vergleich zum Kleinbür­gertum in eine Aura edelster Eigenschaf­ten, als ginge es darum, ungeachtet der niederschmetternden Realität, durch Huldigungen ans überempirische Subjekt der ausgebliebenen Revolution die Hoff­nung auf geschichtlichen Fortschritt zu retten.

Die Kategorien dieser Klassenanalyse mit ihren klappernden Schubladen übernahm

Bloch und Adorno während der Werkbund-Tagu.ng 1965

nung der marxistischen Diskussion zur Alltags- und Lebenswelt kaum möglich gewesen. Allerdings: Bloch erweitert am Rande eines für ihn unverrückbaren Zen­trums. Die Ungleichzeitigkeiten haben sich an dje Richtschnur des gleichzeitigen Widerspruchs zu halten, den er ganz or­thodox als Grundwiderspruch zwischen dem kollektiven Charakter der kapitali­stisch entfalteten Produktivkräfte und

die undogmatische Linke nicht, sie spiel­ten lediglich in den neugegründeten kom­munistischen Parteien eine Rolle, die aber mit Bloch ohnehin nichts am Hut hatten. Dennoch behaupte ich, daß die Neue Linke der 70er Jahre mit der Fas­sung und systematischen Bedeutung des gleichzeitigen Widerspruchs bei Bloch mehr gemeinsam hatte, als. der erste Blick .offenbart. Das Einlassen auf alles,

Vernunftkritik

was in marxistischen Eindeutigkeiten nicht aufging, bedurfte der Vergewisse­rung im historischen Horizont des Wi­derspruchs zwischen Lohnarbeit und Ka­pital. Um es mit einem aus anderem Zu­sammenhang bekannten Bild zu veran­schaulichen: Der Bezug aufs Proletariat und seine Mission bildete das Standbein, die Öffnung zu den darin nicht aufgehen-· den Inhalten das Spielbein der politischen Identität. Daß der Grund dieses Stand­beins im Nebel zurechnender Abstrak­tionen verschwand, beeinträchtigte kei­neswegs sein Stabilisierungsvermögen, sondern ließ es im Gegenteil überhaupt erst zu, ungeachtet der bundesrepublika­schen Verhältnisse, den GlqÜben an Fort­schritt, Revolution und· Sozialismus, kurz, an die marxistische Fortschreibung des Projekts Aufklärung zu e.rhalten. Da­mit aber ist es aus, seit die Kritik der Verstrickung neuzeitlicher Rationalität in Herrschaft und Destruktion nicht mehr nur in der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno, sondern von breiten sozialen Bewegungen praktisch vorgetragen wird. Die Anziehungskraft des Grundwiderspruchsmarxismus auf Intellektuelle verdankte sich nicht zu­letzt der Utopie, das gegenüber der Natur erreichte Maß an Freiheit durch Beherr­schung, sprich: Zweckrealisierung in be­wußt arrangierten, plan-und berechenba­ren Verhältnissen, ließe sich nach Über­windung des Kapitalismus auf die Gesell­schaft übertragen. Der Widerstand gegen die Folgen der wissenschaftlichen und technischen Verfügung über Natur sollten diese Vorstellung endgültig desavouiert haben, der gesellschaftliche Herrschafts­charakter instrumenteller Vernunft hat sich auf dem Umweg über ihre zerstöre­rische Wirkung auf Natur erwiesen. Die beiden erwähnten Seiten des Fortschritts­begriffs treten also nicht nur auseinan­der, sondern technokratisch-modernisti­scher Fortschritt, und das heißt Fort-

. schritt instrumenteller Vernunft, zerstört immer offensichtlicher erhaltenswerte und wird immer unvereinbarer mit wün­schenswerten Lebensformen. Die seit Jahren zu beobachtende Blässe und Unsicherheit der politischen Linken liegt m.E. auch dann begründet, daß sie durch diese Entwicklung die Fluchtpunk­te ihrer Fortschrittsperspektive verior, aus der sie, ganz nach dem Musterzweck­realisierender Arbeit, ihre Handlungskri­terien und Handlungsmotive nahm. So nimmt es nicht wunder, wenn heute ei­nerseits kritikloses Einlassen auf alles, wasirgeridwie "Leben", "Ganzheitliches"

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Winfried Thaa

und "Sinn" verspricht, angesagt ist, an­dererseitswieder selbsternannte Ritter ge­gen den drohenden Irrationalismus zum Angriff blasen, als gäbe es nach wie vor eine unversehrt auf dem Richterstuhl thronende geschichtliche Vernunft. Es dürfte sich deshalb lohnen, in einem klei­nen Umweg darauf einzugehen, wo im westlichen Marxismus historische Ver­nunft, hinter allen Formen kapitalisti­scher Irrationalität, ihren Ort hat. Die Adresse hierfür heißt Lukics. Erst ein kurzes Rekapitulieren seines Rettungs­versuchses macht deutlich, was der mar­xistisch geprägten Linken mit der Erset­zung des Widerspruchs zwischen Arbeit und Kapital durch scheinbar disparate Einzelbewegungen verloren ging. Danach ist auf Bloch zurückzukommen und zu fragen, ob sich bei ihm nicht Ansätze fin­den, die die bloße Zuordnung zum "Gleichzeitigen" sprengen und auf eine eigene, neuartige Konstitution gesell­schaftlicher Gegenmacht verweisen.

Zerstörte Vernunft bei Weber und ihre marxistische Rettung durch Lukacs

Das Bild einer auseinanderfallenden, we­der durch Ethik noch Wissenschaft zu vereinheitlichenden Welt beunruhigt heute nicht zum ersten Mal. Am folgen­reichsten für die Diskussion in Marxis­mus und Kritischer Theorie zeichnete es Max Weber, der in der Entwicklung der Modeme die Selbstzerstörung der Ver­nunft diagnostizierte. Er behauptet, mit der ·Rationalisierung moderner Gesell­schaften sei zwangsläufig verbunden die Aufspaltung universeller, wertrational verankerter Vernunft in lediglich formale Zweckrationalität innerhalb auseinander­gefallener, disparater gesellschaftlicher Teilbereiche. An die Stelle einer einheit­lichen gedachten Welt und der ethisch begründeten Handlungsorientierungen, die sie den Individuen bietet, tritt Ent­zauberung, Sinnverlust, Anpassung an Sachzwänge, kurz: "mechanisierte Ver­steinerung"4.

Vor diesem Hintergrund ist es der Ge­sichtspunkt der Totalität, der den Ver­fasser von "Geschichte und Klassenbe­wußtsein", wie er selber nicht müde wird zu betonen, am Marxismus begeistert. Für Luk3.cs eröffnet dieser Gesichts­punkt sowohl die Perspektive einer theo­retischen Vereinheitlichung der schein­bar disparaten gesellschaftlichen Verhält­nisse wie auch zugleich die ihrer prakti­schen, revolutionären Veränderung. Da-

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mit vollb°ringt er nichts Geringeres als die Rettung der Vernunft in der Geschich­te. Dies wird möglich, indem Lukacs, ge­gen den Objektivismus der II. Interna­tionale, die "Kritik der Politischen Öko­nomie" wieder durch Hegels Entäuße­rungsmodell des Handelns interpretiert. Kurz: Zu der von Weber beschriebenen Rationalisierung fügt Lukacs das Kon­zept der Verdinglichung: Die die Men­schen durch ihre Objektivität beherr­schende und aus allen übergreifenden Sinnbezügen freigesetzte Welt der kapitfl­listischen Industriegesellschaften ist in ih­rer Totalität Resultat einer subjektiven, aber durch die Warenform verkehrten Entäußerung. Subjekt ist das Proletariat, dessen gesellschaftliche Arbeit sich durch ihren Warencharakter verselbstständigt und zu etwas Objektivem, von ihm gänz­lich Unabhängigen wird. Indem das Pro­letariat aber im Klassenbewußtsein die Warenform am eigenen Leib erkennt, durchbricht es seinen Objektstatus, kann das gesellschaftsbildene Vermögen sei­ner Tätigkeit wahrnehmen und ermög­licht so die Auflösung der verdinglichten Verhältnisse. Es rettet die Vernunft im Sinn einer rationalen, Zwecke bewußt setzenden und realisierenden Beherr­schung_von Natur und Gesellschaft.

Zentra1kategorie Arbeit

Der Preis für die Hegelsche Figur des sich selbst als Ware erkennenden Proletariats (die Bloch übrigens übernimmt 5

) liegt be­kanntermaßen hoch: Die Arbeiterklasse gerät zu einem transzendentalen Kollek­tivsubjekt, dessen Bewußtsein ihm nur noch logisch zugeordnet, nicht aber mehr ffiit der Wirklichkeit seiner Arbeits- und Lebensverhältnisse vermittelt werden kann. Diese häufig geäußerte Kritik be­rührt jedoch nicht eine Grundstruktur, die Lukacs mit dem westlichen Marxis­mus insgesamt teilt. Ob Korsch, Sartre 'oder auch Bloch - etwa in seiner Inter­pretation der Feuerbachthesen im 'Prin­zip. Hoffmfng" - sie alle unterscheiden sich vom ökonomistischen Determinis­mus durch ihre Subjekt-Objekt-Dialek­tik, die die Herrschaftsformen kapitali­stischer Industriegesellschaften als ver­selbständigte Handlungsergebnisse eines kollektiven Subjekts - sei es des Proleta­riats oder weitgefaßt der Gattung - be­greift.6 Dadurch gewinnen sie nicht nur die Perspektive theoretischer Totalisie­rung, sondern mit dem Subjekt der Ver­äußerung auch zugleich das der als Wie­deraneignung gedachten revolutionären

Transformation. Der immanente Zusam­menhang von gesellschaftlicher Arbeit und sozialer Befreiung läßt sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn Arbeit in zweifacher Hinsicht als Bildungsprozeß vorausgesetzt wird. Es genügt nicht, daß in der Sphäre gesellschaftlicher Arbeit die Produktivkräfte entstehen, die, im Sinn · einer äußeren Bedingung, erst die Ab- „

schaffung von Ausbeutung und Herr­schaft ermöglichen sollen. Zum einen im­pliziert die im Subjekt-Objekt-Schema: gedachte Figur der Wiederaneignung die Vorstellung, Fortschritt sei in der von· ihrer kapitalistischen Form befreiten Ge-· brauchswertproduktivität gesellschaftli­cher Arbeit begründet. In der Naturan­eignung, und nicht etwa in den Bereichen der politischen Öffentlichkeit oder der Ästhetik, entfaltet sich demnach, in wie verkehrter Form auch immer, die freizu­setzende geschichtliche Vernunft. In ei­nem zweiten Sinn Bildungsprozeß ist ge­sellschaftliche Arbeit, indem sie ein Kol­lektivsubjekt hervorbringt und es, jeden­falls grundsätzlich, zur sozialen Emanzi­pation befähigt. Der Prozeß der Bewußt­werdung dieses revolutionären Subjekts kann gegenüber dem idealisierenden Klassenbegriff von Lukacs dann durchaus offen gelassen werden, gesellschaftliche Arbeit bleibt dennoch der gesellschafts­analytische und emanzipationstheoreti­sche Schlüsselbegriff. Nun wüßte ich allerdings nicht, wie für kapitalistische Gesellschaften die konsti­tutive Rolle versachlichter Arbeit plausi­bel zu bestreiten wäre. Ob sie ausgehend von der Wertabstraktion, dem Begriff "instrumenteller Vernunft" oder "tech­nologischen apriori" am präzisesten zu fassen ist, sei dahingestellt. Man braucht aber nicht, wie Horkheimer und Adorno in der "Dialektik der Aufklärung'',in Ar­beit nur noch verfügende Objektivierung und deshalb die seit den historischen An­fängen sich durchziehende Urform von Herrschaft zu sehen, um erkennen zu können, daß die gesellschaftliche Arbeit entwickelter Industriegesellschaften nicht der Ort sein kann, an dem sich ge­schichtliche Vernunft und ihr Träger. das Subjekt sozialer Befreiung, herausbilden. Und zwar nicht so sehr, weil eine revolu­tionäre Arbeiterklasse nirgendwo in Er­scheinung tritt. Dies könnte schließlich anallerleihistorischen Besonderheiten lie­gen. Vielmehr wurde Arbeit, auch wenn sie es nicht immer war, im Laufe der ka­pitalistischen Entwicklung soweit zum bs bloßen Vollzug von Sachzwängen for­miert, daß in ihr tatsächlich die Herr-

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schaftslogik instrumenteller Vernunft das vergesellschaftende Prinzip darstellt. Es entsteht deshalb ein funktionaler ge­sellschaftlicher Arbeitskörper, keines­wegs ein kollektives Subjekt, das in der Lage wäre, sich selbst herrschaftsfrei zu organisieren und in der weiteren ge­schichttlichen Entwicklung praktische Vernunft zu verwirklichen.

Blochs offene Vielfalt im Positiven

Die Reflexion auf den Zusammenhang von Arbeit und Vernunft im westlichen Marxismus macht deutlich, daß es nach

ungleichzeitiger Art rebelliert. „ ( Hvbg. v. Bloch)7

Richtig verstanden verläßt Bloch hier den Boden einer durch die Kategorie ge­sellschaftlicher Arbeit bestimmten Revo­lutionstheorie. Denn die Aussage, derzu­folge die Negativität des entäußerten Menschen, der entäußerten Arbeit ihr dialektisch Positives nur als Vermissung in sich trägt, enthält ja zugleich die Aus­sage, daß es von anderswoher, hier aus Utopie und Erinnerung, überhaupt erst zu entwickeln ist. Und zwar inhaltlich.

Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der Lustand ist elend oder niederträchtig. Der Weg heraus krumm. Kein Zweifel. Aber. Sein Ende wird nicht bürgerlich sein.

dem leicht auszUsprechenden Abschied Das geht nicht zusammen mit den ·For- · vom Proletariat nicht etwa damit geta:n mulierungen vom Besetzen und Nutzbar-sein kann, einen neuen sozialen Träger machen, lind auch von Erweiterung kann des Fortschritts zu finden sondern viel nicht die Rede sein, wenn das zu Erwei-grundsätzlicher, Vernunft 'selbst ne~ ge-· ternde nur als Vermissung existiert. Ver-·dacht werden muß. Und hierbei lohnt es nunft, der revolutionär zum Durch-· sich, .auf Bloch zurückzukommen. bruch zu verhelfen wäre, liegt also nicht Zwischen all den Vergewisserungen · d-es mehr fertig vor, weder in der Vergesell-revolu tionären Fixsterns Proletariat fin- schaftung der Fabrik, noch in der Ge-det sich in Blochs "Erbschaft dieser Zeit" brauchswertproduktivität der Arbeit. ein Abschnitt, der direkt hierauf bezo- Das Zitat läßt sich als Aufforderung le-gen se.in könnte, und es deshalb verdient, sen, auf Entdeckungsreise zu gehen, um ausführlich zitiert zu werden. "Die Ma- mit offenem Blick die ganze Breite der terie der gleichzeitigen Widersprüche ist gegen den Mechanismus kapitalistischer ja nicht nur die der sehr vorhandenen, Rationalität gewandten Kräfte wahrzu-nämlich entfesselten Produktivkräfte, nehmen. Und es läßt sich, gegen Bloch sondern ebenso nur die äußerste, 'daher' selbst, schließen, daß den verschieden-zum Umschlag treibende Negativität des sten Ansprüchen, wie sie aus Erfahrungen heutigen Zustands: der entäußerte oder auch nur dem Vorschein von pfleg-Mensch oder Proletarier, die entäußerte licher Naturaneignung, gelungener Kom-Arbeit oder der Fetisch der Ware, die munikation, sinnvoller Arbeit, befriedi-Haltlosigkeit des Nichts. Diese Negatlvi- gender Tätigkeit oder ästhetischer Ex-täten haben zwar ihr dialektisch Positi- pression stammen, keineswegs mehr ein ves in sich, sogar das höchste, jedoch zweitrangiger Statu·s zukommt. Es fehlt freilich innerhalb des gleichzeitigen Wi- nämlich die richtende Autorität, vor der derspruchs und seiner Materie nur als re- sie sich zu verantworten hätten, sie sind bellische Vermissung: nämlich des gan- sozusagen mündig geworden. Von heute zen Menschen, der entäußerten Arbeit, aus läßt sich hinzufügen, daß die Produk-des Paradieses auf Erden. Kurz, im Auf- tionssphäre nicht nur ihren Maßstabs-ruhr der proletarisch-en und verdinglich- charakter verloren hat, sondern mit der ten Negaiivität ist letztlich zugleich die in ihr vorherrschenden instrumentellen Materie eines Widerspruchs, der aus ganz Vernunft geradezu den Gegenpol abgibt und gar nicht entfesselten 'Produktiv- für die verschiedenen sozialen Bewegun-kräften', Intentionsinhalten immer noch gen. Vernunft hat also nicht meh~ ihren

Vernunftkritik

sicheren Ort in der vergesellschafteten Produktion. Sie muß vielmehr gegen de­ren Imperative überhaupt erst entwickelt werden, und zwar.von gesellschaftlichen Bereichen aus, deren Ratio nicht ebenso heillos in Instrumentalität verstrickt. ist.

Eine derartige Entwicklung fand in den Bewegungen der letzten Jahre tatsächlich statt. Die offene Frage ist nun die nach dem Verhältnis dieser Ansprüche, ihrer Bewußtseins- und Organisationsformen untereinander und damit auch die nach der Möglichkeit ihrer Kritik. Die Angst vorm Irrationalismus ist nicht unbegrün­det, rechtfertigt aber nicht, auf das Kon­strukt einer historischen Vernunft zu­rückzugreifen, das sich längst als Herr­schaft gezeigt hat. Warum nicht, statt auf sie zu pochen, Kritik als Dialog entwik­keln? Gerade ohne einen sicheren Maß­stab in der Geschichte kann Vernunft doch als Selbstreflexion und als Möglich­keit argumentierender Verständigung entfaltet werden. Die politische Praxis ist davon allerdings weit entfernt. Seit die gesellschaftliche Opposition in der Bun­desrepublik nicht mehr von zentralisie­renden Bewegungen - wie der Anti­AKW- oder Friedensbewegung - und ihren vereinheitlichenden Zielen zusam­mengehalten wird, fällt sie zunehmend in verschiedene politische Lager ausein­ander, ohne daß bislang Verkehrsformen entstanden wären, die inhaltliche Ausein­andersetzungen ermöglichen, ohne das Spektrum der gesellschaftlichen Gegen­kräfte abzuschneiden und zu zersplittern. Daß ein "wilder Tanz" des "Alles geht", von dem mancher poststrukturalistische Vernunftkritiker träumt, keinen Ausweg bietet, dafür sorgt schon das Kapital, des­sen Akkumulationsprozeß ein gesell­schaftliches Allgemeines setzt, dem so nicht zu entrinnen ist. Gegen die Impera­tive seines industrialistischen Zivilisa­tionsmodells gilt es einen Diskurs zu ent­falten, der eigene Ziel- und Wertvorstel­lungen, damit auch eine neue gesell­schaftliche Vernunft hervorbringt.

Anmerkungen:

1 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, (Vorwort zur Ausgabe 1935), Ffm 1962, S. 19

2 Ebd., s. 67f. 3 Ebd., S. 16 4 Vgl.: Max Weber, Die protestantische

Ethik 1, Tübingen 1972, S. 189 5 Vgl. etwa: Erbschaft, a.a.0., S. 119 6 Vgl. dazu auch: A. Honneth, Arbeit und

instrumentales Handeln, in: Honneth/ Jaeggi (Hg), Arbeit, Handlung, Normativi­tät, Ffm 1980

7 Erbschaft, a.a.0., S. 120f.

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Gerard Raulet

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1 Gerard Raulet lehrt Philosphiegeschichte an der Universität Paris - Sorbonne. Er hat sich um die Rezeption des literarisch-philosophischen Werks von Bloch in Frankreich bemüht und gilt dort als einer der bedeutenden Wegbereiter für die Auseinanderset­zung mit Bloch. Wir befragten G. Raulet über die Wirkungsgeschichte der Bloch'schen Philosophie in.Frankreich. In jüngster Zeit hat er sich kritisch mit den Theoretikern der "Postmoderne" (Lyotard, Bell, Baudrillard) befasst. Wie auch sein Tübinger Vor­trag "Postmoderne und konkrete Utopie" zeigt, hält er eine "postmoderne" Lektüre von Bloch - durchaus aber in einem anderen Sinne - für notwendig. Auch dazu stell­ten wir ihm einige Fragen.

FRAGE: Herr Raulet, Sie waren einer derjenigen, der sich um die Rezeption Blochs in Frankreich bemüht hat. Kann man angesichts der Tatsache, daß Bloch's Werke lange Zeit in Frankreich nicht zu­gänglich waren und erst relativ spät über­setzt wurden, davon sprechen, daß es Wirkungen und Einflüsse des Blochschen Denkens auf die Diskussion innerhalb der französischen Linken zu der Zeit gab?

RAULET: Wenn man von "Thomas Münzer" absieht, das schon 1964 von

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Maurice de Gandillac übersetzt wurde, oder von den "Spuren", die 1968(!) in französischer Übersetzung erschienen, begann man erst um die Mitte der 70er Jahre Bloch dem französischen Leser zu-

gänglich zu machen; der Verlag Galli­mard hätte, so viel ich weiß, viel früher dazu beitragen können, aber der Impuls kam von der neuen Reihe "Critique de la politique" des Payot-Verlags: die er­ste Veröffentlichung in dieser Reihe ist Habermas' "Theorie und Praxis" gewesen, das ich damals übersetzt ui:id eingeleitet

habe. Die Lage schien mir dann günstig, um 1974-75 - zum 90. Geburtstag von Ernst Bloch - aus der Nicht-Rezeption herauszukommen und französische Phi­losophen aus verschiedenen Horizonten zu einem Gespräch mit Bloch zu bewe­gen; ich würde mich freuen, wenn wir im Laufe unserer Unterhaltung die Gele­genheit hätten, an die Bedingungen der Entstehurig dieses e!sten größeren Bei-i[Mi_~r -~!p}illl!}!Bgi~J~Ii~~~h-~ffii~ l()SOph!e in Frank.reich kurz zu erinnern. Eines möchte ich doch gleich andeuten: Parteimarxisten für dieses Unternehmen zu gewinnen, schien damals so gut wie

· unmöglich; in akademischen Kreisen war die Neo-Orthodoxie des Al thusseris­mus noch mächtig - unter Althussers Epigonen habenja nach Mai 1968 einige seine Arbeit in den Dienst einer akademi­schen Restauration des Marxismus ge­stellt -, obwohl gerade die neugegrün­dete Reihe auf der anderen Seite ein gei­stiges Bedürfnis zum Ausdruck brachte. Was ich damals nicht eingesehen habe, ist der Umstand, daß diese E,rweiterung der intellektuellen-Interessen· bereits ei­r}er- "J51~"(luaüfi.Zforung des historischen Materiallsmus" entsprach, die sich in den nächsten Jahren auch als Resistenz gegenüber dem Blochschen Denken äu­ßerte (1982 galt mein Bloch-Buch über "Humanisation de la nature, naturalisa­tion de l'homme '' als Rückzugsgefecht

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des Marxismus und mußte deshalb in ei­nem anderen Verlag erscheinen). Zurück zur Frage: daß die ''Spuren" 1968 erschienen, ist reiner Zufall; man hätte gleichsam die Geschichte bereits „benjaminisch" auffassen sollen, um die Erbschaft der 20er Jahre antreten zu können; dies ist, meines Erachtens, erst heute der Fall - und darauf beruht mei­ne gar nicht so "alt-marxistische" Lektü­re des Blochschen Denkens. Daß „Thomas Münzer" hingegen schon 1964 erschien, ist weniger Zufall; ein In­teresse für die marxistische Deutung des Bauernkriegs war zweifelsohne bei Spe­zialisten vorhanden, ist aber nicht ent­scheidend. Rückblickend kann man hin­gegen annehmen, daß diese erste Über­setzung in den linken christlichen Krei­sen nicht übersehen wurde. Auflhre Fra­ge wollte ich spontan antworten: vor 1975 hat es weder eine politische noch eine philosophische Rezeption Blochs gegeben. Damit hä te ich aber die einzi­ge, äußerst wichtige Wirkung Blochs ver­gessen, die es damals unterirdisch gab: die theologische!

1971 erschien in der christlichen Zeitung "Lettre" die erste eingehende Bloch­Darstellung. Der Kreis dieser Zeitschrift stellte in der christlichen Bewegung die radikale Linke dar; seine Interessen wa­ren zunächst eher praktisch als theore­tisch; aber sowohl Metz wie auch Molt­mann, die Theologien der Weltlichkeit und Hoffnung, wurden neben den Über­legungen zur "Säkularisierung" (Gogar­ten , Tillich, Cox, Robinson ... ) rezipiert und diskutiert - und zwar immer von einem praktischen Standpunkt aus, der jeweils die Mängel anzettelte. Laennec Hurbons Bloch-Interpretation zeigt 1971, daß auch Bloch auf die Praxis hin befragt wird. Schon 1966-6 7 hat es allerdings, wenn ich mich auf die Erinnerungen von invol­vierten Freunden stützte, ökumenische Arbeitskreise gegeben, die sich um die ACU (Association Catholique Universi­taire) mit Bloch beschäftigt haben; in ih­nen wurde die Theologie der Befreiung, bzw. der Politik, oder gar der Revolu­tion zum Ausdruck eines christlichen politischen Engagements.

FRAGE: Sie haben 1977 in einem Arti­kel in dem Buch "Denken heißt Über- . schreiten" einmal die Vermutung geäu­ßert, daß es im geistigen Leben Frank­reichs gegenüber dem Versuch, Marxis­mus und Philosophie zu vermitteln, so etwas wie ein "absichtsvolles Schweigen"

oder eine "selbstgefällige Blindheit" gab. Sie haben dabei von der Beharrlichkeit alter aporetischer Auseinandersetzungen - Existentialismus, Dominanz der Marx­Interpretation von Althusser - gespro­chen. Ist es denkbar, hier einen Zusammenhang herzustellen - also zwischen der späten Bloch-Rezeption und dieser spezifischen Konstellation des geistigen Lebens in Frankreich?

RA ULET: Man soll sich da die großen Tendenzen der französischen Philoso­phie der Nachkriegszeit vergegenwärti-

{

gen. Ich habe tatsächlich von der selbst­gefälligen Blindheit eines geistigen Le­bens, das sich von seiner eigenen Logik einsperren ließ, gesprochen. Das absicht-liche Schweigen war auf die Kommuni­stische Partei gemünzt. Aber das Pro­blem soll weniger polemisch formuliert werden: wenn man nach den Gründen einer Nicht-Reze tion sucht, soll man sich fragen, was eine bestimmte Zeit mit bestimmten ideologischen Interessen ge­gen ein bestimmtes Denken resistent ge­macht hat - "sich der kritischen Kon­stellation bewußt werden, in der gerade dieses Werk mit gerade dieser Gegenwart sich befindet" (Benjamin). Politisch ge­sehen kann der französische Ma-rxismus ohne Rücksicht auf die historische Rolle einer starken kommunistischen Partei nicht verstanden werden. Ideologisch ge-. sehen verhinderte dies keineswegs eine lebhafte Debatte zwischen Existenzialis­mus und Marxismus, die in der unmittel­baren Nachkriegszeit bereits in vollem Gange war und, wie ich es noch kurz zei­gen will, das Phänomen der Partei in den Vordergrund stellte. Wenn man mit Län­dern des Ostblocks vergleicht - etwa . Jugosl1wien, wo die Beschäftigung mit dem Existentialismus um 1960 als eine Überwindung des dogmatischen Partei­marxismus empfunden wurde -, so ge­schah hier dann genau das Gegenteil: Althussers methodische Marx-Lektüre setzte ab 1965 einer Debatte, die sich in Aporien erschöpfte, ein Ende und be­gründete eine neue "Bibelfestigkeit", die die Intellektuellen· befriedigte. Daß die Al thussersche theoretische Linie, deren Kohärenz uns alle ein paar Jahre lang überwältigt hat, der Rezeption der Bloch­schen Philosophie oder der Kritischen Theorie im Wege stand, unterliegt kei­nem Zweifel, zumal da nach 1968 diese Erneuerung der marxistischen Philologie einer intellektuellen und vor allem aka­demischen "Restauration" gedient hat. Zu der· ersten Phase, den Jahren 1945-

Bloch und Postmoderne

A~-~tr 65, läßt sich in groben Umrissen folgen­des sagen: Merleau-Ponty fragte unver­wandt nach dem Sinn der Geschichte - ) erst heute wird uns klar, wie weit er da­bei ging; seine Fragen sind diejenigen, die ich in meinen letzten Texten an Bloch selber richte. Es besteht, sagt Mer­leau-Ponty, die Möglichkeit, daß sjch die

Geschichte in eine kontingente Abfolge von "Akzidenzien" auflösen könnte; es gibt in ihr keine Notwendigkeit, sondern vielmehr eine grundsätzliche Äquivozität II des menschlichen Handelns; in diesem Licht untersucht Merleau-Ponty in "Hu­·rnanismus und Terror" die Verantwor-tung der Opfer Stalins und Stalins selber. Die Handlungen am Maßstab des Prole­tariats zu messen, lasse nur um so kras­ser den Umstand hervortreten, daß die proletarische Klasse heutzutage nicht mehr imstande zu sein scheint, jegliche Entscheidung zu treffen. Dies ist im großen und ganzen auch Sartres Aus­gangspunkt - ich muß hier Gedanken­gänge, die ich in meiner Habilitations­schrift und anderen Publikationen aus- ' führlich darstellte, karikieren: während bei Merleau-Ponty die Partei selber der 'f...

Äquivozität unterliegt, wird sie bei Sar- J<..

~dadurch legitimiert: -ihre Aufgabebe- ' steht darin, das Unentscheidbare zu ent­scheiden; in den "Abenteuern der Dia­lektik" wird Merleau-Ponty deshalb Sartres Parteiauffassung als "reine Tat" und "liberte engagee" (engagierte Fr~i­heit) kritisieren. Sie erinnert an Sartres frühe Abhandlung aus dem Jahre 1946: "Der Existentialismus ist ein Humanis­mus". Damit wollte ich nur andeuten, -~ wie vordergründig das Phänomen der Par-tei in der französischen Diskussion gewe­sen ist. Entscheidender ist freilich der Umstand, daß gleichzeitig die Notwen­digkeit des "proletarischen Humanis­mus" (Merleau-Ponty) und des Existen­tialismus (vgl. die "Kritik der dialekti­schen Vernunft" von Sartre) auf die Mängel des Marxismus zurückgeführt wird. Um diesen Mängeln abzuhelfen, ~ ' endet1Merleau-Pontys Versuch, die Ge­schichte als eine verite a faire zu begrei­fen, in einer an Husserl geschyJ.ten Trans­zendentalontologie, während1!iartre eine existentialistische Philosophie der Praxis entwickelt, in der das Transzendieren zum Grundzug des menschlichen Existie­rens wird. Um solchen "Lösungen" zu entgehen, soll man methodisch nach­konstruieren, wie Ioc einen "konkre­ten Humanismus" eben methodisch be­gründet. In "Humanisation de la nature, naturalisation de l'homme" (1982) habe

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Gerard Raulet

42"!-Z~dmß<f ich nachzuweisen versucht, daß es dabei

II um das Erbe an der Feuerbachsehen Re­ligionskritik geht, also um Marx' doppel­te Überwindung von Feuerbach und He­gel, die erst vom "Spätwerk" zu Ende ge-führt wird: im Nachwort zur zweiten deutschen Auflage des "Kapital" ver­weist Marx 1873 auf die "Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphiloso-phie". Deshalb kann die Inte~ration c!_es Humanismus erst durch die "Umstül­pung" vollzogen werden; dadurch wird er selber "umgestülpt": es gibt kein menschliches "Wesen" mehr, dieses kon­stituiert sich erst in der Praxis, was eine existentialistische Anthropologie aus-schließt (und hier möchte ich gegen Deu­tungen protestieren, die immer wieder versuchen, Bloch dem Existentialismus anzunäheren.) Dieser Gedankengang läßt sich auf die Re­ligion ausdehnen; Humanismus und Re­ligionskritik hängen nicht nur bei Feuer­bach, sondern eben deshalb auch in Marx' Überwindung von Feuerbach aufs engste zusammen. Der Status des Humanismus nach der "Umstülpung" gilt deshalb auch für religiöse Ideologien, die nicht nur als "Opium des Volkes" entlarvt, sondern auch als historisch wirksam (so Marx 1843) erkannt werden. Wenn man nun in diesem Sinn Blochs "Humanismus" und "Religiosität" me­thodisch im Lichte von Marx' Überwin­dung der--peuerbacilSchenReliglonskfi-

, tik und des sich aus ihr ergebenden ab- · strakten Humanismus behandelt, leuch-

. tet sofort ein, daß Garaudys Beitrag zur französischen Debatte, nämlich im Na­men eines marxistischen Humanismus zwischen Marxismus und Christentum iu vermitteln, insofern fehlgriff, als der gewünschte "Dialog" auf der falschen Annahme beruhte, daß die Protagoni­sten "gleichberechtigt" waren . Wenn man sich damals mit Bloch beschäftigt hätte, hätte er im Zentrum dieser Debat­te zwischen Existentialismus, Christen­tum und Marxismus gestanden. Vielleicht wäre man aber nicht imstande gewesen, die Methode zu erfassen, die diese Aporien überwindet. Ich bin als Franzose flieht sicher, daß ich sie ohne Althusser erfaßt hätte, und ganz unbe­scheiden möchte ich die Meinung äus­sern, daß die deutschen Bloch-Interpre-

t tationen meistens unmethodisch verfah-1 '

ren, wo es doch um nichts anderes geht, als um unsere Fähigkeit, die dialektische Methode auf konkret-praktische, nicht nur philosophische Probleme anzuwen-

. den.

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Was Bloch (und mich) von Althusser grundsätzlich trennt, läßt sich nun auch in wenigen Worten zum Ausdruck brin­gen: die scharfe Trennung zwischen ! d ~e Ji nd ~issenschaft ist weder theoret1sc n p h haltbar. Wenn es in der allmählichen Konstituie ­rung von Marx' dialektischer Methode von Anfang an um das Schicksal der Re­ligion und des Humanismus geht , wenn das "Kommunistische Manifest" sich derart auf die damaligen Ideologien als die "Wirklichkeit" einläßt, greifen die "epistemologischen" Unterscheidungen zwischen theoretischer Ideologie, prakti­scher Ideologie, Wissenschaft und Philo-

0 sophie fehl. Blochs "Methode" - und

)

gerade das soll man zeigen -konsütuiert sich, wie Marx' Methode selber, indem sie sich mit theoretischen und prakti­schen Ideologien auseinandersetzt: der 'Inhalt' ist von der 'Form' nicht zu tren­nen .

FRAGE: Gab es in den 70er Jahren in Frankreich - während der verstärkt ein­setzenden Blochrezeption - Impulse aus der Bloch'schen Philosophie, die die Dis­kussionen (politisch, kulturell, philoso­phisch . .. ) bereichert haben?

