zukunft der unterhaltung - erkundungen in den unterhaltenden staaten von amerika

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v unterhaltung vol. 2012.12 info 1/21 Reprint 2 000 Die Produktion von Unterhaltung ist zur weltweit wichtigsten Wachstumsbranche geworden. Als treibende Kraft technischer Innovation macht die Unterhaltungsindustrie längst dem militärisch- industriellen Komplex Konkurrenz. In Las Vegas, Japan und am PC ist das Vergnügen von morgen zu besichtigen. Von Gundolf S. Freyermuth Die Zukunft der Unterhaltung

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Die Produktion von Unterhaltung ist zur weltweit wichtigsten Wachstumsbranche geworden. Als treibende Kraft technischer Innovation macht die Unterhaltungsindustrie längst dem militärisch-industriellen Komplex Konkurrenz. ln Las Vegas, Japan und am PC ist das Vergnügen von morgen zu besichtigen.

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unterhaltungvol. 2012.12 info 1/21

Reprint2000

Die Produktion von Unterhaltung ist zur weltweit wichtigsten

Wachstumsbranche geworden. Als treibende Kraft technischer

Innovation macht die Unterhaltungsindustrie längst dem militärisch-

industriellen Komplex Konkurrenz. In Las Vegas, Japan und am PC ist

das Vergnügen von morgen zu besichtigen.

Von Gundolf S. Freyermuth

Die Zukunft der Unterhaltung

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Wer vor 150 Jahren die Zukunft der Unterhaltung besichtigen wollte, musste mit

Kutsche oder Eisenbahn in die boomende Hauptstadt des Second Empire eilen. Das Paris

der Gegenwart liegt in der Wüste und lässt sich am besten per Flugzeug erreichen.

Die Millionenmetropole kennt keine Arbeitslosigkeit, obwohl im Schnitt pro Tag 6000

Neubürger zuziehen. Auch dass die Stadt mit 8,5 Prozent das bei weitem höchste

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meint der Unternehmensberater Michael Wolf: Unterhaltung werde eben „die

Lokomotive der neuen Weltwirtschaft“. Nirgendwo aber ist die von Wolf in seinem Buch

über die Entertainment Economy prognostizierte „Unterhalterisierung“ aller Lebens-

und Arbeitsbereiche heute bereits soweit gediehen wie in Las Vegas.

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der Welt stärkste Laserkanone über den Horizont. Ihr 315 000 Watt-Strahl kommt

von der Spitze der schwarzgläsernen Pyramide von Luxor. Sie markiert den Beginn

einer bizarren Weltausstellung. Wie am Schnürchen folgen die bauklotzbunten Zinnen

von König Arthurs Schloss, dahinter, im Schatten von Trump Tower und Empire State

Building, die Freiheitsstatue. Still glitzernd ruht ein Stück weiter der Comer See

samt dem Dörfchen Bellagio, schräg gegenüber erhebt sich der Kampanile, daneben

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die festlichen Fassaden des Dogenpalastes. Ein Vulkan spuckt Feuer, und auch das

als Hauptstadt der Unterhaltung entthronte Paris fehlt nicht. Lässig schwingt ein

50 Stockwerke hoher Eiffelturm seinen Fuß über die Opera, so als wolle er mit

Nonchalance ausgleichen, was ihm an Größe gegenüber dem Stratosphere-Kasino

mangelt, dem mit 422 Metern höchsten Turm Nordamerikas.

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Menschen denkbar ist. Wem gewöhnliche Kasinos zu langweilig sind, der mag sein

Geld in einer Greenwich-Village-Gasse gleich neben den Fleischereiauslagen oder in

einem Zirkuszelt verlieren, während über ihm Trapezkünstler ihr Leben riskieren. Ein

tropischer Regenwald, eine der bedeutendsten Sammlungen von Impressionisten, ein

animatronischer Elvis, Surfen am Südseestrand, weiße Tiger in einer Hotellobby, die

Grabkammer Tut-Ench-Amuns – all das und noch viel mehr lässt sich besichtigen.

