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Zufall und Determination in der westeuropäischen Musik um 1960 Dargestellt an Werken von Iannis Xenakis und Karlheinz Stockhausen vorgelegt von Musikwissenschaftler Alexandros Droseltis aus Berlin von der Fakultät I – Geisteswissenschaften der Technischen Universität Berlin zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philosophie – Dr. phil. – genehmigte Dissertation Promotionsausschuss: Vorsitzende: Prof. Dr. Elena Ungeheuer Berichter: Prof. Dr. Christian Martin Schmidt Berichter: Prof. Dr. Hartmut Fladt (UdK Berlin) Tag der wissenschaftlichen Aussprache: 24. Februar 2010 Berlin 2011 D 83

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  • Zufall und Determination in derwesteuropäischen Musik um 1960

    Dargestellt an Werken vonIannis Xenakis und Karlheinz Stockhausen

    vorgelegt vonMusikwissenschaftlerAlexandros Droseltis

    aus Berlin

    von der Fakultät I – Geisteswissenschaftender Technischen Universität Berlin

    zur Erlangung des akademischen Grades

    Doktor der Philosophie– Dr. phil. –

    genehmigte Dissertation

    Promotionsausschuss:

    Vorsitzende: Prof. Dr. Elena UngeheuerBerichter: Prof. Dr. Christian Martin SchmidtBerichter: Prof. Dr. Hartmut Fladt (UdK Berlin)

    Tag der wissenschaftlichen Aussprache: 24. Februar 2010

    Berlin 2011D 83

  • Danksagung

    Hiermit möchte ich sowohl Herrn Prof. Dr. Christian Martin Schmidt für die Betreuung die-ser Dissertation, als auch Herrn Prof. Dr. Hartmut Fladt für die unoffizielle Betreuung dan-ken, durch die ich sehr viel entdeckt und gelernt habe. Ich danke auch den Doktorandinnenund Doktoranden der Musikwissenschaft der TU und der UdK Berlin für die stimulierendenDiskussionen und die nützlichen Bemerkungen. Besonders danke ich Yvonne Perzel für dasunermüdliche Korrekturlesen!. . .

    i

  • Information

    Diese Dissertation wurde im Fachgebiet Musikwissenschaft des Instituts für Sprache und Kom-munikation der Fakultät I der der Technischen Universität Berlin erarbeitet. Sie wurde vonHerrn Prof. Dr. Christian Martin Schmidt (TU Berlin) und von Herrn Prof. Dr. Hartmut Fladt(Universität der Künste Berlin) betreut.

    Errata dieser Arbeit, eine Feedback-Möglichkeit, Bemerkungen zur Arbeit und Informa-tionen über die Fortsetzung meiner Forschung in diesem Gebiet finden Sie unter dem URL:http://alex-droseltis.net/phd_and_post.

    iii

  • Inhaltsverzeichnis

    1 Einführung 11.1 Zufall und Determination: Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

    1.1.1 Über den Zufall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Über die Determination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.1.3 Koexistenz von Zufall und Determination . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

    1.2 Zufall, Determination in der Musik; Ziel und Mittel der Arbeit . . . . . . . . . . 61.3 Einführung in die statistischen Mittel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . 9

    2 Xenakis: Analysen und Bemerkungen 132.1 Duel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

    2.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132.1.2 Makroform: Ein Entschlüsselungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.1.3 Mikro- und Makroform: Die Puzzle-Strukturierung . . . . . . . . . . . . 262.1.4 Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

    2.2 Herma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412.2.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412.2.2 Die Tonhöhenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

    2.2.2.1 Exkurs 1: Die Verteilung der Intervalle . . . . . . . . . . . . . . 452.2.2.2 Vorhandene Informationen und Untersuchungen . . . . . . . . . 482.2.2.3 Exkurs 2: Der Tonhöhenprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512.2.2.4 Statistische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

    2.2.3 Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622.3 Morsima-Amorsima (ST/4-1,030762) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

    2.3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642.3.2 Zufall und Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652.3.3 Mustererkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692.3.4 Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

    2.4 Syrmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832.4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832.4.2 Kritik der Zuständedefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842.4.3 Untersuchung der Makroform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902.4.4 Deterministische Tendenzen in der Mikroform . . . . . . . . . . . . . . . 99

    v

  • 2.4.5 Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

    3 Stockhausen: Analysen und Bemerkungen 105

    3.1 Klavierstück X . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053.1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053.1.2 Der Prozess der Dichte-Grade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083.1.3 Untersuchung der Tonhöhen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203.1.4 Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

    3.2 Klavierstück XI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323.2.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323.2.2 Wahrer Zufall und die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1333.2.3 Dauer - Tonhöhe Koppelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

    3.2.3.1 Das theoretische Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1363.2.3.2 Die rhythmische Strukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1403.2.3.3 Abweichungen vom Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1413.2.3.4 Die statistischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