RA ULET: Die 70er Jahre als die Zeit ei­nes bedeutenden Anwachsens der fran­zösischen Bloch-Rezeption zu bezeich­nen, wäre wiederum falsch. Als er 1969 von Maurice de Gandillac, Lucien Gold­mann und Jean Piaget zu einer Tagung in Cerisy eingeladen wurde, war Bloch in Frankreich völlig unbekannt; dasselbe gilt, glaube ich, noch vom Jahre 1968,

als er im Pariser Goethe-Institut über sei­nen "Atheismus im Christentum" vor­trug - es war am 19. April, also wenige Tage vor dem Ausbruch der Mai-Revolte -, wobei wie gesagt die Christen, von denen wir gesprochen haben , eine Aus­nahme gebildet haben. Nur wenige Phi­losophen hatten überhaupt von ihm ge­hört, als im März 1975 die Universität Paris I ihm die Ehrendoktorwürde ver­lieh. Die Übersetzung wichtiger Werke ("Das Prinzip Hoffnung", I. Teil, "Na­turrecht und menschliche Würde", "Geist der Utopie", "Subjekt-Objekt'', "Erb­schaft dieser Zeit", "Atheismus im Chri­stentum", "Experimentum mundi") hat diese Lage nur in sehr bescheidenem Ma­ße geändert. Daß Impulse aus der Bloch­schen Philosophie die philosophischen und kulturellen Debatten bereichert hät­ten, davon kann überhaupt keine Rede sein - von den politischen Debatten gar nicht zu sprechen, obwohl gerade auf diesem Gebiet, im Zusammenhang der ökologischen Kritik des Wachstums, ein Echo denkbar gewesen wäre . Nur in en­gen Kreisen wurde Bloch ab und zu dis­kutiert (ein paar Mal z.B. in Arbeitsgrup­pen der Zeitschrift "Esprit"). 1973 hat­te ich begonnen , Beiträge zur Festschrift "Utopie-Marxisme selon Ernst Bloch" anzuregen; ich hatte das Unternehmen nicht bloß als Festschrift konzipiert, son­dern vielmehr als Auslöser einer Ausein­andersetzung mit Blochs Philosphie, die sich in den folgenden Jahren dank den Übersetzungen hätte entfalten sollen. Da es bei uns keine "Bloch-Spezialisten" gab, habe ich fran~ösische Philosophen

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überzeugt, von ihrer Denkposition aus Stellung ZU verschiedenen Aspekten des Blochschen Denkens zu nehmen: Emma­nuel Levinas behandelte das Problem des Todes, Jean-Francois Lyotard skiz­zierte eine "polytheistische" Interpreta­tion der Spuren, die er später in seinen "Instructions paiennes" wiederaufnahm und die (wie Louis Marin in seinem Bei­trag es z.T. auch tat) den Akzent auf den Augenblick, den ''Kairos", setzte. Wenn ich Lyotards und Marins Aufsätze erwähne, dann weil sie bereits Zeichen dafür waren, daß die Verabschiedung der Geschichtsphilosophie das französi­sche Denken eher schon von Bloch ent­fernte - es sei denn, daß man heute, wie ich es versuche, angesichts einer histori­schen Tendenz, die tatsächlich unauf­findbar geworden ist, Bloch "anders" liest, ich meine mit neuen Akzenten, oh-

X ne dabei die Blochsche Methode preiszu­geben. Blochs Methode herauszuarbei­ten, ist · a seit 10 Jahren, in meiner Habi­litationsschrift wie in verschiedenen Publikationen, mein Ziel gewesen, und schon die-Festschrift war gleichsam "me­thodisch" konstruiert, insofern als deren Struktur den verschiedenen Diskussions-

! beiträgen ihr~n systematischen Ort in • der Gesamtheit des Blochschen Denkens

wies. Will man nun die geistige Entwicklung der 70er und 80er Jahre überblicken, so muß man, glaube ich, auf zwei ideologi­sche Tendenzen hinweisen . Auf der ei­nen Seite ist diese Zeit - bei allem gleichzeitigen Heranreifen einer regie­rungsfähigen politischen Linken - die der Abkehr vom Historischen Materialis­mus gewesen; mein Buch "Humanisie-

C> rung der Natur, Naturalisierung des Men­schen" (1982) schwamm gegen den Strom, obwohl es•zum einen Blochs Phi­losophie als methodische Erneuerung des Historischen Materialismus darstellte und 'zum anderen die bedenklichen Fol­gen des Vergessens des Dialektischen Ma­terialismus, der Natur, in der linken Theorie und Praxis monierte. Auf ·der _ anderen Seite gab es theoretisch und praktisch ein anhaltendes Interesse -für Utopie, das sich von der Blochsch~n Phi­losophie hätte nähren können, aber sie auch - wie ich kurz zeigen möchte - in­fragestellen mußte, wenn man sie aktiv zu rezipieren versuchte. Ich gehe zunächst auf die erste Tendenz ein. Jetle Geschichtsphilosophie in prak­tischer Absicht - also auch Blochs "konkrete Utopie" - erschien sehr früh in den 70er Jahren als die Selbsttäu-

schung einer überholten Aufklärung. Der Strukturalismus hatte den Weg vor­bereitet. Bei einem Foucault verschwin­det zwar nicht die kritische Praxis, de­ren "Mikrologie" bricht aber mit dem Raum einer langfristig aufgefaßten prak-

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tischen Geschichte. Noch entscheiden­der ist die kritische Auflösung des Ver­nunftsbegrif~s. - also ~uch die Absage an. dessen Realisierung m der Geschichte. Man darf diese Tendenz pauschal als den gemeinsamen Nenner verschiedenster theoretischer Ansätze betrachten: der

.Michel Foucault und Peter Brückner

Ausdruck "Auflösung des Vernunftsbe ­griffs" läßt sich sowohl auf Derrida als auch auf Lacan oder Foucault anwen­den. Parallel dazu wird die Vernunft von der ' ~Begierde" ersetzt (Deleuze/Guatta­ri, Lyotard, aber auch "Neue Philoso­phen" wie Glucksmann in "La cuisiniere et la mangeur d'hommes"), zirkulieren­de "Intensitäten" ersetzen u .a. in Lyo­tards "Economie libidinale" die ökono­misch bestimmten Gesellschaftsforma­tionen des Historischen Materialismus. Was man Vernunft genannt hatte, sei im . Grunde pur die idealisierte Zwangsvor­stellung eines Willens zum Wissen, richti­_ger noch: einer bloßen Begierde, "Wahr­jleitsbegierde". Die vernünftige Weltdeu­tung und die Rede von einer Verwirkli­chung der Vernunft in der Weltgeschich­te sei nur eine Fabel gewesen - der Lo­gos nur Mythos; davon ausgehend ent­wickeln sich die Rehabilitierung des Po­lytheismus, das Bekenntnis zum "Poly­theismus der Werte" und zum "Kairos" - zur Beliebigkeit der jeweiligen "Gele-

Bloch und Postmoderne

genheit" -, aber auch (bei den "Neuen Philosophen" wie in der Theologie) eine "Neo-Metaphysik" (Bernard-Henri Levy), in der Gott wieder der Ganz-An­dere wird (Maurice Clavel: "Dieu est Dieu, nom de Dieu!, 1976, Rene Girard, "Des choses cachees depuis la fondation du monde", 1978, Bernard-Heri Uvy, "Le Testament de Dieu", 1979 . . . ) -bis zur Anerkennung einer Radikalität · des Bösen, an der die Ansprüche der sä­kularisierten Theodizee der Vernunft in der Geschichte scheitern. Ein Leitmotiv zieht sich durch die geistige E~t~lung 'der 70er un Ö Oer Jä re inaurcfi: die .- ~~ . -Gleichsetzung von Vernunft und Herr-schaft"; für iuf~lge tritt an~ dle Stelle der Ökonomischen Kritik an der kapitalisti­schen Irrationalität eine "Kritik der · Herrschaft". Und gerade da, wo man sich etwas um Bloch gekümmert hatte (in der Zeitschrift "Esprit" und in der Reihe .. . "Critique de la politique" (!) des Payot-Verlags), wird diese Linie ver­treten. Die gleichzeitige Bemühung um eine neue politische Ku.ltur, die Bemühung "neue Projekte geschichtlich zu aktivie­ren" ("Esprit", Mai 1978), mußte des­halb den Anschluß ah Blochs Anregun­gen verpassen; das Interesse für utopische Ansätze ließ sich nicht mehr ohne wei­teres mit der Problematik der histori­schen Emanzipation verbinden. Nicht nur Bloch, sondern auch Marcuse waren ZU Antediluvianern geworden. Daß aller­dings die "konkrete Utopie" mit der konkreten gesellschaftlichen Situation konfrontiert werden mußte, läßt sich nicht leugnen: dies ist der Anlaß der "Convocation en utopie" - einer inter­disziplinären Tagung, die ich 1978 mit Pierre Furter veranstaltet habe und die 1979 unter dem Titel "Strategies de l'utopie" erschien. Der Plural "Strate­gien" weist unzweideutig darauf hin, daß die praktische Geschichtsphilosphie es mit einer, wenn man will, "polythei­stischen" Vervielfältigung der Erfahrun­gen und Widersprüche aufzunehmen hat­te. Die utopischen Praktiken reflektie­rend und den Diskurs der "konkreten Utopie" an ihnen messend, haben wir sozusagen damals festgestellt, daß wir in die Postmoderne eingetreten waren -noch bevor das Wort bei uns modisch wurde (Lyotards Buch "La condition post-moderne" erschien erst ein paar

· Wochen später). FRAGE: Mit der Entscheidu-ng, die ge­genwärtige Situation als "Postmoderne" zu diagnostizieren, entsteht gleichzeitig

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Gerard Raulet

das Problem, wie dabei die Postmoderne nicht mit legitimiert wird - also wie kann der Haltung entgangen werden, sich im Zerfall des gesellschaftlichen/kul­turellen Zusammenhanges, dem Verlust eines einheitlichen Sinns einzurichten und nicht mehr nach einer Veränderung zu suchen? ·

RA ULET: Die gegenwärtige Lage als "postmodern" zu bezeichnen, ist sicher keine "Entscheidung", sondern höch­stens ein "Vorurteil", aber im hermeneu­tischen, heuristischen Sinne des Wortes; was wir allerdings zu "entscheiden" ha­ben, ist, ob wir mit der Geschichte Blin­dekuh spielen wollen, anders gesagt: konkrete Utopie ist mit Vogelstraußpo­litik unvereinbar. Utopie hat sicher "ei­nen Fahrplan": der ist aber nicht schwarz auf weiß an allen Wänden zu lesen; ist vielleicht "um die Ecke", um ein ande­res Blochsches Bild anzuführen, aber ei­ne Gesellschaft hat viele Ecken, wie das Haus der Geschichte viele Treppen und Räume - Sphären wie Schichten haben alle ihre Zeitlichkeit und verhalten sich "ungleichzeitig" zueinander und zur "In­variante der Richtung'', die sie bis zur Unkenntlichkeit variieren, bzw. "allego­risieren" (dies ist für mich ein Schlüssel­begriff, auf den ich noch zurückkom­men werde). Daß das "stärkste Glied", um welches sich dynamische Widersprü­che einer Veränderung zentriert hätten, nicht mehr lokalisierbar ist, hat u .a. Marcuses hartnäckiges Suchen - und Scheitern - gezeigt; daß der Widerspruch das ganze "Volk" umfaßt, ist zwar eine Verallgemeinerung, aber sie bedeutet nicht mehr, wie bei Marx, eine (praktisch notwendige) Polarisierung - sondern deshalb eher eine "Delokalisierung". Da­rum sind die postmodernen Stichworte der "Deterritorialisierung" oder "Deko­dierung" durchaus ernstzunehmen. Übri­gens kann ich als Marxist (selbst wenn ich natürlich kein lineares Kauslverhält­nis und keine naive Abbildtheorie unter­stelle, sondern eben - heute mehr denn je - eine unendlich verzweigte und ver­mittelte Mehrschichtigkeit von Subsyste­men voraussetze) den Gedanken nicht gelten lassen, daß Ideologien, auch post­moderne, völlig aus der Luft gegriffen sind. Gerade dann würde man dem "to­talen Verblendungszusammenhang" er­liegen und das "Spiel" der Postmoderne mitmachen; ich habe sie in einem Auf­satz als ein "animistisches Denken" be­schrieben, insofern als sie die Möglichkeit einer rationalisierenden Legitimation der Wissenschaftlichkeit verwirft und

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sich davon dispensiert, über ihren eige­nen Gültigkeitsanspruch Rechenschaft abzulegen; sie entschlägt sich dadurch, zum Teil voll bewußt, der Mittel einer Unte~scheidung zwischen dem Realen und dem Fiktiven: ihr Diskurs will eben nur Mythos sein - eine Erzählung unter anderen mögli(;hen Erzählungen. Und doch ist Lyotards "Condition post-mo­derne" durchaus der "Versuch einer Ge­schichtsschreibung der neostrukturalisti­schen Dekonstruktion" (Manfred Frank) - was noch einen verkappten-ideologie­kritischen Anspruch impliziert. Darüber­hinaus verschwindet die Sehnsucht nach so etwas wie einem Konsens nicht: das multiple coding der postmodernen Ar­chitektur hat keine andere Funktion; aber auch in Lyotards letztem Werk, "Le diffärend" (1984)," soll im Rahmen der Auffassung eines "atomisierten" So­zialgebildes, in dem nur Verträge auf Zeit denkbar sind, ein unvorhergesehe­nes "Sich-Ereignen", ein "Kairos", dafür, daß das Buch nicht nur zeugt, sondern auch "einen Leser überzeugt"! Aber ich soll mich kurzfassen; ich wollte nur andeuten, um es ein bißchen gemein zu formulieren, wie man leicht in die Falle der Postmoderne geht,.indem man sich auf "Nicht mitmachen" versteift. Selbst wenn die Postmoderne keinen konkreten gesellschaftlichen Gehalt hät­te, gäbe es für mich noch einen guten Grund, sie ernstzunehmen: Ideologien bekämpft man nicht, indem man sie ignoriert. Aber ein solcher Aufruf zum ideologischen Kampf müßte . sich selber auf eine Legitimität berufen können -entweder Althussers "Philosophie" als das Wissen um die Identität des wissen­schaftlichen Historischen Materialismus, oder schlimmer noch die "Weltanschau­ung" des Proletariats, von dem keiner mehr weiß, in welcher Sprache es spricht. Das ist deshalb nicht der Schwerpunkt meiner Position.

Ihr Schwerpunkt besteht vielmehr darin, daß man seit Marcuse, Touraine, Bell und anderen sich nicht mehr darüber hin­wegtäuschen kann, daß es qualitativ neue Folgewirkungen des wissenschaft­lich-technischen Fortschritts gibt. Daß - wie Marc Guillaume es in "Le Capital et son double" 1973 überzeugend gezeigt hat - die Warenwirtschaft sich heute zu einer derartigen Verflüssigung des Aus­·tauschs gesteigert hat, daß die Rede von "Delokalisierung" wenigstens der Ten­denz nach nicht fehlgreift; fügt man hin­zu, daß das Bedürfnis zugunsten der "Be­gierde" oder einer "politischen ökono-

mie des Zeichens" (Baudrillard) ausge­blendet wurde, dann ist angesichts der zur "Semiokratie" (Guillaume) gesteiger­ten "Mythologie" (Benjamin, Barthes) die Rede von einer "Dekodierung" min­destens heuristisch brauchbar.

Ebensowenig_ darf man verkennen, daß die neuen Technologien, die allmählich die alten ablösen - und davon hängt übrigens das überleben unserer Gesell­schaften ab -, Identitäten auflösen: ich meine nicht nur den Identitätsverlust des Industrieproletariats und ganzer Sek­toren und Gegenden, sondern die frag­würdig gewordene Identifizierung mit der Arbeitsgesellschaft und dem Sozial ­staat, wo gerade der "Fortschritt" einen früh (1973) von Daniel Bell diagnostizier­ten Rückfall in den Kampf aller gegen alle bewirkt. Ich meine auch die wu­chernde Vermehrung von. Informationen, die industrielle Überproduktion von Bil­dern und Fiktionen, die nicht nur den Übergang von der technischen Reprodu­zierbarkeit des Kunstwerks (Benjamin) zur Massenkunst und Massenkultur an­zeigen, sondern in den neuen Technolo­gien, von denen das überleben unserer Industriegesellschaft abhängt, den Kern der Produktivkräfte ausmachen.

Dies ist gerade die Tendenz der Verän­derung, und wenn ich marxistisch nach einer Veränderung der Tendenz frage, also nach der Negation der Negation, kann ich davon nicht absehen.

FRAGE: In .~inem Artikel in den "Spu­ren" (3/83) haben Sie den Postmodernis­mus an verschiedenen Punkten kritisiert. Könnten Sie diese Kritik zu den unten angegebenen Stichpunkten kurz erläu­tern? (Postmodernismus als eine Form des Positivismus - gesellschaftliche Syn­thesis lediglich als undialektische Form des Nebeneinanders: wenn zwischen Al­ternativen nicht mehr zu entscheiden ist. alles gleichwertig bzw. gleich-gültig ist, geht die Wertschätzung des Besonderen verloren (Anything goes) - Postmoder­nismus und der Glaube an die Selbststa­bilisierung des Systems.)

RA ULET: Meine Kritik an der postmo­dernen Ideologie geht von den Beobach­tungen aus, die ich soeben zusammenge­faßt habe . Sie ist für mich, wie gesagt, ein ß._.ückfall in den Animismus - damit will " iCh~ hinwei­sen, der Versuchung, die sie sicher aus­strahlt, zu . wi~erstehen und trotz der

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Wirklichkeit der ~ur Produktivkraft ge­wordenen Fiktion die Fiktionen der ··postmodernen" Produktionsweise auf ihre innere Widersprüchlichkeit hin zu hinterfragen. Dies setzt theoretische Mit­tel voraus, die das Phänomen der Fik­tion erfassen können. Man braucht nicht einmal Blochs Philosophie gegen den Strich zu lesen, um sie bei ihm zu finden - ich weise damit auf die Philosophie der Allegorie und des Symbols hin; inso­fern fallen sie nicht aus der Blochschen Kohärenz heraus.

. Aber Ihre Frage betrifft meine Kritik am Postmodernismus als einer Ideologie, die sich undialektisch mit der neuen Pro­duktionsweise abfindet; darunter verste­he ich allerdings nicht, daß sie resigniert - ganz im Gegenteil: Lyotards Ästhetik des Erhabenen verklärt eine undialek­tisch akzeptierte Lage zu einer "positi- . ven Barbarei", deren Flucht nach vorne nicht mehr wie bei Benjamin nach ei­nem qualitativen Sprung strebt. Dadurch will sie gegen die "traurige Wissenschaft" eines Benjamin oder eines Adorno die fröhliche Wissenschaft der Nietzsche­schen Bejahung ausspielen. Da möchte ich nun Einwände wiederaufnehmen und zuspitzen, auf die Lyotard inzwi­schen geantwortet hat (seine Erwide~ rung wird in unserem Sammelband "Ver­abschiedung der (Post-)Moderne?" im Gunter Narr Verlag erscheinen). Zum Ei­nen vermag keiner zu entscheiden, was diese Bejahung vom I-A eines Esels Nietzsches, also des "modernen Men­schen", unterscheidet; zum anderen hal­te ich an dem doppelten Vorwurf fest, daß die erhabene Flucht nach vorne ein terroristischer Ästhetizismus ist und daß dieser Terror dem strategischen Sprach­spiel und totalitären Streben der tech­nisch-technokratischen Rationalität un­möglich ein Ende setzen kann, solange er sich nicht auf eine Dialektik mit der instrumentellen oder funktionellen Ver­nunft einläßt. Bei allen Schwächen ist in dieser Hinsicht Habermas' Position doch stärker. Wer den "Polytheismus der Werte" nicht nur gelten läßt, sondern auch bejaht, setzt sich allzuleicht über eine Auseinan­dersetzung mit der Systemtheorie hin­weg und akzeptiert eine nicht-reduzier­bare Komplexität, der man ihr Spiel be­lassen soll; man soll sich, sagt Lyotard, darüber freuen, daß "die Entwicklung zum Vertrag auf Zeit [zur Atomisierung des Konsensus] zweideutig ist: sie wird vom . System toleriert und sie weist im System selber auf einen möglichen an-

deren Zweck hin" ("La condition post­moderne"). Damit wird aber auch das System schlechthin akzeptiert, unter dem Vorwand, daß es "zweideutig" ist!

Was soll nun "Zweideutigkeit" bedeuten, wenn man nicht versucht, ihr die tragen­den Widersprüche einer Entwicklung ab­zulesen? Eben eine (erhabene) Resigna­tion, die ihr I-A in Bejahung drapiert, Merleau-Pontys "marxistisches Abwar­ten" angesichts der "Vielseitigkeit" des Realen wa.r alles in allem politisch weni­ger gefährlich. Die Selbststabilisierung des Systems ist sicher nicht das Ideal der Postmoderne. Sie begnügt sich aber da­mit, die Unüberwindbarkeit von Alter­nativen zu konstatieren: Im "Anti-Ödi­pus" von Deleuze und Guattari resultiert die praktische Ohnmacht aus dem eigen­artigen Reproduktionsprozess des hoch­entwickelten Kapitalismus, der sich un­aufhörlich seiner äußersten Grenze nä- · hert und gerade dadurch die Basis seiner Reproduktion erweitert; am Ende der "Condition post-moderne" von Lyo­tard besteht die unentscheidbare Alter­native in einer Informatisierung der Ge­sellschaft, welche die Performativität auf alle Ge biete des Wissens erweitert und daher zu potentiellem Totalitaris­mus tendiert, obwohl auf der anderen Seite ein demokratischer Gebrauch die­ser neuen technologischen Möglichkei­ten "im Prinzip" denkbar ist. Man kann es der Postmoderne nicht übelnehmen, daß sie auf diese Weise die wissenschaft­lich-technische Entwicklung unserer Ge­sellschaften wahrnimmt und berücksich­tigt, anstatt ·abstrakt damit zu brechen und zu einer -regressiven, bzw. konserva­tiven Kulturkritik zu werden. Nur ver­mag sie nicht das Entweder-Oder von To­talitarismus und Demokratie zu überwin­den, und wo sie nicht resigniert, mündet ihr Verzicht auf die mühsame Suche

Bloch und Postmoderne

nach den Vermittlungen einer Verände­rung in jener bejahenden Flucht nach vorne, die in Lyotards Ästhetik des Er­habenen ihr Organon findet. Mit dieser radikalisiert sich noch die Al­ternative zu der zwischen Totalitarismus und Terror - der terroristischen Geste expressiver Subjektivität. Daß das ge­meinte Erhabene auch das Schreckliche und Widerliche einschließt, halte ich für politisch bedenklich; Gott sei Dank, wenn es auf dem Gebiet der Ästhetik bleibt und keine "Ästhetisierung" der Politik bewirkt! In dieser Hinsicht teile ich Habermas' negative Wertung des "Ex­pressiven"; der "subjektive Faktor" ist nicht nur ohnmächtig, sondern potentiell gefährlich, wenn er eine abstrakte Revol­te darstellt - so sehr er gleichzeitig auch vom Unversöhnten zeugt. Denn das unversöhnte Besondere ist sel­ber - und dies war, glaube ich, die Poin­te Ihrer Frage - nichts mehr wert, wenn man nicht mehr bestimmen kann, was "versöhnt" und was "unversöhnt" ist, wenn alles gleichwertig, bzw. gleichgül­tig wird. Das habe ich mit dem Vorwurf des Positivismus gemeint: die Nacht des Positivismus, in der alle Kühe schwarz sind. Genauer: indem ma.n die Problema­tik der Legitimation des Wissens verab­schiedet und darauf verzichtet, die Kri­terien· und Metakriterien zu reflektieren, wird man zum "Positivisten". Erfahrung und Erkenntnis werden wörtliqh ent-wertet. Durch das historisch-relativistische Zitie­ren aller möglichen Fragmente aus der Vergangenheit in der postmodernen Ar­chitektur, oder durch Lyotards "Atomi­sierung des Sozialen in geschmeidige Netze von Sprachspielen" wird das Be­sondere gar nicht gerettet, sondern bei allem scheinbaren Erfahrungsreichtum der totalen Verdinglichung preisgegeben. Die angemessene Antwort auf dieses Pa­radoxon ist dessen Umkehrung - die Rettung des Besonderen setzt voraus, daß man seine Abhängigkeit und Unfrei­heit bedenkt, um es als ein immer schon Vermitteltes zu erfassen. Benjamins "Denkbild'', Adornos "Konstellation" und Blochs "Auszugsgestalt" verfolgen alle drei dieses Ziel. FRAGE: Bei der im Augenblick· herr­schenden politischen Ratlosigkeit und Resignation, hat da Bloch Ihrer Meinung nach noch etwas zu sagen für eine "Lin­ke", die die Vorstellung von Emanzipa­tion, einer "besseren" Zukunft und hu­maneren Welt nicht aufgegeben hat? Wie kann, wenn man an der Beschrei-

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Gerard Raulet

bung "Postmoderne" festhält, die gegen­wärtige Frage nach der Emanzipation aussehen?

RA ULET: Angesichts der Situation, auf die ich gerade hingewiesen habe, läßt sich die Blochsche Philosophie durchaus "aktualisieren" - aber nicht so, daß man beliebig einzelne Aspekte aufgreift, die der heutigen Verlegenheit besser wi­derstehen als andere, denn man würde dann selber dem postmodernen "any -thiog goes" verfallen. Was ich übrigens an den meisten Bloch-Interpretationen

• auszusetzen habe, ist, daß sie sich zu we­nig für die Methode interessiert haben, die einem so breiten und mannigfaltigen Werk seine Einheit verleiht. Am schlimmsten sind selbstverständlich die kompilatorischen Nachplappereien, die dem "Bann der Anamnese" erliegen; schlimm auch die Pseudo-Deutungen, die bestimmte Themen absondern - et­wa jüdische - und weder ihren Stellen­wert in dem betreffenden Werk ("Geist der Utopie") noch ihre methodische In­tegration bis hin zu "Experimentum mundi" immanent rekonstruieren; aber Bloch im Dienste aller möglichen "Eman­zipationsbewegungen" zu instrumenta­lisieren, von der "Friedens" - bis zur "Frauenbewegung", läßt sich meines Ei­achtens auch der Kritik unterziehen, die Horkheimer, Adorno und Habermas an die Studentenbewegung gerichtet haben

'

- ich zitiere Horkheimer: "Unbedachte und dogmatische Anwendung kritischer Theorie auf die Praxis in der veränder­ten historischen Realität vermöchte den

• Prozess, den sie zu denunzieren hätte, nur zu beschleunigen" . Es mag hart klin­gen, aber trotz divergierender Intentio­nen und bei allem guten Willen gehen ·solche "Aktualisierungen" an der wirkli­chen Lage vorbei und lassen sich eben im schlechten Sinne des Wortes als "postmodern" bezeichnen. Daß ich nun - in einem anderen Sinne - eine "postmoderne" Lektüre von Bloch für fällig und dringend notwendig halte, will ich auf der anderen Hand nicht verhehlen; auf Ihre Frage, ob ich nicht dadurch die "Postmoderne" für bare Münze nehme und "mit legitimie-

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re", habe ich schon geantwortet. Wie man also der Blochschen Philosophie treu bleiben kann und gleichsam an die wirklichen Bedingungen einer vielleicht noch möglichen Emanzipation "post­modern" herangehen muß, möchte ich deshalb wenigstens ansatzweise (es sind keine Rezepte, ·sondern Versuche einer Refonnulierung der praktischen Ge-

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schichtsphilosophie) skizzieren. D~r Sammelband "Strategies de l'uto­pie" stellte sich die Frage, inwiefern Marx' theoretisches und praktisches Prin­zip <le"r Totalisierung und Polarisierung · einer neuen politischen Kultur gerecht­werden konnte, die offensichtlich aus örtlich und zeitlich beschränkten, frag­mentarischen Konsensen bestand und für die Linke, die damals noch nicht an der Macht war, eine zu bewältigende Gä­rung und Herausforderung darstellte; 1981 hat sich Mitterand damit begnügt, alles und sein Gegenteil zu versprechen. Die sog. "Postmoderne" ist nichts ande­res als dieses unbewältigte Problem, das die Postmodernen nicht einmal mehr zu bewältigen suchen. Damit will ich aller­dings auch nicht die Lage der siebziger Jahre, in denen eine politische Aktivie ­rung zersplitterter Widersprüche noch denkbar war, mit der Tendenz zu einer totalen "Delokalisierung", also Verräum­lichung, die sich potentiell aus der Ent­faltung der neuen Technologien ergibt, gleichsetzen; in gewissem Maße waren damals die Widersprüche nur allzu loka­lisiert, obwohl gerade das Übermaß an Lokalisierung die Möglichkeit einer Zen­trierung problematisch machte und fak­tisch eine wörtliche U-topisierung be­wirkte. Wer aber Marx' Äußerungen zur dialek­tischen Methode liest, etwa die Einlei­tung zur Kritik der politischen Ökono­mie (1857), wo er vom "Gedankengan­zen" spricht, mit dessen Hilfe man die "Totalität" einer Produktionsweise er­faßt, oder das Nachwort zur zweiten deutschen Auflage des "Kapital" (18 73), stellt fest, daß die gedanklich konstruier­te Totalität dem Widerspmch zwischen Denken und Sein nicht entgeht und des­halb nur ein provisorisches, rein henne­neu tisches Hilfsmittel ist . Gibt es in der Wirklichkeit selber so etwas wie eine "Totalität", dann ist diese selbst im Pro-

r zess begriffen - Marx' Totalisierung

l' dient nur dem Aufdecken der Widersprü­che, die sie innerlich auflösen. Das ist eine Auffassung, an der Bloch festhält, etwa gegen Lukacs, weil es "um den Realismus geht". Das Wichtige an einer Totalität - handele es sich um die schö­ne Totalität des klassischen Kunstwerks oder um die Totalität einer Produktions­weise - ist der Prozess ihres inneren Zerfalls. Eine solche Totalität ist eine "Auszugs­gestalt", und, wie "Experirhentum mun­di" sagt: "Die Unruhe ist dialektisch, läßt das, worin sie sich gestaltet, immer

wieder umschlagen, kann nicht umhin, dem Gewordenen zu widersprechen, weil es doch nicht angelangt ist, als an­gelangtes gelungen ist" . So verstanden ist die Auszugsgestalt eine symbolische Konfiguration. Aber man würde m.E. zu Unrecht eine teleologische Garantie der Vorsehung unterstellen, wenn man die­ser vorläufigen Symbolisierung eine "In­variante der Richtung" abgewinnen woll­te . Der Sinn der Geschichte ist mit ihr nicht gemacht. Blochs Auszugsgestalt hat den großen Vorteil, daß sie den Ak­zent auf die jeweilige historische Kristal ­lisation setzt und Lukacs' "Standpunkt des Produzenten", der allzu leicht zur "Weltanschauung des Proletariats" ent­arten kann, mit dem "Blick aufs Pro­dukt" substituiert. Gleichzeitig rettet die Auszugsgestalt das Besondere; sie nä­hert sich der Konstellation Adornos . Sie schließt dabei nicht die Möglichkeit ei· ner Allegorisierung aus - und als eine um· sich greifende Allegorisierung der Welt können wir gerade die Postmoder­ne bezeichnen, in der keine Kriterien und Metakriterien in die Mannigfaltig­keit und Zufälligkeit der Erfahrung Ord­nung zu bringen vermögen - in der also das Selbe von dem Anderen nicht mehr unterschieden werden kann .

Aber Blochs großartige, weit ausholende Hermeneutik aller möglichen Gestalten der Utopie hätte keinen aktualisierbaren Sinn , wenn es ihr bloß darum ginge. ver­gangene Äußerungen des utopischen Willens an einem unveränderlichen Kri­terium zu messen; auf die Gegenwart be -

.. zogen, bedeutet sie vielmehr eine Her­} meneutik der Motivationen und Werte.

Dasselbe gilt von der sog. "objektiv-rea­len Hermeneutik", die sich mit den Aus­zugsgestalten befaßt. In meiner Interpretation - und ich glau­be Bloch richtig zu verstehen - ist jede Totalität, also auch eine Produktionswei­se, eine Auszugsgestalt; umgekehrt wäre bei aller Gefahr der Allegorisieru:1g -die übrigens nur so gebannt werden kann - jede vorläufige und fragmentari­sche Konstellation heuristisch als Totali­tät zu behandeln, damit man so einer­seits den symbolischen Wert ihres relati­ven_ Ausgestaltetseins und andererseits ihre inneren Widersprüche wie den Grundwiderspruch zwischen ihr und der Wirklichkeit erfasse . Und so wie Bloch keinen Unterschied zwischen der politi­schen und der künstlerischen Totalität macht, ließe sich das, glaube ich, sowohl auf soziale Gebilde als auf Kunstwerke anwenden.

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II

TÜTE: 1965 fand in Salzburg ein Kon­greß der Paulus-Gesellschaft statt, bei dem bekannte Theologen und Marxisten, u.a. Metz, Garaudy, auch Havemann über Gemeinsamkeiten und Differenzen von Christentum und Marxismus gesprochen haben. In einem seiner Beiträge argumen­tiert Metz für eine "Theologie der Hoff­nung" als eines neuen theologischen An­satzes angesichts einer Wende vom "Jen­seits" ins "Später" im öffentlichen Be­wußtsein, wie er sagt. Auf welches gesellschaftliche Umfeld haben wir die von Ihnen ausgearbeitete "Theologie der Hoffung" zu beziehen, welches waren für Sie die Antriebe in jener Zeit, dies zu schreiben?

Moltmann: Das ist eine große Frage. Es gibt positive und negative Antriebe. Die positiven Antriebe waren sicher die Begegnungen mit Ernst Bloch seit 1961, und die Möglichkeit, die seine Philoso­phie der Hoffnung mir bot, um die jüdisch-christliche Hoffnung gegenwärtig zu formulieren. Diese Tradition war schon vorbereitet, etwa durch von Rad in der alttestamentlichen und durch Käsemann in der neutestamentlichen Theologie, aber man hatte eigentlich keine Begrifflichkeit, um diesen jüdi­schen Messianismus und die christliche

eschatologische Hoffnung darzustellen. Dazu wurde ich von· Bloch angeregt. Der 2. Punkt war, daß ich bei ihm, nament­lich in "Naturrecht und menschliche Würde", aber auch im "Prinzip Hoff­nung" die Sozialutapien und die Rechts­utopien als konkrete Utopie einer weiterreichenden messianischen Hoff­nung sah, so daß man die immanen­te Seite der christlichen Transzendenz formulieren könnte, oder von der Hoff­nung des Glaubens zur Hoffnung in Ak­tion übergehen konnte. Als Inbegriff der Sozialutopien der Mühseligen und Be­ladenen, wie er sich sehr biblisch aus­drückt, war das Sozialismus und der Rechtsutopien und für die Erniedrigten und Beleidigten, wie er sich ausdrückt, Demokratie so daß eine neue Verbindung von Demokratie und Sozialismus uns da­mals, und nicht nur uns, sondern vielen zu Beginn der 60er Jahre, als Hoffnung in Aktion oder als konkrete Utopie er­schien. Und nun komme ich zu den ne­gativen Antrieben. Das war damals das Ende der Ära Restauration, die in der Politik mit Adenauers Namen, in der Kirche mit dem Namen von Bischof Di­belius verbunden war. Man wollte die Wiederherstellung der Verhältnisse vor 33, die zu 33 geführt hatten, aber man wollte keine Lehren aus der Geschich­te des Faschismus und des Kirchenkamp-

Theologie

fes ziehen. Dagegen hatte ich mich d~­mals engagiert, im Kampf gegen den Mili­tärseelsorgevertrag, gegen die Wiederbe­waffnung Deutschlands, gegen die Auf­rüstung mit Nuclearwaffen wir hatten damals die Bewegung "Kampf dem Atomtod" -, die Friedensthesen, die Karl Barth für die kirchlichen Bruder­schaften 1958 geschrieben hatte. Das waren Ansätze in jener Zeit der Restau­ration und des Neokonservatismus, die dann in den 60er Jahren durchbrachen, und dazu hat Bloch uns geholfen. In die­sen sozialen und politischen Kontext ge­hören auch meine Versuche mit der "Theologie der Hoffnung" und mit ei­ner "politischen Theologie", die ich zu­sammen mit Johann B. Metz entwickel­te.

TÜTE: Würden Sie sagen, daß es eine parallele Entwicklung gab, einerseits eine Entwicklung auf die Studentenbe­wegung hin - auch aus diesem negativen Antrieb, wie Sie sagen - und für Sie ei­ne Entwicklung im wissenschaftlich theologischen Bereich. Sind da keine Zusammenhänge?

M: Vielleicht muß man nicht gleich auf die Studentenbewegung von 1967 /68 blicken, obwohl das in der zweiten Hälf­te der 60er Jahre für uns sehr wichtig wurde. Da· war zunächst die Parallele in

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Kursbuch 78:

Lust an der Theorie

Günter Niklewski, Theorie als Inneneinrichtung

Tilman Spengler, Stirnwolkenbildung. Ein Plädoyer

für theoretische Neugier Stephen W. Hawking, Grenzen von Raum und Zeit. Versuche, das Universum zu verstehen

Valentin Braitenberg, Tentakeln des Geistes. Vom Nutzen des

Denkens in der Forschung Erwin Chargaff, Die verfolgte

Wahrheit. Der Begriff der Methode in den Wissenschaften

Peter Weingatt, Anything goes -rien ne va plus. Der Bankrott der

Wissenschaftstheorie Sylvia Kade, Der Krieg der

Experten gegen die Laien Barbara Weinmayer / Herbert Will/ Andreas Hamburger,

Vom Ich zum Selbst. Der Triebverlust der psychoanalytischen

Theorie Peter Weigelt,

Konzentrationsstörungen. Kopfstände und Bauchtänze auf

dem Campus Jörg Bopp, Geliebt und doch gehaßt. Uber den Umgang der

Studentenbewegung mit Theorie Eckhard N ordhofen, Botschafter des Bauchs. Die neuesten Angriffe

auf die Vernunft Hans Günter Holl, Theorie des

Spiels der Theorie Matthis Dienstag, Das kommt

von dem. Oder der schöne Durst nach Erklärung

Exkurs: Lukian, Verkauf von Philosophentypen

Das Kursbuch erscheint mit vier Heften im Jahr. Einzelpreis DM 9. Im Abonnement kostet das Heft

statt DM 9 nur DM 7. Abonnieren können Sie im

Buchhandel oder direkt über den Rotbuch Verlag.

Rotbuch/ Kursbuch Verlag Potsdamer Straße 98 · 1000 Berlin 30

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Amerika in der "civil rights movement". Martin Luther King's "I have a dream", 1963 am Lincoln Memorial in Washing­ton, war für mich· eigentlich die Reali­sierung von Bloch's konkreter Utopie. Es war die Erinnerung an die amerikani­sche Verfassung und an das, was nicht realisiert war an Menschenrechten, an Menschenwürde bezogen auf die konkre­te Unterdrückung der Schwarzen in der amerikanischen Situation. Dieses "I have a dream" ist der Inbegriff einer konkreten Utopie, mit dem Ausblick auf die Totalutopie des Propheten Je­saja (Jesaja 40), daß eines Tages "alle Berge erniedrigt und alle Täler erhöht werden, so daß alle Menschen gemein­sam die Herrlichkeit Gottes sehen wer­den." So viel zur Parallele in Amerika. Es kam damals die Große Koalition, der Stern von Willy Brandt stieg auf -"Mehr Demokratie wagen", und die Zu­kunft darf nicht die Fortschreibung der Gegenwart sein, sondern muß eine Al­ternative, etwas Neues sein. Die Stu­dentenbewegung knüpfte eigentlich an die "civil right movement" und an die amerikanische Anti-Vietnam-Bewegung an, das war ja sehr wichtig, und dann an

den Aufschrei der unterdrückten Völker. Das auslösende Ereignis war der Besuch des Schah von Persien und die Erschie­ßung des Studenten Benno Ohnesorg in Berlin. Diese verschiedenen Bewegungen flossen zusammen und kamen dann in der "Studentenrevolte", wie man sagt, 1967 /68 zum Ausbruch - und vielleicht wieder auch zu einer gewissen Selbstzer­störung. Die Hoffnungen der sechziger Jahre fanden 1968 ihre Höhepunkte und auch ihre Enttäuschungen. Mit der Enzyklika humanae vitae begann das Ende der Katholischen Reform von Va­ticanum II. Der Einmarsch der War­schauer Truppen in der CSSR beendete Dubcecks Versuch eines "Marxismus mit menschlichem Gesicht'', und auch den christlichen marxistischen Dialog. Viele Jugendträume kamen 1968 zum Höhepunkt und brachen dann auch zu­sammen. Auch ich hatte eigentlich mehr erwartet, namentlich von einer Verbin­dung von Demokratie und Sozialismus in Osteuropa, weil wir etwas Entspre­chendes zu der sozialdemokratischen Bewegung im Westen hofften. Eine Kon­vergenz hätte im geteilten Europa ent­stehen können.

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TÜTE: Sie hatten zu Anfang gesagt, daf~ es für Sie interessant war, daß der christ­lich-marxistische Dialog Defizite inner­halb der Kirche, der Theologie füllen konnte, also mit Begrifflichkeiten etwa von Bloch her, was Messianismus, Frei­heitsbewegungen, Demokratie und So­zialismus angeht. Ist dies ausreichend eingelöst worden?

M: Das für uns überraschende in den 60er Jahren war die Begegnung von Christen und Marxisten. Sie haben mit Salzburg angefangen, dann kamen die Konferenzen in Chiemsee und Marien­bad. Das waren die 3 großen Möglichkei­ten für den offiziellen Dialog, es gab da­neben viele andere, und für das gegensei­tige Erkennen und Verstehen von Mar­xisten und Christen. Es war in Marien­bad so, daß revolutionär gesonnene Christen sich mit religiös interessierten Marxisten trafen. Das klingt ein bißchen paradox, so war es aber. Der christlich marxistische Dialog in der CSSR ent­stand damit, daß marxistische Philoso­phen und andere Hromadka, den Theo­logen einluden, er solle ihnen einen Vor­trag halten und als Thema wollten sie

"Ich habe einen Traum, den Traum, daß eines Tages die Söhne der früheren Skla­ven und die Söhne der Sklavenhalter zu­sammen am Tisch der Brüderlichkeit sit­zen werden." (Martin Luther King)

nicht. "Was bringt das Christentum für Frieden auf Erden und Gerechtigkeit un­ter den Völkern'', sondern sie sagten, er solle über den Sinn des Gebets sprechen. Das klingt so merkwürdig, aber sie woll­ten wissen, was haben die Christen über

.., Transzendenz zu sagen, was wir nicht „ wissen. In Marienbad 1968 waren die

Christen an der Immanenz interessiert und die Marxisten an der Transzendenz. Ich könnte das noch mit vielen anderen erstaunlichen Ereignissen in dieser Zeit belegen. 1967 erschien in der CSSR das Buch von Gardavsky "Gott ist nicht ganz tot", während zur gleichen Zeit von den Theologen in Amerika Gott für tot erklärt wurde. Das waren Begegnungen voller Überraschungen. Und für diese offene Bewegung und Verbindung von Christen und Marxisten, ohne daß eine Seite sich selbst dabei opfern muß, steht der Name von Bloch. Er hat das dann in dem Buch "Atheismus und Christentum" 1968 be­schrieben und wo immer solche Verbin­dungen von Christentum und Marxismus in einer Befreiungsfront auftauchen, ist der Name von Bloch gegenwärtig, z.B. in Nicaragua. Daß Christen und Sandinisten

in dieser Befreiungsbewegung gegen So­moza zusammenarbeiten konnten, das kommt auch aus dieser Tradition, die Bloch damals formuliert hat.

TÜTE:· Wenn man das jetzt auf die bun­desdeutsche oder westeuropäische, aber auch osteuropäische Situation bezieht, heißt das doch wohl daß im eigenen Land Bloch eigentlich ziemlich stark ohne Be­deutung geblieben ist. Es gibt ja heute keine der Theologie der Befreiung ver­gleichbare Praxis in Westeuropa.

M.. Doch, es gibt sie - in der Friedenbe­wegung. Das würde ich für eine vergleich­bare Praxis halten, die jedenfalls in der DDR und der Bundesrepublik parallel läuft. Und dann die ökologiebewegung, die wiederum von Bloch die Sache mit dem Natursubjekt gelernt hat und mit der Allianztechnik zwischen Mensch und Natur. Wegen dieser Naturphilosophie wurde er damals 1957 in der DDR ver­bannt. Sie wurde als Revision des Marxis­mus verworfen. Man sagte, unsere Stu­denten sollen Mathematik und Physik studieren und nicht lernen, wie man mit Äpfeln spricht. Eine Heirat mit der Natur findet nicht statt. Doch heute kommen diese Gedanken im Marxismus selbst wie­der auf, z.B. in Jugoslaiwen, aber auch bei anderen und man entdeckt die Weis­heit von Bloch an dieser ökologischen Frage wieder. Die Friedensbewegung stellt etwas vergleichbares zur Theologie der Befreiung in Lateinamerika dar. Wir sitzen in beiden deutschen Staaten auf einem-.nuklearen Pulverfaß, das ist unser Hauptproblem, während die Befreiung von ungerechten kapitalistischen Struk­turen deren Problem ist. Beide Probleme hängen zusammen und sind auf einander bezogen. Wir müssen uns also gegenseitig stärken.

TÜTE: Ist die theologische Reflexion be­zogen auf die Friedens- und ökologiebe­wegung entsprechend tiefgehend wie die Reflexion der Theologen in Lateinameri­ka?

M.: Ja, das ist richtig. Wenn sie fragen, wer in der Bundesrepublik unter den professionellen Theologen sich für Befrei­ungstheologie interessiert, dann kannich Ihnen knapp 5 evangelische Professoren und etwas mehr katholische nennen. Aber der Rest ist daran nicht interessiert und nimmt es nicht einmal zur Kenntnis.