Die Qual der Wahl hat auch, wer gerne unterhaltsam isst. In Steven Spielbergs Dive!Las

Vegas taucht man unter den Ozean, im Magical-Empire-Dinnertheater toben Gaukler

und Geister um die Katakomben-Tische, im Buccaneer Bay Club sitzt man in der ersten

Reihe, wenn eine Freibeutergaleere mit voller Breitseite die HMS Britannia versenkt,

und im Aureole speist man unter einem vier Stockwerke hohen Glasturm mit 10 000

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werden. Einkäufe lassen sich mit einer Gondelfahrt auf dem Canale Grande verbinden

oder mit dem Bummel über einen vollklimatisierten römischen Korso.

Science-Fiction-Fans vergnügen sich in Star Trek-The Experience, einer 70 Millionen

Dollar teuren High-Tech-Mischung aus computergesteuertem Theaterzauber,

interaktivem Kino und Hochleistungs-Flugsimulation. Sie entführt die Mitspieler auf den

originalgroßen Nachbau der Brücke des Raumschiffs Enterprise und bruchlandet sie am

Ende mit einem virtuellen Shuttle vor dem Star-Trek-Hilton. Liebhaber klassischerer

Mythen erkunden im virtuellen Rüttelschüttel-Ritt die Geheimnisse der Luxorpyramide

oder unternehmen im weltweit einzigen 3-D-Imax-Bewegungskino einen virtuellen

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Gemeinsam ist diesen Hightech-Ritten, dass sie physische Sensationen mit Hilfe

computergesteuerter Bewegungsplattformen und entsprechender 3-D-Programme auf

engstem Raum simulieren. Und zwar so realistisch, dass zur Ausstattung der Sitzplätze

Spucktüten gehören und die auch bisweilen benutzt werden – obwohl das ruckelige Auf-

und Ab der sechsachsigen Motion-Plattformen, auf denen die virtuelle Jagd erlebt wird,

realiter stets unter 20 Zentimetern verbleibt.

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Weit über zehn Milliarden Dollar hat diese zukunftsträchtige Umrüstung der einst

sündigen Spielerstadt zu einem gewaltigen, familienfreundlichen Themenpark

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Unterhaltenden Staaten von Amerika. Rund fünf Millionen Bürger verdienen in der

Entertainment-Supermacht bereits ihr Geld damit, den Rest der Menschheit zu

vergnügen – erheblich mehr, als etwa mit der Produktion und Wartung von Automobilen

beschäftigt sind. Die Tendenz ist zunehmend, denn die Unterhaltungsbranche ist für ein

gutes Achtel aller neuen Jobs verantwortlich.

Genauso rasant wie die Herstellung wächst der Konsum von Unterhaltung. Seit

Jahrzehnten steigen die Ausgaben fürs Vergnügen stärker als die Einkommen. Um

die zwei Prozent spart der Durchschnittsamerikaner noch, acht Prozent gibt er für

Unterhaltung aus; mehr als für Bildung oder Gesundheitsfürsorge. Rechnet man wie

Michael Wolf zu direkt unterhaltungsbezogenen Aufwendungen – von Kinokarten über

Erlebnisparktickets bis zu Computerspielen - die Kosten für Dinge und Dienste hinzu,

die überwiegend dem Vergnügen dienen, etwa für TV-Geräte, andere Heimelektronik

und private Restaurantbesuche, so addiert sich der Spaß zu jährlich einer Trillion Dollar.

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Die Lust an der Unterhaltung kostet freilich nicht nur, sie bringt auch einiges ein.