    3.2.4 Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463.3 Plus Minus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

    3.3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1523.3.2 Erläuterung der Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1533.3.3 Analyse der Symbolseiten (1. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1553.3.4 Analyse der Symbolseiten (2. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1603.3.5 Analyse der Notenseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1743.3.6 Indeterminismus der Anweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1773.3.7 Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

    4 Allgemeine Bemerkungen 187

    4.1 Zusammenfassung der Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1874.1.1 Zufallsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1874.1.2 Determinationsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1924.1.3 Kombination von Zufalls- und Determinationskonzepten . . . . . . . . . 195

    4.2 Konzepte und Praxis: äußere Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1964.3 Der Weg zum Zufall: innere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

    4.3.1 Aspekte des Materials, des Inhaltes und des Kompositionsprozesses . . . 2044.3.2 Die Rolle der elektronischen Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2084.3.3 Das Auswahlprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2164.3.4 Determination der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

    5 Conclusio 223

    Anhang: Mathematische Beweise 225

  • Literatur 235

  • Kapitel 1

    Einführung

    1.1 Zufall und Determination: Erläuterungen

    1.1.1 Über den Zufall

    Der Begriff des Zufalls ist sowohl in der theoretischen Wissenschaft (Mathematik) als auch inder Praxis (Technologie, angewandte Wirtschaft, Verwaltung) mehrdeutig. Eine häufige Ver-wendung des Begriffs findet im Zusammenhang mit dem Ereignis des Informationsmangels statt.So werden deterministische Prozesse als zufällig bezeichnet, wenn ihre Komplexität zu hoch fürdie zeitgenössischen Instrumente ist, d.h. das vermutete deterministische Modell, das sie exaktmodellieren würde, liegt außerhalb der Grenzen des heutigen Wissens. Beispiele dafür sind Er-eignisse, die von sehr vielen anderen Ereignissen abhängig sind (Wetter, Weltwirtschaft) oderEreignisse, die sehr schnell oder in großen Massen stattfinden (Anzahl aller Telefonverbindun-gen in einer bestimmten Zeit, Wurf eines Würfels, Bewegung mikroskopisch kleiner Teilchenin einer Flüssigkeit). In diesem Fall ist eine genaue Prognose eines Zustandes des Prozessesunmöglich, und der Prozess wird als nicht deterministisch betrachtet. Jede Prognose ist miteiner zu bestimmenden Wahrscheinlichkeit zu treffen. Hier muss bemerkt werden, dass es sichin diesen Fällen um das Nicht-Wissen bzgl. zukünftiger Ereignisse handelt.

    Eine andere Deutung des Begriffs „Zufall“ im Rahmen des Informationsmangels ist dasNicht-Wissen einer schon existierenden Folge von Ereignissen. In diesem Fall besteht ein Nicht-Wissen bzgl. verborgener Ereignisse, die in der Gegenwart oder in der Vergangenheit liegen.Ein einfaches Beispiel dafür ist das Nicht-Wissen der bedeckten Karten bei Kartenspielen.Trotzdem kann man durch die schon gezeigten Karten Schlüsse über die nicht gezeigten mit einerbestimmten Wahrscheinlichkeit ziehen. Ein anderes Beispiel ist die Erwartung der nächstenTonhöhe bei einer Aufführung des Stückes Morsima-Amorsima von Xenakis; ist es möglich,die nächste Note zu bestimmen, unter der Bedingung, dass wir alle vorherigen Noten gehörthaben und das Stück zum ersten Mal hören? Wenn das möglich wäre, dann wäre der Prozessdeterministisch; wenn das nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (die kleiner als 100% ist)möglich wäre, dann wäre der Prozess stochastisch, d.h. ein zufälliger Prozess. Wir werden sehen,dass der Zustand in diesem Fall nicht eindeutig ist.

    1

  • 2 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

    Dieses Nicht-Wissen der Trajektorie ist die Basis des mathematischen Begriffs des Zufalls. Inder mathematischen Disziplin, die den Zufall erforscht – der Stochastik – wird die fehlende Infor-mation als eine Menge von möglichen Ereignissen betrachtet; die deterministischen Funktionender Stochastik messen dann die Masse (d.h. die Wahrscheinlichkeit) dieser Ereignismengen.

    Die Prozesse, die oben beschrieben sind, sind probabilistisch modelliert, obwohl sie in derTat deterministisch ablaufen.1 Es gibt aber auch Modelle von echten nicht deterministischenProzessen. Diese sind erst in der Theorie erdacht, bevor sie in der Praxis angewendet wordensind. Epikur schreibt:2

    Es bewegen sich die Atome stetig die Ewigkeit hindurch, und zwar die einen [insenkrechter Bahn, andere in seitlichem Wegdriften, andere in Vibration;]3 [...] Dieden Atomen eigene Härte bewirkt beim Zusammenstoß den Rückprall, soweit dieVerflechtung jeweils die Rückkehr aus dem Zusammenstoß in die frühere Positionerlaubt. Einen Ursprung dieser Vorgänge gibt es nicht: Ursachen sind die Atomeund das Leere.