TÜTE: Würde das auch zutreffen für die Auseinandersetzung mit Bloch zur dama­ligen Zeit? Würden Sie auch sagen, das war eine begrenzte Auseinandersetzung

Theologie der Hoffnung

von em1gen Theologen oder war dann dieser Dialog damals breiter, was hat sich, wenn die Basis heute so schmal ist, aus­einanderentwickelt und warum hat es diese KontinuitäLin der Auseinanderset­zung nicht gegeben? M.: Die Basis war damals bereiter. Bloch wurde ja auch damals der geheime Kir­chenvater genannt. Das Interesse war Ja am Marxismus, an der Religionskritik von Feuerbach, an Thomas Münzer. Heute lockt Thomas Münzer kaum noch jeman­den. An Religionskritik ist niemand mehr interessiert. Diese Themen sind ver­schwunden. Probleme oft nicht gelöst, aber sie verschwinden, z.B. das Problem Entmythologisierung - Bultmanns Pro­gramm - ist verschwunden. Religionskri­tik von Feuerbach - verschwunden - Re­ligionskritik von Freud verschwunden usw. Man kann sich fragen, was an die Stelle getreten ist, aber sie können heute niemanden mehr ärgern, wenn sie sagen, daß. Gott eine Projektion des Menschen sei. Darüber wurde damals noch heif~ diskutiert.

TÜTE: Es ist schon so, daß das. was da­mals diskutiert wurde, nicht mehr die Voraussetzung heutigen Weiterdenkens ist. Andererseits kann man beobachten. daß an die Stelle bspw. von Religionskri­tik u.a. ein Phänomen getreten ist. ich will dies mal "'neue Religiösität'' nennen. Ich meine damit eine Motivation, An­triebskraft zu politischem Handeln. die sich auf letzte Werte beruft. sich orien­tiert an religiösen Weltbildern. Das zeigt auch die Bedeutung von Franz Alt und Dorothee Sölle in der Friedensbewegung. Fällt da nicht der gesellschaftskritische Teil weg, also das. was man das marxi­stische Korrektiv innerhalb des christl.­marxist. Dialogs nennen könnte?

M.: Nehmen Sie das Stichwort von Franz Alt "Frieden ist möglich" - das ist noch einmal die konkrete Utopie ...

TÜTE: Ich glaube, da würde sich Bloch doch dagegen gewehrt haben, Franz Alt in eine Reihe mit der konkreten Utopie zu stellen. - In dieser Tradition des christlich-Marxistischen Dialogs waren doch die Christen und Marxisten der Paulus-Gesellschaft Pioniere. Heute ist die Bereitschaft, sich auf diesen Dialog einzulassen, sehr viel geringer und wenn man sich anschaut, welch historischer Sprengsatz dieser Dialog gewesen ist, die Möglichkeit wahrgenommen zu haben, sich gegenseitig Fragen zu stellen, dann muß man doch sagen, daß heute davon kaum mehr etwas zu finden ist.

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Jürgen Moltmann

M: Ja. Sie haben wohl für die beiden Teile Deutschlands recht. Der christlich­marxistische Dialog ist damals weiterge­gangen in Italien. aus verständlichen Grün­den. in Spanien. wo der Eurokommunis­mus begann. d.h. er begann in dem Au­genblick. als marxistische Parteien die These von der notwendigen Diktatur des Proletariats haben fallen ließen. Damit war der Dialog möglich von marxistischer Seite her und natürlich auch für die Chri­sten. Das war ja auch für Rudi Dutschke der Punkt. an dem sich diktatorischer und demokratischer SoziaÜsmus schie­den. Marxismus ja - aber Diktatur des Proletariats durch eine Parteidiktatur nein. Und Bloch hat sich. glaube ich. in der Sache. obwohl er früher leider viel Lobenswertes über Stalin gesagt hatte am Schluß auf den demokratischen So­zialismus festgelegt. d.h. auf einen Sozia-

lismus ohne Diktatur des Proletariats. Ja, warum ist der Dialog nicht bei uns leben­dig? Die faktische Teilung Deutschlands in einen sozialistischen, von einer marxi­stischen Partei beherrschten Teil hat es möglich gemacht, die jeweilige Opposi­tion im eigenen Lande ständig als 5. Ko­lonne des anderen Teils zu diffamieren. So wurde die SPD früher oft diffamiert und auch heute noch versucht Geißler, es so zu machen. So wurden auch diese christlich marxistischen Verbindungen, die bestanden hatten, zerstört und zwar von beiden Seiten. Für die Marxisten war es auch gefährlich, sich in diese Dialoge hineinzubegeben, denn sie hatten ja alle gesehen, was den marxistischen Philoso­phen in ,der CSSR passierte. Der Druck der Institutionen, der Apparatschicks auf der einen und der Bischöfe auf der ande­ren Seite war so stark gewesen, daß die.­se Begegnung von Marxisten und Christen

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daran gescheitert ist. Wir hatten ja da­mals eine Dialog-Zeitschrift gegründet in Freiburg, die bis Mitte der 70er Jahre existierte. Doch dann schrieb von marxi­stischer Seite nur noch Herr Steigerwald und der schrieb immer dasselbe und ließ sich auf nichts ein. Es war kein Gespräch mehr. Es wird jetzt an neuen gemeinsamen Problemen wie der Umweltzerstörung -ob die Natur kapitalistisch oder soziali­stisch ruiniert wird, ist der Natur jeden­falls egal, sie verstummt auf beiden Sei­ten - möglicherweise wieder Anknüp­fungspunkte für gemeinsame Diskussio­nen geben. Und natürlich beim Frie­densthema. Wir haben neue Angebote für den christlich-marxistischen Dialog auf dieser Ebene u.a. von der ungari­schen Akademie der Wissenschaft in Bu­dapest.

TÜTE: Noch einmal zurück zur Offen­heit von beiden Seiten, dazu, daß keine Seite sich aufgeben mußte und daß tat­sächlich ein Prozeß am laufen war, bei dem beide Seiten möglicherweise etwas gelernt haben. Die Frage ist, was muß­ten die Theologen lernen, wozu -waren sie bereit zu lernen und was blieb ihr ei­genes, was sie nicht aufgeben mußten? Um es mit Begriffen von Bloch zu ver­deutlichen: Hoffnung - als enttäuschba­re Hoffnung, dem Begriff Novum, die Gesellschaft bzw. Gemeinschaft von Menschen, die das Neue ins Werk setzt. Konnten das die Theologen einbauen in ihre Theologie, die doch sehr stark von der Transzendenz her argumentiert, also stärker das Objekt-Verhältnis von Gott­Mensch betont, während Bloch ja gerade in Bezug auf die Zukunft den Mensch als Subjekt herausstellt? Wo sind da die Reibungspunkte?

M: Wenn ich mich an die christlich-mar­xistischen Dialoge richtig zurückerinne­re dann haben uns die Marxisten dazu provoziert, radikal christlich zu denken und die bürgerlichen Religionsanstalten, aus denen wir kamen, kritisch anzuse­hen. Sie wollten von uns kritisch wissen, was authentisch christlich ist, und sie zeigten uns, daß es diese messianisch ur­christliche Tradition gibt gegenüber dem späteren konstantinischen Christentum. Sie brachten uns dazu, uns selber kri- · tisch zu prüfen, ob wir eine Ideologie vertraten für diese etablierten Volkskir­chen zur Legitimierung des ·gesellschaft­lichen Systems, in dem wir lebten oder aber ob wir wirklich in der Nachfolge Christi leben. Wir fragten natürlich auch zurück, ob sie wirklich radikal Marxisten oder ob sie Apologeten einer.etablierten Partei sind. Wir kritisierten uns gegensei­tig, aber nicht, um den anderen fertigzu­machen, sondern um sein Eigenstes aus ihm hervorzulocken. Speziell zu Bloch fand ich damals ganz einleuchtend, daß er nicht nur eine Ent­mythologisierung der Religion, sondern ihre Enttheokratisierung vorgenommen hat. Da war wieder der-biblische Grund­gedanke: Es gibt die Herrenkriche und es gibt auch das arme, leidende unter­drückte Volk, dessen sich der wahre Gott', der Gott Israels erbarmt. Er hat versucht, mit interessantem detektivi­schem Blick die biblischen Stellen gegen den Strich zu bürsten, sie von unten zu lesen. Ich kann ihm nicht in allem fol­gen, bestimmte Stellen sind von ihm hi­storisch und exegetisch nicht richtig ge­sehen. Aber er hat etwas ganz richtig ge­sehen, daß nämlich Gott und die Nied­rigkeit des Menschen zusammengehören und nicht Gott und die Herrschaft, der Glanz und die Krone.

TÜTE: Ich frage mich dann, was ist mit dem theologischen Wort vom "Anbruch der Herrschaft Gottes". Sie sagten, der übereinstimmende Punkt zwischen Chri­sten und Marxisten war eigentlich gera­de der Aufbruch aus der Herrschaft. Ist da nicht die Autoritätsstruktur noch vorfindbar und ist das nicht der Punkt, an dem Marxisten möglicherweise nicht mehr mitgegangen sind? Wenn man die Terminologie beibehält, dann ist das ja vom Wort und von der Vorstellung her auf eine Macht gemünzt, der alles untergeordnet wird, während die Marxisten letztendlich insofern ja auch Anarchisten sind, als der Endzu­stand gerade die Aufhebung von Herr­schaft ist.

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M.: Es ist die Pointe des Evangeliums, das Reich Gottes bricht bei den armen, niedrigen und kleinen Leuten an und nicht bei denen, die herrschen. Damit ist die göttliche Legitimation den Herr­schenden weggenommen und denen zu­gesprochen, die unterdrückt, erniedrigt und ausgebeutet sind. Das hat einen un­geheuren humanen Impuls. Die Armen werden sich ihrer Würde bei Gott be­wußt und stehen auf. Ich glaube, daß Marx mit seinem kategorischen revolu-

"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste We­sen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhält­nisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." (K. Marx)

tionären Imperativ das ganz richtig ge­sehen hat und auch Bloch. Die christli­che Hoffnung zielt darauf ab, wie Paulus sagt, daß alle Obrigkeit, alles Fürsten­tum, Gewalten und der Tod - als letzter Feind - vernichtet werden. Sie können sagen, daß dies auch Anar­chie ist. Sicher ist dann Gott "alles in al­lem", aber nicht als der große Herr, son­dern als der, der mit seiner Klarheit und seinem Glanz alles durchdringt, so daß dann alle in Gott sind, alle auf ihre Wei­se göttlich werden. Bloch hat am lieb­sten aus dem 1 . J ohannesbrief zitiert: "Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn es aber erscheinen wird, werden wir ihm, nämlich Gott, gleich sein." Das war seine liebste Stelle und wenn man über diese Stelle mehr nachdenkt, dann kommt man wohl auch zu ähnlichen Schlüssen wie er.

TÜTE: Während die christliche Hoff­nung auf Glaube und Zuversicht baut, war für Bloch gerade die Kritik an einer festen Zuversicht, die das Scheitern nicht berücksichtigt, wichtig. Der Aus­gang im Weltprozeß ist offen und eine mögliche "Erlösung" läßt sich bei Bloch doch nur als das Werk der Menschen denken. Insofern hat er seine Hoffnung auf die menschliche Praxis gesetzt. Das war das marxistische Motiv seiner Reli­gionskritik.

M: Christliche Zuversicht in der Hoff­nung kann natürlich eine Fluchtbewe­gung auslösen, indem man sagt, in die­sem Jammertal kommt es nicht mehr so darauf an, was wir tun. Es kann aber auch umgekehrt sein. Gerade weil ich auf ein ewiges Leben hoffe, trete ich für

das Leben hier ein und diese große Hoff­nung gibt mir den langen Atem dazu. Dann bedeutet christliche Hoffnung den ständigen Kampf gegen die Mächte des Todes, ·die ja mitten im Leben sind: die Anhäufung von militärischer Todes­macht, der soziale Tod, der eintritt, wenn Menschen Menschen im Stich las­sen. Und dagegen zu kämpfen ist die Konsequenz aus der Hoffnung auf Auf­erweckung von den Toten. Resignieren kann man da nicht. Als der Papst in Ni­caragua war, hat er zu den Priestern ge­sagt, sie sollen nicht am Kampfe des Volkes teilnehmen, sondern die Men­schen auf das ewige Leben vorbereiten. Das halte ich für eine falsche Alternati­ve, ebenso falsch wie die andere Alterna­tive, man solle nicht mehr auf Erlösung und ewiges Leben hoffen, sondern sich selbst helfen.

TÜTE: Meinen Sie, daß gerade Bloch in der heutigen Situation ein Argument sein kann in dieser Alternative, wenn doch aus der christlichen Hoffnung auch auf ein Sich-Nicht-Einsetzen geschlossen werden kann?

M.: Für uns war damals Bloch's Bot­schaft 'Heraus aus der Apathie'. Heute sind Apathie und Resignation deswegen so groß, weil die Todesbedrohung so na­he gekommen ist und jeden Augenblick das Ende eintreten kann. Das lähmt na­türlich, weil wir in diesem Sinne, wie Günther Anders sagt, in der Endzeit le­ben, sofern das Ende jederzeit möglich ist. Dann sucht man sein kleines Glück, kümmert sich nicht mehr um diese welt­politischen Fragen und stirbt eigentlich seelisch schon ab, bevor der nukleare Holocaust passiert ist. Blochs Ansätze müssen wir heute übertragen, um gegen diese vorweggenommene Zerstörung in Apathie und Resignation antreten zu können. Bloch war sehr optimistisch, wir müssen das übersetzen.

"Prinzip verzweiflung oder einmal an­ders: : ernst bloch spricht: "wir sind noch nicht" ernster als bloch wäre: "ge­rad' noch". anders wär: "nicht mehr!" (graffiti)

TÜTE: Günther Anders spielt aber doch in g~wisser Weise einen Widerpart zur Bloch'schen Hoffnungsphilosophie und vertritt ein entgegengesetztes Verständ­nis, wenn er fragt, wie man nach Ausch­witz und Hiroshima noch auf dem Prin­zip Hoffnung beharren kann. Während Bloch doch von den der Welt innewoh­nenden Möglichkeiten ausgeht, spricht

Theologie der Hoffnung

Anders von der "Apokalypse-Stumpf­heit" der Menschen, davon daß die Menschheit sich nicht mehr im Zustand des "Noch-Nicht", sondern bereits im Zustand des "Gerade-Noch" befindet. M.: Bloch hatHoffnung inAktion darge­stellt. Hoffnung in Aktion setzt Möglich­keiten voraus. Das Land der unbegrenz­ten Möglichkeiten ist das ontologische Korrelat zur Hoffnung in Aktion. Damals war dies auch überzeugend, es gab viele Möglichkeiten die nicht realisiert wur­den. Dafür steht auch der große Traum - Martin Luther King: "I have a dream". Heute sieht die Lage, und Günther An­ders beschreibt dies ganz richtig, apoka­lyptischer aus. Darum auch der kleine Alptraum von Präsident Reagan vor zwei Jahren, vom "Armageddon in unserer Generation". Und als er daraufhin gefragt wurde, ob er ein nukleares Armageddon meinte, sagte er zunächst ja und hat sich dann, nachdem Nancy ihn gezogen hatte in unverbindliche Reden gehüllt. Diese Vorstellung eines nuklearen Armageddon in unserer Generation ist ein Angsttraum. ein apokalyptischer Endtraum. Wir müs­sen jetzt die damalige Hoffnung in Ak­tion übersetzen in diese Situation der Endzeit, in Hoffnung im Widerstand. Denn was hat man zu tun, wenn man keine großen Möglichkeiten und nicht mehr viel Zeit hat? Da ist es sinnvoll. Hoffnung im Widerstand zu zeigen. Hoff­nung in der Gefahr. Gefahr war damals für uns nicht im Blick. wir dachten nur an die Möglichkeiten.

TÜTE: Wenn man dem negativen Befund von Günther Anders folgt, ist das Träu­men nach vorne, das Antizipieren eines besseren Lebens, die Erbschaft geschicht­lich noch uneingelöster Gehalte in dieser apokalyptischen Endzeit wohl unmöglich geworden. Die Attraktivität der Analy­sen Günther Anders heute drückt diesen Verlust der Utopien aus.

M.: Ich stelle mir das eher so wie Luther vor: "Wenn morgen die Welt unterginge. ich würde heute noch einen Apfelbaum pflanzen." Wie sieht Hoffnung aus, wenn man keine Ontologie des Möglichen hat. sondern von einer Ontologie der Endzeit ausgehen muß? Dann muß die Hoffnung transzendent begründet werden und s.ich hier im Widerstand gegen die Vernich- · tung zeigen. Das ist nicht mehr dasselbe wie damals, doch als 'Hoffnung wider Hoffen'' könnte ich mir eine überarbei­tete Neuauflage von Bloch 's Prinzip Hoffnung" heute vorstellen.

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Jürgen Fuchs

1 --

Der ehemalige DDR-Schriftsteller Jürgen Fuchs, heute wohnhaft in Berlin-West, schrieb eigens für 4ieses TüTE-Sonderheft nachfolgenden Beitrag, in dem er erzählt, wie er noch in seiner Zeit in der DDR Zugang fand zu Schriften von Bloch.

Ich möchte von drei Begegnungen mit dem Werk Ernst Blochs berichten. Im Frühjahr 1969, kurz nach dem Abi­tur, vertraute mir ein befreundeter Leh­rer den ersten Band von "Das Prinzip Hoffnung" an. Ein großes, dunkelblaues Buch, erschienen im DDR-Aufbau-Ver­lag. Er zog es aus der hintersten Reihe seines Bücherschrankes, denn der Philo­soph war eine Unperson geworden, einer, der als "Revisionist" und "Abtrünniger" bezeichnet wurde. Man besaß keine Bü­cher von ihm, schon gar nicht verlieh man

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sie ein Jahr nach dem Einmarsch der be­freundeten Armeen in die Tschechoslo­wakei an einen lesehungrigen Schüler. Der Lehrer tat es, weil er gute Lektüre, weitergeben wollte und weil er selbst ei­ne Unperson geworden war. 1956 mußte er sein Studium unterbrechen wegen "Unklarheiten in der Ungarnfrage". Er arbeitete als Rangierer bei der Eisenbahn und besuchte philosophische Seminare, die Ernst Bloch nach dem erzwungenen Abschied von der Leipziger Universität in seiner Wohnung veranstaltete. Später

konnte er sein Studium beenden. Als die Panzer 1968 nach Pr"ag rollten und kleine Häscher in Provinzstädten nach "Dub­cek-Freunden" suchten, nach welchen, "die auch vom menschlichen Sozialismus faseln", war der Lehrer ein in Frage kommender Kandidat. Wieder landete· er als Hilfsarbeiter beim Güterwagendienst. Aber anstatt nun Angst zu bekommen oder "Einsicht" zu zeigen, daß eigenes Nachdenken vielleicht doch ein Fehler ist, diskutierte er weiter mit unruhigen, von verschiedenen Wahrheiten und Zwei­feln hin und her gerissenen Schülern ... und lieh ihnen Bücher mit dem Wort "Hoffnung" im Titel...

"Wir fangen leer an. Ich rege mich. Von früh auf sucht man. Ist ganz und gar be­gehrlich, schreit. Hat nicht, was man will ... "

Schon die ersten Sätze gefielen mir sehr: "Leer" ... "sucht" ... "schreit".... Dieses knappe Herausstoßen von Gedanken voll fragender Gewißheit. Kindheit, Jugend, nicht verklärt oder belehrend behandelt, sondern scharf, aufreizend, selbstbewußt. Und schön, von den Worten her schön. Endlich kein Wiederkäuen, kein Gerede von "historisch-materialistischen Grund­lagen". In "Staatsbürgerkunde" behandel­ten wir auch die "idealistischen Philoso­phen", Hegel, Kant, Feuerbach, in Kurz­fassung mit Tafelbild. Einige waren "Vor­läufer des Marxismus", der letzten und endgültigen Lehre. So wurde von oben herab- oder von unter herauf-entwertet in banausenhafter Art ... Und nun Ernst Bloch: "Denken heißt Überschreiten. Freilich, das Überschreiten fand bisher nicht allzu scharf sein Denken ... Fauler. Ersatz, gängig-kopierende Stellvertre­tung ... " Und es kommen auch Märchen

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Rudi Dutschke beim Begräbnis Ernst Blochs

Fast wären sich die beiden deutsch-deut­schen Leben nie begegnet. Als der aus Berlin-West anreisende Rudi Dutschke im Februar 1968 in Bad Boll zu einer Po­diumsveranstaltung mit Ernst Bloch u.a. geladen war, hatte er den Beginn verschla­fen. Verspätet doch rechtzeitig konnte er dem damals 83jährigen die Hand schüt­teln, der ihn seinerseits als "Fachmann" der Jugendrevolte begrüßte .1 Ihr Zusam­mentreffen wirkte als zündender Impuls und bereitete eine andauernde persönli­che und politische Freundschaft vor. Ernst Bloch und Rudi Dutschke, zwei Exilanten .und Emigranten, die beide im August 1961 nach dem Bau der Mauer nicht wieder in die DDR zurückkehrten, mußten jedoch dreieinhalb Jahre auf ein vertiefendes Wiedersehen warten. Weni­ge Wochen nach der ersten Annäherung in Bad Boll (''Mit ihm und seiner Lebens­gefährtin konnte ich leider nach der Ver­anstaltung nur wenige Worte wechseln. Die APO trieb mich (und umgekehrt?) weiter in eine andere Stadt. Seine Werke und die Lebensgeschichte der Blochs wa­ren mir allerdings schon seit Jahren ver­traut. " 2

) wurde Dutschke in Berlin nie­dergeschossen . Zusammen mit Frau Gret­chen und den Kindern begann eine Odys­see im Ausland.

Nach langsamer körperlicher Erholung schickte er aus England seine ersten hand-

Rudi Dutschke

Welf Schröter

ROT FRONT, GEN.BLOCH AUS DEN BRIEFEN RUDI DUTSCHKES AN KAROLA UND ERNST BLOCH

Zwischen Rudi Dutschke und dem "verehrten Genossen Bloch" lag eine Alterszeit­spanne von über einem halben Jahrhundert. Dennoch oder vielleicht deshalb fanden beide Deutsch-Deutsche zu einer besonders produktiven Freundschaft. Der Einblick in bisher unbekannte und hier erstmals veröffentlichte Briefe Rudi Dutschkes an Ernst und Karola Bloch erlaubt Annäherungen an einen zweiseitigen Denk- und Lern­prozeß. Mein Dank gilt Karola Bloch und Gretchen Dutschke-Klotz, die mir Einsicht in die Briefe und deren Berarbeitung ermöglichten.

schriftlichen Zeilen an Bloch, verbunden mit dem Dank für die zwischenzeitlich er­

'haltene 'rote Hilfe': "Hoffe sehr, Sie recht bald in der BRD treffen zu können, die 'kurzen' Gespräche des Jahres 1968 auf 'neuer Stufe' fortsetzen zu können! (. .. ) Der Prozeß der 'wirklichen deut­schen Revolution', als Teil der internatio­nalen Umwälzung, hat in der Tat begon­nen - die Chancen von uns allen sind ge­stiegen." (9. Juni 1969)

Als Rudi Dutschke vor "Ausbruch" der Studenten- und Jugendrevolte· die Son­dernummer der SDS-Korrespondenz 'Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart' als Lesehilfe Anfang 1966 herausgab, waren zwar Marcuse und Lukacs erwähnt, es fehlte allerdings noch der Name Bloch. Der drängte sich erst Monate danach im Kontext der Anti-Notstandskampagne · und des Vietnamprotestes in den politi­schen Alltag Dutschkes. Deutliche Anre­gungen durch die Blochsche Philosophie hatte er jedoch schon wesentlich früher erhalten. Im Hinblick auf seine später als Dissertation veröffentlichte Arbeit über Lukacs mit dem Titel 'Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen' schrieb er im Sep­tember 1970 aus der englischen Universi­tätsstadt Cambridge: "Liebe Karola Bloch, wir wollen uns noch einmal fü.r die

vielen Hilfen bedanken, - wir werden uns hier in England nicht 'verrotten' lassen, Cambridge ist fü.r die Studien und fü.r die Wiederherstellung und Weiterentwick­lung durchaus geeignet, ca 2-3 Jahre; wür­den wir länger bleiben, - die wirkliche Exil-Existenz begänne, daran sind wir nicht im geringsten interessiert. Die Vor­bereitung auf die subversive Arbeit in der BRD wird lange dauern, was sind aber 'schon' 2/3 Jahre. Es fällt mir schwer, es gibt aber keinen anderen Weg. Möchte hier in dieser Zeit eine vor vielen Jahren begonnene Studie über Lukacs und seine Fraktion in der KPU im Exil zwischen 1920 und 1929 relevant aufheben. Dabei geht es um die Vorarbeiten, Auswirkun­gen und um den Weg von 'Geschichte und Klassenbewußtsein '. Ihre Analyse, Aner­kennung und Kritik der damaligen theo­retischen und politischen Haltung von L., ich 'entdeckte ' Ihren Beitrag 'Utopie und Aktualtität' 1965. MeinedenArtikelvon 1924. Dieser Beitrag, Gen. Bloch, gab mir die entscheidenden Anregungen für eine solche Studie. " Mit der Besserung seiner körperlichen Leistungsfähigkeit nahm Rudi Dutschke seine theoretische Arbeit wieder auf. Er begann einen intensiven Briefwechsel mit Karola und Ernst Bloch. Nebentages­politischen Fragen wie etwa die Entwick­lung der SPD, die AktiOnen der Roten Armee Fraktion, die Lage in der Dritten

TÜTE I

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Rudi Dutschke

Welt, u.a. bewegten ihn die Nahziele so­zialistischer Theorie und Politik. Unter. der selbstbewußt-kämpferischen Parole "Rotfront" schrieb er am 16 . Sept. 1970 an den 'Genossen Bloch': "Ein wesentli­ches Moment der Schwäche unserer ernst­haftesten Gruppen sehe zch meiner Feti­schisierung von historischen Kategorien der revolutionären Theorie. So u.a. der von Ihnen, lieber Genosse Bloch schon vor Jahren in einem Interview-Gespräch mit F. Vilmar reflektierte Begriff der 'Diktatur des Proletariats'! - Dieser Be­griff ist erneut zu einem Alltagswort der linken Agitation und Theorie geworden. Die theoretische Krise des revolutionären wissenschaftlichen Sozialismus läßt sich nicht durch die Wiederaufnahme histori­scher Begriffe_ jjberwj_nd~n, ganz im Ge­genteil. Es gilt theoretisch und bald auch praktisch ''gegen den Strom" vorzuge­hen." Das Verhältnis zwischen Dutschkes und Blochs wurde zunehmend herzlicher. Rudi hatte einen 'Lehrer' gefunden, an dem ein Sich-Abarbeiten lohnte, von dem zu lernen war, den er verehrte. Karola und Ernst Bloch hatten einen 'Schüler' und Mitkämpfer kennengelernt , der die Notwendigkeit eines humanistischen Kerns im politischen Handeln bei aller radikalen Analyse nicht preisgeben wollte. Karola Bloch schrieb 1971: "Ihr lieben Dutschkisten, .. . (. . .). .. Alle freuen sich, daß esEuchgu.tgeht, daß Du, Rudi, wieder gesund bist. Du bist der positive Geist der Studentenrevolte, un­vergessen und geliebt. Heute haben wir keinen, der sich an Dir messen kann. Lei­der. Sonst wäre es vielleicht doch anders in der BRD ... " 3

Im Sommer 1971 waren Ernst und Karola Bloch in Aarhus/Dänemark zu Besuch. 4

Wehmütig schrieb Rudi im nachhinein: ''Eure Köpfe sind voller Geschichte, die unsrigen sind zumeist leer. " 5

.

Der Besuch entkrampfte den Umgangs­stil. Das "Sie, Genosse Bloch" wandelte sich in "Lieber Ernst" . Fragen wurden direkter und bohrender. Der nachfolgen­de Brief aus dem Jahre 1971 reflektiert den Besuch und schließt den Kreis zum Thema Lukacs. Rudi Dutschke zitierte darin ein bislang weitgehend unbekann­tes autobiographisches Fragment l/On Georg Lukacs, in das Franz Jannossy6

ihm Einblick gewährte:

Liebe Carola, lieber Ernst! Karte und Brief aus Oslo voller Freude und echter Dankbarkeit erhalten. Von

II TÜTE

uns allen die besten Wünsche ftir Euch und großen roten Dank von uns. Eure Anwesenheit in Dänemark, die somit möglich gewordenen Diskussionen über Problemzusammenhänge, die uns nur zu oft nicht einmal als Problem erscheinen, hat einen marxistisch-philosophischen Sprung möglich gemacht. Da ist so viel geistiges Dynamit eingeftihrt worden, die Lebenslinie und die in die Hand zu nehmenden Aufgaben verlieren immer mehr an Unklarheit.

Es ging mir in diesen Wochen, - bei al­ler Diskussionsbeteiligu.ng -, so wie es Attila Jozef am Tage vor dem Besuch von Th. Mann in Budapest in Gedichts­form sagte: "Nimm Platz. Beginne das Märchen schön. Wir hören zu und es wird geben, der nur eben zuschaut, weil sich freut, daß hier heute unter Weissen einen Europäer sieht. " Die Umfu,nktio­nierung lag wohl allein im Plural. Nehmt Platz, bzw. aus dem ''Europäer" wurden der subversive Parteilichkeits-Philosoph ohne Parteimitgliedschaft und die Ge­nossin und Architektin. Es wäre nicht aufzuhören wenn ich be­ginnen würde mit der Beschreibung der Diskussionen die besonders nach Eurer Abreise begannen. Wir werden uns bald wieder sehen, zum anderen werden wir mit Sicherheit Euch viel schreiben. (. . . ) Vor wenigen Tagen, um den Brief auf eine andere und dennoch nicht andere Sache zu lenken, besuchten uns die Jan­nosy 's und es wurde über die verschie­denstens Fragen ernsthaft diskutiert, im besonderen über den Genossen Lukacs. In d;n Dokumenten des Nachlasses fan ­den sie auch einen Skizzen-Entwurf über die Selbstbiographie, die J. s werden es Euch wahrscheinlich nach Tübingen mit­bringen. Wenn sie bei Euch sind, so wer­det Ihr über die "Bloch-Passage" nicht überrascht sein, ich aber bin es. Es be­stätigt die in den Gesprächen hier so breit und tief beschriebenen Dialog- und Diskussionsthemata:

" . .. HierSackgasse deutlich sichtbar. III. Ausblick auf Philosophie So - nicht zufällig - solcher Abschluß der Essay-Periode. Darin . .. höchstwich­tige Rolle von Ernst Bloch. Widerspruch:

. Entscheidend - und doch ohne konkre­tisierbaren Einfluß. Die Begegnung in Budapest. Korrektur des Mißerfolges im ersten· Gespräch. Gute Beziehung. Mein Erleb.nis: eine Philosophie im klas­sischen/und nicht heutigen epigonalen Universalitätsstil/durch Bloch 's Persön­lichkeit für be_wiesen und damit auch jiir

mich als Lebensweg eröffnet . .. "

So nur ein Auszug aus einer Skizze, ei­ner unvollendeten. Ihr werdet bald mehr haben ...

Zum Schluß die alten und neuen Fra­gen?! Schließen sich philosophische Parteilich­keit und Parteimitgliedschaft 'immer' aus, oder ist es die Frage des Parteity ­pus? 'Immer' ist historisch x-fach wider­legt. Oder? Ist die 'philosophische Parteilichkeit' das entscheidende Glied der Reflexions­ebene, die die historisch uavermeidli­chen (?) Schranken der direkten Partei­arbeit überschreiten kann und 'darf'? Repräsentiert die 'philosophische Partei­lichkeit', da sie einen politischen 'Sym­pathisantenstatus' trägt, die eigentliche, voll durchgedachte - gerade weil kein Mitglied - Parteilichkeit? Eben weil die­se Parteilichkeit ein Massen-Licht zeigt? Wir haben viel darüber gesprochen, den­noch wäre ich weiterhin daran interes­siert. Wenn die Beschränkungen und Notwendigkeiten der Partei-Organisa­tion (mit sich verändernder Typus-Be­stimmung) gegeben sind, gilt es dann die Konkretisierung der Zwischenglieder in­nerhalb und außerhalb der Parteiorgani­sation immer mehr in den Mittelpunkt zu stellen? Im nächsten Gespräch frage ich Euch wieder! Hoffentlich seid Ihr gu.t 'zu Hause' ge­landet, die wirkliche Heimkehr steht uns ja noch bevor. Wir umarmen Euch// Rudi

Die Vorbereitungen auf die 'subversive Arbeit' in der BRD sind für Dutschke Ende 1973/ Anfang 1974 abgeschlossen. Erstmals trat er wieder bei politischen Massenveranstaltungen in der Bundesre­publik auf und reiste umher, um die ak­tuelle Lage einzuschätzen. Dabei setzte er deutlich alte Akzente neu: "Ohne eine 'konkret-utopische ' Auseinandersetzung mit der DDR ist eine sozialistische Poli­tik in der BRD zum Sektierertum verur­teilt. " 7 Er begründete diese Position un­ter Rückgriff auf Blochsches Denken aus Anlaß von dessen 89 . Geburtstag . (Auszug):

''Mein Buch ist endlich beendet, das Ver­fahren an der Uni desgleichen. Eine neue Etappe wird nun beginnen, die Wohin­Frage wird nun immer konkreter. Die Frage der "konkreten Utopie" im Revo­lutionskonzept wird immer aktueller_. Für

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unsere Sektierer ist das ein Räts~/ und desgleichen ein Greuel. Die Frage der Vermittlung von Fern-Ziel und Nah-Ziel. wie sie Ernst philosophisch definiert hat, scheint mir eine Grundproblematik sozia­listisch-kommunistischer Politik zu sein. Allerdings nur dann, wenn der Freiheits­begriff im Sozialismus-Verständnis veran-

soziale Daseinslage zu begreifen, die dies­bezüglichen meta-ökonomischen Refle­xionen von Ernst noch ernster und kon­kreter zu nehmen. Unsere Richtung be­stimmte diese Periode, aber wir waren weder politisch noch organisatorisch in der Lage die sich andeutende neue Phase richtig einzuschätzen. Nun darüber zu

Sommer 19 71 in Aarhus : Rudi Dutschke und Ernst Bloch

kert ist, die Kategorie der Freiheit dem Sozialismus nicht feindlich gegenüber­steht. Letzteres ist fiir uns, also fiir dieje­nigen die DDR-Geschichte mitgemacht haben, ein entscheidendes Moment der sozialistischen Perspektive. Es kam nicht von ungefähr dass Ihr mit uns, einer be­stimmten SDS-Fraktion mit ehemaligen DDR-Bürgern an der Spitze, - dass wir mit Euch in ein politisch-persönliches Verhältnis gekommen sind. Nicht die Kinder der "Frankfurter Schule", son­dern die Erwachsenen und erwachsen Werdenden mit Erfahrungen der staats­sozialistischen Deformation bestimmten den Charakter und das Ziel der Neuen Linken. Herbert Marcuse drückte das Moment der internationalen Dimension der sozialen Befreiung aus, darum sein so scheinbar überraschender Einfluss. Die anti-stalinistische Tiefe der SDS-Rich­tung zwischen 1965 und 1968 traf aber einen fundamentalen Kern der neuen Sozialismusbestimmung, einer die ten­denziell über die Frage des Anti-Imperia­lismus hinausging und die konkrete Ne­gation der staats-sozialistischen Def or­mation beinhaltete. Leider waren wir nicht in der Lage.; wohl allein über unsere

jammern würde andeuten weder die Bloch 'sehe Lebens-Geschichte noch die Bücher rezipiert zu haben. Da gab es viele Übergänge, Zwischenwege und Kreuzun­gen, - allerdings eine ungebrochene Kontinuität, die des Suchens nach der Konkretisierung des Freiheitsbegriffs des "utopischen Sozialismus", des Frei­heitsbegriffs des geschichtlichen Wider­stands. "Konkrete Utopie" und "utopi­scher Sozialismus" scheinen mir bei Ernst eine spezifische Verkettung zu haben. Sind die Begriffe der Wesenslogik der Kapitalbewegung bei MarX Begriffe der "konkreten Negation" der "modernen bürgerlichen Gesellschaft", so ist von ih­nen desgleichen feststellbar, dass in der "konkreten Negation" der sozialistisch­kommunistische Freiheitsbegriff "verlo­ren" ging, die utopische Schlüsse/frage des Klassenkampfes um die soziale Befrei­ung ihres sprengenden Kerns beraubt wurde. Davon können wir und besonders die staats-sozialistisch "Unterdrückten und Beleidigten" viele Lieder singen. Und da wundern sich oft so viele linkelnte/lek­tuelle im Spätkapitalismus über scheinbar "rein bürgerliche" Widerstandskräfte im "Warschauer Pakt" usw. "

Rudi Dutschke

In den folgenden beiden Jahren ließ sich Dutschke "mit Bloch im Gepäck" im­mer stärker in die Kontroversen der west­deutschen Neuen Linken ein.1975 beton­te er die essentielle Bedeutung Blochs: "Ernst war und ist fiir eine, inzwischen fiir mehrere jüngere Generationen Aus­druck der Kontinuität des sozialistisch­kommunistischen Widerstands und der konkret-utopischen Perspektive. In einer besonderen Periode der Vernebelungen und Verwirrungen im antikapitalisti­schen Lager sind die Spuren für die Hei­mat und für die Zukunft unzweideutig zu halten. " ~ Drei Monate später fügte er über sich selbst an: "(. .. ) Die Neue Linke wird gerade nur über eine kontinuierliche Rezension von Ernst eine breitere Dimension für politi­sche Perspektiven gewinnen können. Als ob die italienischen Kommunisten und Sozialisten ohne Gramsci z.B. auskom­men könnten. Und wieviel breiter ist der Ernst. Ich bin sicher, ohnedasBlochsche Moment in meiner Agitation, wie ver­kürzt auch immer, würde ich niemals an­ders gehört werden als die vielen anderen Agitatoren. Die anderen Besonderheiten mögen eine Rolle spielen, sind aber nicht entscheidend. Ich habe meine christliche Vergangenheit niemals- liquidiert. -In der Auftzebung bleibt die Erbschaft erhalten. Was ~ovieleLinks-Agitatoren nie ver­standen haben. (. .. )" 9

Kritisch-solidarisch hatte Karola sein Engagement verfolgt: ''Die Querelen in der bundesrepubli­kanischen Linken sind unerträglich und bekümmern uns genauso wie Dich. Du persönlich hast immer noch die Aura um Dich, aber Du allein kannst auch nicht die Risse leimen. Ich halte es auch fiir viel wichtiger, daß Du Dich auf Deine Studien konzentrierst. Die theoretische Arbeit ist heute sehr wichtig, nachdem so viele sogenannte Linke gegen Theorie sind und eine unverdaute Praxis ohne Theorie vorschlagen. " 10

Inzwischen hatte sich seine körperliche Konstitution erheblich verschlechtert. An den Feierlichkeiten zum 90. Geburts­tag von Ernst Bloch konnte er nicht teil­nehmen. Er schrieb dafür eine umfassen­de und kritische Würdigung des Bloch­schen Lebenswerkes. Der Artikel erschien in der Septemberausgabe der Zeitschrift 'konkret' im Jahre 1975 upter dem Titel 'Im gleichen Gang und Feldzugsplan' .11 Wenige Wochen nach Blochs damaligem Geburtstag· waren Dutschkes in Tübingen

TÜTE III

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Rudi Dutschke

zu Besuch.Rudi erlitt erneut einen epilep­tischen Anfall - eine unmittelbare Fol­ge der Schußverletzungen aus dem April 68. Mit etwas niedergedrückter Stim­mung nahm er in seinem Brief vom 18. September 1975 Bezug auf die Tage am Neckar:

Liebe Karola, lieber Ernst, hoff entlieh habt Ihr meinenBrief mit dem 'Konkret'-Artikel erhalten. Wenn Ihr we­sentliche informative und inhaltliche Einwände habt, so wäre ich Euch dank­bar darüber ein Wort zu verlieren. Da ich in den nächsten Wochen für eine evange­lische Zeitschrift darüber schreiben will unter welchen Voraussetzungen der E. Bloch in den verschiedenen Klassenfrak­tionen des deutschen Geistes rezipiert wurde. Und zwar gerade an dem 90. Ge­burtstag. Aber selbstverständlich auch sonst bin ich fiir jede Korrektur dankbar. Schon aus den glänzenden Gesprächen mit Euch ist mir manches neu klar ge­worden, auch gerade was die Anfangszeit betrifft. Wiederum reflektiert unter dem besonderen Aspekt des Verhältnisses von Philosophie und Politik. Auch die kriti­schen Bemerkungen von Ernst über mein Lenin-Lukacs Buch habe ich gut verstan­den! Es gi.bt bei mir noch immer eine Kluft, wenn auch vermindert, zwischen agitatorischer und propagandistischer Form. Die Schreibform ist noch nicht die

(

Sprachform. In der jetzigen Etappe bleibt die wissenschaftlich-literarische Arbeit im Mittelpunkt. Dazu brauche ich aber regelmässige Gesundheit. In bester Verfassung habt Ihr mich nicht vorgefun­den. Die schwere einwöchige Rundreise vorher über verschiedene Gruppen, Rich­tungen und Städte hatte mich ziemlich mitgenommen. Ich halte nur viel durch wenn eine absolute Regelmässigkeit von Schlaf, Essen usw. gegeben ist. Das war in dieser Woche bevor wir in Tübingen landeten nicht der Fall. Am frühen Mor­gen des zweiten Tages erlitt ich so einen kleinen e ile tischen Anfall. Nicht ge­fährlich, habe es dann voll unter Kon­trolle, aber nicht angenehm. Die Rück­wirkungen zeigen sich dannfüreinen Tag in der psychischen Struktur und im be­sonderen in der Lesefähigkeit. Ihr werdet nun leicht verstehen warum ich am Ab­schlusstag so verkrampft, so wenig ent­spannt war, gerade beim Lesen . . . Do­stojewski's epileptische Anfälle sind mit den meinigen nicht zu vergleichen, man verfiigte damals auch noch nicht über die regulierenden Pillen. Ich bin seit seit Jah­ren, toi toi ... , ohne schwere Anfälle.