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Musik-CDs und interaktive CD-Roms beherrschen unangefochten den zunehmend

vergnügungssüchtigen Planeten. „Japanische Computerprogramme haben es bislang

nicht geschafft, Mr. Gates zu gefährden“, spottet Benjamin R. Barber, Autor von Jihad

Vs. McWorld: „Und genauso wenig machen deutsche Soaps den TV-Produzenten Steven

Bochco nervös.“ 40 Prozent aller Einnahmen der US-Unterhaltungs industrien werden

derweil im Ausland erzielt. Der volkswirtschaftliche Wert der Branche entspricht damit

dem der US-Rüstungsindustrie in den achtziger Jahren, der letzten Phase des Kalten

Krieges.

Im schieren Volumen seiner Vergnügungswirtschaft ist Amerika Avantgarde. Denn

auch im Rest der Welt wird die Herstellung von Unterhaltendem zur wichtigsten

Wachstumsbranche und damit Schlüsselindustrie. Der Wirtschaftshistoriker James

P. Kraft etwa sieht das „Feld der Unterhaltung als Bullenmarkt der Zukunft“.

Schon heute entspricht in den USA der gestiegenen ökonomischen Bedeutung

die Schrittmacherfunktion für den technischen Fortschritt. Immer weniger

folgt die Breitenforschung militärischen Vorgaben und immer mehr lukrativen

Unterhaltungsbedürfnissen. „Die Unterhaltungsindustrie ist nun die treibende Kraft

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für neue Technologien, wie es früher die Verteidigungsausgaben waren“, sagt Edward

R. McCracken, Chef von Silicon Graphics, dessen Kult-Computer nicht nur Sonden der

NASA, sondern auch Industrial Light & Magics Star-Wars-Schiffe ins All steuern.

Das knappe Dutzend global führender Unterhaltungskonzerne operiert mit großem

Kapitaleinsatz unentwegt an der Grenze des Möglichen. Herausragende Forscher

und Techniker, Architekten und Designer, Autoren und Künstler verdienen ihr

Geld im Dienste der Unterhaltung. An der objektiv mäzenatischen Funktion der

Unterhaltungsindustrie kann wenig Zweifel bestehen. Viele, denen gegenwärtig in

Unterhaltungsprojekten die Möglichkeit geboten wird, ihren Forschungsinteressen und

künstlerischen Neigungen zu folgen, haben das erkannt. Jeremy Railton etwa, der an

der digitalen Architektur der Fremont Street Experience in Las Vegas mitarbeitete,

vergleicht die Unterhaltungskonzerne ironisch mit den Medicis: „Wenn man in

die Geschichte zurückblickt, herrscht heute eine Aufbruchsstimmung, die ist so

allumfassend und so bedeutend wie seit der Renaissance nicht mehr. Absolut jeder

Designer, den ich kenne und der etwas kann, arbeitet ein wenig in Vegas.“

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Unterhaltung, noch vor einem halben Jahrhundert ein wenig angesehenes

Schaustellergewerbe, ist in den neunziger Jahren vollends respektabel geworden.

Erst in der ökonomischen Bedeutung, dann im öffentlichen Auf- und Ansehen traten

die neuen Medien- und Hightech-Mogule an die Stelle der alten industriellen Mächte.

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Murdoch, und auch wo Krupp war, wurde Kirch. Bereits 1994 rief Vanity Fair, die

Generalpostille der gehobenen Unterhaltung, die verschwippte und verschworene

Gemeinde der weltweit operierenden Medien meister zum „Neuen Establishment“ aus,

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der Wall Street wie den von Washington übertrifft“.

Erledigt hat sich damit der zweihundertjährige „Krieg zwischen Kunst und

Unterhaltung“, den Neal Gabler in seinem Buch Life the Movie: How Entertainment

Conquered Reality dokumentiert. Der Sieg der U- über die E-Kultur scheint an der

Wende zum 21. Jahrhundert total. Er bedeutet eine historische Rehabilitierung

physischer Sensationen. „Ernsthafte“ Kunst sublimierte seit Anbruch bürgerlicher

Zeiten körperliche zu intellektuellen Reizen. Massenunterhaltung hingegen, wie sie

mit der Industrialisierung aus der Volkskultur und für die Unterschichten entstand,

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rebellierte von Anfang gegen die Werte des Bürgertums und seiner Intellektuellen,

gegen ihre auf Ewigkeitswerte zielenden Vergeistigungs-Anstrengungen.