IV TÜTE

Aber allein die kleinen, die fiir meine Freunde und Bekannte zumeist unbese­hen vorbeilaufen, ich fiir einige Minuten abwesend bin, sind auch kein 'Vergnü­gen: Nun ist genug, ich wollte Euch bloss kurz einen nicht ganz durchschau­baren Zusammenhang aufleuchten. Seit Wochen sitze ich nun schon an x-Büchern über die Entwicklung der "Rationalisie­rung" in der BRD und der DDR. Stink­langweilig auf den ersten Blick, hoch­spannend auf den zweiten: wie die DDR ihre Herrschaftsmaschine über die Ver­wissenschaftlichung des Arbeitsprozesses zu festigen versucht. Die Zuspitzung des Herr-Knecht-Verhältnisses wird aber ir­gendwann einen qualitativen Sprengstoff in sich tragen. Wir werden sehen. Nun höre ich auf, die Zeit drängt und das Bett ruft auf mich. Hoffentlich geht es Euch beiden weiterhin gut. Habt einen guten Schlaf und ein gesundes Aufwa­chen.

Rudi

Die umfangreiche Zahl von Briefen Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch be­zeugen nicht nur die enge persönliche Freundschaft, entgegengebrachte menschliche Wä1me und unmittelbare Hilfe, sie beleuchten zudem, in welchem Ausmaß Dutschke die Blochsche Philo­sophie defPraXiS kritiSch rezipiert un~ [ ur2 ich handhabbar gemacht hatte. Die Bedeutung Ernst Blochs für Dutschke -wie auch umgekehrt - ist von den jewei­ligen Biographen und politischen Kriti­kern wohl bisher unterschätzt worden.

er Tod Blochs im Alter von 92 Jahren am 4. August 1977 hatte Rudi weit mehr erschüttert, als er in der Öffentlichkeit bereit war zuzugestehen. In dem ersten und wohl schwierigsten Brief unmittelbar nach Blochs Tod machte er Karola und nicht zuletzt auch sich selbst Mut: "(. . .. ) Die Re-aktion der verschieden­sten Presseorgane in der BRD auf den Tod von Ernst, auf die Tübinger Trauer­reden ist schier eine Geschichte fiir sich. Die Bürokratie in der DDR und die Bour­geoisie in der BRD waren sprachlos bzw. entsetzt über die Unmöglichkeit Ernst Bloch zu ignorieren bzw. 'wohlwollend' zu 'integrieren' am Todestag! Es mangel­te nicht an Versuchen der FAZ u.a.m. die sozialistische Position der Freunde von Ernst und Dir zu denunzieren. Ich lege mal einen Leserbrief von mir fiir die FAZ bei. Wie dem auch immer sei, die unglaubliche Anerkennung, Bewunde­rung, Würdigung und Liebe der Persön­lichkeit und dem Werk des Philosophen

Ernst Bloch gegenüber durch so viele Menschen aus den verschiedensten sozia­len Schichten ist einzigartig. Die hinter­lassene Erbschaft und Perspektive nie aus dem Blick zu verlieren, die Größe und Schwierigkeit der Sache zu durch­blicken, - unsere Generation hat da not­wendige und schwere Arbeit vor sich. Ein Land verlor den größten subversiven Philosophen des Jahrhunderts, die zwei Staaten mit ihren Regierungen ließen sich in Tübingen nicht wirklich sehen. Die Geschichte wird das Urteil schon ge­sprochen haben: Regierungen und Staa­ten vergehen, aber eine große Philoso­phie wird weiterleben. (. .. ) " 12

Nur zweieinhalb Jahre später starb voll­kommen überraschend am 24. Dezem­ber 1979 Rudi Dutschke an den Spätfol­gen des Attentats. Er hatte einen erneu­ten epileptischen Anfall erlitten. Karola Bloch verlor in kurzer Folge zwei ihrer engen Vertrauten.

Anmerkungen 1 Rudi Dutschke, Mein langer \iarsch , Hg.v.

G. Dutschke-Klotz, H. Gollwitzer, J. Mier­meister, 1980, rororo 4718, S. 82

2 Rudi Dutschke, Aufrecht Gehen, 1981, s. 96

3 Der Brief ist ausführlich abgedruckt in: Rudi Dutschke, Die Revolte, hg.v. G. Dutschke-KlotZ, Jürgen ~iermeister und Jürgen Treulieb; rororo 4935, 1983 . S. 258

4 vergleiche hierzu: Ulrich Chaussy, Die drei Leben des Rudi Dutschke, Eine Biographie, 1983, s. 308. Rudi Dutschke, Spaziergänge mit den Blochs, in: R.D., Die Revolte (siehe oben), s. 234 ff. Karola Bloch, Erinnerungen an Rudi Dutschke, in: Rudi Dutschke ist tot - Ge­danken und Erinnerungen, hg. von Fach­schaftsräte-VV der Ernst-Bloch-Universität sowie den Basisgruppen in den VDS, Ja­nuar 1980 Tübingen.

5 Brief Rudi Dutschkes an Blochs vom 10. Dezember 1971

6 Franz Jannossy publizierte im SOS-nahe­stehenden Verlag Neue Kritik in der Reihe 'Probleme sozialistischer Politik' als Band 12 "Das Ende des Wirtschaftswunders", 1969. (vgl. dazu: Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, Hg.v. E. Altvater und F. Huisken, Erlangen 1971). Die im Fragment erwähnte Begegnung zwi­schen Bloch und Lukacs fand im Jahre 1912 in Budapest statt. Vgl.: Peter Zu­deiCk, Der Hintern des Teufels, S. 42.

7 Brief Rudi Dutschkes an Blochs vom 17 .7 .1974 aus Aarhus/Dänemark.

8 Brief Rudi Dutschkes an Blochs, abgedruckt in "Die Revolte", s.o. S. 261/2.

9 Rudi Dutschke an Karola, 6. Juli 1975 10 Karola Bloch an Rudi Dutschke, 8.2.75 11 Der Konkret-Artikel wurde nachgedruckt

in: "Die Revolte", s.0., S. 222 12 Brief Rudi Dutschkes an Karola Bloch

vom 28.8.1977.

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vor, Luftschlösser, verspottete Wunsch bil- · der. Philosophie muß also keine "'Sekun­därliteratur'' mit rotem Umschlag sein, kein parteifrommer Lügenvortrag ... Ich erinnere mich noch genau an diese ersten Augenblicke des Lesens. Ich hüpf­te von einem Wort zum anderen, beson­ders die Überschriften gefielen mir:

"Vieles schmeckt nach mehr': .. "Täglich ins Blaue hinein" ... "Versteck und schöne Fremde': ..

Das war Literatur. So war es mir bei Dos­tojewski gegangen, bei der _Lektüre von "Raskolnikow" ... Und bei den Gedichten von Brecht und Bobrowski. Hatte Philo­sophie nicht vor allem "parteilich" zu sein und "wissenschaftlich" zu dienen dem Staat, der Sache? Sie hatte vor allem frei zu sein, das ging von diesem Buch aus. Bloch gab Rätsel auf, strengte an, schenkte nichts. War auch dunkel an manchen Stellen, nur andeutend, selbst auf der Suche. Diese Prosa ließ sich nicht herunterleiern in "Leistungskontrollen" wie Absätze von Lenin und Ulbricht. Und wenn aufsagen, dann wie ein verbotenes Gedicht.

Viel werde ich nicht verstanden haben vom ''Prinzip Hoffnung" bei dieser er­sten hastigen Lektüre. Aber eine Vor-Ah­nung stellte sich ein, ein Geschmack von diesem verrückten, bohrenden Noch­Nicht, vom hochfahrenden Traum nach Wahrheit, diesem Spießru tenlauf, wie sich noch herausstellen sollte ...

Fünf, sechs Jahre später brachten mir kurze Prosastücke über den Alltag der "Nationalen Volksarmee", über die sel­ber angetroffene Banalität dieses alten neuen Kasernenhofes, die Feindschaft der Zensurbehörden ein. (Angewandt hatte ich eine realistische Methode. "Denken heißt Überschreiten", hatte ich im Vorwort zum "Prinzip Hoffnung" ge­lesen, "So jedoch, daß Vorhandenes nicht unterschlagen, nicht überschlagen wird ... "). Auch meine Freundschaft zu Robert Havemann und Wolf Biermann paßte den strengen Staatsschützern nicht. So landete ich im Gefängnis und nach reichlicher Strafandrohung in Westberlin. Nun konnte ich wiederungehindert durch Straßen gehen und schreiben, lesen, sa­gen, was ich wollte. Nun, so schien es, hatte alles keinen Sinn mehr. Denn ich war weg. Weggegangen, weggegangen worden ~ auf jeden Fall nicht mehr im eigenen, vertrauten Gebiet. Die Ausgren­zung von Oppositionellen, die Abtren­nung, war wieder einmal gut gelungen:

Tief saß das Schuldgefühl und band an Freunde und letzte Feinde. Durfte man weggehen? In Gesprächen zum Beispiel mit Robert Havemann wurde immer wie­der die Klage über den "Abgang" von wichtigen Menschen laut. Sie verschwan­den im Westen und waren, aus dieser Per­spektive, tot. Auch Ernst Bloch, den Ha­vemann sehr schätzte, hätte nach seiner Meinung nicht in Tübingen bleiben dür­fen.- Dieser Vorwurf, diese territoriale Entfernung und der damit verbundene "Systemwechsel" überschattete die Be­schäftigung mit dem Werk Blochs. Wer etwas zu sagen hat, wer kritisiert, muß bleiben. Und wenn er vom Statt genervt wird, hat er das auszuhalten. Staaten- und Länderwechsel galt als Flucht, als Kapi­tulation. Und nun befand ich mich selber in Westberlin, also anderswo, und las bei Ernst Bloch:

"Der Vertriebene ist durchaus nicht ent­wurielt, denn er hat sein Land wider Willen verlassen. So hängt er noch mit ihm zusammen... Befinden sich heute nicht die meis.ten Menschen in einem Zwischenzustand? Jeder Mensch lebt ei­ne Grenzsituation zwischen dem Altern, das er vielleicht nicht aufgeben will, aber auch nicht halten kann, und demNeuen, das noch nicht wirklich wurde. "

Das war mir nahe, tröstete mich. Bloch hatte es in den USA geschrieben, auf der Flucht vor Hitlers Tyrannis. Ließ sich da· etwas vergleichen? Ja, da ließ sich etwas vergleichen. Welche waren auf der Flucht vor der anderen Tyrannis, die auch nicht gerade zimperlich umging mit "anders­denkenden" Zeitgenossen.

"Wir politisch-kulturellen Emigranten kommen uns daher gar nicht besonders

Falsche Erfüllung

exzeptionell vor. Wir sind, was Grenzsi­tuationen anlangt, recht zeitgemäße und nur etwas übertrieben deutliche Erschei­nungen. Unser Unterschied vom Norma­len ist der, daß wir auch noch die Sorge der räumlichen Zwischenexistenz haben. So kostet der Emigrant die Depressionen und Gefahren der heutigen Friedlosig­keit konzentriert aus. "

Es soll jetzt nicht über Deutschland und die Welt diskutiert werden, Exil ja oder nein und so weiter. Ich will nur andeu­ten, wie wichtig mir in dieser Situation das war, was von Ernst Bloch aufgeschrie­ben wurde im Jahr 1939. Und wie ver­gleichbar mir der Grundkonflikt schien. Wobei gerade dieser Vergleich zu den schärfsten Tabus gehörte, die ich bis da­hin kennengelernt hatte ("Flüchtlinge sind wir. Nur wir, niemand .sonst. Nur wir Antifaschisten. Diese Herrschaften sind Ausreiser. Ausreiser mit Sack und Pack, bei hellichtem Tage, mit schönen Papieren, auf eigene Veranlassung und oft mit freundlicher Verabschiedung" sag­te Stephan Hermlin erst kürzlich wieder in einem Interview). Ernst Bloch wies auf die Feindseligkeiten gegen ihn und seine Schüler hin, als er 1961 nicht nach Ost­berlin zurückkehrte. Er schrieb:

"&J entstand me Tendenz, mich in Schwei­gen zu begraben. Demgegenüber gaben mir seit geraumer Zeit Universitäten, Zeitschriften und mein Verlag in We,st­deutschhnd Gelegenheit zu lehren, zu publizieren und meine bisherige Arbeit fortzusetzen. Nach den Ereignissen vom 13. August, die erwarten hssen, daß fer selbständig Denkende überhaupt kein Le­bens- und Wirkungsraum mehr bleibt, bin ich nicht mehr gewillt, meine Arbeit

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Jürgen Fuchs

und mich selber unwürdigen Verhältnis­sen und Bedrohungen auszusetzen."

Hatte Bloch nicht richtig gehandelt? Ich ahnte, daß es mehrere authentische Mög­lichkeiten geben kann, sich unter schwie­rigen Verhältnissen angemessen zu ver­halten. Dies hätte ich sehr gerne mit mei­nen DDR-Freunden diskutiert, die stand­hielten, sich nicht wegekeln ließen ... Im Westen lag Blochs Gesamtausgabe vor, das Lesen konnte beginnen. Mich inter­essierte besonders die Frage, ob Bloch in Tübingen auf Kritik und Analyse der östlichen Seite verzichtete, ob er zum Beispiel den "Beifall von der falschen Seite" fürchtete, ob er taktierte oder im Nachhinein verklärte, vielleicht um die weitere Veröffentlichung seiner Werke in der DDR wahrscheinlicher zu machen (Wie es einige in den Westen umgezoge­ne DDR-Autoren tun. Manche von ih­nen liegen offenbar fester als zuvor an der Parteileine: Sie wollen ihren Reise­paß behalten und sich die von Zeit zu Zeit nötigen Verlängerungsstempel nicht verscherzen. Freunde und Bekannte war­ten, die Mutter ist krank und muß be­sucht werden ... ). Nichts davon ließ sich bei Ernst Bloch entdecken. So sehr hing er auch nicht am Ländchen DDR, eher dieser Eindruck. Er kannte die Welt, dachte über Grenzen hinweg, war fähig zum neuen Anfang. Mit 76 Jahren. Sou­verän schrieb, dachte und sprach er wei­ter, ohne Rüchsicht auf irgendwelche Ideologiewächter oder Staatengebilde. Er analysierte die "falsche Erfüllung", die die Hoffnung auf demokratischen Sozialismus in den "real existierenden Staaten" verraten, aber nicht auslöschen kann. Er bezeichnete die Entwicklung in der Sowjetunion als tragisch, weil diesem zunehmend mächtiger gewordenen Land die liberale Tradition fehlt, "das Indivi­duum, die Freiheitskategorie. Dort gibt es noch nicht einmal eine Gleichheitska­tegorie. Und noch nicht einmal eine Brü-

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derlichkeitskategorie. Der Zarismus ist drin ... ", sagte er in einem Gespräch mit dem Rundfunk 1974. Und er schreibt:

"Eines ist dem noch nachzutragen, ohne Lust, doch unabweisbar. So kam es, daß Bauarbeiter eine rote Fahne zerrissen, im Umzug an ihnen vorbeigeführt ... Die rote Fahne erinnerte die Arbeiter nicht nur mehr an 'Wacht auf, Verdammte die­ser Erde', sondern sie erinnerte wahr­scheinlich an das Ulbrichtsche darin, an das stalinistisch Diskreditierte insgesamt. Der Sozia.lismus hat sich drüben! estgefah­ren inApparatschiks, Schema, vor allem irz grausamen Institutionen, in Mitteln, die nicht den Zweck heiligen ... und immer wieder die Verschickungslager in Sibi­rien (für unliebsame Intellektuelle neuer­dings durch die Einliefenmg in Irrenhäu­ser ersetzt), die riesige Staatsomnipo­tenz ... "(Suhrcamp-Werke / 11, 471).

Und wer Bedenken hat, das Kriegsrecht in Polen· zu verurteilen (Wie leise treten gerade einige sozialdemokratische Politi­ker, als habe es die Zeit des 'Sozialisten­gesetzes' im vorigen Jahrhundert und die Lager-Verfolgung durch die Nazis nicht gegeben. Was hilft? Ein neuer Friedens­kongreß vielleicht.), der kann noch ein­mal nachlesen, welche "Brüderlichen Kampfesgrüße" Ernst Bloch 1968 nach Prag sandte:

''Das grauenvolle Prager Geschehen wird nie vergessen werden... Lüge über Lüge kommt noch hinzu, angebliche Rettung des Marxismus wird von denen gebrüllt, mit Panzern und Blutvergießen garniert, die in Wahrheit als seine schlimmsten Feinde und Diskreditierer vor den ent­setzten Augen der Linken in der ganzen Welt tätig sind ... " (Suhrkamp, 11/418)

Diese Sätze halten sich nicht zurück, sie nennen die Dinge beim Namen. Sind scharf, auf Wahrheit und Wertung orien­tiert. Auch nicht auf der eiligen Suche, das "Schlimmste zu verhindern" (was

im Falle des Einmarsches in die Tsche­choslowakei und die Kriegserklärung an die freie Gewerkschaft "Solidarität" ge­rade geschehen war!). An dieser Entschiedenheit, das auszu­sprechen, was ist, und was zu bedenken ist aus eigener Position, werden auch die nicht vorbeikommen, die Ernst Bloch heute und nach langer Schweige- und Ver­leumdungszeit sele_ktiv umwerben: Die DDR-Staatlichkeit hat sich entschlossen, ein Buch mit Texten aus dem historisch­philosophischen Werk zu verlegen. Gut so könnte man sagen, und das stimmt schon: besser ein kleiner Teil, als gar nichts. Und doch soll auch sortiert und entschärft werden. Das Erkundigen und Bemühen um das gesamte, unzensierte Werk (und die freie Diskussion in jeder Buchhandlung) wird entscheiden, ob sol­che Reduktion gelingt.

Bloch war ja der Meinung, daß der aus­stehende Anstoß in Richtung humane Gesellschaft aus dem Westen kommen wird. "Und dann nach Rußland hineinge­tragen wird ... " (Gespräch im April 1974 mit dem SWF zusammen mit Karola Bloch). Hierzu könnte die offene und kontroverse Zur-Kenntnis-Nahme der Blochschen Gedanken beitragen (wie zum Beispiel auch der von Manes Sperber und Karl Popper). Es soll kein neuer "Klassi­ker" installiert werden, es kommt vor allem auf Fragen und eigene Ideen an. Das heißt auch: Bücher schmuggeln ...

Trautje Franz

Revolutionäre Philosophie in Aktion Ernst Blochs politischer Weg, genauer besehen

. 264 S., DM 26,80 ISBN 3-88506-132-5

Jürgen Fuchs Mai 1985

Ernst Bloch wird auch im Jahr seines hundertsten Geburtstags und darüber hinaus lnspirationsquelle und Berufungsinstanz bleiben für eine grqße Gemeinde von Lesern. Die Faszination, die von ihm ausgeht. nicht unbefragt hinzunehmen, daran macht sich Trau_tje Franz in ihrer Studie über den politischen Gehalt 1m Werk Ernst Blochs. Unbefangen und detailgenau verfolgt sie den politisch­philosophischen Weg Blochs, die Erfahrungsgehalte d~r Revolutionsepoche am Anfang dieses Jahrhunderts. die expressionistische Entstehungsatmosphäre seiner . f~­hen Schriften, Einflüsse aus der jüdischen und chnsth­chen Mystik und aus dem Marxismus. Vor allem aber geht es um die politische Konsequenz de_r Blo~schen Philosophie, um seine Schlußfolgerungen m politischen Fragen, um oftmals nachdenklich stimmende Reaktio­nen auf das Zeitgeschehen.

JUNIUS VERLAG Von-Hutten-Str. 18, 2000 Hamburg 50.

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Heidrun Hesse

ccAUFBAAUSEN . ZUM SEIN •• BEDENKEN GEGEN BLOCHS METAPHYSISCHEN MATERIALISMUS

cA , ~" (w JA 'tc(, Lb-~~~L1 .... -&--- k Heidrun Hesse studierte F Tübingen Philosophie und ist zu den Tü inger "Vernunft­kritikem" um den Konkursbuch-Verlag zu zählen. Sie veröffentlichte 1984 ihre Dis­sertation "Vernunft und Selbstbehauptung", eine von Horkheimers Begriff der "in­strumentellen Vernunft" ausgehende Studie zur Kritik der neuzeitlichen Rationalität und ·der mit ihr gesetzten Techniken der Herrschaft über die Natur und in der Gesell­schaft.

"Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was." So schrieb Ernst Bloch im Vorwort seines wohl bekanntesten Werks "Das Prinzip Hoffnung". Ge­druckt bereits 1959, sind diese Sätze von schier verblüffender Aktualität. Denn lesen lassen sie sich als triftiger Hinweis auf eine gerade gegenwärtig weit verbreitete Befindlichkeit, die sich vor allem in der linken Szene eingenistet zu haben scheint. "Dieser Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht." Die Furcht weiß von der kata­strophalen technischen Möglichkeit, daß ein atomarer Amoklauf der Herrschen­den jede Spur menschlichen Lebens auf der Erde vernichten könnte . Und ebenso wachsam richtet sie sich gegen den fort­gesetzten Raubbau an der Natur, der die Lebensgrundlagen der Gattung in ·

wachstumsbesessener Kurzsichtigkeit auf eine schleichendere Weise zu zerstö­ren droht. Wie ist diesen Gefahren dies­seits von zynischer Resignation ins scheinbar Unvermeidliche, panischer Flucht in bewußtseinstrübende Heilsleh­ren oder verzweifelt-heroischem Trotz­dem, wie ist ihnen im weitesten Sinne politisch also, zu begegnen?

Viele werden den bitteren Geschmack der Ohnmacht nicht los. Ängste melden sich unüberhörbar zu Wort und in ihnen - auch - ehrliche Ratlosigkeit. Das ist, so denke ich, zunächst keineswegs · schlimm. In diesem Innehalten nämlich könnte uns wenigstens die Ahnung däm­mern, daß es an der Zeit ist, ~inige früh­neuzeitliche Omnipotenzphanasien und allzu naive Wunscherfüllungsträume zu verabschieden, die in der Projektion ei­nes selbstherrlich sich verwirklichenden Geschichtssubjekts 'Menschheit' gipfeln . Wenngleich sie in ihr noch nicht Ein­sicht geworden ist, diese Ahnung immer­hin könnte die Angst nicht nur dem dreist-fröhlichen Optimismus der selbst­gefälligen Wendepolitiker vorau~haben.

"Der Boden wankt", diagnostiziert Bloch. Da wäre es, auf den ersten Blick, durchaus naheliegend, Abhilfe dort zu suchen, wo sie vollmundig versprochen wird: "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen." Blochs Philosophie bietet sich so als Lehrmeisterin der Hoffnung an. Sie will den Ängstlichen und Zwei­felnden unter die Arme greifen und auf die Sprünge helfen in eine bessere Wirk­lichkeit. Prinzipielle Auskunft glaubt sie geben zu können über die Ursachen nicht nur der Furcht, sondern auch der Angst in der Welt. Und - eine gewiß fas-

Metaphysik

zinierende Verheißung - sie gibt vor, '"in der Welt selber" zu suchen und zu finden, "was der Welt hilft". Das klingt verlockend, zumal, wer Bloch noch er­lebt hat, sich seiner außerordentlichen hoffnungskräftigen Vitalität erinnern wird, die seine Hörer mehr noch als sei­ne Leser zu begeistern und mitzureißen vermochte.

Da müßte schon eine gehörige Portion Verstocktheit mitbringen, wer dieses Angebot zur Selbstverständigung nicht pochenden Herzens wollte prüfen mö­gen . Ich vermute allerdings , daß anderer­seits so mancher der Versuchung allzu vorschnell und bedenkenlos nachgibt, sich bei Bloch die Orientierung zu ho­len, die alle Verwirrung beseitigt. Auf der Ebene der Scfilagwörter wird das so­gar wunschgemäß funktionieren. Wem das genügt, dem kann ich nur anraten , sich die Mühe einer intellektuellen Aus­einandersetzung zu ersparen und Beden­ken gegen Blochs metaphysischen Mate­rialismus sicherheitshalber umgehend vom Tisch zu wischen. Nicht allein mir aber scheint Mißtrauen angebracht ge­gen ein gesellschaf tskri.tisches Philoso­phieren, das sich etwas darauf zugute hält, ontologisch im (Noch-Nicht-)We­sen des Seins begründet zu sein. "Das Inkognito des Menschengrunds, Welt­grunds bleibt entweder ungelichtet, oder es wird in letzthin gemeinsamem Auf­brausen zum Sein wie Utopie hell." Die­se wuchtige Behauptung über das und aus dem "Experimentum Mundi'', Blochs theoretischer Summa, ist so einer dieser Kernsätze, in denen es wahrhaft apokalyptisch braust, blitzt und don­nert. Welche kleineren Fragen als die nach dem Sein überhaupt und welche weniger grandios-mystifizierenden Ant­worten werden eigentlich verdrängt, wenn sich jemand an solchen Apotheo­sen aufrichtet?

Freilich, bei aller Vernarrtheit in die an­ti-geschichtlichen Wesensrätsel, die Me­taphysik endgültig glaubt lösen zu kön­nen, ohne dabei doch jemals ihre jeweili­ge historische Beschränktheit hinter sich zu lassen, war Ernst Bloch ein entschie­den politischer Kopf. In das komfortab­le Verlies des selbstgenügsamen Den­kens, jenen berüchtigten Elfenbeinturm bloß akadenlischen Räsonnierens, hat er sich nicht kleingläubig zurückgezogen

. oder gar einsperren lassen . Seine Neu­gier, sein lichter Witz und seine Sprache hoben sich wohltuend ab von der f al-

TÜTE 37

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Heidrun Hesse

sehen Bescheidenheit der vielen fleißi­gen grauen Mäuse, die im universitären Geschäft um kaum etwas anderes als um Selbstbehauptung ringen. Bloch schien nie überfordert, wenn es galt, praktische Konsequenzen des Theoretisierens auf­zuzeigen und zu aktuellen Problemen Stellung zu nehmen. Interessanterweise unterschied ihn diese Fähigkeit nicht nur vom Heer seiner Kollegen, sondern noch eindrücklicher von der zumeist an­dächtig dahindämmernden Gemeinde seiner Studenten. Auf matte Unwillig-

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keit nämlich pflegten die Aktivisten der Fachschaft zu stoßen, wenn sie diese zu politischer Diskussion bewegen wollten, gerade so, als beglaubige der Name

! "Bloch'' auf dem Seminarschein - eine Art Ablaß? - einem jeden unzweifelhaf­

t tes Engagement. Offensichtlich ist kein Denken dagegen gefeit, von seinen An-hängern weniger als produktive Heraus­forderung ernstgenommen zu werden, als ihnen vielmehr zur Erbauung und als Versicherung zu dienen. Dem "Alten" ist es gewiß nicht anzulasten, es scheint mir jedoch noch heute bemerkenswert,

\

daß sich ausgerechnet das große Bloch­Seminar politisch eigentlich immer nur al~ Lobby hervortat.

Zwar rät auch Blochs Philosophie, das "nächste Beste" nicht selbstvergessen zu überspringen, leben aber tut sie von ei­nem ungeheuren, in seiner letzten meta­physischen Zuspitzung fast naivverrnesse­nen, Pathos der überschreitung. Eine ele­mentare Lust am Aufbegehren ist da spürbar, von der indessen das häufig arg vertrocknete Gerede der braven Verteidi­ger Blochscher Philosopheme kaum noch Zeugnis abzulegen vermag. Kein Hauc!1 von pflichtmäßiger Moralität, dieser ei­gentümlichen Zwanghaftigkeit, wie sie etwa dem Haberrnasschen Modell der Diskursethik anhaftet, weht durch "Das Prinzip Hoffnung". Es (ent)führt den Le­ser hingegen in vielversprechend·e Wunschlandschaften. Faszinierend, wie Bloch nicht nur in Religionen und großer Kunst, ·sondern ebenso in Triviallitera­tur, schiefen Tagträumen und ganz all­täglicher Unzufriedenheit den -zunächst durch und durch weltlichen - Geist der Revolte gegen das schlechte Bestehende namhaft zu machen weiß. freilich, mit der Entdeckung des "Kontinents Hoff­nung" (Klaus Podak) gibt sich die Aben­teuerlust des Mystikers nicht zufrieden. Sie will in das innerste Geheimnis des Seins selbst vordringen. Versteht sich, wenn das Wünschen helfen soll, dann müssen die Hoffenden tätig werden und lernen, ihre Wünsche auch zu verwirkli­chen. Wissen ist vonnöten, geschichtliche und natürliche Zusammenhänge müssen begriffen werden, damit objektiv-reale Handlungsmöglichkeiten ergriffen wer­den können. An solch konkreter "Ten-

1 denzkunde" allerdings hat Blochs philo-1 sophisches Werk denn doch zu wenig zu 1 bieten. Es läßt sich nämlich gar nicht

wirklich ein auf die Fragestellung, was wir aus der zukunftsoffenen geschichtli­chen Situation machen können, in die

wir zufällig hineingeboren sind , wie wir in ihr ohne imaginäre Rückversicherung richtig leben können. illochs theoreti­scher Ehrgeiz geht nur vordergründig auf kritische Gesellschaftstheorie. Die Philo­sophie der Hoffnung verhehlt nicht, daß sie fundamentalen Aufschlub geben will über Wesen und Tendenz des Weltprozes­ses überhaupt. Ein imaginärer Weltgrund soll es sein, der durch unser Wünschen und Tun hindurch und im Kampf gegen das "Fortdauemd-Widersacherische" in der Welt dem Verum, Unum und Sum­mum bonum zustrebt. Geschichte wird eingespannt in eine abstrakte Ontologie

· des Noch-Nicht. Ihr angebliches Ziel, "die Erhellung dessen, was im letzten Daß: grund des Geschehens so treibt wie sich noch verborgen ist", wäre auch ihr Ende: die Erfüllung aller Wünsche, formal be­stimmt als kosmische All-Iden titä t,inhalt­lich als rettende Entdeckung des "Krauts gegen den Tod". Daß Blochs Philoso­phieren auf der Ebene einer "Phänome­nologie des Wunsches" äußerst anregend und erhellend ist, ihr Herzstück aber , die Ontologie, die verwegene Ausgeburt un­kritischen Wunschdenkens, hat Hanna Gekle als erste ausgeführt. (Ihr Buch "Wunsch und Wirklichkeit" wird im Herbst im Suhrkamp Verlag erscheinen.) Wer über die fatale metaphysische Kon­struktion, die Bloch in seinen verschiede­nen Werken nur geringfügig variiert , nicht krampfhaft hinwegsehen mag, wird ihrer Diagnose nur zustimmen können. ~·

Von "Heimat" raunt es. Gewiß, mit "Blut und Boden" hat diese Sehnsucht nichts gemein. Verheißen aber,jedenfalls beabsichtigt ist die Oberwindung aller Widersprüche, die Aufhebung nicht nur der altbekannten "Entfremdung", son­dern jeglicher Fremdheit, von der Ador­no, dem eigenen Hang zum Messianismus zum Trotz, immerhin ahnte, gerade sie könne das gesuchte Gegengift gegen Ent­fremdung sein. ''Von früh an will man zu sich." Wirklich? Nicht zu einem anderen? Läßt sich der Begriff der Gesellschaft, gar das Ideal einer befreiten Gesellschaft so simpel anthropologisch im Selbsterhal­tungs- und Selbsterweiterungstrieb "des" Subjekts fundieren? Lieben wir, wie wir unseren Hunger stillen? Beruht Vergesell­schaftung auf gemeinsamen Interessen? In der zentralen Kategorie der philoso­phischen Ethik der Neuzeit, dem "Sol­len", drückt sich, so scheint mir, ein wa-

. cheres Problembewußtsein aus als in ih­rer glättenden Vereinnahmung durch die "docta spes". Bloch nimmt sie als Indiz

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einer Spannung bloß von Wunsch und Noch-nicht-Wirklichkeit. interpretiert sie als Vorschein des harmonischen· End­reichs. Aus einer vernunftkritischen Per­spektive. wie sie in der "Dialektik der Aufklärung" wenigstens angedeutet ist, ließe sich die Denkfigur des "Sollens'' !nders und wohl sogar streng gesell­schaftskritisch dechiffrieren: als Hinweis darauf. daß der Wunsch des einen durch­aus nicht der Wunsch des anderen ist, der des Täters nicht der des Opfers. der der Herrschenden nicht der der Beherrsch-

)( ten. Moralkritik könnte aufmerksam ma­chen auf die gravierenden Widersprüche, die zwischen Wünschenden, ja schon auf der Ebene des eigenen Wünschens, auf­tauchen und sich durch dessen Verwirk­lichung im gesellschaftlichen Macht­kampf um Anerkennung keineswegs in lauter Wohlgefallen und heitere Vernunft auflösen.

Aber spricht Bloch nicht auch von der ''Melancholie der Erfüllung"? In der Tat, jede gegenwärtige Wunscherfüllung bleibt Bloch zufolge etwas schuldig. Dauer und "absolute Bedarfsdeckung" (sie!) ver­spricht erst der "Besitz" (sie!) des höch­sten Guts. Auf ihn hin ist jede aktuelle

Unser Küchenchef empfiehlt heute:

Fromage Intellectuel

Zutaten: 1 hypnotisiertes Kaninchen 1 Scheibe durchwachsener Deleuze 1 /2 Pfund Guattari 3/8 l Foucault 1 Schuß Kafka Gewürze (Glucksrnann, Bloch)

Besorgen Sie sich ein im traditionellen linken Diskurs verschmachtetes hypnoti­siertes Kaninchen aus der gesellschaftli­chen Fabrik. Ziehen Sie ihm das Fell ab, und nehmen Sie es auseinander. Durch­wachsenen Deleuze und Guattari wür­feln und in sexuell aufgeladener Atmo­sphäre heiß anbraten. Kaninchen hinein­geben und von allen Seiten territoriali­sieren . Anschließend wieder deterritoria­lisieren. Nun vorsichtig lauwarmen Fou­cault in den Sud geben , dann ein Schuß Kafka. Alles zusammen in die revolutio­näre Kriegsmaschine schütten, decodie­ren, beschleunigen und nochmals deter­ritorialisieren, bis sich die Identitäten zum reinen Strom des Begehrens in der ganzen Heterogenität seiner Vielheit ver­schmelzen. Ab und zu ordentlich wün-

Zwecksetzung immer wieder zu überbie­ten. Es ist diese Fixierung auf einen for­mal bestimmten zu verwirklichenden Endzweck. die einen eigentümlichen Ni­hilismus ins Spiel setzt: Im Streben nach dem allerhöchsten Positiven verwandelt sich das je erreichte "Beste" umgehend in "Stückwerk''. Gegenwart wird im wörtli­chen Sinne ver-mittel-t. Daß Bloch lange glaubte, Stalins Politik rechtfertigen zu können, mag mit dieser Denkschablone zusammenhängen.

Wer sich schließlich dem Zentrum der Blochschen Metaphysik zu nähern wagt, der Besinnung auf "das eigentlich meta­physische Dunkel des gelebten Augen­blicks", der kann eine für das neuzeitli­che Denken bezeichnende Verwechslung gewahr werden: die notorische Identifi­zierung von Wunscherfüllung mit aneig-

. nender Vergegenständlichung. Aus Blochs Perspektive, nicht unbedingt aus der Wahrnehmung dessen, der sich auf ihn einläßt, bleibt der gelebte Augenblick dunkel, weil er "noch unbeherrschtes Jetzt" ist. Zu lichten wäre dieses Dunkel nach Bloch erst, wenn der Weltprozeß an sein Endziel gekommen wäre und damit ineins auch die Vergänglichkeit ver$an-

sehen, aber Vorsicht, Wünschen haben Explosivkraft! Kaninchen in die Repres~ sionsform geben. Vorher gut mit Diffu­sität einfetten, damit sich kein Boden­satz (Gewalt, Militanz, Kriminalität) bil­det. Mit der Wunschverkettung aus der revolutionären Kriegsmaschine übergie­ßen - es muß kräftig strömen - und an­schließend geriebenen Bloch und Glucksmann darüber ritualisieren. Zum Schluß obenauf die Diskursflöckchen setzen. (Feinschmecker bevorzugen den pikanten Gegen-Diskurs). Die Repres­sionsform in den libidinösen Backofen schieben. Backzeit: Null bis unendlich. Temperatur: Anarchie bis Chaos, dann entwickeln sich die Methoden der Zer­setzung am besten. Während der Backzeit brauchen Sie nichts anderes zu tun als abzuwaren und fleißig zu konsumieren. Nach Beendi­gung der Garzeit Backofen listig öffnen und recht fröhlich lachen. Wenn die Re­volte schillert, ist der Kapitalismus ka­putt. Serviervorschlag: Mit soviel Fröhlich­keit, Helligkeit und Ausdauer wie nur möglich garnieren. Verwenden Sie auch

Metaphysik

gen. Denn der Tod und das Dunkel des gelebten Augenblicks haben "die gleiche Wurzel", sie sind dem "Noch-Nicht",dem "Nicht-Haben" geschuldet.

Wie noch jede Metaphysik, die sich der kritischen Reflexi~n ihrer eigenen Vor­aussetzungen entziehen und aus der Ge­schichte davonstehlen will, um uns end­lich mit dem wahren Wesen des Seins vertraut zu machen, will auch der Bloch­sche Materialismus den Tod nicht wahr­haben. Ein "kritisches Verhalten", das Slch aüS der Tradition des historischen Materialismus versteht, wird sich dagegen · dem Wissen stellen, daß der· Tod "wirk­lich ins Nichts" führt (Max Horkheimer). "Wir kennen nur eine einzige Wissen­schaft, die Wissenschaft der Geschichte", so lautet ein Schlüsselsatz der" Deutschen Ideologie" . Er eröffnet auch uns genü­gend Forschungs- und Handlungsmög­lichkeiten. Nimmt man ihn als Ausgangs­punkt für die eigene Standortbestimmung

. im Spannungsfeld der Gegenwart, so wird man ihrer Komplexität vermutlich eher gerecht werden können als durch ihre ontologische Einschreinung in einem . ominösen Noch-Nicht-Sein, das nach Selbstaneignung hungert.

einige schmückende Beiwörter. Ihre Gä­ste werden begeistert sein und sofort auf einer Fluchtlinie abfahren. Dieses Rezept ist sehr vielseitig und läßt sich auf verschiedene Arten abwandeln. Hier einige Tips: ( ... ) Für Frauen eine besondere Spezialität: Deleuze und Guattari in die Pfanne hauen, mit einer Gewürzmischung aus gemahlener Lonzi und lrigaray, zersto­ßener Kristeva, granulierter Dalla Costa gehackter Cixous und Prokop und vor allem viel eigener Erfahrung bestreuen. Die Kräuter üben einen stailisierenden Einfluß auf den weiblichen Organismus aus und schützen den Körper vor männ­lichem Zugriff.( ... ) Guten Appetit und fröhliches Sodbren­nen! Kneipenkollektiv Rote Straße

(beigelegter Kommentar des Buchladen­kollektivs Rote Straße zur Aufsatzsamm­lung von Böckelmann u.a.: ''Das Schil­lern der Revolte", Merve-Verlag, Berlin (W.), 1978)

TÜTE 39

Page 43: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

Lateinamerika

Laenne·c Hurbon

GEGEN DEN BANALEN MATERIALISMUS

Ernesto Carqenal und Karola Bloch am 9. Oktober 1980 in Tübingen

Au{ dem Bloch-Lukacs-Colloque in Paris traf die TüTE Laennec Hurbon, der in den letzten Jahren in mehreren Veröffentlichungen auf die Bedeutung der Blochschtfu Phi­losophie für die revolutionäre Praxis der Befreiungsbewegungen der 3. Welt hingewie­sen hat. Laennec Hurbon stammt aus Haiti, studierte Theologie und Soziologie in Paris und arbeitet zur Zeit im "Centre National de Recherche Scientifique" in Paris im Be­reich "Soziologie und Religion des karibischen Raums". Mit seinem Buch "Ernst Bloch, Utopie et Esperance" von 1974, der ersten Gesamtdarstellung der Blochschen Philosophie in Frankreich, schaltete er sich in die Diskussion über die Theologie der Befreiung ein. Die Attraktivität der Blochschen Philo­sophie für die Länder der 3. Welt besteht nach Ansicht Laennec Hurbons wesent­lich darin, daß Bloch einer der wenigen europäischen Philosophen gewesen sei,

. der sich mit den außereuropäischen Kul­turkreisen befaßt habe. Er habe sich nicht nur mit den kulturellen Erschei­nungen der modernen westlichen Gesell­schaften auseinander gesetzt, sondern sich ebenso ernsthaft mit der jüdischen, arabischen und chinesischen Kultur be­schäftigt. Dies könne im Zusammenhang mit der Diskussion über ein eigenständi­ges Entwicklungsmodell für die Länder der 3. Welt, das sich nicht notwendig an westlichen Zivilisationsmustern orien­tiert, fruchtbare Ansatzpunkte bieten.

Theologie der Befreiung

"Mir sind viele Verwandtschaften zwi­schen Ernst Bloch und Ernesto Cardenal aufgefallen", sagte Karola Bloch im Jan­nuar 1981 in Managua in einem Gruß­wort . "Die Verbindung von Christentum und Marxismus ist den beiden Männern eigen. Die Hoffnungsphilosophie Blochs fol t allen S uren in der Kulturge­schichte der Menschheit, die auf die - - „ .... _.,,,_...

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Möglichkeit des Glücks, der Erfüllung inweisen. Das letzte Wort im Haupt:."'

werk 'Tus Prinzip Hoffnung" heißt "Heimat". Der Philosoph hofft, daß ein ­mal der Tag kommt, an dem der Mensch seine Identität, seine Heimat finden wird. Ernesto Cardenal spricht von Lie­be, die die Menschen verbinden soll und wird .... Wie schade, daß Bloch und Car­denal nie einander . begegnet sind. Sie wären Freunde und Kampfgenossen ge­worden, zwei Wurzeln von demselben Baum." (aus TÜTE 2/81)

Trotz dieser Ähnlichkeiten sei es aller-dings schwer, eine direkten Einfluß der Blochschen Philosophie auf die Befrei­ungsbewegungen in Lateinamerika fest­zustellen. "Subjekt - Objekt" erschien zwar schon 1949 in Mexiko-City, aber ansonsten wurden nur einzelne Werke sehr zögernd, das "Prinzip Hoffnung" sogar erst 1977, ins Spanische übersetzt. So konnte sich die Blochrezeption in Lateinamerika laut Laennec Hurbon erst allmählich und auf Umwegen entwik­keln, einerseits über die 3. Welt-Diskus­sion iri Europa, andererseits im Rahmen theologischer Fragen und nicht über die politische Philosophie. Er selbst sei zu Anfang der 70er Jahre in Frankreich mit

der Diskussi0n über das Verhältnis von Marxismus und Christentum und die Stellung der Christen zur politischen Pra­xis konfrontiert gewesen . In Zusammen- 1 hang mit seiner Begegnung mit Mol­manns "Theologie der Hoffnung" sei Bloch in die Diskussion eingeflossen . So wären Blochsche Gedanken indirekt auf dem Umweg über Frankreich und die "Theologie der Befreiung" nach Latein ­amerika gekommen, und zwar in Form einer Kritik an einem in Lateinamerika 1 sehr prädominanten, dogmatischen 1

Marxismus. Diese Diskussion zwischen traditionell­religiösen Christen und den Theologen der Befreiung über das Verhältnis von Christen zu einer revolutionären Praxis habe in Lateinamerika, wo das Christen­tum eine mächtigere gesellschaftliche Position als im säkularisierten Europa einnimmt. eine viel größere politische Bedeutung gehabt . Allmählich würde Bloch zumindest in Brasilien und Mexi­ko in christlichen Kreisen auch direkt rezipiert.

Das Imaginäre

Für die Analyse der politischen und kul­turellen Bewegungen in Lateinamerika erscheinen ihm die Blochschen Katego­rien außerordentlich geeignet. Vor allem Blochs Verständnis des '1maginären '' sei für die soziologische Forschung in dieser Hinsicht besonders wichtig. Denn , so Hurbon, das Imaginäre sei der Ort der En tfaltungde~ menschlichen Wünsche und damit die Grundkategorie zum Ver-

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ständnis der sozialen Bewegungen der revolutionären politischen Veränderun­gen in der Welt. Darin bestehe für ihn auch die Attraktion der Philosophie Blochs. Erst das Begreifen der Macht des

'

Imaginären ermögliche uns die Erklärung für die konservativen und reaktionären B~wegungen in der Geschichte wie des

1 Sieges des Faschismus in Deutschland oder die überaus starke Widerstandsfähig­keit und Stabilität der vielen Diktaturen in der 3. Welt.

Den positivistischen Methoden der mo­dernen Wissenschaft bleibe der Zugang zum Verständnis der Produktivität des Imaginären in der Symbolik der Kultur der Massen natürlich versperrt. Die Bloch­sche Hermeneutik bietet hier die Mög­lichkeit zur Erforschung der darin be­findlichen gesellschaftsverändernden Tendenzen . Sie liefere ihm z.B. einige wichtige Kategorien zur Analyse und ensprechenden Beurteilung der vielen kulturellen, sowohl politischen, als auch religiösen, ja oft prophetischen Bewe­gungen. die Jahr für Jahr auf den karibi­schen Inseln, aber auch in anderen Re ­gionen Lateinamerikas entstünden. Wenn

. wir diese nicht ernst nähmen , gäben wir sie frei für den Mißbrauch für irgendwel­che reaktionären politischen Ziele.

Praxis

Es wäre jedoch falsch, aus einer sogearte­ten Analyse der lateinamerikanischen Gesellschaften direkte Konsequenzen für die politische Praxis zu ziehen. Das sei auch nicht der Sinn der Blochschen Phi­losophie . Hier seien mehrere Vermitt­lungsschritte notwendig. Blochs Philo­sophie stelle primär, und das sei unge­wöhnlich für ein marxistisches Werk, eine Reflexion über eine revolutionäre Ethik dar. Sie sei sowohl Kritik des Positivis­mus und des "banalen Materialismus", als auch jeder Form eines Anthropomor­phismus. Es ließe sich daraus lediglich eine Orientierung und zwar eine undog­matische Neuorientierung der Politik jen­seits der Ideologien des real existieren­den Sozialismus und des Kapitalismus entwickeln. Das Blochsche Denken ließe sich nicht auf den "traditionellen marxi­stischen Materialismus" reduzieren, es sei weit mehr; die Blochsche Philosophie beherberge auch Idealismen, aber genau darin bestehe seine Stärke im Kampf ge­gen den "'banalen Materialismus". Das wird seiner Ansicht nach Auswirkungen auf die Forschung der nächsten Jahre haben. • ·

China

BLOCH IN CHINA Während des Kolloquiums "Utopie und Verdinglichung" in Paris anläßlich des 100. Geburtstag von Ernst Bloch und Georg Lukäcs sprach der Chinese Saen Yang Kha über die Bedeutung von Lukacs zur Analyse der gesellschaftlichen Situation in China. Dieser Vortrag löste bei den Zuhörern die Neugierde nach Bekanntheit und Zugäng­lichkeit der Werke beider Philosophen in China aus. Die TüTE sprach mit Saen Y ang Kha.

Saen Y ang Kha hat in Peking Philosphie studiert und an der Sorbonne in Paris seine Doktorarbeit über die "Kritische Theorie" geschrieben. Heute arbeitet er bei der chinesischen Zeitung in Paris, gibt Seminare über chinesische Philosophie am "College International de Philoso­phie" und schreibt an einem Handbuch für chinesische Studenten über die Strö­mungen der westlichen Philosphie . Nach dem Tod Mao Zedongs begab sich die chinesische KP am Ende der siebzi­ger Jahre auf den wirtschaftlichen Re­form- und Modernisierungskurs, mit der eine vorsichtige Entdogmatisierung und "Entmaoisierung" einhergeht. Saen

~y ang Kha wertet diese Politik positiv und sieht in der liberaleren Diskussion die Möglichkeit eines eigenen und offe- . nen Weges zum Sozialismus. Die Partei hält zwar ein wachsames Auge auf die Diskussion der Intellektuellen, aber den­noch ist es möglich in Philosophie und Literatur über Humanismus (im Ver­ständnis der chinesischen Tradition) und Entfremdung zu diskutieren und Philo­sophen des westlichen Marxismus wie Lukacs, Sartre und auch Bloch zu rezi­pieren. Kha betont, daß Lukacs viel bekannter sei als Bloch. Die Diskussion über und das Studium der Blochschen Werk~ habe erst begonnen. Zwar sei schon vor der Kulturrevolution mit der übersetzung seiner Schriften begonnen worden. Doch diese Arbeit sei aufgrund der Vorherr-

. schaft der Gedanken Maos während die­ser Zeit unterbrochen worden. Die Hauptarbeit sei erst ab 1979 eingeleitet worden. "Thomas Münzer" sei übersetzt und auch in einer relativ hohen Auflage erschienen. In China könnten die Bücher nicht in ge­nügender Anzahl für alle erscheinen. Aus dem "Prinzip Hoffnung" und "Subjekt­Objekt" seien erst einige Kapitel über­setzt und erschienen. Da die Auflagen

sehr klein seien, bliebe die Bekanntheit dieser Werke auf philosophische und in­tellektuelle Kreise eingeschränkt. Mit der Rezeption des "Prinzip Hoffnung" hätten einige chinesische Philosophen ein Mittel gefunden, um religiöse Phä­nomene im heutigen China zu analysie­ren. Jedoch sei "Subjekt-Objekt" in der philosophischen Diskussion kritisiert worden. Der chinesische Hegel-Spezialist X und -übersetzer, He Ling, habe in seinem Vorwort zur übersetzung der "Phäno­menologie des Geistes" die Blochsche Darstellung als falsche Interpretation der Hegelschen Dialektik und als eine Art subjektiver Dialektik bezeichnet.

e Bloch würde von den chinesischen Philo­so2hen auch nicht als Marxist angesehen, sondern als Uto ist oder als Theologe zugehörig zur Strömung der "Theolo ie der Hoffnung",_ oft auch als progessiver Philosoph, der in die Reihe des Neo­Marxismus gestellt würde.

Daß Bloch in China übersetzt und zu­gänglich ist, löst im Vergleich zu den Ländern des realen Sozialismus unwei­gerlich Erstaunen aus. In der DDR zur Unperson erklärt, Ende der SOer Jahre wurden seine Werke dort nicht mehr aufgelegt. In den anderen Ländern ist er gar nicht übersetzt; zumindest nicht of­fiziell . Nur in Jugoslawien liegen über­setzungen vor, und von der Praxis-Grup­pe wurde Bloch rezipiert und diskutiert. Dennoch bleibt Bloch in China nicht ) von der ideologischen Kritik verschont. In einem 1983 erschienenen Buch über westlichen Marxismus ist Blochs Philo­sophie, so Kha, als bourgeoise bezeich­net worden, aber dieses ist nicht die Meinung aller chinesischen Philosophen.

Ob sich in China die Diskussion von Werken, wie denen von Bloch, nicht nur in begrenztem Rahmen, sondern offen entfalten kann, bleibt abzuwarten.

TÜTE 41

Page 45: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

Ernst Bloch ist tot, die Tübinger Universität wird 500 Jahre alt und der AStA abgeschafft - der Deutsche Herbst 19 77.'

ERNST BLOCH und die

Ernst und Karola Bloch

42 TÜTE

NEUE LINKE In besonderer Weise wurde die Entwicklung und Geschichte der Tübinger Neuen Linken seit den sechziger Jahren durch Ernst und Karola Bloch geprägt und weiterge­trieben. Bis ins hohe Alter blieb Bloch nicht müde, sich in den politischen Alltag ein­zumischen. Sein Tod war ein einschneidender Verlust.

Auf den folgenden zwölf Seiten sollen unter dem Signum der Ernst-Bloch-Universität die Bezüge herausgestellt werden, die die Tübinger Studentenschaft mit dem "Genos­sen Bloch" verbanden. Einern Gespräch von vier Tübinger Alt-Aktiven, das von zwei nur wenig bekannten Kundgebungsreden Blochs umrahmt wird, folgt der Reprint eines Interviews, das Tübinger AStA-Vertreter 1975 mit Bloch führten. "Mit geballter Faust" ist die Trauerrede des AStA auf den toten Bloch überschrieben, die die inhalt­liche Nähe zwischen der Hochschul-Linken und dem Philosophen der Praxis bezeugt. Nach einer kurzen Erinnerung an das Wie der Ausrufung der Ernst-Bloch-Universität schildert Karola Bloch in einer Unterhaltung das Verhältnis der Blochs zu Rudi Dutschke und zum SDS.

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Page 46: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

HOFFNUNG In den sechziger und siebziger Jahren stand Bloch in engem Verhältnis zur Neuen Linken und speziell zur Tübinger Studetenschaft. Unzählige Male hatte er sich solida­risch und kritisch in die Arbeit der Linken eingemischt. Sein Tod hatte im August 1977 vier Aktive aus unterschiedlichen Tübinger 'AStA-Generationen' zu persönli­cher und politischer Trauer veranlaßt. Im Februar 1985 äußerten sich Ali Schmeissner, Bernd-Ulrich-Jung, Gundi Reck und Welf Schröter dariiber, was Bloch ihnen bedeutete und noch bedeutet.

"Aufrechter Gang"

BERND-ULRICH: Blochs Tod - das war ein konkreter Verlust. Bloch war solida­risch und hat nicht nur fromme Sprüche losgelassen. Er hat seine Philosophie ge-­lebt~

ALi: Bloch hat, meiner Meinung nach, verschiedene Eckpfeiler eines abstrakten, revolutionären Idols für die Neue Linke, abgedeckt. Möglicherweise ist es die Tü­binger Nähe, die mich dazu verleitet, so etwas zu sagen. Kein anderer hat wie Bloch diese Kontinuität aufgewiesen . In den Nachrufen sieht man, wie er aus der Entfernung natürlich auch ein Stück weit mythologisiert und verklärt wurde wie andere wichtige theoretische und praktische Köpfe auch. Bloch war für mich wichtig, weil er zu bestimmten Zeiten mit der Studentenre­volte zusammen offen aufgetreten ist, so­weit er es körperlich vermochte. In den Sechzigern, als er noch einigermaßen gut zu Fuß war, diskutierte er mit uns im Republikanischen Club . Sein Seminar war ein politisches Seminar. In der gan­zen Restaurationsphase der siebziger Jah­re mit den Berufsverboten etc., wo Lin­ke zu Liberalen wurden und Liberale zu gar nichts mehr, blieb Bloch der Einzige des Lehrkörpers bei dem - obwohl kör­perlich gebrechlich - in entscheidenden Momenten anzufragen war. Er fand es selbstverständlich, sich in einer politi­schen Sache mit seinem Namen und sei­ner Person herzugeben . Deutlich wurde dies unter anderem 197 5, als er die Eh­rendoktorwürde erhielt. Er integrierte die Demonstration gegen Berufsverbote in die Veranstaltung. Als die sauberen Herren auf ihren Stühlen saßen und schäumten, begriff er diesen Widerspruch an seiner Person gegenüber den Studen­ten, die -ein Transparent entfalteten mit der Aufschrift 'Wann ist er dran'. Er repräsentierte für uns den großen Eck­pfeiler efrles "aufrechten sozialistischen

qanges'' . Er war kein Proletkumpel, der irgendwo von alten Zeiten träumte. Bloch war kein vom praktischen Leben abgehobener Philosoph . Er war jemand, der seinen Weg ging, sich nicht opportu­nistisch beugte. Das empfand ich eigent-

1 lich als das Grandiose an ihm. Deswegen war Bloch im Unterschied zu vielen an­

' deren wie etwa Habermas und Adorno - Marcuse ausgenommen - sicherlich ein viel wichtigerer Mensch innerhalb der Studentenrevolte. Habermas und Adorno sind im ersten ·Ansturm der Be­geisterung für sich auch gleich wieder umgefallen und haben Distanz gesucht. Sie waren nicht in der Lage, ein Rück­grat aufzubauen, das durchsteht und eventuell auch den Professorentitel in den Wind schreibt, sollte die Revolte et­was Neues und Egalitäres bringen. Die konnten sich das gar nicht vorstellen.

WELF: Ich möchte das Stichwort vom "aufrechten Gang" nochmal aufgreifen . Moralisch, politisch integer zu sein, schien mir aus meinen Erfahrungen die Chiffre für den Namen Bloch. Dies be­traf nicht nur das Thema Vietnam, oder Chile, Berufsverbote oder Ähnliches. Sei­ne moralisch-politische Integrität zeigte sich, wenn er in schwierigen Situationen, Fragen auf den Punkt brachte, seine Hal­tung nicht preisgab und auch bereit und fähig war, linke Tabus anzugehen: Exem­plarisch stand hierfür seine unerbittliche und doch differenzierte Stellungnahme beim Tod von Holger Meins.

GUNDI: Warum die Chiffre 'moralisch­politische Integrität'? Heute könntest Du damit kaum mehr etwas ausdrücken. Ein Mann bewahrt Haltung, biedert sich nicht an, ist nicht opportunistisch, hat eine große Bedeutung gewonnen. Heut­zutage wird das eher ausgelegt als unoffe­nes Denken, als dogmatisches festhalten an liebgewonnenen Einsichten. Warum erscheint Bloch nicht als stur oder bloß eigensinnig?

Frankfurt: Ernst Bloch gegen Notstandsgesetze

ALi: Gegenüber dem verlogenen System, das wir erst später Kapitalismus nannten, war es sehr wichtig, daß Bloch immer diese grundlegende Argumentation drauf­hatte. Er hat die Leute weniger durch seine Schriften angesprochen. Seine Tex­te haben inhaltlich ausgedrückt, was für uns in der von uns geschaffenen Öffent­lichkeit immer ein grtindlegendes Wert­muster war. Dieses Wertmuster hieß: ) man will den Sachen auf den Grund ge­hen· und sie in ihren wahren Dimensio­nen erfahren und begreifen .

WELF: Verständlich wird diese Art ·der Wahmehmumg meines Erachtens erst, wenn wir sie in direktem Zusammenhang der Geschehnisse der siebziger Jahre se­hen. Begriffe wie Repression. Wider­stand und Protest waren die direkte Kehrseite des "Aufrechten Ganges" . Die Begriffe fielen in jener Zeit sehr viel häu­figer und hatten unmittelbar analytischen Charakter. Es gab ja nach der Kampagne für Karl-Heinz Roth sogar ein eigenstän­diges 'Anti-Repressions-Komitee'. Die Worte Protest und Widerstand spiegelten etwas wie 'Dem-System-nicht-nachgeben­wollen', 'Bei-seinen-politisch-morali-schen-Auffassungen-dagegen-bestehen­

bleiben'. Hier hatte Blochs Ausdruck 'aufrechter Gang' Bedeutung und Funk­tion. Die Frage danach, ob Bloch eine 'korrek­te' Marx-Interpretation lieferte, ob er die Oktoberrevolution 'richtig' einschätz-te und ähnliches mehr, wurde erst in zweiter Linie gestellt.

BERND-ULRICH: Ich glaube, wir bauen da bezüglich der siebziger Jahre ganz schön was auf. Bloch war Anhängsel ei- '

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GRUSSWORT VON ERNST BLOCH zur landesweiten Demonstration des Tübinger Ersatzgeldkampfes vor ca. 13.000 Teilnehmern. 18.10.1976

Also, liebe Demonstranten. Ich darf mich in einer freundlichen Weise an Sie wenden. Wir brauchen unter uns Freundlichkeit und endlich ein Ende der Zersplitterung. Wir brauchen das, denn neue trübe Dinge oder trübe alte Dinge, gehen, wie man weiß oder auch nicht weil~ aus Zeitungen, die sie ver­schweigen, gehen auf uns zu . Ich meine die Sache mit dem sehr nüchternen Namen und dem ganz und gar nicht poetischen In­halt dazu, die mit dem Terminus Ersatzgel­der auch praktisch und vor allem praktisch jetzt in die Wege geleitet werden sollen, von der herrschenden Klasse. Es gibt heute Dinge, über die man als ein redlicher Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann, und denen muß in einfachen Worten, sehr komprimierten und nicht unperspektivi­schen, sondern im Gegenteil , reich und mit Perspektiven sich verbindenden, entgegen­getreten werden und ins Bewußtsein ge­bracht und in die Hand und in die geballte Faust, die hier das zuständige und zulässi­ge Instrument ist; außer dem Begriff, der bei der Sache sein muß, wie es sich von selbst versteht. Aber ein deutlicher Begriff, und einer, mit einer sogar sehr gelehrten Herkunft; nämlich mit einem Wort, das sich bei dem reaktionären königlich-preus­sichen Staatsphilosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel findet: Herr und Knecht, als ein unnatürlicher Zu­stand; Teilung des Menschen in diese bei­den Gruppen und Klassen; und mehr noch als Klassen, geborene Feinde; einig in der Ausbeutung des Knechts durch den Herrn, einig auch, leider Gottes, allzu lange im Bestehenlassen dieses höchst unnatürlichen, historisch längst abgelaufenen, nur durch Feigheit oder Dummheit aufrechterhalte­nen Zustandes - dieser Dualität. Und dazu gehört das, was hier nun probiert wird, und wogegen wir als Demonstranten der Logik und der Moral zusammen de­monstderen·. Das .geht hier aufs Neue um. Und ich glaube und hoffe, daß ein geringes Nachdenken keinen Proleten, erst recht keinen Studenten - der doch erfahren hat was Demonstration ist - und der sich durch Feigheit nicht abschrecken läßt, abhält weiter an ihr teilzunehmen, für eine neue und hoffentlich besser fundierte Zukunft, die für diese Studneten auf der Tagesord­nung steht, sowohl in dem, was die Gren­zen seines Erduldens ausmacht, wie an dem, was die Hoffnung und das Fazit der Perspektiven, die er hat, bestimmt, ausbil­det und normierend vor sich hin setzt. Das war's, was ich in Kürze bei dieser Gelegen­heit sagen wollte, daß wir als Studenten,

\

als Kommilitonen, als Menschen aus dem Volk, die sich ·durchaus einig sind in dem einen, daß es nicht zwei Arten von Men­schen gibt; das ist es, worin wir unsern Mann zu stehen haben .

ICH BITTE SIE ZU BEGINNEN!

44 TÜTE

ner Revolutionärin. Er konnte kein Eng­lisch lernen, sagt er, weil er das 'Prinzip Hoffnung' schreiben mußte. Während er irgendwo in seinem Zimmerle saß, muf~-

}

te Karola die Familie ernähren . So auf­recht war die Geschichte im Exil in den USA - tagespolitisch gesehen - jeden­falls nicht. Er hatte ein faszinierendes theoretisches Denken, keinen platten ökonomismus. Obwohl er sagte, fromm mag ich zwar sein, aber Theologe bin ich nicht, hatte er seine Nähe zu den Theologen . Dieser Ansatz, der sehr genau überbauphäno­mene untersucht, hat mich sehr beein­druckt. Ich lernte Bloch kennen in sei­nem Seminar, das nicht hieß "Erklärung des Faschismus", sondern "Einige Aspek­te des Faschismus". Er analysierte histo­risch-philosophisch. Neben der "Theo­logie der Hoffnung" war es seine Be­trachtung des Faschismus, die mir etwas brachte . Bloch hatte es in "Erbschaft

\ dieser Zeit" dargelegt. Nicht, was die KPD gemacht hat, war falsch, sondern

( was sie nicht gemacht hat. Es gibt noch mehr als die Ökonomie. Auf der anderen Seite stand sein tages­politisches Engagement. Aber beides war nicht ohne weiteres vermittelt. Als wir auf die Idee kamen, einen 'Arbeits­kreis Knast' zu schaffen, gingen wir zu Karola . Sie hatte den Verein Hilfe zur Selbsthilfe gegründet. Bloch saß dabei und mischte sich ein .

· Ali Schmeissrier mit Oberpedell Lang

Die praktische Seite kam in der Politik in der Studentenschaft zum Tragen. Das Allein-Theoretische wäre nie entschei­dend gewesen. Das haben andere auch gebracht. Wichtig war, daß Bloch, der mir und anderen etwas bedeutete, nicht nur ein Theoretiker, sondern daß er auch ein Praktiker war, sich nie gescheut hat, in die alltäglichen Auseinandersetzungen reinzugehen. Dort hat er tatsächlich so etwas dargestellt wie 'aufrechter Gang'!

Moral und Utopie

AL!: Die Negation von den guten Wer­ten, die für mich immer noch die Moral

ausmachen , führt sehr schnell zur lle­griffsleerheit. Wenn ich den Bloch der Moral entkleide, dann ist sein Wertgebäu­de tatsächlich nur ein rein semantisches Produkt, das niemanden mehr anzieht. Wieso interessiert Dich ein Begriff wie der "aufrechte Gang"? Der kann Dich doch bloß interessieren, weil Du das Ge­fühlt hast, daß Du dort , wo Du Dich streckst, gedrückt wirst. Also willst Du Dich gerne mal wohlfühlen .

GUNDI: Bloch ohne Moral, ohne positi­ve Ethik , ohne ganz bestimmte emanzi­pative Menschlichkeitsvorstellung kann man vergessen. Das ist ja auch ein ganz zentrales Problem innerhalb der marxi­stischen Tradition .

AL!: Das ist wie Marx ohne die Feuer­bachthesen~

BERND-ULRICH: Vor einigen Wochen war im Blauen Salon in der Münzgasse die Veranstaltung über die 'Diktatur der Freundlichkeit'. Die Frage "Wer bin ich" , die zentrale Blochsche Frage, die auf Utopisches verweist, hat ein Platt­kopf als Frage des BKA bezeichnet. Das macht irgendwie die Geschichte deutlich. Nicht nur die Bürger haben dieses Mo­ment der Utopie , das mit Moral sehr eng zusammenhängt, beiseitegedrängt . Es gibt auch den Vulgärmarxismus oder den Leninismus. bei dem der Zweck die Mittel heiligt. Bei Bloch war das nicht so. Der Weg mußte Vorschein des Zieles sein. Nichts gegen Lenin, der historisch Recht hatte, aber alles gegen den Leni­nismus und gegen solche Leute. die mei­nen, die Leninsche Methode sei in einer Gesellschaft anwendbar , die auf eine bür­gerliche Revolution zurückblicken kann.

WELF: Das ist eine fast schon reine Lu­xemburgistische These. Rosa warnte da­vor, die Russische Revolution zum Mo­dell zu machen für alle nachfolgenden Revolutionen.

BERND-URL/CH: Natürlich, deshalb ist Bloch für mich der Gegenpart einer sol­chen Position , die tatsächlich nicht mehr Nahziel und Fernziel vermittelt. sondern die meint, das Nahziel sei, den bürgerli­chen Staat auszuschalten und hinterher alle zu belehren. Das war nicht die Posi­tion von Bloch. Obwohl er sich mit dem Begriff der 'konkreten Utopie' vehement r gegen Leute gewehrt hat, die meinten - l\ und da sind wir wieder bei der Moral - „ allein der moralische Anspruch würde , genügen. Dagegen richtet sich seine mar­xistische Kritik. Es muß die konkrete Si- , tuation analysiert werden, es muß gezeigt

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f werden. wie die Chose läuft, dann kann . -man mit dem moralischen Impetus rein­

,;;; gehen und die Sache entsprechend wen­~~ den. Das beinhaltet Blochs theoretisches ;~ Konstrukt "konkrete Utopie·.

Hoffnung

GUNDI: Welche Rolle spielte der Begriff Hoffnung? Hoffnung im Blochschen Sinne. Wenn Du den Unterschied zum Hoffnungsbegriff des Messianismus im Christentum aufrechterhalten willst. muf~t Du ja den politischen. den analyti­schen Gehalt von Bloch immer mitden­ken. Was passiert aber, wenn dieser mar­xistische Teil ins Rutschen gerät, wenn er abdriftet ins rein Moralische oder Ne­gative. Kann man angesichts von Auschwitz, Hiroshima und dem, was hier passiert. noch von Hoffnung reden?

ALi: Der Begriff Hoffnung bezieht sich ja auf ein Ideal der Menschen , nämlich daß es möglich wird , diesem Scheusal Kapitalismus in seinen verschiedenen Er­scheinungen ein Ende zu bereiten. Man kann sich nicht auf die Gesamttotalität beziehen und erwarten, der Systemgeist möge uns eine gute Welt bescheren .

Karola Bloch und Gundi Reck

GUNDI: Die Emanzipation des Men­schen aus seinen Zwängen ist heute aber kein Stichwort mehr.

ALi: Geschichte muß man doch als Ent­wicklung begreifen, wo sich in einem dia­lektischen Prozeß Veränderungen erge-

l ben. Es ist richtig, daß die Geschichte der Neuen Linken, der intellektuellen Linken zu Bruch ging.

GUNDI: Die ganze Neue Linke der sech­zier Jahre und danach war überzeugt und mit einer derartigen Kraft erfüllt, daß hier und jetzt in allen Lebensberei­chen, in der WG und anderswo etwas ver­ändert werden kann. Deswegen konnte Hoffnung doch noch etwas bedeuten.

BERND-ULRICH: Die Blochsche Hoff­nung ist nicht die Hoffnung, daß mor­gen die Revolution sein wird. Die BloGh­scli.e Hoffnung heißt Veränderung schaf-

fen durch das eigene Eingreifen in Ge­schichte und zwar nicht das individuelle Eingreifen, sondern als Klasse oder Kol­lektiv. Das ist es. was verlorengegangen ist. Nicht die Hoffnung, daß morgen Re­volution sein wird , ist verloren gegan­gen. Und wohin? Ich weiß es nicht. Wir haben früher Politik gemacht in der Studenten­schaft oder, wenn Du so willst im Ghet­to. Das hatte Auswirkungen nach draus­sen. Wir wurden in unserem Ghetto in den siebziger Jahren ganz schön einge­macht. Im Zusammenhang mit dem Ter­rorismus hat man dicht gemacht, die Verfaßte Studentenschaft, AStA etc. ab­geschafft. Das ist die geschichtliche Ent­wicklung, die Leute dazu veranlaßt hat, zu sagen, eingreifen sei nicht mehr mög­lich. Dann sage ich, das ist ein Ghettobe­wußtsein !

Gleichzeitig haben sich über Kernkraft­werke und sonstwo gesellschaftliche Wi­dersprüche aufgetan, die wir in unserem Ghettobewußtsein nicht gesehen haben , wovon man aber eigentlich nur träumen konnte, nämlich über das Ghetto hinaus­zukommen. An diese Widersprüche sind viele von ei­ner irgendwiegearteten Vorstellung revo­lutionären Handelns rangegangen, haben festgestellt, daß da sind alles keine rich­tigen Revolutionäre und das paßt nicht in die Schächtelchen und Schubladen. Folglich haben sie den Schluß gezogen, revolutionäres Eingreifen in Geschichte sei nicht mehr möglich, anstatt an diese Widersprüche heranzugehen im Sinne der Hoffnung, Geschichte und der Ge­schichtsprozeß ist noch nicht entschie­den, aber er wird entschieden, wenn wir einfach geschehen lassen, was geschieht, dann aber gegen uns. Anstatt einzugrei­fen, haben sie sich hingesetzt und gesagt, · eingreifen ist nicht mehr möglich.

WELF: Die politische Arbeit der Neuen Linken Ende der sechziger und weit hin­ein in die siebziger Jahre war geprägt von einem internationalistischen Be­wußtsein. Die Solidarität mit den Befrei­ungskämpfen in · der Dritten Welt in Asien, Afrika und Lateinamerika hatte sehr viel mit der Projektion von Wün­schen' und Utopien zu tun. Was in Zen­traleuropa nicht machbar erschien, soll­te zumindest von den Ches, Ho Chi Minhs, Cabrals, Fanons usw. geleistet sein. Die Idealisierung dieser revolutionä­ren Bewegungen führte spätestens kurz nach der siegreichen Machtübernahme zu Frustration und zu politischem Kater.

Vietnam, Kambodscha aber auch der Iran machen das in dramatischer Weise deutlich. Während der Internationalis­mus-Tage im Dezember 1981 in Tübin­gen hatte Brigitte Heinrich auf diesen Identitätsverlust der heimischen Uni-In­tellektuellen hingewiesen. Dies verweist ebenfalls auf ein falsches unverarbeitetes Zurückziehen aus dem Feld des gesell­schaftlichen Eingreifens.

AL!: Mich verwundert, wie Leute mit ih­ren Effahrungen, die sie am eigenen Leib gemacht haben, umgehen. Es ver­langt ja keiner, daß es geradlinig so wei­tergehen soll, aber Grundelemente ge­meinsamen Handelns in Frage zu stellen, um in den Politnihilismus einzusteigen, ist keine Alternative.

Frankfurt 1978, Solidaritätsveranstaltung "Zefzn Jahre Prager Frühling"; die Aktualität der Blochschen Kritik an den Okkupanten der CSSR (Rudi Dutschke, Welf Schröter)

Bloch-der Citoyen

WELF: Die Begegnung mit Blochschem Denken war für mich noch in anderer Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Es handelt sich um die Frage der Demo- X kratie, der Bürgerrechte und um "Erb­schaft'' der bürgerlichen Revolution. Blochs Y erteidigung der republikani­schen Freiheiten des CitoyeP. und deren Aufhebung haben mein Sozialismusver­ständnis nachhaltig geprägt. Die Kritik am Stalinismus lautete demnach, daß es eine sozialistische Demokratie ohne Erb­schaft der bürgerlichen Revolution, oh-ne die Aufhebung der Rechte des Ci­toyen nicht geben kann. Sozialismus nach Bloch ist die Radik'alisierung der Rechte des Citoyen, der Radikalisierung der Demokratie, aber keineswegs deren Negation .. In vielen Fällen war Bloch ge­gen zahheiche Linke ein Kritiker, der daraufhinwies, daß sozialistische Umwäl­zung nichts gemein habe mit der Platt­walzung von Bürgerrechten, daß Sozialis­mus nicht von oben beschert werden

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Neue Linke und Bloch

könne. Nach dem Deutschen Herbst 1977 ist sich meines Erachtens ein großer Teil der Neuen Linken dieses Citoyen-Gedan­kens, dieses Verständnisses von Zivilge­sellschaft erst mühsam bewußt gewor­den. Die heftigen Kontroversen um das von links angestoßene Russell-Tribunal zur BRD 1978 scheinen mir Belege ge­nug. Viele Linke taten dies als bürgerlich­liberalen Quatsch ab. Was soll ein Revo­lutionär mit der Verteidigung von Grundrechten zu tun haben?

1 Blochs Citoyen-Begriff war mir ein wich-• tiger Hebel linker Selbstkritik.

G UND!: Bei Bloch findet sich diese Po­sition in "Naturrecht und menschliche Würde" und vielen anderen Schriften.

GRUSSWORT VON ERNST BLOCH . für die Veranstaltung zum Tod Holger Meins am 15.11.1974

Auf der von der Universitätsleitung verbo­tenen Gedenkveranstaltung zum Tod von Holger Meins am 15.11.1974 nahm Ernst Bloch in einem Grußwort zur politischen Entwicklung des Rechtsstaates und dessen Verhalten gegenüber den politischen Gefan­genen Stellung. Die Veranstaltung des AStA wurde dennoch durchgeführt. Sie fand im Flur der Neuen Aula statt.

Ich spreche hier, um in Gemeinsamkeit mit so vielen gleicher Gesinnung und auch einer am Platz seienden Klugheit gegen die Untaten der Folter, der Einzelhaft und ge­gen die schließliche, langsame Hinrichtung von Gefangenen zu protestieren. Erfolg ist überhaupt keiner zu sehen als einer ins Un­glück hinein: in Verunsicherungen nicht etwa der Folterherren - oder auch -knech­te -, sondern Verunsicherung der Linken und auch der rechten Mitte, die die Berüh­rung mit der Linken noch nicht aufgege­ben hat, Verunsicherung, Erzeugung sogar von Feigheit, unter Umständen wider Wil­len, wenn hier die Machtmittel des Staates auf eine solch verkommene und schreckli­che Art angewandt werden . J;>olitik, wurde gesagt, sei die Kunst des Möglichen. Zweifellos sind die Möglichkei­ten, mit Verhaltensweisen, wie sie die Baa­der-Meinhof-Gruppe an den Tag gelegt ha­ben, Politik zu machen, weit über die Kunst des Möglichen hinaus oder auch hinter ihr zurück. Es soll auch in unserer Versamm­lung in nichts betont werden oder so weit die Akzente verschoben werden, als ob wir nicht genau wüßten, daß wir nicht auf der Seite der Baader-Meinhof-Gruppe stehen, und daß wir dies für eine untaugliche Art der Kunst des Möglichen, die Politik zu strapazieren, ansehen - aber das hat damit gar nichts zu tun. Jedenfalls setzt sich der Staat selber in ein großes Unrecht, in ein Unrecht, das im Fall der Baader-Meinhof­Gruppe gekennzeichnet ist durch Isola-

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Aber kann man das so behaupten, daß dieser Teil Bloch eine derartige Rolle ge­spielt hat? Die Neue Linke hat doch ganz selbstverständlich auf den Grundrechten im Sinne des Citoyen aufgebaut. Sie trat mit diesem Anspruch an, tatsächlich De­mokratie in diesem bürgerlich-verkruste­ten Staat zu verwirklichen. Die ganze Anti-Repressionspolitik war davon ge­kennzeichnet, daß diese Gesellschaft ih­ren Mitgliedern die bürgerlichen Rechte eigentlich gar nicht gewährt.

WELF: War es nicht vielfach von der Linken nur taktischer Gehalt?

ll ALI: Für die Neue Linke war es immer ein prinzipieller Bestandteil, die bürgerli­chen Rechte sozusagen zu ihrer materiel­

il len Verwirklichung zu treiben . Der Wi-

tionsfolter, durch Vernichtung der Persön­lichkeit, durch Austilgung alles dessen, was sie in ihrem Zusammenhang mit ihrem Le­ben, mit ihren falschen Überzeugungen an den Tag gelegt habt:n - dieses alles wird auch ausgetilgt, und wir leben dann, her­vorgerufen durch den Rechtsstaat , in ei­nem zweifellos sich anbahnenden Un­rechtsstaat, in einer Aufhebung der libera­len Partien der Verfassung, die ohne weite­res und mit Leichtigkeit in den immer dro­henden und noch lange nicht abgegoltenen möglichen Faschismus überleiten kann.

Hrsg. v. AStA Tübingen, Aug. 1977

Principiis obsta - an den Anfängen halte fest, ist eine alte, auch juristisch durchaus vertretbare Formel, und diese Anfänge sind bereits über die Anfänge ziemlich hin­ausgekommen, und ein Jubel, daß wir darü­ber durch Unrecht hinausgekommen sind, dürfte kaum einen Platz haben, sondern ein Gefühl von Scham und Schande, daß die Unterdrücker der Unterdrückten, der juristisch mit Recht Unterdrückten, aber

derstand entstand, weil dieser Staat, mit den Rechten Schindluder trieb und sie nicht denen zubilligte, denen sie zustan­den.

GUNDJ: Ich sehe die Entstehungsge­schichte der Neuen Linken aus dem Ver­such heraus, der Wirklichkeit das Ideal bürgerlicher Freiheit gegenüber zu stel­len . Die K-Gruppen haben doch nur mit ihrem Papier-Ausstof~ eine Rolle gespielt . Und das Russell-Tribunal war, denke ich, nur ein Versuch neben vielen anderen, Freiheit und Menschlichkeit gegen kapi­talistische Verhältnisse einzuklagen.