Die Attacken der Kritischen Theorie gegen die Unterhaltung – „Fun ist ein Stahlbad“

- und ihre kulturkämpferische Wendung in der Neuen Linken der sechziger und

siebziger Jahre erscheinen unter heutiger Perspektive daher als letztes Aufbäumen

eines vordemokratischen Elitedenkens gegen die vollständige Egalisierung der Kultur.

Insbesondere die Befürchtung, zu viel Unterhaltung könne irgendwie und irgendwem

schaden - zuletzt noch von Neil Postman in den achtziger Jahren vorgetragen – deutet

derweil auf alte anti-sensuelle Ängste einer Epoche, deren Gewissheiten heute so

überholt wirken wie die mechanischen Schreibmaschinen, auf denen diese Traktate

einst heruntergehämmert wurden.

Populäre Vergnügungen propagieren dagegen - jenseits ihres konkreten Inhalts - ein

rücksichtslos sinnliches Erleben künstlicher Produkte und Inszenierungen. Sensation

ist in ihnen wichtiger als Sinn, die chaotische Ansammlung möglichst vieler Thrills

erfolgreicher als eine strenge Erzähl- oder Argumentationsstruktur, die Anhäufung

schriller Details beliebter als die Unterordnung der Teile unter das ästhetische Ganze.

Erstes Einfallstor für eine solche Massenunterhaltung, der das Wahre und Schöne

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wenig und lärmendes Aufsehen alles gilt, war im 19. Jahrhundert der Journalismus.

Entscheidend für die radikale Verschiebung der kulturellen Tektonik wurden dann

zwei Medien, die aus der elektromechanischen und elektronischen Phase der

Industrialisierung stammen: Kino und Fernsehen.

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bürgerlicher E-Kultur. „Wie ein kultureller Ebola-Virus“, schreibt Gabler, „hat die

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lassen, dass sie Amüsement bieten könnten.“ Bald schon - wie das fortgeschrittene

amerikanische Beispiel belegt – dürfte auch in den europäischen Gesellschaften alle

Kultur Unterhaltung geworden sein; Literatur, Kunst und Erziehung genauso wie Religion

und Sport.

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Zunehmend wird auch jedes Geschäft zum Showgeschäft. Marshall McLuhan

bereits meinte: „Unterhaltung in ihrer extremsten Form wird die Hauptform des

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dass eines Tages die Menschen anfangen würden, Erfahrungen zu erwerben wie

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zuvor nur Waren und Dienstleistungen. Kein Vierteljahrhundert später war es soweit.

1994 erkundete Business Week zum ersten Mal die entstehende amerikanische

„Entertainment Economy“. Andere Wirtschaftsmagazine folgten mit so sprechenden

Titeln wie „Die Hollywoodisierung Amerikas“.

Die ökonomische Theorie zur grassierenden Praxis lieferte dann James H. Gilmore 1998

im Harvard Business Review. Sein Aufsatz „Welcome to the Experience Economy“ –

inzwischen in Zusammenarbeit mit Joseph Pine zum Buch ausgeweitet – legt dar, wie

die gezielte Produktion von Erfahrungen zu Unterhaltungszwecken eine historisch neue

und höhere Stufe der Wertschöpfung darstellt. Die Agrarwirtschaft lieferte lediglich

Rohprodukte, die industrielle Produktion verarbeitete sie, die Dienstleistung nahm

dem Kunden zusätzlich die Arbeit ab, die mit der Herstellung des Endprodukts oder

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erweiterten Möglichkeiten der neuen Erfahrungsökonomie erläutert Gilmore am

Beispiel einer Tasse Kaffee:

Wer die Bohnen anbaut, erzielt den prozentual geringsten Gewinn; der Produzent der

abgepackten Ware einen höheren, der normale Dienstleister, der den Kaffee in der

Eckkneipe bräut, wiederum einen höheren. Erst aber die Verbindung mit einer raren

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und unterhaltenden Erfahrung erlaubt

eine weitere Steigerung des Preises und

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Luxusdinner oder in Verbindung mit einer

außergewöhnlichen Aussicht, etwa auf den

Markusplatz, sind wir bereit, für einen

gewöhnlichen Kaffee das Doppelte oder

Dreifache des Üblichen zu zahlen.

Indem die Produktion unterhaltender

Erfahrungen, als ein von der eigentlich

Dienstleistung getrenntes Element erkannt

wird, meinen Gilmore und Pine, „eröffnen

sich Möglichkeiten für ein außerordentliches

Wirtschaftswachstum – genauso wie einst

die Erkenntnis, dass Dienstleistungen

ein distinktives und legitimes Angebot

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darstellten, angesichts des industriellen Niedergangs zu einer neuen, schwungvollen

ökonomischen Basis führten.“

Der Pionier einer solchen gezielten Erfahrungsproduktion zu Unterhaltungszwecken

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hergebrachten, nur passiv zu rezipierenden Medien Bühne und Kino in aktiv begeh- und

erfahrbare Kunstrealitäten. Anstelle von distanzierten Kunsterlebnissen produzierte

Disney 1955 so erstmals auf kontrollierte, nicht zufällige Weise sinnliche Immersions-

Erlebnisse. Die Konsumenten verwandelte er von Zuschauern in Gäste. Wie die

Besucher fremder Häuser oder Länder konnten sie in eine ihnen unbekannte Welt

eintauchten und neue Erfahrungen sammeln.

Die Stärke des Bedürfnisses, das Disney erahnte, lässt sich am ökonomischen Erfolg

ablesen. Die Zahl der Erlebnisparks ist weltweit auf über 800 angewachsen. Allein

die erfolgreichsten 50 nordamerikanischen zählten 1998 270 Millionen Besucher.

Die Einnahmen liegen in den USA bei 14 Milliarden Dollar pro Jahr und damit fast

doppelt so hoch wie das, was Hollywoods Filme an der Kasse einspielen. Seit den

neunziger Jahren beschränkt sich solche Unterhaltung zudem nicht mehr auf

geschlossene Erlebniswelten. Las Vegas ist, schreiben Gilmore und Pine, heute

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die „Erfahrungshauptstadt Amerikas“. Aus den Themenparks dringt die kalkulierte

Produktion beziehungsweise Simulation von Erfahrungen in alle Weltgegenden und

Ritzen des Alltags.

Eine Vielzahl von Waren und Dienstleistungen wird heute sinnlich aufgeladen, um

so zusätzlich zum Nutz- ihren Unterhaltungswert zu erhöhen. US-Supermärkte leiten

künstlichen Backgeruch in die Brotgänge und gestalten die regelmäßige Bewässerung

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Millionen auf die Erzeugung eines Solidität suggerierenden „satten“ Geräuschs beim

Zuschlagen der Türen. Hotels rund um die Welt werden nach Vegas-Vorbild wie

Theaterbühnen dekoriert. Kreuzfahrer, Busunternehmen und Fluggesellschaften wie

Virgin Airlines transportieren ihre zahlenden Gäste nicht einfach, sie garantieren ihnen

eine Party.

Themenrestaurant-Franchises wie Hard Rock Café, Planet Hollywood, House of Blues,

Rainforest Café verkaufen Erfahrungen und ernähren ihre Gäste gewissermaßen

nebenbei. Nicht anders erlaubt ein Zehnjahresvertrag mit Disney der McDonald’s-Kette,

Burger und Spielzeug zu paaren; was nicht nur den Umsatz von Kindermahlzeiten um

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ein Viertel erhöhte, sondern den Fast-Food-Anbieter auch über Nacht zum größten

Spielwarenhändler der USA machte.