ALi: Das Russell-Tribunal war 1978 schließlich der Ausdruck dessen , was die Linke nach dem Deutschen Herbst noch machen konnte. •

auch personlos Gemachten, zu einem Ge­horsamsvieh Degradierten , daß dieses nun über alle Maßen hinaus sich auswächst und man von seinen Anfängen, den Principien, so weit weg ist, daß man nicht mehr weiß, wo man eingreifen kann . Rechtzeitig ist der Augenblick noch, in dem wir leben; warten wir länger zu, sehen wir zu, ohne zu protestieren , dann wird Unaufhebbar­keit eintreten, wie sie schon einmal einge ­treten ist, die wiederum nur durch Eingriff von äu1~erer Gewalt vernichtet werden kann, wie der Faschismus - allerdings in diesem Fall mit Recht - vernichtet wor­den ist. Herr Merseburger hat in einer seiner Lei­stungen des Fernsehens mit Recht gesagt , daß der Staat , und zwar heute mehr denn je. sich genau an seinem schwächsten Glied bewähren muß, damit er nicht durch die Verführungen der Gewalt. die die Gewalt selbst mit sich bringt, ins Unrecht und in den Unrechtsstaat versinkt und darin unter­geht. Ich glaube, daß das eine treffliche Formulierung des Zustands ist und auch der Postulate ist, die der gegenwärtige Zu­stand an uns stellt : daß wir nicht vergessen und nicht vergessen können , \•.:as ein Rechts­staat bedeutet, \\:as die Wahrheit und die Gerechtigkeit, die Abwertung und Abwehr zugleich von Bosheit und Niedertracht be­deutet, daß man nicht sie selbst und nicht die gleichen Mittel auf der Seite des Rechts-Gläubigen übernehmen kann oder steigern kann.

Also, es ist höchste Zeit - und dieser Abend mit anderen. die hoffentlich gleich­zeitig an verschiedenen Universitäten der Bundesrepublik stattfinden, dieser heutige Abend soll ein deutliches Eintrittstor sein dafür , daß man sich von dem Recht nicht Unrecht gefallen läßt und daß nicht stumpfsinnige Übertragungen aus dem Ra­chegefühl und den Rachegewohnheiten ei­nes bösartigen Spießbllrgers, daß sie nicht die Handlungen eines Staates bedingen, der als demokratischer Staat in die Taufe gehoben worden ·ist, und dabei seinem Na­men und seinem Auf trag treu bleiben möchte und treu zu bleiben hat.

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WIDERSPRUCH-INTERVIEW MIT ERNST BLOCH

Im Juli 197 5 gab Ernst Bloch anläßlich seines 90. Geburtstags und der Verlei­hung des Ehrendoktors der Tübinger Studentenzeitung folgendes Interview:

FRAGE: Herr Bloch. Sie werden vom Fachbereich Philosophie der Universität Tübingen zu Ihrem 90. Geburtstag den philosophischen Ehrendoktor erhalten. Wie kommt eine bürgerliche Universität dazu. einen Marxisten auf diese Weise zu ehren?

BLOCH: Es ist eigentlich nicht meine Sache, dazu Stellung zu nehmen.

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Das wäre eine Gewissensfrage: Wieso können Sie überhaupt den Ehrendoktor annehmen und ähnliches. Der Doktor geht aber nicht vom Staat 'aus, sondern vom Fachbereich. der in einem entschei­denden Teil mit der Reaktion nichts ge­mein hat und auch ohne Neinstimmen beschloß. Was anderes läge freilich vor, wenn z.B. etwas ins Haus fallen sollte wie das Bundesverdienstkreuz. Das ist nicht annehmbar, wegen der Schandper­sonen, die ebenfalls das Bundesverdienst­kreuz bekommen haben. Es ist aber eine ganz andere Sache, wo-

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rüber wir reden müssen, daß junge Wis­senschaftler durch das Berufsverbot ge­hindert werden, das Katheder zu bestei­gen.

FRAGE: Wozu ich Sie bitte, Herr Bloch, Stellung zu nehmen, ist eine Wertung des politischen Klimas, das zur Zeit herrscht. Hat der Intellektuelle in der heutigen Situation die Möglichkeit, Mei­nungen zu beeinflußen, welche Macht hat der linke Intellektuelle angesichts des Stammheimer Prozesses?

BLOCH: Die Baader/Meinhof-Sache ist natürlich nicht ganz leicht. Ich finde es gibt glücklichere Themen als dieses. Und wenn man immer das zwar wichtige, aber ebenso armselige Wort sagen muß, daß man kein Anarchist ist und mit dem nicht übereinstimmt, daß im Gegenteil die Baader/Meinhof-Gruppe dem Rechts­trend noch einen äußeren Anlaß gelie-

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fert hat, dann müßte man noch etwas anderes haben, das nicht den Spießern recht gibt. Es ist abscheulich, Bomben in ein Warenhaus zu werfen, unadressiert Attentate zu machen, wobei man die ei­genen Genosse hätte mittreffen können. Das wird auch die Situation nicht verän­dern, also insofern kann man ja schon allein aus praktisch strategischen Grün­den kein Anarchist sein.

ANDERE HORIZONTE Die Haftbedingungen bei Baader/Mein­hof mögen ja durchaus katastrophal sein. Ich weiß aber nicht, ob sie anders sind, als bei vielen anderen Häftlingen auch. Z.B. das, was in Mannheim passiert ist, davon hat kein Mensch geredet, bis der Skandal bekannt wurde, daß Menschen durch Beamte in ekelerregender Weise umgebracht worden sind, die schon vor­her schre~kliche Bedingungen hatten. Man sollte nicht vergessen, daß B/M eine Gefangenen-Aristokratie darstellen, die uns andere, die anonymen Inhaftierten in den Gefängnissen zu leicht vergessen

! lassen. Also, man müßte einen anderen Fall haben, um den Rechtsstaat anzu- · prangern. Dazu wäre das Berufsverbot sehr gut geeignet.

FRAGE: Das ist zweifellos richtig, aber die Schwierigkeit ist ja die, daß B/M von der Reaktion zum Prüfstein für die Ver­fassungstreue gemacht worden sind, d.h. wenn jemand eintritt - nicht für Baader/ Meinhof, aber für ordentliche Haftbe­dingungen, für einen fairen Prozeß im Rahmen der bürgerlichen Legalität, so wird er - wie es bei Böll geschehen ist -identifiziert mit Baader/Meinhof, d.h.,

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wer nur die bürgerliche Legalität vertei­digt, wird mit denen identifiziert, ob­wohl er mit ihren Aktionen überhaupt nichts gemein hat. Und deswegen scheint B/M so etwas wie der moralische und politische Gradmesser für die gegenwär­tige Situation in der BRD zu sein.

BLOCH: Sachlich stimme ich Ihnen völ­lig bei, trotzdem ist es taktisch genau umgekehrt. Man hilft den Anarchisten nicht und hilft uns nicht, wenn man das, was sie sagten, so stark pointiert. Es gibt andere Schrecken im Spätkapitalismus: Wir haben die dauernde Kriegsgefahr, wir haben wieder deutlich den Urwider­spruch iß:i Kapitalismus, die ökonomi­sche Krise, die hervortritt und arbeitslos und brotlos macht. Das sind Sachen, die ~ zum Kapitalismus gehören und die direkt wohl jeder empfindet, und wo selbstver­ständlich alles auf unserer Seite ist.

FRAGE: Die Frage ist eben nur, ob die Linke im Augenblick in der BRD nicht so schwach ist, daß ihr Stellungsnahmen zum Thema B/M buchstäblich aufge­zwungen werden, die Linke also nur noch reagieren, nicht mehr agieren kann.

BLOCH: Als ob es sonst nichts gäbe. Redenwir nicht von der Linken, sondern vom Unterträglichen unseres Zustandes, aer eine inl(e hervorrufen müßte, ie diesen aufhebt. Reden wir von der Öl­krise, wie da geschoben worden ist, und die die Ausrede ist für ungeheure Preis­steigerungen der Konzerne . Reden wir davon, daß der Kapitalismus selber die Krise befördert. Diese Themen sind doch leicht verständlich und verwischen die Situation nicht, im Gegenteil.

FRAGE: Sie haben eben das Stichwort

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gegeben, daß die Zustände in der BRD so sind, daß es eigentlich eine Linke ge­ben müsse. Nun, wir haben eine Linke, aber die ist schwach und zersplittert. Gibt es spezifische Ursachen, daß hier die Linke so schwach ist, während das auf unsere Nachbarländer, etwa Frank­reich, keineswegs zu trifft?

BLOCH: Darf ich da Marx zitieren aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilo­sophie, Einleitung? Wir Deutsche haben die Restaurationen der modernen Völ­ker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir befanden uns immer nur ein­mal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung. Das ist die deutsche Tradition: zwischen deutscher Theorie und deutscher Praxis klafft ein Riß. Lenin hat allerdings ge­glaubt, daß der Schlußpunkt der Revo­lution - und was für einer - mit gros­sem Krach in Deutschland vollzogen würde. Bei ihm war Respekt vor Deutsch­land da, wegen der Großen Theorie. Aber die Deutschen haben kein Talent zur Praxis. Wo Praxis in anderen Län­dern schon vorhanden war, 1848 oder 1918, da machten wir mit, aber wo ist denn eine Revolution in Deutschland ge­lungen? Was ist denn aus 1918 in Deutsch­land geworden? Was ist mit Liebknecht und Rosa Luxemburg passjert? Daß 1918 in Frankreich, England oder Ame­rika die Revolution nicht ausgebrochen ist, hängt damit zusammen, daß diese Staaten Sieger waren. Also, man darf nicht Deutschland als Ausgangspunkt der Revolution sehen - schön wär's, aber damit rec nen . ann man in einem Fall-. Die Nazis haben die Linke im Nu überrumpelt, und sind so rasch eingebro­chen ins Proletariat, als wäre es Sozialis­mus gewesen, was die Nazis zu bieten hatten.

Jetzt sieht es mit unserer Linken auch nicht viel besser aus. Bismarck brauchte heute gar kein Sozialistengesetz, sondern die Roten haben sich durch ihre Streitig­keiten und Zersplitterung selbst das Ge­setz gegeben. Aber aufges<;hoben ist nicht aufgehoben. Die Theorie des Mar­xismus haben die Deutschen gegeben, und das ist eine ewige Ehre. Die Praxis werden die anderen machen, und dann machen die deutschen Proleten mit, aber die Führer in der Verwirklichung der Revolution sind sie offenbar nicht. Ich glaube, daß der Satz vom jungen Marx noch eine große Zukunft hat: "Wenn alle inneren Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungs-

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tag verkündet werden durch das Schmet­tern des gallischen Hahns." Diesen Satz hat man nach 1917 verlacht als eine fal­sche Prophezeihung. Er ist auf jeden Fall etwas pathetisch, aber wenn man das "Schmettern des gallischen Hahns" abstreicht, dann ist etwas dran. Allein konnten die Deutschen eben kei~ volution zum Sieg führen, der Ausgang des Bauernkriegs ist ein Symptom dafür. Thomas Münzer wollte die Landsknech­te haben. Geld hatten die Bauern keines, das hatten aber die Fürsten und Herren. Also schlug Münzer vor, daß man die Landsknechte mit der Plünderung der fürstlichen Schlösser bezahlen sollte. Mit den Landsknechten hätten die Bauern siegen können. Münzers Vorschlag wur­de fast einstimmig abgelehnt, weil der christliche Heerhaufen nichts mit den Landsknechten zu tun haben wollte. Und das, obwohl Friedrich, der soge­nannte Weise, in einem Brief geschrie­ben hatte: wir Fürsten sind jetzt verlo­ren. So sicher war den Fürsten ihr eige­ner Untergang, als einige Bauern anfin­gen zu schießen. Die Schlacht bei Fran­kenhausen ging ja dann auf schreckliche

Weise für die Bauern verloren . Das gab es bei jeder Revolution, daß sie itiehtäT­lein eine Revolte der Mühseligen und Be­ladenen war, sondern auch einer der In­telligenz. War Lenin denn kein Inteflek­tueller:r-

FRAGE: Nur, hat unsere Studentenbe­wegung nicht daran gekrankt, daß sie rein auf die Universität beschränkt blieb, während die französischen oder die ita­lienischen Studenten eine KP hinter sich haben, und auch Teile der Arbeiter­schaft?

BLOCH: Na, die KP in Frankreich wäh­rend des Pariser Mai kann sich sehen las­sen, sie hat auf Weisung Moskaus gehan­delt, d.h .: nicht gehandelt. Die Studen­tenbewegung in Paris wäre anders ausge­gangen, ohne daß die Studenten einen Schuß hätten abzufeuern brauchen, hät­te sie die KP entsprechend unterstützt. In der BRD ist die Linke isoliert und zersplittert, weil sie sich untereinander über eine einheitliche politische Konzep­tion nicht einigen kann.

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Ich meine, da gehören noch andere Ho­rizonte dazu, und anderes, als ewig an sich gegenseitig herumzumäkeln.

FRAGE: Ein viel diskutiertes Thema ist die Frage der Gewalt. Die Frage ist: Ge­hört zur Vorstellung des Revolutionären der Begriff Gewalt notwendig dazu?

BLOCH: Ob Gewalt notwendig hinzuge­hört, das kommt auf die Verhältnisse an. gegen die sich die subversive Gewalt richtet oder zu richten hat. Wenn eine sehr große Reife der Bedingungen da ist zu einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse. so daß sich sogar eine Mehrheit bildet, die der Veränderung zustimmt, dann, in diesem überwiegend theoretischen Fall leider. ist die Gewalt in einem strengen Sinn nicht notwendig. Aber, wie gesagt. diese Verhältnisse sind selten eingetreten und Revolutionen las- ~ sen sich nicht durch eine Parlaments­mehrhei t beschließen. Und lassen sich in den seltensten Fällen ersetzen. Nun stut­ze ich überhaupt bei dem Wort: Gewalt. indem sie ausschließlich rebellischen Be­wegungen zugeschrieben·wird. Die rebel­lischen Bewegungen haben Gewalt ge­braucht, weil sie gezwungen waren Ge­walt zu gebrauchen. Und zwar durch je­ne Oberen, die die eigentliche Gewalt nicht als einen ausbrechenden und dyna­misch sichtbaren Zustand besaßen, son­dern eine statische Gewalt ausübten, die zu schlafen schien und so auch sich ge­ben konnte, als wäre sie gar nicht vor-

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handen. Im Augenblick aber, in dem eine Veränderung hervorgerufen wurde, verwandelt sich die statische Gewalt in ihr echtes Gesicht, nämlich ebenfalls in eine dynamische; also: Unterdrückung, Pistolenschüsse oder wenn es eine Revo­lution niederzuschlagen gilt, weißer Ter­ror~ Neben dem roten der weiße Terror,

Ernst Bloch auf Korcula 1968

der sich auch sehen lassen kann; also die Kategorie der Gewalt gilt auch für beide Seiten durchaus. Wenn es eine Verab­scheuung der Gewalt, ein Aufrufen der Bergpredigt hier gegen rebellische Linke gibt, ist es Heuchelei. Eine ganze Zeit eben braucht die Obrigkeit Gewalt und erklärt, sie habe ihr Schwert von Gott. Diese Gewalt ist zwar lange Zeit statisch, das Schwert bleibt noch in der Scheide. Aber es ist doch ein Schwert und zu je­der Zeit bereit, aus der Scheide herausge­nommen zu werden. Andererseits frei­lich, glaube ich, gibt es auch ein Gewalt­recht des Guten. Also: der kategorische Imperativ sozusagen mit dem Revolver in der Hand. Das steht z.T. wörtlich in meinem Buch "Thomas Münzer", im Kapitel "Gewaltrecht des Guten". Im bürgerlichen Gebrauch des Wortes "Gewalt" steckt viel Scheinheiligkeit. Der Marxist muß aber untersuchen, wo­für die Gewalt gebraucht wird~· Die link~~ Gewalt . wird J!!!:.~i.~~f-~E!ganLde~Q~~. sc~-~~!~g~!?B~~_hl_unsI~L.~ufhe bl!!!K .~~~üns~li~_ep_~~g_~de~~Eg.~.i: .. ~!~~~) ge.~.!liE~~!J::@!g.!~!: Die staatliche bürger­liche Gewalt wird zur Wahrung eines längst veralteten Zustands gebraucht. Für spätere Zeiten wird es wahrschein­lich unbegr,eiflich sein, daß es künstlich und sinnlos zwei Arten von Menschen gibt: Herr und Knecht, wobei es ganz gleich ist, ob es Leibeigene oder Feudal­herr, oder ob es Monopolkapitalisten

sind und hinausgeworfene Fabrikarbei­ter - es gibt viele Beispiele, soviel Sie wollen, das Grundverhältnis Herr und Knecht ist darin geblieben. Ob jemand Herr oder Knecht ist, ist ein reiner Zu­fall der Geburt. Dieser unerträgliche, un­verständliche Zustand, soll aufgehoben werden, und dazu hat die Geschichte ein paar Schritte gemacht, indem die schlimmste Herrenwillkür gefallen ist. Bauern werden heute nicht mehr aufge­hängt und vorher gefoltert, weil sie ein paar Hölzer gestohlen haben, um sich eine Suppe kochen zu können. Es gab bis zur französischen Revolution eine völlige Unangemessenheit von Strafe und Vergehen. Aber die ungeheure Heu­chelei bleibt auch in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen. Das ist ausge­drückt in einem schönen Satz von Ana­tole France: "O die majestiätische Gleichheit des Gesetzes, das den Armen wie den Reichen gleichmäßig verbietet, Holz zu stehlen und unter Brücken zu schlafen."

FRAGE: Es scheint die gegenwärtige in­nenpolitische Situation der BRD gerade auch dadurch gekennzeichnet, daß ver­sucht wird, bestimmte Gesinnungen und Neigungsäußerungen zu unterdrücken. Die Berufs':erbotspr~is.„basiert wesent­lich auf Gesinnungsschnüffelei:

BLOCH: Ja, das scheint nicht nur so, das ist so. Nun kann ja auch eine rein theoretische Propaganda jederzeit in ei­ne praktische umschlagen. Das Essen ist der Beweis des Puddings sagt Engels. Wenn wir bloß über Formeln aus der hö­heren Mathematik, aus der Quantentheo­rie oder aus der allgemeinen und speziel­len Relativitätstheorie sprächen, würde niemand zur Unterdrückung dessen et­was unternehmen. Wir Marxisten aber können ja nicht plötzlich reine Kontern-

plation treiben. Wir lehren eben den in­neren Widerspruch der Gesellschaft, die Krise des Kapitalismus, mit einem ande­ren Akzent und mit einem anderen Ziel, alswenI1. wir. an 'cüe ··Tafel schreiben: ~;1/2gTDas ist.dieF onÜel cieSFäIT: gesetzes, das können wir ruhig lehren. Aber schon den Widerspruch im Kapita­lismus könne wir nicht lehren. weil kei­ner von uns bei dem theoretischen Wi­derspruch allein bleiben kann.

FRAGE: Glauben Sie, daß die Sozialde­mokratie heute noch willens und in der Lage ist, den Rechtsdrall in der BRD aufzuhalten?

BLOCH: Ja, der linke Flügel, die Jusos, der einwandfrei ist aber schwach. Von der Gesamtpartei kann ich bis jetzt frei­lich leider nur sagen, daß sie die Berufs­verbote entscheidend initiiert und durch­geführt hat. Daran sind die Kommuni­sten zum Teil sogar selbst schuld. Sie machen es der Sozialdemokratie leicht, damals und heute: Ist denn die Sowjetunion mehr als 50 Jahre nach der sozialistischen Revolu­tion immer noch so schwach, innerlich so wenig gefestigt, daß sie oppositionelle Intellektuelle in die Emigration treiben muß, daß sie die moderne Kunst unter­drücken, abstrakte Bilder verbrennen muß? Hat die Sowjetunion so wenig Vertrauen in die Errungenschaften des Sozialismus, daß sie sich dermaßen ab­riegeln muß? Das gilt auch für die DDR mit der Sowjetunion im Hintergrund. Ist es denn für sie wirklich notwendig, so vorzugehen, daß sie dafür eine ungeheu­er schlechte propagandistische Wirkung im Westen in Kauf nimmt? Wozu denn diese Angst? •

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Nachruf

Ernst Bloch. Neunzigjährig stand er mit geballter Faust vor uns und forderte das politische Asyl für chilenische Flüchtlin­ge. Seine Worte drückten Alltag aus, ei­nen Alltag von Existenzproblemen, Be­dürfnissen, gesellschaftlicher Realität und Hoffnung, diese im gemeinsamen Handeln und gemeinsamer Anstrengung wenigstens teilweise zu lösen. Das war er, wie er sich im feierlichen Rahmen universitärer Festlichkeit gab, als er da­für Sorge trug, daß diese, seine Ehren­doktorwürde, vor allen, die dabeisein wollten, im größten Saal dieser Universi­tät, zum Akt einer politischen Zukunft wurde.

Wir, die Studenten, hatten in ihm den Mitstreiter, aber auch das Vorbild, den mitleidenden Genossen, aber auch den Zeitgenossen, der Rat wußte, aber auch Erfahrung gesammelt hatte, der gegen Unrecht und Unterdrückung unablässig protestierte.

Er war es, der in seinem Werk der Ge­schichte, aber vor allem den kleinen Er­eignissen die Differenziertheit abverlang­te, den Kern hervorhob, die Dinge beim Namen nannte, um ihrer Widersprüch­lichkeit Ausdruck zu verleihen, um die voranschreitenden Tendenzen herauszu­arbeiten, um die Hoffnung nach Verän­derung zu nähren. Er ließ sich nicht auf Lüge, Feigheit und Verflachung ein, was Unrecht war blieb Unrecht, wo Friede sein sollte, wurde der Widerstand be­nannt, wo Kriege geführt wurden, wurde die Rebellion geehrt.

Ernst Bloch wird in uns weiterleben. um ihn zu trauern ist<las-·ein:e:···äiJe·r:·sicK' über ihn freuen, seiner Produktivität und seinem Erbe zu danken, das wichti­gere Moment. Unsere Trauer gilt unserer Scli~äche

1 der-AufrlChtig}(eit so o-ftäÜs

dem Weg zu gehen, feige zu sein anstelle des Muts, den er von uns forderte, be­trübt zu sein, wenn andere von uns es aufgeben, an eine bessere Zukunft zu

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Am 9. August 1977 wurde Ernst Bloch begraben. Nach den Trauerreden von Walter Jens, Siegfried Unseld, Adolf Theis, Helmut Fahrenbach sprach für den AStA Tübin­gen die Referentin für die Verfaßte Studentenschaft, Gundi Reck. Nach ihr ergriffen Oskar Negt und Rudi Dutschke das Wort. Die AStA-Rede auf Ernst Bloch hatte fol­genden Wortlaut:

glauben. Und unsere Trauer muß beson­ders denjenigen gelten, die versehen wa­ren mit einem Stück Hoffnung, mit ei­nem Akt Aufrichtigkeit, als sie zu Opfern wurden, als sie von unterdrück­ten Menschen dieses Systems zu Toten eines Gewaltapparats wurden, der seine Funktion in Unterdrückung und Tötung hat.

Wir trauern um Benno Ohnesorg, bei dessen Tod man unseren AStA bestraf­te, weil er seiner Witwe Beileid aussprach. Wir trauern um die unzähligen kleinen

Karola und Jan Bloch, Miriam und June

Leute, die in Kriegen verheizt, durch Po­lizeikugeln liquidiert, durch die indu­strielle Maschinerie verstümmelt, durch die Meinungsmanipulation bewußtlos gehalten, durch das System der Profit­maximierung und die Herrschaft von Wenigen vergewaltigt v.:erden. Wir trau­ern um Elisabeth Käsemann, die sich aufgerichtet hatte und deren Ermordung zu gunsten von Fußball und Staatsraison im Lügengewirr und der schamlosen Pas­sivität der Herrschenden unterging.

Ernst Bloch war ein Mann, der uns ein wahrer, das heißt wirklicher Genosse war. Er trauerte mit uns um Holger Meins und war doch so redlich, nicht in blinder Parteilichkeit einer Politik des Unmöglichen nachzuhängen, ebenso wie

er nicht bereit war, eine Art Sozialismus zu akzeptieren, die sich im Kern revolu­tionären Denkens, die Permanenz kol­lektiver Selbstverwirklichung, dem Ziel Demokratie, Gleichheit, Freiheit, Brü­derlichkeit und Freundlichkeit zuneh­mend verschloss. Er kam in diesen Teil Deutschlands nicht deswegen, wie es die Apologeten der Herrschenden heute um­münzen wollen, weil er aktiv für diesen Staat eintreten wollte, sondern deshalb, weil er ein Getriebener der Mächtigen war, wie es seine gesamte Geschichte be­weist.

Wir freuen uns, daß wir sein Vermächt­nis erhalten können. Wir freuen uns um so mehr, als wir uns nicht der prestige­trächtigen Heuchelei anschliessen müs­sen, die zwar die Größe und Bedeutung seiner Tätigkeit zu rühmen vorgibt. gleichz.eitig aber versucht, sich vom poli­tischen Gehalt derselben zu distanzie­ren.

Wir wissen, daß seine Position nicht nur Theorie bliebt. sondern haben erfahren dürfen, daß er den Kampf gegen die Reaktion immer unterstützt hat. Diese Unterstützung war und ist für uns umso wichtiger, als gerade in dieser Zeit sich

Vertreterinnen der Studentschaft legen einen roten Blumen-Stern am Sarge Blochs nieder

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Verhältnisse durchsetzen, getragen von einem Staat von Bürgern, die ihre eige­nen demokratischen Normen und An­sprüche zweckdienlichst vergessen.

Ernst Bloch hat immer betont, daß der Kapitalismus als Grundübel unerträgli­cha Zustände schafft, die nur durch den praktischen Kampf für eine freie Gesell­schaft umgestürzt werden können. Wir werden es uns nicht nehmen lassen, sein Erbe an dieser Universität , die gerade wieder einmal von den Herrschenden weitgehender entrechtet und einer effek­tiveren Kapitalverwertung zugeführt .werden soll. kämpferisch aufzunehmen und weiter zu entfalten. Gerade in einer Situation, in der es sol-che Professoren immer weniger gibt, bei denen Aufrichtigkeit, Wissen , politisches Denken und Handeln vereint sind wie in der Person Ernst Bloch. Er war einer der letzten Marxisten, die noch lehren durf­ten. Befremdend ist nun, wenn wir se­hen, wie diejenigen, die fast verhindert hätten, daß ihm zu seinem neunzigsten Geburtstag die Ehrendoktorwürde zuer­kannt wurde, sich nun anschicken sein Erbe zu verwalten.

Ernst Bloch lebt weiter, nicht in den Bi­lanzen der Bewußtseinsindustrie, nicht in der Heuchelei der Herrschenden und Manipulateure , nicht in privater sondern in revolutionärer Hoffnung. Diese Uni­versität trägt bereits von un für uns sei­nen Namen. Seine Inhalte werden wir verstärkt durchsetzen. Wir werden einen Anfang machen, wenn wir anlässlich der Feierlichkeiten der Bourgeoisie zur fünf­hundertjährigen Unterdrückung von Geist, freier Meinung, radikalen Verän­derungsmöglichkeiten und praktischer Hoffnung ·auf eine neue Gesellschafts­ordnung eine Ernst-Bloch-Gedächtnis­Veranstaltungsreihe realisieren werden, die unsere Auseinandersetzung mit Ka­pital und Staat durch sein Wissen voran­treibt.

Schon heute abend wird der AStA ab 20.30 Ühr vom Holzmarkt aus einen Fackelzug zum Gedenken an unseren Lehrer und Genossen organisieren.

Wir tun dies auch, um Ernst Bloch in Schutz zu nehmen, gegen jene Lobred­ner, die ihn zu Tode feiern wollen. Nicht nur ihn, sondern auch seine Philosophie. Denn sie haben Angst, daß das Noch-. Nicht zu; Praxis werden könnte, daß die Zukunft unsere Heimat wird.

1 Wie nah s~nd uns manche, d~e tot sind, wie fern smd uns manche, die leben.

DIE AUSRUFUNG DER ERNST· BLOCH·

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UNIVERSITAT Am Abend nach der Beerdigung Blochs zogen dreitausend Teilnehmer eines Fackel­zuges vor das Hauptgebäude der Universität, um per Akklamation der Umbenennung der Uni zur "Ernst-Bloch-Universität" zuzustimmen. Wenige Tage zuvor hatten Unbekannte bereits die Inschrift am Hauptportal heimli­cherweise angebracht. Einer, der dabei war, lüftet den Schleier dieses nächtlichen Kunstaktes: Jcr · Da staunten die e e len nicht schlecht, als am Morgen des 6 . August 1977 über dem Hauptportal der Neuen Aula, dem neoklassizistischen Repräsentationsbau der Tübinger Universität, in großen schwarzen Lettern der Schriftzug: ERNST-BLOCH-UNIVERSITÄT prang­te. Hatte diese altehrwürdige Herberge der sieben und noch mehr Künste doch die letzten 500 Jahre nach ihrem Grün­der Eberhard-Karls-Universität geheißen . Da Ernst Bloch erst zwei Tage vorher ge­storben war, konnte es sich, in der Kür­ze der Zeit, wohl kaum um einen offi­ziellen Widmungsakt handeln. Diesen · messerscharfen Schluß bestätigte uns auch das "Schwäbische Tagblatt", das kurz darauf zu berichten wußte, daß der Dekan der philosophischen Fakultät (der Chefredakteur spricht hier pikan­terweise vom Dekan der philosophi­schen Fachschaft), Freiherr Bruno v. Freytag gen. Löringhoff, tobend und fluchend ausspucke vor den Schrnierern, die die Inschrift angebracht hätten, was die verhängnisvolle Folge von Bloch "und seiner ganzen Brut" sei. · Die "Blochsche Brut" war es also~ die in einem nächtlichen Handstreich die Uni­versität nach ihrem Lehrmeister umbe­nannt hatte . Einer der damaligen AStA-Vertreter, der dabeigewesen ist, erinnert sich mit sicht­lichem Vergnügen an die ganze .Ge­schichte: "Nachdem der alte Bloch ge­storben war, haben wir uns überlegt, was man als studentisch-linke Antwort auf die offiziellen Trauerfeierlichkeiten ma­chen könnte . Ein sichtbares Zeichen, daß wir seine politische Botschaft ange­nommen hatten, wollten wir verbinden mit einer Kritik am Bestehenden. Nun hat uns der Name Eberhard-Karls-Uni-

versität sowieso nicht gepaßt, da er au­ßer für einen blutigen Antisemiten auch für den Repräsentanten eines Feudal­staates und damit ebenfalls für einen feudalen Lehrbetrieb stand. Da saßen wir also, ungefähr zehn Mann hoch, in den AStA-Räumen im Clubhaus, das ge­nau gegenüber der Neuen Aula liegt, schauten aus dem Fenster und diese ein­drucksvolle Fassade .-an, dachten an "500 Jahre sind genug", und einer mein­te, daß das bestimmt gut aussehen wür­de, wenn da auch noch Ernst-Bloch-Uni­versität über dem Eingang stünde·, und so gab eins das andere und alle fanden die Idee spitze. Wir also gleich raus und über die Straße und ham' uns das Portal mal genau ange­guckt, wie lang das ist. Dann schnitten wir uns aus Pappe eine Schablone aus, die war mit dem Sternchen hinten und dem Sternchen vorne bestimmt zehn Meter lang. Damit machten wir erstmal einen Probelauf im Clubhaus und sprüh­ten den Schriftzug dort an eine Wand. Das hat prima geklappt und sah eigent­lich auch ganz gut aus.

Nun gab es aber noch ein einfaches Pro­blem, nämlich wie kommt man jetzt da hoch? Denn das Interessante ist ja, daß direkt links neben dem Haupteingang das Zimmer der Pedellen ist. Und wegen

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Die Uni am Abend voh Blochs Beerdigung

der Vorbereitungen für das 500-jährige Uni-Jubiläum und der damals stattfin­denden Ostasiatischen Kulturwoche, und weil man schon deshalb Aktionen linker Studenten befürchtete, war dieses Pedellenzimmer Tag und Nacht besetzt. Da brannte auch Licht, es war also tat­sächlich jemand da. Zusätzlich hatte die Uni-Leitung noch einen Nachtwächter engagiert, der mit einem Hund durch die Anlagen der Universität patroullierte, daß niemand einen Rucksack irgendwo abstellen oder sonst einen Anschlag vor­bereiten konnte. Es mußte also alles schnell und lautlos über die Bühne gehen, denn wenn der Pedell auch nur zufällig aus dem Fen­ster gesehen hätte, hätte er uns ganz si­cher bemerkt. Und das war. ja auch der persönliche Witz dabei, daß das sozusa­gen vor den Augen der Pedellen passiert ist und die das nicht mitgekriegt ha­ben." Hier unterbreche ich den Erzäh­ler, um ihm zu berichten, daß die Pedel­len wohl immer noch sauer sein müßten.

Denn Oberpedell Lang wollte, obwohl er sich noch genau an die Sache erinner­te, überhaupt keinen Kommentar dazu abgeben. Er bestritt energisch, daß sie

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em1gen Arger dadurch bekommen hät­ten. Ja, nicht einmal die nicht unerheb­liche Mühe und Sauerei, die die Pedel­len bei dem vergeblichen Versuch, die Sprühschrift einige Tage später abzu­kratzen, auf sich nehmen mußten, woll­te er noch wahrhaben. Nach nunmehr acht Jahren sitzt der Stachel noch im­mer tief! Darob sichtlich erheitert fährt die "Blochsche Brut" fort: "Erst mal mußten wir also da hoch kommen, und das waren immerhin 6 bis 7 Meter. Wir hatten Glück, denn in unmittelbarer Nä­he wurde gerade ein anderes Uni-Gebäu­de renoviert, und da war auch ein Gerüst mit einer riesigen Leiter. Die wurde von zwei Mann hergeschafft, während gleich­zeitig zwei andere Schmiere standen. Denn weil kurz zuvor der Bankier Ponto und Generalbundesanwalt Buback er­mordet worden waren und außerdem bald ein europäischer Gipfel in Tübingen stattfinden sollte, war gerade hier eine verstärkte Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften. Einer stellte sich also mit einer Tascher lampe. am Schimpfeck auf und ein zweiter an der Wilhelmstraße vor der Neuen Aula. Wenn die Bullen kommen sollten, mußten sie am Schimpf vorbei, und dann hätten wir noch ein paar Se­kunden Zeit gehabt, um zu verschwin­den. Wir mußten nun also in aller Hek­tik die Sache über die Bühne kriegen. Das war nicht ganz ungefährlich, denn wir mußten in schwindelnder Höhe sprühen und immer wieder runter, die Leiter weiterrücken, und wieder hoch mit der Schablone. Schließlich waren wir fertig, es war alles gut gegangen,

auch die Leiter wurde wieder ordentlich zurückgebracht, und alle Beteiligten standen genüßlich vor diesem Werk und freuten sich teuflisch, denn eine so schö­ne Sprühschrift hatte es schon lange nicht mehr in Tübingen gegeben." Der Eklat geschah am nächsten Morgen, als alle Welt die Schrift sehen konnte. Die Uni-Leitung reagierte zunächst noch recht gelassen in der Annahme, die Buchstaben wäreri nur angeklebt und leicht zu entfernen, ja, sie lobte sogar noch die saubere Arbeit. So stand es auch im "Tübinger Tagblatt", und die AStA-Nachtarbeiter kringelten sich vor Lachen, als sie das gelesen hatten. In der Folge ging es jedoch nicht mehr so witzig zu, denn im zuständigen Mi­nisterium in Stuqgart war wan sehr er­zürnt über das kß'~!Wi\~W~'·äxerTubinger Universität ausgerechnet/""nach einem Marxisten zu benennen. Es wurde re­gelrecht nach den übeltätern gefahn­det,. aber man konnte natürlich nie jemandem etwas nachweisen. Der große Erfolg der Aktion aber war, daß anläßlich der Trauerfeierlichkeiten jede Menge Journalisten in Tübingen versammelt waren, und so war die Sprühschrift ERNST-BLOCH-UNI­VERSIT Ä T innerhalb von zwei Tagen quer durch sämtliche Feuilletons Eu­ropas verteilt. Bei den Begräbnisfeierlichkeiten selbst wurden noch von honorigen Männern ergreifende Reden gehalten, doch kaum war der alte Bloch unter der Erde, da wurde auch schon das Entfernen der Sprühschrift angeordnet. Was die Pedellen nicht abkratzen konn­ten, übertünchten später die Maler. Doch von Stund' an war der Name Ernst Bloch Universität nicht mehr auszulö­schen. Er ziert heute noch alle Publika­tionen der Studentenschaft, wird sogar von etablierten Chefredakteuren ge­druckt und fährt als Autoaufkleber mit

der hochgereckten Faust in der Mitte durch das ganze Land und kündet vom Widerstand derer, die den aufrechten Gang noch nicht verloren haben.

Albrecht Schäfer

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1 MLE AUSZÜGE AUS EINEM GESPRÄCH Wenige Jahre nach dem Tod Ernst Blochs veröffentlichte Karola Bloch ihre Erinne­rungen an das gemeinsame Leben mit dem am 4. August 1977 verstorbenen Philoso­phen. Das im Neske-Verlag erschienene Buch mit dem Titel "Aus meinem Leben" bricht mit dem Jahr 1961, mit der Übersiedlung der Blochs nach Tübingen, abrupt ab. In einem langen Gespräch schilderte Karola Bloch, warum sie ihre Autobiographie nicht bis in die sechziger oder siebziger Jahre hinein fortschrieb, obwohl ihr politi­sches Engagement eng mit dem SDS und der Neuen Linken verbunden war. Das Stadtmagazin TOTE veröffentlichte im Oktober 1981 autorisierte Auszüge.

FRAGE: Karola, Du hast soeben Deine Erinnerungen fertiggestellt. Warum en­dest Du mit dem Jahre 1961? KAROLA BLOCH: Ich würde diese Fra­ge mehrfach beantworten. Eine Antwort ist: aus Faulheit, weil ich nicht noch mehr schreiben wollte. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die zweite Ant­wort lautet: deshalb, weil mir im Ver­gleich zu meinem früheren Leben, also bis 1961, die Bundesrepublik etwas langweilig vorkommt. Bei den Erinnerungen bis 1961 ist mir der Strom nicht ausgelaufen. Ich konnte erzählen und erzählen. Das war alles, wie mir andere sagten, spannend. Wenn ich irgendwo ein Kapitel vorgelesen ha­be, wollte jeder die Fortsetzung wissen. Ich hatte schon viele Lesungen und ha­be noch fünf vor mir.

Aber bei der Bundesrepublik -, wenn ich von der Studentenbewegung absehe, von einigen Strömungen im SDS, von der Bekanntschaft und Freundschaft mit Rudi Dutschke absehe, - wüßte ich nicht, was ich schreiben sollte, was ir­gendwie in die Phantasie greift und die Menschen interessieren sollte, außer viel­leicht noch über die Gründung des Ver­eins "Hilfe zur Selbsthilfe" für die Be­treuung von Strafentlassenen. In der Bundesrepublik lebten wir von Anfang an verhältnismäßig gut. Ernst wurde sehr angesehen, hat Vorträge gehalten. Zuerst hatten wir überhaupt kein Geld. Aber bald füllte sich die Kasse durch Vorträge und Bücher, die veröffent­licht wurden. Wir hatten gleich eine net­te Wohnung, in der wir uns wohlgefühlt haben, fanden auch bald einen Kreis von Bekannten und Freunden. Und alles so Positive ist langwefü.g, finde ich jedenfalls. Leid, Schmerzen, Kon­flikte, das ist vjel interessanter. Ich war, bis ich in die Bundesrepublik kam, immer berufstätig, habe auch poli­tisch gearbeitet. Hier war ich schon en­gagiert für die Studentenbewegung, war Vorsitzende des Republikanischen Clubs in Tübingen usw.. Ich habe Strafentlas­sene betreut. Aber das war alles für mich nicht überwältigend genug. Das kann man als einzelne Episoden erwähnen.

Eines der wichtigsten Argumente für die Nichtfortsetzung der Erinnerung ist die Tatsache, daß ich nicht. mehr berufstätig war. Als wir hierile'r"-karnen:'~~habe"'ich' aufgehört, weil ich erstens nicht wußte, welche Chancen sich mir als Architektin in Tübingen öffnen. Zweitens brauchte mich der Ernst hier mehr als vorher, er hatte keine Sekretärin. Ich mußte für

ihn die ganze Post erledigen und alles, was die Organisation der Vorträge be­traf. Es haben sich sehr viele Leute und Medien gemeldet. Diese Form der Publi­city, der Öffentlichkeit, die sich natür­lich gebildet hat, weil Bloch als einer, der aus der DDR hierher kam und schon einen Namen als Philosoph hatte, anzie­hend war. Ich habe meinen Mann auf seinen Reisen begleitet. Wir waren ziem­lich viel weg. Und da bin ich in eine so ganz andere Rolle gekommen. Leute, die mich in der DDR oder in Amerika oder sonstwo kannten, haben einen an­deren Menschen erlebt, als diejenigen in der Bundesrepublik, weil ich· hier doch mehr oder weniger ein Anhängsel von Ernst Bloch war. Früher war das nicht der Fall gewesen. Ich litt darunter, weil' ich eben meinen Beruf gern habe. Es ist ja auch ein schöpferischer Beruf Auf diese Weise wurde mir eine lebendige Ader aus meinem Leben durchschnitten. Das verhältnismäßig bequeme, jedenfalls nicht sehr aufregende Leben stand im Gegensatz zu den dramatischen letzten Jahren in der DDR ab 1956/57, als Bloch so angegriffen wurde. Auch ich wurde zum schwarzen Schaf und bin nach 25 1 ahren Parteizugehörigkeit aus der Partei ausgeschlossen worden. Das war alles sehr aufregend, schmerzlich, bewegend. In dei Bundesrepublik war ich mit der Linken nur lose verbunden. Aber es war nicht diese Integration mit dem Leben, wie das früher der Fall war ...

FRAGE: Welche Episoden sind es, an die Du dachtest?

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KAROLA BLOCH: Einige schöne Epi­soden will ich erwähnen, die Begegnung mit dem SOS , die Freundschaft mit Ru­di Dutschke.

FRAGE: Du sagtest, Du hättest den SOS als antistalinistisch empfunden. Woran hat sich das festgemacht?

KAROLA. BLOCH: Der SOS war vor al­lem gegen die Diktatur üb e r das Pro­letariat. Damals gab es noch den Begriff der Diktatur des Proletariats. Aber diese existierte nicht in der DDR, in Rußland oder in den Ostblockstaaten. Das war doch überall die Diktatur ü b e r das Proletariat. Die SDS'ler in Tübingen wa­ren für die Beteiligung der Arbeiter an Leitung und Planung der Produktion im Betrieb . Dafür waren wir auch. Das hat uns verbunden. Der Gedanke der Räte­organisation war in der Sowjetunion, im Stalinismus undenkbar. Die Verfolgung der freien Meinung, die Strafen und Ver­haftungen, wenn jemand etwas sagte, was nicht ganz der Norm entsprach, ... bei allem dachte der SOS doch genauso wie wir. Wir empfanden die Art des exi­stierenden Sozialismus als einen degene­rierten Sozialismus. Für uns hatte er ei­gentlich mit Sozialismus gar nichts mehr zu tun. Nur die Verstaatlichung der Be­triebe bedeutet noch nicht Sozialismus. Da hat der SOS eigentlich dieselbe Mei­nung gehabt wie wir.

FRA GE: Wie hast Du denn Rudi Dutschke kennengelernt?

~1 KAROLA BLOCH: Rudi haben wir in

Bad Boll 1967 kennen gelernt. In Bad Boll fand eine Diskussion.statt, die "Re­volution in Deutschland" hieß. Eingela-den waren Bloch, Dutschke, Maihofer, Flechtheim, ... Maihofer war derjenige, der die Laudatio auf Ernst Bloch hielt, als er den Friedenspreis des Deutschen

~ ~

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Buchhandels erhielt. Damals schien er uns links zu stehen. Er war Jurist. Er hatte Bloch nach Saarbrücken eingela­den zu einem Vortrag über 'Naturrecht und menschliche Würde' . Er hat auch ganz begeistert über dieses Buch ge­schrieben, so daß wir von Herrn Maiho­fer eine gute Meinung hatten. Erst auf dieser Tagung in Bad Boll hat er sozusa­gen sein wahres Gesicht gezeigt, als er sagte, er hielte den Kapitalismus für eine bessere Gesellschaftsordnung als den So­zialismus. Das hat dann unserer Freund­schaft ein Ende gesetzt.

Die Be egnung des alten Bloch mit dem jungen Dutschke war bewegend . Aus Tü­bingen sind viele Leute nach Bad Boll gefahren, die diese Begegnung miterle­ben wollten. Das Gespräch zwischen Bloch und Dutschke war sehr interessant und freundschaftlich. Für mich war das ein großes Erlebnis. Was bei Dutschke auch erfreuli.Gh war , ist seine nsic t, daß man nicht nur Marx als den VaterdeS revolutionären Gedankens der Befreiung_ des Proletariats nehmen soll . Sondern man sollte auch die Reihe der ander~ fortschrittlichen Denker erwähnen, die ~ucll d~n beteiligt hatten-:-Öazu gehören zum Beispiel die utopischen So-

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zialisten. Da waren sich beide einig , Selbstverständlich waren sie sich auch einig in der Negierung des herrschenden, des real -existierenden Sozialismus. Das war der Anfang der Bekanntschaft, Es hat sich sofort eine Korrespondenz ent­wickelt. Ich habe viele Briefe. Kurz nachdem sie sich getroffen hatten, wur­de das Attentat auf Dutschke verübt. Ein Jahr lang war er unter ärztlicher Kontrolle. Die Ärzte haben ihm gehol ­fen. Dutschke hat in einem Brief ge­schrieben: "Sie sind zwar Fachidioten, aber glänzende Fachidioten ." Sie haben sich kolossal viel Mühe gegeben mit Ru­di, das muß man sagen. Als Dutschke sich erholt hatte, war er eine Zeit lang in En'gland, wohnte bei Erich Fried. Ich habe mehrere Briefe aus England, Lon­don und Cambridge . Das ist eine in teres­san te Korrespondenz . Wir haben ihm fi­nanziell geholfen und Rudi schrieb dann immer: "Danke für die Rote Hilfe~" Als e.r schon gesund war und nach Däne­mark ging, - dort wohnte er in einer Wohngemeinschaft in Aldersvile in ei­nem schönen Haus- , haben wir ihm ge­schrieben, daf~ wir unseren Crlaub in Dänemark verbringen wollen . Wir wohn­ten woanders, aber jeden Tag verbrach­ten wir in Aldersvile . Und Rudi holte uns mit der ganzen Kinderschar in ei­nem kleinen zerbeulten Auto im Hotel ab. Rudi selbst konnte nicht chauffie­ren, weil seine Augen nicht nach rechts und links blicken konnten. Bis zu sei­nem Tod war das so. In Aldersvile saßen wir, wenn das Wetter gut war, in einem großen Kreis im Gar­ten. Rudi hatte viele Gäste. Er war be­liebt und geschätzt , man wollte seinen Rat hören. Er hat viele Anrufe bekom­men aus London, Amsterdam, von über­all, wo sich etwas regte . Unser Zusam­mensein war immer durch Telefonge­spräche gestört . Wir saßen an einem großen Tisch und sprachen über alle möglichen Probleme . Für Ernst war ein großer Sessel heraus­geholt worden und eine Decke für sei­ne Knie . Es war eine wunderschöne Zeit. Oft fuh­ren wir ans Meer. Davon habe ich auch ein Foto mit der kleinen Polly. Sie wur­de nach der Polly in der Dreigroschen­oper so genannt. Sie war vielleicht ein oder zwei Jahre alt . Am Meer sprach man weiter. Es war eine angenehme Stimmung.

( lrene Scherer & Welf Schröter August 1981)

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Die Geschichte der Budapester Schule ist die Geschichte der Unzufriedenheit der Lukacs Schüler Agnes Heller, Mihaly Vajda,Ferenc Feber und György Markus mit des­sen Spätwerk der "Ontologie des gesellschaftlichen Seins". Dies war die Grundthese des Vortrags von M. Vajda über G~org Lukacs und die Budapester Schule im Sommer 1984 in Tübingen. Er schilderte darin das damalige Selbstverständnis der Budapester Schule als den Ver­such die Lukacs'sche Systematik einer marxistischen Philosophie zu Ende zu Denken. Dieses Projekt einer Ontologie des Marxismus mußte seiner heutigen Ansieh nach not­wendig scheitern. Vor dem Hintergrund der politischen Erfahrung von 1956 war die kritische Haltung zur sozialen Wirklichkeit und offiziellen Ideologie das verbindende Element ihrer kol­lektiven Tätigkeit. Vier Grundfragen bildeteten dabei den Ausgangspunkt des Denkens der Lukacs Schüler: 1. Gibt es im Geschichtsprozeß mehrere Alternativen der Entwicklung? 2. Gibt es ethische Werte in der marxistischen Theorie? 3. Welchen Status hat die Entfremdungstheorie des frühen Marx? 4. Welches Verhältnis besteht zwischen marxistischer Theorie und "bürgerlicher Philo-

sophie"? . In der Beantwortung dieser Fragen war man sich mit Lukacs nur noch in der Frage der Entfremdung als Kategorie zum Verständnis der sozialen Wirklichkeit einig. Der folgende Text setzt mit dem Hauptteil seines Vortrags ein:

Georg Luklics' "Ontologie des gesell­schaftlichen Seins" war nichts anderes, als eine indirekte Apologie des realen Sozialismus. Das wußte Lukacs natürlich nicht. Es gehört zur Natur dieser indirek­ten Apologien, daß derjenige, der sie be­treibt, das überhaupt nicht bemerkt. In dem Augenblick als wir das aber erkannt hatten war klar, daß es die Budapester Schule nicht mehr geben konnte. Ich will die offizielle Rehabilitation von Ltik~cs im heutigen Ungarn nicht als Be­weis Jäfur· ausnützen, daß seine Theorie der "Ontologie des gesellschaftlichen Seins" diese Funktion hatte. Aber das ist nur charakteristisch, und dies zeigt die Analyse des Grundaufbaus der Onto­logie.

Die Ge.schichte der Budapester Schule war nichts Anderes, als der Versuch be­stimmte Momente der Praxis, der Sub­jektivität, das lebendig Menschliche .in diesen Bau hineinzutragen, worin sie je-

doch von vorneherein gar keinen Platz hatten. Damit läßt sich unsere Tätigkeit im Ganzen charakterisieren. Als Lukacs 1968 mit der Ontologie fer­tig war, formulierten wir eine Kritik, die wir damals noch als grundsätzlich em­pfanden. Wir haben in dem ganzen Werk nämlich zwei Ontologien gefunden, eine, die eine eindeutig notwendige, yon der menschlichen Tätigkeit vollkommen un­abhängige Entwicklung der Geschichte konstatierte, und eine zweite, in der die Funktion der menschlichen Praxis inner­halb der Geschichte betont wurde, wo Geschichte also nicht mehr unabhängig von den individuellen Tätigkeiten ge­schieht. Wir waren eindeutigpraxisorien­tiert und wollten daher die zweite Onto­logie betonen.

Der Begriff der Praxis kommt zwar auch bei Lukics sehr häufig vor, aber Praxis war für ihn nach dem Muster der menschlichen Arbeit einejede menschli­che Tätigkeit als gattungsmäßige Tätig-

Budapester S~hule

Lukacs 1954

keit. Dies ist überhaupt der problema­tischste Begriff seiner gesamten Konzep­tion.

Eine jede Tätigkeit ist eine gattungsmä­ßige, wenn sie von Menschen ausgeübt wird, und in diesem Sinne ist jede Tätig­keit erst einmal Praxis. Die Geschichte muß dann unter den verschiedenen kon­kreten menschlichen Handlungen dieje­nigen auswählen, die in der Tat in die Richtung der Gattungsmäßigkeit weisen. Diese Unterscheidung hätten wir noch akzeptieren können, wenn sie mit derje­nigen identisch gewesen wäre, die zwi­schen bewußten Taten und Taten, die nicht mit echtem menschlichem Bewußt­sein ausgeführt werden, unterschied. Wir betonten das Moment der Bewußtheit, das hingegen bei Lukics überhapt keine Rolle spielte. Sein beliebtester Spruch von Marx und das Motto seiner Ästhetik war: "Sie tun es, aber sie wissen es nicht." Während Marx diesen Satz im Zusammenhang mit entfremdeten Epo-

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Mihaly Vajda

chen der Menschheitsgeschichte ge­braucht hatte, spielte für Lukacs die Be­wufüheit in der menschlichen Tätigkeit keine bedeutende Rolle. Der Unterschied zwischen wahren gattungsmäßigen und nur scheinbar gattungsmäßigen Taten zeigt sich nur darin, ob diese Handlun- . gen in die Richtung der Gattungsmäßig­keit "für sich" zeigen oder nicht. Wir hingegen wollten die Bewußtheit der freien Wahl betonen, doch wir erkann­ten noch nicht, daß diese innerhalb der Konzeption gar keinen Platz hat.

Aber als wir 1975 unsere Kritik an Lukacs' Ontologie publizierten 1, konn­ten wir die ganze Konzeption noch im­mer nicht kritisieren, da wir weiterhin

- innerhalb des ganzen Theoriegebäudes geblieben waren. Wir hoben damals fol­gende fünf Punkte hervor:

1. Uns war klar, daß es so etwas wie ei­ne Dialektik der Natur nicht geben kann. Denn zur Dialektik gehört eben die Be­wußtheit, die es in der Natur gerade nicht gibt. 2. Wir waren mit seiner Widerspiege­lungstheorie ausgesprochen unzufrieden. 3. Wir konnten seine naturalistische Konzeption der Entwicklung nicht tei­len. 4. Es gibt keine geschichtlich-gesell­schaftlichen Gesetze unabhängig von den menschlichen Aktivitäten. Das war wieder die Betonung der zweiten Onto­logie. 5. Wir haben die Rolle der Werte betont. Diese spielen innerhalb des Lukäcsschen Spätwerk überhaupt keine Rolle, ledig­lich innerhalb der Kategorie des ökono­mischen Werts, auch wenn er die Moral gelegentlich erwähnt.

Diese Subjektivierung der Lukacsschen Gesamtkonstruktion konnte deren Rah­men natürlich noch nicht sprengen, da wir die grundsätzlichen methodischen Probleme die dadurch enstanden, noch nicht übersehen konnten. Wir hatten zwar schon damals eine andere Defini­tion von Philosophie, die im Grunde ge­nommen nicht als Ontologie bezeichnet werden konnte, aber der Grundstein des ganzen Baus, die Gattungsmäßigkeit, der Mensch als Gattungswesen und damit eine Vorstellung von menschlichem We­sen war geblieben. Und genau das ist der Punkt, an dem die ganze Problematik der Ontologie entsteht und an dem sie kritisiert werden muß. Das heißt nicht, daß die Konzeption nicht aufrechtzuer­halten ist, sondern nur, daß der metho-

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dologische Ausgangspunkt und die damit verbundenen politischen Konsequenzen deutlich klargelegt werden müssen.

Gaspä.r Tamas hat in seiner Metakritik 2

unsere·r ·damaligen Kritik an Lukacs, das ganze Unternehmen der "Ontologie des gesellschaftlicher.. Seins" als den Versuch bezeichnet, die eigenen Werte als das Sein zu schildern. Und Lukäcs hat in der Tat seine Werte, seine Wahl ontologisiert und damit zum Sein transformiert.

An dieser Stelle muß man sich nun aller­dings fragen, in welchem Sinne Lukics' Ontologie überhaupt eine Ontologie dar­stellt. Was hat das ganze Unternehmen

Mihtily Vajda mit Rudi Dutschke auf dem Bahro-Kongress 19 78

mit der Theorie des Seins zu tun? Der Titel ist zwar "Ontologie des gesellschaft­lichen Seins", abe~ er hat kein einziges Mal die F·rage aufgeworfen, was "Sein" überhaupt bedeuten soll. Was ist das, "das Sein", diese alte Hauptfrage der Ontologie? Das war in keiner Weise in. seinem Werk erwähnt.

Es war für ihn in der Tat keine Frage mehr, was "Sein" eigentlich heißt. Diese Frage war für ihn· schlicht antimarxi­stisch, weil für ihn von vornherein klar war, daß "Sein" nichts Anderes ist als das "All des Seienden". Er konnte aber in seiner Ontologie nie klar machen, ob Bewußtsein auch zum "All des Seien­den" gehört, oder ob es das Sein, d.h. das All des Seienden, nur widerspiegelt. Die Widerspiegelungstheorie, die er nie aufgeben wollte, gehörte organisch zu seinem Theoriegebäude. Eben weil schon dieses Sein von Beginn an bis zu seinem Ende - was es im übrigen beides nicht geben kann -, eine eindeutige, von Gesetzen bestimmte Entwicklung hat, gehört das Bewußtsein dann viel­leicht doch nicht zum Sein. Es ist dann etwas Epiphänomenales.

Warum muß der Mensch sich überhaupt in der Welt orientieren, wenn seine Tätig­keit von Gesetzen, die von ihm unabhän­gig sind bestimmt ist? Das Bewufüsein ist in diesem Sinn ein Attribut des "All des Seienden", aber: es kann nach Lu­käcs nicht in der gleichen Weise jedem Einzelnen zugeschrieben werden. Und wenn wir nun zum Gesellschaftlichen übergehen, dann heißt das: Der Mensch gehört auch zum "All des Seienden", aber nur als "stumme Gattung", wie Lu­kacs es ausgedrückt hat. Um als Gattungs­wesen "an sich", als das jeder Einzel­mensch bestimmt werden kann, sich zu einem Gattungswesen "für sich" zu ent­wickeln, muß er der Menschhei tsgeschich­zu ihrem Ziel verhelfen. "Sein, höch­sten Ranges" hat wie die Gattungsmäßig­keit, die als Sich-Verwirklichende in der Geschichte zu finden ist, ihre höchste Gestalt erst am Ende der Geschichte er­reicht. Der einzelne Mensch als Gattungs­wesen "an sich" wird nur dann zum Gat­tungswesen "für sich", wenn seine Hand­lungen diese Gattungsmäßigkeit fördern. Aber durch den Umstand, daß die Gat­tungsmäßigkeit als solche An teil am "Sein höchsten Ranges" hat, sind auch die Menschen in einer bestimmten Weise kategorisiert. Sie befinden sich nicht auf der gleichen Stufe der Gattungsmäßig­keit. Es gibt Gattungswesen niederen und höheren Ranges. Und wenn das schon einmal so ist, dann ist der Inhalt der Gattungsmäßigkeit letztendlich zweitrangig.

Ich glaube man kann sagen, daß die Konsequenz der gesamten Konzeption in der totalen Aufuebung der Individua­lität besteht. nämlich in der Einheit des Individuums mit der Gattung. Am Ende muß jedes Individuum an der Gattungs­mäßigkeit gleichen Anteil haben. mit dem ''Sein höchsten Ranges" identisch sein. Dann gibt es keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen. Wenn diese ''Individualität höchsten Ranges" in der Welt einmal verwirklicht sein wird, gibt es sie nicht mehr. Eine Konzeption in der, zwar unbewußt, die Menschen je nach erreichter Seinsstufe eingeteilt wer­den müssen, und das ist die Konsequenz der Konzeption der Gattungsmäßigkeit, ist aber für mich in keiner Weise akzep­tabel. Ontologien dieser Art gab es schon früher, aber "Sein höchsten Ranges" war dort immer nur Gott zugehörig; dies ist dennoch etwas anderes als Menschen ih­rer Seinsstufe nach einzuteilen.

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Daß Lubcs dennoch innerhalb des offi­ziellen Kommunismus ein Ketzer sein konnte. auch das liegt in der Möglich­keit seiner Konzeption. Er hätte immer sagen können. die Entscheidungen der Partei entsprechen nicht der Gattungs­mäßigkeit. Auch den Führern der Gesell­schaft kann es passieren, um es ironisch z~ sagen. daß sie plötzlich nur gattungs­mäßig '"an sich" sind. Eben weil er mit seiner Konzeption immer politisch kri­tisch sein konnte, war er für uns ein An­ziehungspoL und das nicht nur für uns, · sondern für viele in der östlichen, aber auch in der westlichen Welt. Aber die Tatsache. daß er politisch kritisch sein konnte, heif~t noch nicht, daß seine phi­losophische Konzeption in der Tat kri­tisch war. Das heißt eher, daß er das Idealbild einer Gesellschaft apqlogetisch verteidigte, um konkrete Erscheinungen dieser Welt kritisieren zu können.

Ich möchte kurz mit einem Zitat die Grundkonzeption Lukacs' am Begriff der Arbeit aufzeigen, der für seine ganze Theorie Ausgangspunkt ist. In der Kate­gorie Arbeit liegt bei ihm schon die gan­ze Struktur der menschlichen Praxis, und wie wir aus dem Zitat ersehen wer­den können, spielt auch hier die Indivi­dualität keine Rolle. "Im Arbeitsprozeß", so sagt er, "manifestiert sich die be­stimmte Rolle des Gattungswesens in der Weise, daß seine repetitiven Züge", nämlich die des Arbeitsprozesses, "in den Vordergrund treten und das Indivi­duelle nur soweit in Betracht gezogen wird, daß es mit der Aufhebung des Irr­tums konsistent ist. Am subjektiven Pol ist ein Trend zu unterscheiden: Das Ob­jektiv-Optimale (mit anderen Worten: das, was auf der Ebene des Gattungswe­sens ist) ist der rein partikulär-individuel­len Methode vorzuziehen. Man könnte dieser Feststellung erwidern, daß das Optimale gewöhnlich als eine indivduel­le Errungenschaft entsteht, aber in einer längeren Frist. Was seine Substanz be­trifft, setzt es sich deshalb durch, weil es schon ursprünglich auf der Ebene der Gattungsmäßigkeit stand, zur Verallge­meinerung im Stande und keine bloße Partikularität war."

Was steht auf der Ebene des Gattungs­mäßigen? Was sich durchsetzen kann. Was kann sich durchsetzen? Was auf der Ebene der Gattungsmäßigkeit steht. Daß diese' Argumentation sich im Kreise bewegt, ist im Augenblick uninteressant. Wir wissen .aus der philosophischen Tra­dition seit Heidegger, daß die Kreisför-

migkeit der Argumentation nicht unbe­dingt einen circulus virtuosus bedeutet. Das Wichtigste ist: Die Existenz des Gat­tungsmäßigen steht über und vor allem Partikularen, dessen Funktion nur darin besteht, die Gattungsmäßigkeit zu ver­wirklichen.

Es muß betont werden, daß die grundle­gende Gedankenstruktur von seinen er­sten Schriften an dieselbe war. Er suchte von Anfang an seinen Gott. Denken wir an seine Frühwerke "Die Seele und die Formen" oder "Die Tragödie der Meta­physik". Der große Unterschied liegt da­rin, und dies ist etwas Verhängnisvolles,

Budapest 1956

daß er am Anfang seinen Gott noch in · der Transzendenz suchte und ihn am Ende in der Immanenz gefunden hat. Es ist ganz und gar nicht uninteressant, nicht neutral, wem das Individuum aus­geliefert ist. Einern persönlichen Gott, ja, dem wären wir alle ausgeliefert. Aber wenn es in der Gesellschaft Institutionen gibt, die unser Sein höheren oder niede­reren Ranges bestimmen, ist das etwas ganz anderes. Ich würde, wie erwähnt nicht sagen, daß bei Lukacs die Gat­tungsmäßigkeit als solche mit bestimm­ten Institutionen der kommunistischen Partei in den sozialistischen Staaten gleichgesetzt wäre. Aber im Grunde ge­nommen sind es immer diese Institutio­nen, die, wenn auch in der Praxis nicht immer, aber im Prmzip von vornherein, die Gattungsmäßigkeit verkörpern müs­sen. Wenn wir von seinem ,in der Tat klassischen marxistischen Frühwerk "Ge­schichte und Klassenbewußtsein" ausge­hen, so gab es bei Lukacs nur einen ein­zigen außergwöhnlichen Augenblick in der Geschichte seines Denkens, nämlich in dem Aufsatz "Der Bolschewismus als moralisches Problem", worin er für sich einsah, daß es etwas außerordentliches

Budapester Schule

Gefährliches ist, die Werte und deren Wahl mit dem Sein gleichzusetzen. Aber schon wenige Monate später schrieb er den berühmten Aufsatz "Taktik und Ethik", in dem der Gedankengang mit dem im Bolschewismus-Aufsatz absolut identisch ist, bis auf den Pun.kt, daß er mit Hilfe von Hegel Feststellungen und moralische Postulate gleichsetzt, um da­mit die Unvermeidbarkeit der Entwick­lung zu begründen.

Als wir damals den Alternativcharakter der Geschichte, die Werte und die Praxis betonten, bemerkten wir nicht, daß man in eine solche Konzeption, ·in der die Entwicklung der Gattungsmäßigkeit "an sich", zur Gattungsmäßigkeit "für sich" in jedem Augenblick der Geschichte ver­wirklicht wird, zwar schon Alternativen pressen kann. Aber was sind das für Al­ternativen, wenn die Geschichte schon von vorne herein die Gattungsmäßigkeit verwirklichen muß, wenn die Gattungs­mäßigkeit nicht das Ergebnis der Ge­schichte ist, sondern von Anfang an fest­steht? Selbst wenn wir ein Ergebnis des Geschichtsprozesses wählen - und es gibt mehrere mögliche Ergebnisse der Menschheitsgeschichte eo-- dann können wir das doch nicht als das einzig Gat­tungsmäßige schildern. Und genauso ver­hält es sich mit den Werten. Denn wenn es We'rte gibt, die tatsächlich zur mensch­lichen Praxis absolut notwendig sind, die aber .schon von vorneherein im Hin­blick auf ihre Gattungsmäßigkeit be­stimmt sind, dann verlieren diese jegli­che Funktion und dann hat der Lukics natürlich recht, wenn er sie aus seinem Gebäude einfach ausklammert. Wir ha­ben also die gesamte Konzeption nur ver­wirrt, indem wir immer: mehr subjektive El~mente hineingepresst haben, bis wir am Ende schließlich einsahen, daß sie in­nerhalb dieses Systems gar keinen Platz finden konnten. Und in dem Augenblick war die Budapester Schule zerfallen.

Aber eines ist sicher: Die Aufgabe der Schule war letztendlich keine andere als diesen Bau einer marxistischen Ontolo­gie solange zu kritisieren, bis zumindest für uns klargeworden war, daß es so et­was wie eine marxistische Ontologie überhaupt nicht geben kann.

Anmerkungen: 1 vgl. Feher, Heller, Markus, Vajda: "Notes

on Lukäcs' Ontology. In: Agnes Heller (Hg.): "Lukäcs Revalued'', Oxford 1983, s. 125-153

2 Tamas: "Lukäcs' Ontology: a Metacritical Letter", ebd., S. 154-176

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Zum 1 Oüsten Geburtstag von Georg Lu­kii.cs zu schreiben, heißt erstmal auswäh­len. Das Werk des ungarischen Philoso­phen ist derartig umfangreich und von so großer thematischer Spannweite, daß hier nur auf 'Geschichte und Klassenbe­wußtsein' sein erstes, in der Tradition des Marxismus stehendes, Werk eingegangen werden kann. Die lebensphilosophischen, unter dem Einfluß von Simmel und Dil­they verfassten Frühschriften können ebenso wenig berücksichtigt werden, wie das wichtige literaturtheoretische Werk und seine letzte Abhandlung "Zur Onto­logie des gesellschaftlichen Seins", die, nach seinem Tode unvollständig veröf­fentlicht, die Bedeutung der Arbeit als Grundkategorie für die Gesellschaft und deren Verhältnis zur Natur her.ausstellt. Nicht eingegangen werden kann auf den kommunistischen Politiker Lukacs, der sich nach seinem Eintritt in die KP Un­garns, seiner Partei in der Unga.pschen Räterepublik und l 956als Volksbildungs­minister zur Verfügung stellte und der 1928 mit den "Blum-Thesen" eine poli­tische Programmatik gegen den Faschis­mus entwarf. Eine Programmatik, die mit ihrer Konzeption von Volksfront und Volksdemokratie sicher erfolgreicher ge­wesen wäre, als die stalinistische Konzep­tion der Diffamierung der sozialdemo­kratischen Arbeiterbewegung als sozialfa­schistisch. War Lukacs als Politiker nicht

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sonderlich erfolgreich, wenn man vom späteren recht haben absieht, so hat er als Philosoph eine der wesentlichsten Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts mitbegründet und entscheidend beein­flußt, jene Strömung, die man den 'West­lichen Marxismus' nennen kann. In Fort­setzung der Kritik Lenins und Rosa Lu­xemb.µrgs am Revisionismus der II. Inter­nationale und insbesondere der Theorie Karl Kautskys, hat der 'Westliche Marxis­mus' den kritischen Gehalt der Marx­schen Dialektik wiederhergestellt. Lukacs hat zu dieser Strömung, der man so unter­schiedliche Denker wie Karl Korsch, An­tonio Gramsci, Jean Paul Sartre, Henri Lefäbvre oder die 'Frankfurter Schule' zurechnen kann, mit dem von ihm ge­prägten Begriff der Verdinglichung, sei­nen Untersuchungen zur Bedeutung der Hegelschen Philosophie für die Marxsche Geschichtsdialektik und seinen literatur­und kunsttheoretischen Arbeiten wesent­liches beigetragen. Wie wichtig "Geschich­te und Klassenbewußtsein" für mehrere Generationen Linker Intellektueller war und immer wieder ist, zeigen einerseits die wütende Polemik von Seiten der or­thodoxen Marxismus gegen das Buch, die Lukacs mehrere Male zum taktischen Abschwören der wichtigsten Aussagen zwangen und andererseits die verschie­denen Rezeptionsphasen, zuletzt wäh­rend der Studentenbewegung, als z.B.

:Hans Jürgen Krahl, der wichtigste Theo­retiker des Frankfurter SDS von Lukäcs beeinflußt wurde.

Zwischenbemerkung

Noch nicht 18 Jahre alt. hatte ich meine ersten 'Erlebnisse' mit Georg Lukacs und erste Erfahrungen mit überzeugender Philosophie. Gefühlsmäßig links, in der Schule auf Opposition eingestellt, sah man im Fach Geschichte die ersten Mög­lichkeiten Kritik an dem zu üben, was einem da vorgesetzt wurde. Am einfältig­sten war der Unterricht bei der Behand­lung des Marxismus. Der wurde als im 19. Jahrhundert gerechtfertigte Sozialkri­tik dargestellt, die heute überholt sei, da ja die 'Voraussagen' über die Entwicklung des Kapitalismus, insbesondere die Vere­lendung des Proletariats nicht eingetrof­fen seien. "Geschichte und Klassenbe­wußtsein", ohne Kenntnis über den Au­tor gekauft, erschien vom Titel her genau das Richtige um der Verdummung was entgegenzusetzen. Wie wohltuend das dämliche Gesichts meines Lehrers ange­sichts folgendes, vielleicht damals nicht richtig verstandenen, aber treffendes Sat­zes: "Orthodoxer Marxismus bedeutet also nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx' Forschung, bedeutet nicht einen 'Glauben' an diese oder jene

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These. nicht an die Auslegu.ng eines 'hei­ligen Buches: Orthodoxie in Fragen des . Marxismus bezieht sich vielmehr aus­schließlich auf die Methode. Sie ist die wissenschaftliche Überzeugu.ng, daß im di.alektischen Marxismus die richtige For­schungsmethode gefu,nden wurde, daß die.se Methode nur im Sinne ihrer Be­gründer ausgebaut, weitergeführt und ver­tieft werden kann. . . ·: Gerade dieses un­eingeschränkten Insistieren auf der dia­lektischen Methode als der einzig richti­gen stellt heute meine Hauptkritik an Lukäcs dar. Nichtsdestotrotz damals paßte das.

Dialektik - Totalität - Verdinglichung

Ziel von "Geschichte und Klassel\bewußt­sein" ist eine Kritik am 'Marxismus' der II. Internationale, der insbesondere bei Karl Kautsky Geschiqhte auf eine evolu­torische, determiniert ablaufende Folge von Epochen reduziert und aus dem Mar­xismus eine positivistische Soziologie macht, die sich der Untersuchung der Tatsachen, Sachverhalten und Fakten zu widmen habe. Lukclcs kritisiert dran, daß hier Methoden und Betrachtungsweisen der Naturwissenschaften auf die Gesell­schaftswissenschaft übertragen werden. "Die 'reinen' Tatsachen der Naturwissen­schaften entstehen nämlich dadurch, daß eine Erscheinung des Lebens wirklich oder gedanklich in eine Umgebung ver­setzt wird, in der ihre Gesetzmäßigkeiten ohne störendes Dazwischentreten ande­rer Erscheinungen ergründet werden kön­nen. " Diese Art zu denken findet ihre. Grundlage in der Struktur der warenpro­duzierenden kapitalistischen Gesell­_schaft. Dazu weiter unten mehr. Djese methodische Vorgehensweise leugnet bzw. ignoriert den historischen Charak­ter aller Erscheinungen. Mit dem Ver­zicht auf geschichtliche Dialektik kommt man in die Situation, Tatsachen nicht mehr historisch, also von Menschen ge­macht, ~u sehen, sondern als 'naturgesetz­lich' und somit über dem menschlichen Handeln stehend. Der Opportunismus ist die Konsequenz des Verzichts auf das historisch-dialektische Denken. Fatalis­mus folgt ihm auf dem fuße. Das Verhal­ten der SPD am Beginn des 1. Weltkrie­ges illustriert dies deutlich. Der Marxis­mus darf, wenn er politisch handlungsfä­hig sein will, wenn subjektivelntentionen und objektive Bedingungen zusammenge­bracht werden sollen, die 'Tatsachen' nicht isoliert, sondern im Zusammenhang

denken. "Erst in diesem Zusammenhang, der die einzelnen Tatsachen des gesell­schaftlichen Lebens als Momente der ge­schichtlichen Entwicklung in eine Totali­tät eingefügt, wird eine Erkenntnis der Tatsachen, als Erkenntis der Wirklich­keit möglich. " Die Wahrheit einer jeden Tatsache liegt in ihrem Bezug auf das Ganze, nur im Bezug auf das Ganze wird deutlich, wie in jeder einzelnen Tatsache das Wahre enthalten.ist. Die Dialektik ist der Kerngehalt des Mar­xismus. Luk:ics versteht unter Dialektik mehr als nur eine Denk- und Erkenntnis­methode. Für ihn ist dialektisches Den­ken, das den Gegenstand aus seiner Un­mittelbarkeit reißt und ihn in eine pro­zessurale Totalität einbettet, immer mit der gleichzeitigen Teilnahme an seiner Veränderung verbunden. Sozialistische Theorie kann nur innerhalb der revolu­tionären Bewegung entwickelt und ver­standen werden. Dies meint Lukacs auch, wenn er von der Aufhebung der Tren­nung von Theorie und Praxis spricht. ''Einen Marxisten der Gelehrtenstuben­objektivität kann es ebensowenig geben, wie eine 'naturgesetzlich' garantierte Sicherheit des Sieges der Weltrevolution. Die Einheit von Theorie und Praxis be-

steht nicht nur in der Theorie, sondern auch für die Praxis. 'Wie das Proletari.at als Klasse nur in Kampf und Tat sein Klassenbewußtsein erobern und festhal­ten, sich auf das Niveau seiner - objek­tiv gegebenen - geschichtlichen Aufga­be erheben kann; so können Partei und Einzelkämpfer auch nur dann ihre Theo­rie sich wirklich zu eigen machen, wenn sie diese Einheit in die Praxis hinzutra­gen imstande sind." In Parteifragen übri­gens ist Lukacs zeitlebens Leninist gewe­sen. In "Geschichte und Klassenb~wußt-

Georg Lukacs

sein" wird eine Begründung für die Not­wendigkeit von bolschewistischen Kader­parteien gegeben, die den eher politisch­praktischen Begründungen Lenins in "Was tun" zu einem theoretischen Ni­veau verhilft. Im Gegensatz zum dialektischen steht das bürgerliche Denken, das Lukacs von Gegensatzpaaren Subjekt-Objekt, Theorie-Praxis, Freiheit-Notwendigkeit Sein-Sollen und deren Unvereinbarkeit in prozessualer Totalität gekennzeichnet sieht. Gegenstände bleiben in ihrer Un­mittelbarkeit. Das nennt er auch kon­templatives oder verdinglichtes Denken. "Der Unterschied von der 'Metaphysik' wird dann nicht mehr darin gesucht, daß in jeder 'metaphysischen' Betrachtung das Objekt der Gegenstand der Betrach­tung unberührt, unverändert verharren muß, daß deshalb die Betrachtllng selbst bloß anschauend bleibt und nicht prak­tisch wird, während für die di.alektische Methode das Verändern der Wirklichkeit das Zentralproblem ist. " Lukacs Metho­de alle gesellschaftlichen Phänomene in prozessualer Totalität zu denken, könn­te man auch als genetischen Strukturalis­mus charakterisieren. Sein Begriff von Totalität schließt nicht nur Phänomene und Sachverhalte sondern auch antizipier­bare Möglichkeiten der Entwicklung und Utopien mit ein. In diesem Zusam­menhang steht auch der spezifische Wahr­heitsbegriff des Marxismus. Wahrheit ist nicht eine Wahrheit des Erkennens, son­dern eine Wahrheit des Werdens. Lukacs Ausgangspunkt für seinen Begriff der Verdinglichung ist die abstrakte Ar­beit, die die ungleichen einzelnen Arbei­ten in der Gesellschaft einander angleicht und vergleichbar macht, und die wegen der Verwandlung der Arbeitskraft in ei­ne Ware zur Grundlage der kapitalisti­schen Produktionsweise wird. Verdingli­chung existiert erst mit dem Warenfeti­schismus und mit der Verallgemeinerung der Warenzirkulation. Bei Marx erscheint der Begriff der Verdinglichung im III. Band des Kapitals, wo auf den im ersten Kapitel entwickelten Begriff des Waren­fetischismus zurückgegriffen wird. An dieser Stelle bezieht er sich auf den Ge­samtprozeß und die Trinitarische Formel, die Kapital, Arbeit und Boden zu Quel­len des Reichtums, also Ungleiches zu Gleichem m_acht, und die einzige Quelle des Reichtums die Arbeit verdunkelt. Damit verallgemeinert sich das Phänomen der Verdinglichung, das von der Zirkula­tion ausging, in die Produktion eindrang und die Welt in eine Welt der Beziehun-

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Rainer Kohler

gen zwischen Dingen verwandelt hat. Be­ziehungen, durch die die Produktionsver­hältnisse diejenigen beherrschen, die sie durch ihre Arbeit reproduzieren. Wesent­lich für Lukacs ist der historische Charak­ter der Verdinglichung, die für ihn in un­trennbarem Zusammenhang mit der mehrwertproduzierenden Arbeit steht und sich in allen Formen des Kapitals und des rechtlichen, staatlichen, wissen­schaftlichen, kulturellen und philosophi­schen Oberbaus wiederfindet. Insgesamt wird Verdinglichung in "Geschichte und Klassenbewußtsein" auf drei Ebenen be­handlet: Zum einen Verdinglichung als Phänomen, das eine fertige und objek­tive Welt von Sachen produziert, denen ein theoretisches Subjekt gegenübersteht. Zum anderen als die Antinomien des bür­gerlichen Denkens, w9 der auf die Ver­dinglichung zurückgehende Gegensatz von Subjekt und Objekt als unauflösbar für die bürgerliche Philosophie dargestellt wird. Zum dritten der Standpunkt des Proletariats. Das Proletariat, von Lukacs als identisches Subjekt - Objekt bezeich­net, besitzt als erste Klasse in der Ge­schichte ein einzigartiges Erkenntnispri­vileg. Da es als Klasse schon selber Tota­lität im oben beschriebenen Sinne ist, ist es in der Lage die DÜalität von Subjekt und Objekt zu überwinden, sich gleich­zeitig zum Träger und Gegenstand histo­rischer Veränderung zu machen. Zusam­menfassend noch einmal die Grundge­danken in "Geschichte und Klassenbe­wuß tsein" :

- Die Dialektik wird wieder auf ihre entscheidende Position im Marxismus ge­bracht. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Philosophie Hegels für den Marxis­mus herausgestellt. - Die Ablehnung der von Engels im "Anti-Dühring" entwickelten Naturdia­lektik. Lukäcs betont, daß die 'dialekti­schen' Gesetze der Natur, nichts mit den von Marx für die Gesellschaft entdeck­ten zu tun haben. In der Natur werden· sie zu deren unüberwindbaren Eigenschaf­ten. Sie können zwar erkannt und ausge­nutzt werden, lassen aber nur eine kon­templative Theorie und Praxis zu. Be­zieht sich die Dialektik auf die äußere Natur, ist die Einheit von Subjekt und Objekt nicht möglich. - Die Ablehnung der Wiederspiegelungs­theorie folgt aus der Erkenntnis der To­talität der Gesellschaft als Prozess. Die Definition der Erkenntnis als Abbild des Seins bedeutet einen Rückfall in das kontemplative Denken, in den Dualismus

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von Sein und Bewußtsein, von Theorie und Praxis.