Die nachhaltigsten Konsequenzen zeitigte die beginnende Unterhaltungs- und

Erfahrungsökonomie bislang freilich im Einzelhandel. Bereits in den achtziger

Jahren begann Ralph Lauren, seine Geschäfte wie Filmsets einzurichten. Dem

Vorbild folgen derweil Unzählige. Der New Yorker Sony Store etwa hat nichts mehr

von einem Elektronikladen. Der Name der Abteilung des Unterhaltungskonzerns,

die ihn einrichtete, ist Programm: Retail Entertainment; was soviel wie

Einzelhandelsunterhaltung heißt. Das Motto: „Wir wollen die Leute wissen lassen,

dass wir nicht nur kleine Schachteln mit Geräten verkaufen. Wir verkaufen einen

Lebensstil.“

Dasselbe stimmt für die spektakulären NikeTowns. Allein das New Yorker Flaggschiff

kostete 30 Millionen Dollar, präsentiert seine Produkte wie Reliquien und bietet

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Skulpturen der sportheroischen Nike-Werbeträger. Andere Sport- und Camping-

Ausstatter installieren Wasserfälle, Kletterberge, Skate-Rampen, Mini-Zoos. Keiner

freilich ging so weit wie Ogden, der in der Ontario Mills Mall bei Los Angeles für 100

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Millionen Dollar die American Wilderness Experience einrichtete: acht Biome mit 160

Tieren verschiedenster Arten, dazu das virtuelle Wild Ride Theater und ein Wilderness

Grill. Themen-Einkaufszentren locken so längst mehr Menschen als die regulären

Erlebnisparks an; die Mall of America bei Minneapolis zählt etwa pro Jahr 40 Millionen

Besucher.

Ohne Unterhaltung geht wenig noch. Gerade die Hersteller von Markenartikeln, den

Waren-Stars der Unterhaltungsökonomie, müssen daraus die Konsequenzen ziehen,

wollen sie den Wert ihrer Marke erhalten. Silicon Graphics installierte an seinem

Firmensitz das Visionarum Reality Center. In ihm können Kunden und Techniker

gemeinsam spielen und so die Produkte unterhaltsam kennenlernen. Dutzende anderer

Fabrikanten haben sich regelrechte Vergnügungsparks auf dem Firmengelände zugelegt,

mehr oder weniger amüsante Markenwelten wie Hershey’s Chocolate World oder die

Goodyear World of Rubber. In Deutschland eröffnen im nächsten Jahr der 30-Millionen-

Mark-Park Opel Live in Rüsselsheim und die 800-Millionen-Mark-AutoStadt in Wolfsburg,

für VW von den Spezialisten geplant, die schon Kellogs Cereal City und das kalifornische

Legoland entwarfen.

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In Zukunft werden die sinnlichen erlebbaren Themenpark-Unterhaltungen, mit denen

diese Attraktionen noch locken, freilich immer mehr vom aushäusigen Spektakel

zum Teil der Heimunterhaltung werden. Im Bereich avancierter Computerspiele hat

die virtuelle Erzeugung physischer Sensationen durch rudimentäre Force-Feedback-

Verfahren und damit die Ergänzung rein passiv-audiovisueller Unterhaltung durch

interaktiv-haptische Formen bereits begonnen.

In welche Richtung die Entwicklung geht, deuten die Peripheriegeräte an, die in

den letzten Monaten auf den Markt kamen: Joysticks, die den Rückschlag virtueller

Waffen weitergeben, Lenkräder, die Straßenwiderstand und Schlaglöcher simulieren,

Tennisschläger, deren Bewegungen von Sensoren gemessen und im virtuellen Raum

repräsentiert werden, auch rüttelnde, schüttelnde, vibrierend dröhnende und sich

steil neigende Spielstühle wie der hydraulische Rock’n’Ride oder der Intensor, dessen

haptische Reize demnächst durch eine Fühlweste erweitert werden sollen.