Anmerkungen

Lukacs großer Verdienst ist sicher, daß er mit der Wiederherstellung der Posi­tion der Dialektik im Marxismus. diesen zu sich selbst zurückführte. Dabei zeigte er auf, daß die Fragen, die sich die Theo­retiker der II. Internationale gestellt hat­ten, falsch gestellt waren, da sie von ei­nem objektiven Geschichtsverlauf ausgin­gen. Gleichzeitig mythologisierte er das Proletariat, das er zu der Klasse hochstili­sierte, die die Harmonie von Subjekt und Objekt herstellen sollte. Dies gelang ihm nur unter Ausschluß der Natur und der B~ziehungen zwischen Natur und Gesell­schaft. Entgegen seinen Absichten zeigte er den prophetischen und mythologi­schen Grundzug des Marxismus auf. Ähnlich wie bei einem Mythos fallen auch hier Erzählung (Theorie) und Hand­lungsanweisung (Praxis) zusammen. Den Mythos zu verstehen, bedeutet nicht nur seinen Inhalt, sondern auch seine Werte und Handlungsanweisungen sich zu ei­gen zu machen. Der Mythos kann nur von innen verstanden werden. Ähnlich verhält es sich mit der Lukacsschen Tota­lität. Lukics' Denken ist strenges Den­ken. Seine Nähe zum Dogmatismus ist unverkennbar und macht gleichzeitig auch wieder einen Teil seiner Faszination aus. Sicher ist Vieles von "Geschichte und KlasseI?-bewußtsein" heute nicht mehr haltbar. Der Autor selber hat ja in seinen Selbstkritiken einiges revidiert. Unbestreitbar bleibt meiner Meinung nach, daß Lukacs der marxistische Philo­soph des 20. Jahrhunderts ist. Ein Plädo­yer zur Beschäftigung mit ihm impliziert an vielen Stellen seiner Texte spontanen Widerspruch, bringt aber für das Denken mehr, als die spontane Zustimmung und Heimeligkeit, die das Kaminfeuerdenken Ernst Blochs beim Leser auszulösen pflegt.

Geschichte des

GESCHICHTE DES KOR vom komitee zur verteidigung der arbei­ter zum komitee zur sozialen seibstver­teidigung in deutscher übersetzung herausgegeben von welf schröter, inka thunecke, irene schcrer und dorothea riekert unter mit­arbeit von zahlreichen initiativen und einzelpersonen, tübirigen 1984

die im mai 1983 in paris erschienene französischsprachige originalausga be, die in zusammenarbeit mit der zeit­schrift »L 'ALTERNATIVE« entstand, ist die bisher einzige im westen erschie­nene authentische dokumentation über das KOR, die aus einem kreis der mit­glieder des ehemaligen KOR selbst zu­sammengestellt wurde. Sie wurde von im exil lebenden früheren aktiven des KOR und vertretern der französischen linken gemeinsam herausgegeben mit dem votum, die solidaritätsarbeit für SOLIDARNOSC und die KOR-ange­klagten durch information und aufklä­rung zu unterstützen. aus dem inhalt:

kurzer abriß der geschichte des KOR -- die arbeitsweise und die moral des KOR - fünfunddreißig kurzbiographien - dokumente des KOR 1976-1981 - all­tag des KOR - die angeklagten sprechen - unter kriegsrecht mit beiträgen von aleksander smolar, jan josef lipski, anka kowalska, adam michnik, jacek kuron, henryk wujek u.v.a. die broschüre hat 114 großformatige sei­ten, kostet 10,- dm und ist zu beziehen über: inka thunecke sigwartstr. 11 7400 tübingen bankverbindung: kreissparkasse tübin­gen, kto.-nr. 123 190

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Veranstaltung

Vorbereitungsgruppe Tübingen Sozialistisches Büro Offenbach

3 .TÜBINGER BLOCH-TAGEN «GESELLSCHAFT UND VERNUNFT»

Aufruf

zu den

Wenn wir auf den Bloch-Tagen 1985 nach "Gesellschaft und Vernunft'' fragen, so geschieht dies auf dem Hintergrund der Entwicklungen in den hochindustria­lisierten kapitalistischen Gesellschaften der letzten Jahrzehnte. Wurden bei den Bloch-Tagen 1978 und 1981 "Natur­beherrschung" und "Politisches Bewußt­sein ohne herrschaftliche Rationalität" zum Thema gemacht, so beschäftigt uns dieses Jahr die Frage nach einer allgemei­nen. gesellschaftskritischen Vernunft . In den gegenwärtigen westlichen Gesell­schaften hat sich eine Vielfalt von Poli­tik- und Theorieansätzen herausgebildet, von der Frauenbewegung über die ökolo­gischen Ansätze, bis hin zu den um ihre Rolle kämpfenden Gewerkschaften . Alle diese Bewegungen und Ansätze werden vertreten und formuliert in ganz ver­schiedenen Lebenszusammenhängen, die ihre Existenz oder auch ihre Auflösung der sich in der jüngeren Geschichte ab­spielenden Modernisierung der Gesell­schaft verdanken. Jede dieser Bewegun­gen beansprucht ihre eigene gesellschaft­liche Vernunft und Utopie, es läßt sich sogar beobachten, wie beispielsweise Ökologie- und Gewerkschaftsbewegung in ihrem Anspruch auf allgemeine Eman­zipation in (Interessens-)Konflikt gera­ten . Auf theoretischer Ebene ergibt sich das­

, selbe Problem einer verallgemeinerbaren · gesellschaftskritischen Vernunft .

Es ist nicht mehr möglich, sich umstands­los explizit oder implizit auf eine opti­mistische Geschichtsphilosophie zu be­rufen und es ist ebensowenig ausge­macht, daß diese oder jene Gruppe der selbstbewußte Träger des gesellschaftli­chen Fortschritts ist. Die klassisch marxistische Auffassung von der Dialektik fortschreitender Pro­duktivkraftentwicklung und der sie hem­menden · Produktionsverhältnisse kann diese Entwicklung kaum mehr fassen.

8. - 9.NOV.1985 Im Gegenteil, diese Auffassung unter­liegt selbst dem Verdacht "instrumentel­ler Rationalität", wenden sich die gesell­schaftlichen Oppositionsbewegungen doch gegen den instrumentellen Charak­ter des angeblichen "Fortschrittsgaran­ten Produktivkraftentwicklung". Aber auch in den gegenwärtigen theoretischen Bemühungen um eine Kritik der esell­schaftlic en Entwicklun en zeichnet sich eine eindeutige Lösung des Prob­lems ab . Versucht auf der einen Seite

"°Habermas auf eine nur "formale" Weise Kritik im "herrschaftsfreien Diskurs" zu begründen, so finden sich auf der anderen Seite vor allem in Frankreich die so­genannten)("postmodernen" Theoretiker mit dem Verlust einer allgemeinen gesell-schaftskritischen Vernunft ab, ja begrüs·­sen ihn im Namen einer "Politik der Min­derheiten" (Lyotard).

Vorläufiges Programm:

Freitag, 8. 11.

Wir halten es nun für sinnvoll, auf den 3. Ernst-Bloch Tagen die Fragen nach einer allgemeinen kritischen Vernunft zu stel­len, auf der skizzierten theoretischen Ebene, aber auch gerade in praktisch po­litischer Hinsicht. Läßt sich die Vielfalt der Politikansätze zu einer einheitlichen Perspektive verbinden, und ist das über­haupt sinnvoll? Auch Blochs Denken gibt uns für diese Fragen wichtige Orientierungs­punkte. Gerade seine Philosophie wendet sich auch gegen eine linear~ Fortschrittskon­zeption der Geschichte. "Ungleichzeitig­keiten", "Differenzierungen im Begriff Fortschritt", die Bedeutung ästhetischer und' gesellschaftlicher Utopien und seine Überlegungen zu einem anderen Mensch­Natur Verhältnis sind Momente seiner Theorie, die wir für diese politische Dis-

, kussion fruchtbar machen sollten.

ERÖFFNUNGSVERANSTALTUNG mit zwei Hauptreferenten

Samstag, 9 .1 1. Arbeitsgruppen zu folgenden Themen: I AG VERNUNFT

Gibt es heute noch eirre allgemeine emanzipatorische Vernunft? II AG GESELLSCHAFTLICHE GEGENMACHT

Wie ist heute praktisch politisch eine umfassende gesellschaftliche Opposüion noch denkbar?

III AG NATURBEHERRSCHUNG Was leistet die Ökologiebewegung für eine Kritik der instrumentellen __ _ Vernunft/Technik?

IV AG SPRACHE Welche Rolle spielt Sprache für eine gesellschaftliche Vernunft?

V AG UNGLEICHZEITIGKEIT "HEIMAT" Ist "Heimat" eine utopische Perspektive?

VI AG RELIGION Welche Rolle spielen religiöse Bewußtseinsformen in Protestbewegungen?

VII AG BLOCH Einführung in die Blochsche Philosophie

Kontakt: Reinhard,

Tel.: 07071/43573

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Veranstaltung

-------------------------------~o~ 100.G~urtdqronEmdB~~

7. Oktober - 11. Oktober 1985 1 SYMPOSIUM AUS ANLASS VON ERNST BLOCHS 100. GEBURTSTAG

Die Zeitschrift "Spuren" und die "Ham­burger Stiftung zur Förderung von Wis­senschaft und Kultur" laden zu einem politischen, philosophischen und ästhe­tischen Symposion ein, das vom 7. bis 11. Oktober in Hamburg stattfinden wird. In einer Reihe von öffentlichen Vorträgen und Diskussionen soll die heutige Bedeutung zweier Begriffe un­tersucht werden, die dem Frühwerk Blochs entnommen sind: "Objektive Phantasie" und "Ornament". Wir gehen von der Beobachtung aus, daß der "irrationale" Anteil in den politi­schen, philosophischen und ästhetischen Diskursen der letzten Jahre deu'tlich zu­genommen hat. Begriffe wie "Fort­schritt" oder "Vernunft", die den Tradi­tionen der Aufklärung entlehnt sind und die noch. vor kurzem die Diskussion be­herrschten, werden heute wieder gründ­lich in Frage gestellt. Dagegen sehen sich mythisch geladene Bilder, Vorstellungen von einer "nachgeschichtlichen" Situa­tion wie auch apokalyptische Visionen erheblich aufgewertet. Der neuzeitliche Begriff vom Menschen, der auch in die revolutionäre Konzeption der Marx­schen Lehre bestimmend eingegangen war, ist durch neue ethnologische, psychoanalytische und philosophische Fragestellungen erschüttert worden; und der Begriff der Geschichte dieses Men­schen ist, weit davon entfernt, noch uni­versale Geltung beanspruchen zu können, erneut von Erfahrungen unterlaufen, die sich eher in Metaphern der Wüste Aus­druck verschaffen. Blochs 100. Geburtstag soll dem Sym­posion Anlaß, nicht eigentlich Thema sein. Nicht so sehr über Bloch ·rp.ag also gesprochen werden als vielmehr im Um­feld einer Frage, die sein Werk in einem großen Entwurf bezeichnet hat. Denn Blochs Metaphern des Ornaments und seine Chiffren objektiver Phantasie bedeuten bereits eine Verschiebung und einen Überschuß, in denen der neuzeitli­che Mensch und seine Geschichte über­boten werden sollten; und zwar in jeder Schicht dieses Werkes: von der alle Hyb-

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ris verwerfenden Maxime, Erbschaft aus echter Ungleichzeitigkeit anzutreten, über die Konzeption eines "Multiver­sums" von Kultur bis hin zum Denken von Intensitäten und einer"Wunschzeit", in welchen sich die linear geschichtliche Zeit ebenso bricht wie die Präsenz des "Ich", aus der die traditionelle Metaphy­sik sprach. Das Symposion soll einem Dialog Raum geben, der an Intensität und Weite ge­winnen muß: einem Dialog all derer, die heute jenseits einer Situation weiterden­ken wollen, für die sich vor Jahren das Wort von der "Krise des Marxismus" fand; einem Dialog, der sich den "Ernie­drigten und Beleidigten" und ihrem Auf­begehren verpflichtet weiß.

Folgende Referenten haben bisher zu folgenden Arbeitsthemen zugesagt.

Eröffnungsvortrag: Burghart Schmidt: Ver­nunft, Mythos, Utopie. Differenzierungen ei­nes Begriffsverhältnisses /Politik: Oskar Negt: Heimat. Geschichte, Eigensinn, Reaktion / Ernest Mandel: Ubi Lenin, ibi Jerusalem. Ge­schichte und Revolution / Jan Robert Bloch: Offene oder geschlossene Natur? Naturphilo­sophie und Politik / Philosophie: Khosrow Nosratian: Der Horizont des Leibes. Phäno­menologische Einsätze / Hanna Gekle: Das ge­kränkte Ich. Noch-Nicht im Unbewußten? / Manfred Geier: Sprache der Utopie - Utopie der Sprache. Zur Zeichentheorie des Abwesen­den / Jan Philipp Reemtsma: Blochs Sprache. Zum Duktus der Philosophie / Gerard Rau/et: Subversive Hermeneutik. Über die Entziffe­rung des Ornaments / Helmut Fahrenbach: Utopie der Präsenz. Bloch und Heidegger / ;fsthetik: Hans-Joachim Lenger: Ornament und Tod. Zur Utopie in der Kunst /

Joseph Beuys hat seine prinzipielle Bereit­schaft erklärt, an dem Symposion mitzuwir­ken. Außerdem hoffen wir auf Zusagen von G. Lygeti und J.-F. Lyotard.

7.-11. Oktober. Objektive Phantasie. Hochschule für bildende Künste Hamburg

Organisation: Marita Pieniak, Telemannstraße 25, 2000 Hamburg 20, Telefon 040 / 49 22 06

und Georg Lukacs veranlaßte auch das Goethe-Institut in Paris zur Veranstal­tung eines 4-tägigen Kolloquiums mit dem Titel "Verdinglichung und Utopie". Unterstützt wurde die Veranstaltung von der "Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales" und dem "College de Philo­sophie". Vom 26.-29. März wurde 6 Stunden täglich in insgesamt über 50 je­weils auf 10 Minuten begrenzten Ref e­raten und anschließenden Kurzdiskus­sionen ein Mammutprogramm durchge­zogen, in dem die weitverzweigten und komplexen Themen "Entfremdung und Verdinglichung", "Gegenseitige Einflüs­se und Unterschiede", "Marxismus und dialektische Vernunft", "Utopie und Hoffnung", "Ästhetik und Kultur", "Ontologie und Existenzphilosophie" und "Geschichte und Politik" abgehan­delt wurden.

Hatte Arno Münster in seinen einleiten­den Worten noch die Frage nach der Aktualität der beiden großen Denker aufgeworfen und damit die Relevanz der Veranstaltung gerechtfertigt, so war im weiteren Verlauf bis auf wenige Ausnah­men leider recht wenig davon zu bemer­ken. Die meisten Vorträge drehten sich um nicht uninteressante. aber eben doch sehr akademische Probleme wie beispiels­weise das Verhältnis von Bloch und Lu­kacs zu Max Weber und ihr Auftreten im damaligen Weber-Kreis oder die Anti­nomie zwischen Kunst und Leben im Werk des jungen Lukacs. Dies gipfelte gelegentlich in Debatten um einzelne Textstellen, bei denen letztendlich offen blieb, ob es sich um die Präsentation von Gedanken oder der eigenen Persön­lichkeit handelte. So kam schließlich auch keinerlei Reak­tion auf die· ausdrückliche Warnung Leo

XLöwenthals vor der Preisgabe der beiden primär an der politischen Praxis orien­tierten Philosophen für die Integration in den bürgerlichen Wissenschafts- und Kulturbetrieb. Denn "Mitmachen wol­lten wir nie", das gelte nicht nur für die Frankfurter, sondern auch für Bloch und Lukics. Wie fern den Konferenzteilneh­mern die konkret-aktuelle Politik gewe­sen sein muß, drückte sich am deutlich­sten iI). der Ignoranz über die Abwesen­heit eines angekündigten Referenten aus. Kein Wort wurde darüber verloren, dai~ der ungarische Oppositionelle Gaspär Tamas durch die Verweigerung der Aus-

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reisegenehmigung mit Gewalt an der Teilnahme gehindert worden war. Ledig­lich eine Unterschriftenliste gegen das Ausreiseverbot lief mehr oder weniger versteckt und kommentarlos durch den Konferenzraum.

Immerhin ließen vereinzelte Diskussio­nen vermuten, daß es manchen Teilneh­mern um aktuelle politische Fragen und eine politische Philosophie der Praxis ging. An manchen Diskussionspunkten entbrannten plötzlich heftigere Ausein­andersetzungen, die sich jedoch häufig aufgrund des geballten Vortragspro­gramms nur als Polemiken entluden. Sie

.spiegelten deutlich die gegenwärtige l(ü­se der Lipken . Theorie wider, ihre· F as­~~slgkelt · .vor. den versteinerten Strukturen der modernen kapitalisti­schen Gesellschaft. Ganz offensichtlich fand in den Diskussionen der letzten Jahre ein Paradigmenwechsel statt. Wä­ren vor zehn Jahren noch die Bezüge von Bloch und Lukacs zu Hegel diskutiert worden, so ist heute der Glaube an eine sich in der Geschichte verwirklichende Vernunft längst aufgegeben, und Max Webers Rationalitätsbegriff erscheint zur Charakterisierung der Übermächtigkeit der Strukturen in der modernen Welt

dar. Helmut Fahrenbachs Entgegnung, daß ja wohl "Das Prinzip Hoffnung" als Blochs grundlegendes Werk anzusehen sei, blieb in diesem Zusammenhang al­leine stehen. Blochs Versuch einer mate­rialistischen Philosophiekonzeption scheint nicht mehr ernstgenommen zu werden. Wie soll dann aber Utopie kon­kret sein?

Einen Versuch, nicht in eine reine poli­tische Propagierung von Werten jen­seits historisch-gesellschaftlicher Bedin­gungen zurückiufallen, stellte Constan­zo Preves leidenschaftliche Verteidigung der Lukacsschen Ontologie dar. Eben jene Werte könnten nur politische Rele­vanz erlangen, wenn sie sich ontologisch verankern ließen. Erst damit wäre eine marxistische Geschichtsauffassung und eine adäquate Beurteilung der Modeme wieder möglich, eine ontologische Be-· gründung der Revolution. Die darauf folgende Auseinandersetzung war einer­seits von einem versteckten Stalinismus­verdacht und der zu Recht befürchteten Gefahr einer unangreifbaren Legitima­tionswissenschaft dominiert. Dieser rich­tete sich allerdings mehr gegen die beiden Kollegen Tertulian und Oldrini. Anderer­seits formulierte Rainer Rochlitz ent-

eher geeignet. Die Verunsicherung und schieden die Habermassche Gegenposi-der Mangel an analytischen Kategorien tion, daß es methodisch schlicht.unmög-zum Verständnis der Wirklichkeit, die lieh sei, eine marxistische Ontologie zu Skepsis und Orientierungslosigkeit in scgreiben. der ge_gew_ärtigen Theo~iendeb~tte drück- '"1/ Ein dritter kontrovers diskutierter ten ~ich m den erheblichen Differenzen 7i\' Punkt waren die Theorien der Postmo­zwischen den einzelnen Ansätzen und derne. Während die Franzosen Marc Ji­den erhofften Auswegen aus dem ver­steinerten Gehäuse aus. Ein Konzept scheint darin zu bestehen, sich auf idealistische Wertvorstellungen zurückzuziehen und das mit einer Rück­besinnung auf die Frühwerke zu recht­fertigen. Dies gipfelte in der These von Norbert' Bolz, Blochs gesamte Philoso­phie ließe sich aus seinem Frühwerk "Geist der Utopie" erschließen. Alle dar­auf folgenden Veröffentlichungen stell- , ten nui' endlose Selbstinterpretationen

nun stmo e .)für die gegenwärti­ge Epoc e "ä1s"'Cfur~haus angemessen an­sahen, wurde sie sowohl' von italieni­scher als auch von deutscher Seite schlichtweg als verfehlt abgelehnt. Für den Fall, daß diese jedoch zuträfen, so insistierte Norbert Bolz, hätten Bloch und Lukäcs uns nichts mehr zu sagen. So stand der Versuch von Raulet, die Blochsche Hermeneutik zum Verständ­nis und möglichen Überwindung der

Veranstaltung

Postmoderne zu beerben, nicht mehr zur Debatte. Ob durch die Konzetration auf reines "Spurenlesen" im Gewirr der Zei­chen die Gefahr der unbeabsichtigten Aufgabe der utopischen Dimension ent­steht, wurde zu einer irrelevanten Frage­stellung.

Diese drei Diskussionen stellen die weni­gen Momente der gesamten Tagung dar, in denen kurzzeitig versucht wurde, nicht nur über philosophische Fragen im Werk, sondern auch über die politische Aktualität der beiden zu streiten. Ein Streit, der produktiv hätte sein können, wurde peinlichst vermieden, und sei es mit dem Argument, essen gehen zu müs­sen. Das überladene Repräsentationspro­gramm stand hierfür von vornherein im Wege, und keiner der Diskussionsteil­nehmer war gewillt oder in der Lage, es in Frage zu stellen, sorgfältigst darauf achtend, sich nicht zu sehr zu entzweien und deshalb selten mit Engagement et­was vertretend. Den Bloch und seine Philosophie in die Glasvitrine stellen, nicht an ihm kratzen, nicht kritisieren, ihn vorsichtig philosophisch betrachten, aber ja nicht auf die Realität anwenden, könnte dies doch an politische Praxis er­innern. Von der Bloch'schen Brut war nichts zu spüren. Diese Enkel werdens nicht besser ausfechten ...

Mit Lukacs hingegen war es nicht so ein­fach. Zu sehr war seine Philosophie in die konkreten politischen Verhältnisse verstrickt, diskutiert wurde, was übrig­bleiben sollte, philosophisch und ästhe­tisch. Wenige versuchten den Ganzen, viele den Jungen bis "Geschichte und Klassenbewußtsein", manche den Spä­ten der Ontologie zu retten. Ihr Hunderster sollte Anlaß zu kritischer Würdigung sein, doch die zentrale Frage, die beide· beschäftigte, die Aufhebung der Verdinglichung, die Verwirklichung der Utopie war für die meisten Teilneh­mer offensichtlich nicht Erbschaft und Aufgabe.

ki/ric

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Veranstaltung

"Marxismus und Philosophie" war der Titel des Fachseminars vom 1. -12.4.1985 am Inter-University-Center in Dubrovnik. Nach dem Verbot der jugoslawischen Zeit­schrift "Praxis" 1971 war es den jugoslawischen Philosophen der "Praxis-Gruppe" nicht mehr möglich, die jährliche "Sommerschule" auf der Insel Korschula durchzu: führen, welche die einzigartige Möglichkeit war, eine Disskussion zwischen östlichen, nicht-orthodoxen und westlichen Marxisten zu führen. Die Seminare am Inter-University-Center sollen dafür Ersatz schaffen.

In diesem ersten Teil des Seminars, an den das Lukäcs-Bloch-Symposion an­schließen sollte, waren "grundsätzliche Erörterungen des Verhältnisses von Mar­xismus und Philosophie" das Thema. Was könnte man unter dieser Fragestellung verstehen? Marx stellt in der Kritik der Hegel'schen Rechtsphilosophie die The­se von der "Aufhebung der Philosophie" auf. Leider hat er diese These unausge­führt belassen. Es stellt sich also heute die Frage, wel­chen Status die marxistische Theorie im Verhältnis zur traditionellen Philosophie hat? Ist sie "positiveWissenschaft" der Geschichte, die ihre Begründungskrite­rien ex negativo aus den Bewegungsge­setzen der gesellschaftlichen Entwicklung schöpft, oder hat sie sich durch Prinzipi­en oder Normen "philosophisch" auszu­weisen? Muß sie sich die Frage nach dem "Menschen" oder gar dem "Sein über­haupt" stellen, begründet sie sich also aus anthropologisch/ ontologischen Fra­gestellungen und Antworten, die Kritik erst möglich machen?

Das wäre also die zur Diskussion gestell­te Grundproblematik des Seminars ge­wesen. Leider hörte man aber nur wenig zum Thema. Von historeographischen Untersuchungen zur Geschichte des Mar­xismus bis zur Ästhetik der Postmoderne am Beispiel der Architektur war zwar so einiges Interessante, aber keineswegs am Thema orientierte zu erfahren. Diese

. Wechsel- und Sprunghaftigkeit der Dis­kussions- und Referatthemen verunmög-

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lichte eine zusammenhängende, an der Grundfrage orientierte Diskussion; das Seminar drohte in akademische Selbst­darstellung und für gesellschaftlichP Pra-

& xis bedeutungsloses Historisieren überzu­gehen.

Die Frage der marxistischen Theorie als philosophischer Anthropologie wurde zuerst von Heinz Paetzold aus Hamburg erörtert. Er wollte mit Gehlen, Scheler und Agnes Heller eine materiale Anthro­pologie restituieren, was ihm die Kritik einbrachte, er verallgemeinere individu­elle Setzungen zu allgemein gesellschaft­lichen, sein Projekt wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Helmut Fah­renbach dagegen versuchte in seinem Vortrag strukturelle Bestimmungen menschlicher Existenz als Praxis mit Hil­fe von Brecht's "Philosophie als Verhal­tenslehre" aufzuweisen; eine formale Bestimmung menschlicher Existenz, die der materialen gegenübersteht. Eberhard Braun dagegen hielt jeden Versuch, menschliche Wesensbestimmungen vor­zunehmen, für gescheitert, weil. sie die

Historizität menschlichen Daseins über­steige. So macht er den Versuch, das Eindringen des Themas "Alltagsleben" in die Philosophie zu beschreiben und die Unhintergehbarkeit von Historizität und Gesellschaftlichkeit von alltäglicher Le­benswelt aufzuweisen. Von Seiten der Theoretiker, die die ob­jektiven Bedingungen menschlicher Pra­xis in den Vo.rdergrund rücken, hielt Hans Georg Flickinger in seiner Interpre­tation des Marxschen Kapitals Marx dort für am überzeugendsten, wo er auf den Subjekt- und Entfremdungsbegriff ver­zichtet und in Anleh11ung an Hegel 's Lo­gik negativ Kategorien entwickelt, die rein aus dem "Sein der Dinge" hervor­gehen. Auch Marek Siemek aus Warschau hält die Kritik der politischen Ökonomie für die entwickeltste Form marxistischer Theorie. Er hält die Wirkungen historisch philosophischer Anthropologie von der einen, und Versuche einer Naturontolo­gie von der anderen Seite für eklektizisti­sche Theorieansätze. In Anlehnung an "Geschichte und Klassen bewußtsein" des frühen Lukacs will er. eine "Sozial­philosophie" schaffen, die den Menschen schon immer als gesellschaftliches Wesen faßt. Helmut Reinecke aus Frankfurt forderte eine Neuformulierung der Kritik der po­litischen Ökonomie unter den Bedingun­gen der reellen Subsumtion; die stoffli­chen Eigenschaften der Produktion ha­ben seiner Hauptthese nach die Möglich­keiten der Emanzipation, des sinnlichen Verlangens nach Lust und Glück verhin­dert. Die provokantesten Thesen des Se­minars formulierten jedoch die Praxis­Theoretiker aus Zagreb. Gvosdan Flego versuchte den Marxschen Kritikbegriff zu rekonstruieren und kam zu dem Ergebnis. Kritik erschöpfe sich nicht in der Im­manenz sondern verweise schon immer auf menschliches Sein als Möglichkeit. Dieses menschliche Sein sei schon im­mer im Ganzen des "Seins" zu sehen. Anthropologie müßte also schon immer von Ontologie durchdrungen sein. Von dieser Hauptthese ging auch der wohl bekannteste jugoslawische Praxisphilo­soph Gajo Petrovic aus. In seiner Kritik der kritischen Theorie vermisste er die Ganzheitlichkeit der kritischen Theorie, sie trage alle Momente in sich, vergesse aber die Philosophie als das "Denken der Revolution'', als d i e Möglichkeit des menschlichen Seins. In seiner folgen­den Kritik der "Negativen Dialektik" Adornos bezeichnete er jene als "dogma­tische Antidogmatik" und parallelisierte

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sogar in recht fragwürdiger Weise die Rolle des Leidens in Adornos Theorie mit Stalins ideologischer Version, die Unterdrückung durch notwendiges Lei­den für den Aufbau des "Sozialismus" legitimierte. Im folgenden Symposion zum 100. Ge­burtstag von Lukacs und Bloch konnte man grob gesprochen zwei Lager von Positionen ausmachen. Einigkeit herrsch­te darüber, daß die Konzeption des spä­ten Lukäcs, die Ontologie des gesell­schaftlichen Seins keine Tragfähigkeit mehr hat. Dies machte der Vortrag von Zarko Puhovski, E. Braun und Gajo Se­kulic deutlich. Unterscheiden konnte man das Bloch-Lager, das in verschiede­ner Weise Blochs Grundlegung einer On­thologie des Noch-Nicht Seins aufnahm und seinen Utopie begriff positiv rezipier­te, auf der anderen Seite die Lukacs- ~

Fraktion, die vor allem am Lukics von "Geschichte und Klassenbewußtsein" an­knüpfte. Helmut Fahrenbach intendierte eine Ablösung der utopischen Fragestel­lung von der metaphysischen Wesenson­tologie Blochs, während Gerard Cunico diese Trennung nicht so akzeptieren mochte. Hans Ernst Schiller versuchte die Wirkungen des Lucacs'schen Totali­tätsbe!!riffs aus "Geschichte und Klassen-

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bewußtsein" auf die Theorie Blochs auf­zuzeigen. Bloch sei, so die Hauptthese, mit der Rezeption von Lukacs Totalitäts­begriff über jenen hinausgegangen. Ge­gen die "geschlossene Totalität" Lukacs' setzte Bloch den Begriff der "Sphäre", die relative Autonomie der Phänomene im Überbau. Dagegen polemisierte Marek Siemek aus Warschau in seinem Referat gegen eine Mißdeutung des Lukäcs'en Totalitätsbegriffs. Totalität heiße bei Lukacs immer "offene Prozeßrealität", die die partikulare Faktizität als teilmo­ment des Prozesses fasse. Möglichkeit entspringe demnach immer aus der Im­manenz gesellschaftlichen Seins. Dem gegenüber steht der Bloch'sche Utopie­begriff als "Transzendieren ohne Trans­zendenz". Auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation bezogen war in einer Weise, in der es eigentlich für jeden Vortrag eines solchen Symposions wünschenswert wä­re, das Referat ~e:F~·tte>rrrr~hs aus Frankfurt. In Haberma?scner Manier kritisierte er einen "romatischen Anti­kapitalismus" beim frühen Lukacs wie in heutigen gesellschaftlichen Protestbewe­gungen. Versöhnungsgedanken im Ar­beitsbegriff, in den Sozialen- und in Na­turbeziehungen seien in hochgradig aus-

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differenzierten Gesellschaften nicht mehr einlösbar. Auch::Qe;<l'~d ii~til~~ bezog sich in seinem Referat aüf~efiie'-äKtuelle Situation, die der Postmoderne, die er aber nicht wie deren Theoretiker in der beliebigen Par­tikularität der Sinnstrukturen, und in der Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion aufgehen lassen wollte. Demgegenüber hielt er an Geschichts­philosophie, "Dialektisierung der Wirk­lichkeit" und den Bloch'schen Gedan­ken der konkreten Utopie, allerdings in einem hermeneutischen Sinn, ohne ein­heitlichen Sinn, fest. (siehe auch Inter­view in diesem Heft) In der abschließenden Diskussion konnte zu Recht gesagt werden, daß die Positio­nen der kritischen Theorie sowie andere relevante Positionen z.B. die französische Diskussion um den (Post-) Strukturalismus personell wie inhaltlich zu wenig zum Tragen kamen. Die gegenwärtige Ratio­nalitä tsdiskussion war so fast überhaupt kein Thema des Seminars. Es besteht deswegen die Absicht, im nächsten Jahr. zum Seminar "Subjektivität und Emanzipation" sowohl eine bessere in­haltliche Vorstrukturierung als auch organisatorisch einige Verbesserungen vorzunehmen. RB

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Page 69: Zum 100 geburtstag von Ernst Bloch

Rezension

DER HINTERN DES TEUFELS Ernst Bloch -­leben und Werk.

Rechtzeitig zum hundersten Ge­burtstag Ernst Blochs publiziert der badische Elster-Verlag eine Monographie von Peter Zudeick: Der Hintern des Teufels/ Ernst Bloch - Leben und Werk. Die 3 7 0 Seiten umfassende und in Leinen gebundene Buchausgabe stellt nach dem etwas oberflächli­chen Rowohlt-Bändchen (rm 258,

< Sivlia Markun, Ernst Bloch) die er­ste seriöse Biographie über Ernst Bloch dar. Zudeick, der übrigens selbst bei Bloch in Tübingen stu­dierte und später über Aspekte des Blochschen Werkes promovier­te, ging mit seinem Unterfangen ein ungeheures Wagnis ein, denn Bloch, "der produktivste Ketzer im Marxismus" (Negt), hielt seine eigene Biographie für nicht allzu wichtig. So · erhöhten sich die Schwierigkeiten des Rundfunkre­dakteurs und Journalisten, die Mosaiksteine des Blochschen Le­bensweges kunstvoll zusammenzu­fügen. Doch die Frucht des Re­cherchierens und langen Suchens übersteigt alle Erwartungen. Dem Autor gelang es, eine gerade­zu einzigartige Material- und Bild­sammlung zusammenzutragen und auszuwerten. Eine große Zahl bis­her weitgehend unveröffentlichter Fotos, Text- und Zitatstellen von

. und über Bloch lassen diesen stil­voll gestalteten Band zu einer wahren Fundgrube für Blochianer und Kritiker werden. Präzise und sachkundig arbeitete Zudeick den Lebensweg Blochs in die politische Zeitgeschichte ein und reflektiert auf dessen philoso­phische Entwicklung. Von Deutschland nach Prag über Zwi­schetiaufenthalte in Österreich und Paris, getrieben weiter 1938 ins elfjährige Exilland USA, Rück­kehr in ein hoffnungsträchtiges besseres Deutschland nach Leipzig - bis er als treibend Getriebener die DDR verlassend in der BRD in Tübingen Ruhe zur Arbeit findet. Vom weltpolitisch agierenden An­tifaschismus in kurzen Sprüngen

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durch Hegels Dialektik hinein in einen anekdotenreichen Alltag führt Z udeick die Lesenden zwi­schen ernsten und schmunzelnden Mienen. Immer wieder finden sich Auszüge aus Karola Blochs Lebens­erinnerungen, die 1981 unter dem Titel "Aus meinem Leben" im Neske-Verlag erschienen sind. Peter Zudeicks verdienstvolle Lei­stung liegt in der lebendigen Re­konstruktion des Blochschen We­ges bis in die Tübinger Zeit und in deF gesellschaftlichen und philoso­phiegeschichtlichen Einbettung des marxistischen Gesamtwerkes. Die Schwachstellen des Elster­Bandes liegen in der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Bloch und der studentischen Neuen Lin­ken. Hier gleitet Zudeick allzuoft ab von methodischer Sauberkeit zu feuilletonistischer Polemik. So et­wa wenn er eine Blochsche Skep­sis gegen basisorientierte Politik­formen der Studenten konstruiert und dies mit einem Zitat belegt, in dem Bloch sich gegen ML-Grup­pen und deren Stalinverehrung ab­setzt (S. 275). Das Interview, das Tübinger Studenten der ASTA­Zeitung 'Widerspruch' 1975 mit Bloch führten, ist für Zudeick ein "beeindruckendes Dokument" ge­gen die studentische Linke (S. 280). Die Trauerreden des Tübin­ger ASTA und Rudi Dutschkes am Sarge Blochs geraten unter Zu­deicks Fürsprache zur Assoziation Bloch-Terror-Ponto-Meins. Kein Eingehen auf die Inhalte linken Rezeptionsverhaltens, stattdessen platte Sensationsschreibe: "Auf­sehen erregte aber vor allem ... " (S. 316). Für den Autor geradezu peinliche Stellen entstehen, wenn Zeugen gehört werden wie etwa: " ... Gert Ueding erzählt, wie dieses Verhält­nis aus nächster Nähe Blochs wäh­rend der Studentenbewegung aus­gesehen hat: 'Ei.nst Bloch gilt vie­len ihrer Protagonisten als erprob­ter Vordenker. Von Bloch haben sie meist kaum etwas gelesen, viel­leicht seinen Vortrag über den Wissenschaftsbegriff des Marxis­mus gehört oder ein Fernsehge­spräch gesehen. Außerdem kursie­ren auf den täglichen Flugblättern, die in Mensa und Universität alle Tische und Bänke bedecken, oder auf den Transparenten und Wand­zeitungen im ASTA-Gebäude eini­ge besonders markige Bloch-Sen­tenzen .. .'" (S. 322/3). Die man­gelhafte und nur unwillig betrie­bene Recherche in dieser Rich­tung erreicht ihren Höhepunkt in der selbstgenügsamen Festsetzung: "In der Tat hat es lange Jahre kei­ne Auseinandersetzung mit Bloch von links gegeben" (S. 325 ). Laut Zudeick ist dies durch ein dünnes Wagenbach-Bändchen zum 90.

Geburtstag Blochs durchbrochen worden und lebte in den Bloch­Tagen 1978ff. kurzfristig wieder auf. Hier irrt der Journalist. Trotz dieser Kritik, die ihre An­knüpfungen auf den letzten hun­dert Seiten des "Hinterns" mehr­malig auffindet, gehört Zudeicks Arbeit zu den Errungenschaften wissenschaftlicher Blochforschun.: gen. Das Verhältnis Blochs zur Neuen Linken wird von anderen aufgearbeitet werden müssen. Ins­gesamt aber verdient Peter Zu­deick und der Elster-Verlag deut­lichen Zuspruch.

Welf Schröter

Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels/ Ernst Bloch - Leben und Werk. Elster- Verlag, 1985. 375 Seiten. DM 48.00

ERNST BLOCHS POLITISCHER WEG

Rechtzeitig zum hundersten Ge­burtstag von Ernst Bloch erschien im Hamburger Junius-Verlag die über zweihundert Seiten umfas­sende Studie von Trautje Franz "Revolutionäre Philosophie in Aktion - Ernst Blochs politischer Weg, genauer besehen". Der mit einem umfangreichen Anmer­kungsapparat und zureichender Literaturliste versehene Band über­rascht und besticht gesellschaft­lich-engagierte Lesende schon nach kurzem Durchblättern. Die ehemalige Tübinger Bloch-Schüle­rin (?) hat der großen Anzahl lite­rarischer Grabsteine gerade keinen neuen hinzugefügt, sondern in .er­frischender und souveräner weise den politischen Schutt über Blochs Werk um- und umgepflügt. Sie wühlt Blochsche Gedanken aus dem Staub stickender Seminarphi­losophie wieder heraus, bearbeitet selbstbewußt und mit überragen­der Sachkenntnis das Werk des politischen, des eingreif enden und sich verändernden Bloch. Keine mythische Lqbeshymne schallt un­kritisch aus ihren Seiten, sondern der Anspruch wird sichtbar, ei­nem "revolutionären Philosoph" gerecht zu werden. Abzulesen ist dieser Ansatz bereits bei der Kapi­telunterteilung: 'Grundzüge der Philosophie des "Noch-Nicht" / 'Die Konstitutionsphase politi­

..5cher Reflexion und Aktion'/ 'Vom "Geist" der Utopie zur stra­tegisch-taktischen Zukunftsphilo­sophie'/ 'Propaganda als Praxis theoretischer Philosophie'/ 'Aus­wertung und Folgerungen unter Einbezug spätc...- Einstellungsände­rungen'. Trautje Franz folgt nicht positivi­stisch dem Lebensweg der Person, sondern Kontinuität und Wand­lung des Blochschen Denkens im Verlauf politischer Praxis. "Revo­lutionäre Philosophie in Aktion"

als Titel der wissenschaftlichen Studie weiß sich in zentraler Wei-

, se dem Abarbeiten Blochs -an In­tention und tatsächlicher Folge der Oktoberrevolution verpflichte~ .. Die kritische Kennzeichnung des Weges von Bloch vom antifaschisti­schen Stalinverehrer zum vehe­mente~ten Kritiker des sowjeti­schen Reiches herausgearbeitet zu haben, stellt wesentliches Ver­dienst der Autorin dar. Wenn man auch nicht jeder Einschätzung zu­zustimmen geneigt ist (Bloch und

· der Eurokommunismus), so hat die Wissenschaftlerin doch ohne ideologisierte Scheuklappen einen neuen Zugang zu Bloch freigear­beitet. Ihre kritische Würdigung Blochs ohne blinde Apologetik wird ih­ren Leserkreis weniger in staatli­chen Bibliotheken finden als viel­mehr unter jenen, denen ihre Tag­träume noch nicht erloschen sind. Der Junius-Band wird den einen zur Einführung in Blochs Denken und Handeln dienen, während die Grabwächter der deutsch-deut­schen Staatsanstalten Franzens Arbeit in den 'Giftschrank' ver­bannen werden.

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Trautje Franz, Revolutionäre Phi­losophie in Aktion - Ernst Blochs politischer Weg, genauer besehen. Junius- Verlag, März 1985, DM 26,80.

"Wer sein Wissen nur aus Büchern bezieht,

den stellt man

am besten selbst ins Regal"

(so Bloch 11.11.'55).

Aber hin und wieder ein Buch

kann auch nicht schaden.

Schaut' mal bei uns rein!

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am 8. Juli 1985