Zu Weihnachten verspricht Logitech gar eine 99-Dollar-Fühlmaus, die Materielles

via Internet zu ertasten erlaubt: Gegenstände in künstlichen Online-Welten, Waren

in virtuellen Schauräumen und auch begehrenswerte Formen, die sich jeder selbst

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vorstellen mag. Themenparks - und mit ihnen wohl virtuelle Sex- und Sportcenter -

dringen ins Wohnzimmer.

Unterhaltung wird so zu einer Mischung aus globalem Grundnahrungsmittel und

Lingua franca der Geschäftswelt. In den sechziger Jahren ahnte John Lennon, dass er

bekannter als Jesus Christus war. In den Siebzigern schlug Francis Ford Coppola seinem

Freund George Lucas angesichts des gewaltigen Erfolgs der Star-Wars-Saga vor, er

solle eine Kirche aufmachen und zum Religionsführer seiner gläubigen Fans werden.

Im vollständigen Sieg der Unterhaltung über alle anderen Bereiche der Kultur und

nach ihrem Einzug auch in das Wirtschaftsleben etabliert sie sich nun in der Tat als

spirituelle Kraft.

Unterhaltung verbindet die Menschen, schreibt Wolf, „mit tiefgehenden kulturellen

Werte, Bedürfnissen, Sehnsüchten, Nöten“. Die transzendentale Gemeinschaft in der

Starverehrung, Markengläubigkeit, Körperkult und anderen Formen unterhaltenden

Konsums nennt er „Religion lite“, „eine Unterhaltungsverpackung der theatralischen

und kommunitären Aspekte der Religion (ohne dass Himmel und Hölle über der

zahlenden Kundschaft dräuen)“.

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Wo Wolf allerdings nur funktionale Parallelen sieht, da erkennt Neal Gabler deutlicher

einen historischen Prozess. Nicht nur funktioniert Unterhaltung im Alltag zunehmend

wie eine Religion. Sie löst die etablierten Glaubensrichtungen auch ab - in dem Sinne,

wie das Kino einst das Theater ablöste und das Fernsehen das Kino. Die ältere Form

verschwindet dabei nicht, sie verliert nur im selben Maße Bedeutung, wie die neue an

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durch die Ansprüche der Politik, insbesondere der totalitären Ideologien erlebt.

Auch an ihre Stelle tritt nun das wachsende Unterhaltungsangebot. Es offeriert

vielfältigere Rollen und Identitäten, als es jenseitige Religion oder diesseitige Politik je

vermochten oder wagten; nicht einen zwingenden Sinn, sondern einen bunten Strauß

unverbindlicher Sinnstiftungen. Die Zukunft der Unterhaltung scheint so ihr sozialer

Aufstieg zu unpolitischer Politik und säkularer Religion. Zum traumhaften Stoff, aus

dem das Leben auf Erden wird.

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Impressum

Publikationsnotiz

Die Zukunft der Unterhaltung. In:

SPIEGELREPORTER, Januar 2000, S. 90-97.

Digitaler rePrint

Dieses Dokument wurde von George und Gundolf S.

Freyermuth in Adobe InDesign und Adobe Acrobat erstellt und am 2. Dezember 2012 auf

www.freyermuth.com unter der Creative Commons License veröffentlicht (siehe Kasten

links). Version: 1.0.

Über Den autor

Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs

Internationale Filmschule Köln (ZZZ�ÀOPVFKXOH�GH���:HLWHUH�$QJDEHQ�ÀQGHQ�VLFK�DXI�

www.freyermuth.com.

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vol. 2012.12 info 21/21e-books

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