    Das berühmteste Beispiel eines wahren nicht deterministischen Modells aus der Naturwissen-schaft ist die Unschärferelation von Heisenberg:4

    Er kam zu dem überraschenden Ergebnis, dass es im Falle eines kleinen Teilchens,wie z.B. eines Elektrons, nicht möglich ist, sowohl seine Position im Raum als auchseine Geschwindigkeit genau zu messen. Bei jedem denkbaren Experiment gibt esimmer eine Unschärfe bei den Meßwerten für die Position oder für die Geschwindig-keit oder für beide. Darüber hinaus ist dies nicht eine Folge von Unvollkommenhei-ten beim Entwurf oder der Herstellung der beim Experiment benutzten Apparatur.Selbst bei Verwendung der bestmöglichen Apparatur, die jemals gebaut werdenkönnte, würde diese Unschärfe noch vorhanden sein. Sie ist eine unausweichlicheFolge der Art, in der sich die Natur benimmt.

    Dieses Beispiel ist deshalb wichtig, denn es beschreibt die Art, in der die Natur funktionierensoll. Folglich hatte dieses Prinzip auch künstlerische Tätigkeiten des Menschen beeinflusst, beidenen die Natur als Modell wirkte.

    Ein sehr verbreiteter Begriff des Zufalls über eine bestimmte Menge von Ereignissen ist diegleichmäßige Verteilung über diese Menge. Das bedeutet, dass sehr häufig ein Ereignis als zufäl-lig bezeichnet wird, wenn das Ereignis irgendein mögliches Ereignis sein könnte (jedes Ereigniskann mit derselben Wahrscheinlichkeit bei jeder Wiederholung des Experiments auftreten).Dieser Begriff ist sehr eng, denn es gibt praktisch eine sehr große Anzahl von unterschiedlichenVerteilungen. In der Abbildung 1.1 sind zwei Simulationen dargestellt: links ist die Simulationeines Prozesses, der in jedem Schritt über die Menge der Zahlen 0 bis 9 gleichmäßig verteilt

    1Hier handelt es sich eigentlich um Modellierungen; gemeint ist: wir vermuten, dass ein deterministischesModell existiert, das diese Prozesse exakt beschreiben könnte.

    2[74, 11]3Hinzufügung des Herausgebers.4[69, 618-619]

  • 1.1. ZUFALL UND DETERMINATION: ERLÄUTERUNGEN 3

    Abbildung 1.1: Vergleich zweier Realisierungen von unterschiedlich verteilten Prozessen

    ist, dargestellt; rechts ist die Simulation eines Prozesses, der in jedem Schritt binomialverteiltist, dargestellt. Der qualitative Unterschied ist erkennbar: im ersten Prozess sind die Ereignissegleichmäßig über den ganzen Umfang des Zustandsraumes verteilt, während im zweiten dieEreignisse sich in der Mitte häufen.

    1.1.2 Über die Determination

    Ein Prozess oder ein statischer Zustand wird als deterministisch bezeichnet, wenn es möglichist, den Ablauf des Prozesses bzw. die Merkmale des Zustands von der Lage eines Betrachtersoder auch eines Initiators exakt zu bestimmen (zu determinieren).

    Unter der Bedingung, dass bei einem Prozess das Kausalitätsprinzip gilt (d.h. dass eine Ur-sache eine und nur eine Wirkung hat – im Falle von mehr als einer möglichen Wirkung wäre derProzess stochastisch, also zufällig – und dass die Struktur des Ursache-Wirkung-Mechanismusbekannt ist, ist es möglich, genaue Prognosen von Ereignissen zu treffen, unabhängig von demzeitlichen Abstand dieser Ereignisse. Gilt dazu, dass jede Wirkung eine und nur eine Ursachehat, dann ist es auch möglich, genaue Aussagen über die Vergangenheit des Prozesses zu treffen.

    Die bekanntesten Beispiele menschlicher Konstruktionen, die nach diesem Prinzip gebautsind, sind Maschinen im materiellen Bereich und (deterministische) Algorithmen im theoreti-schen Bereich. Ein Algorithmus ist eine endliche Folge von Schritten, bei denen Informationenverarbeitet und Aktionen ausgeführt werden. So ist ein Kochrezept oder eine Methode für dieLösung eines mathematischen Problems ein Algorithmus.

    Von einem zuverlässigen Algorithmus5 wird verlangt, dass er bei der gleichen Eingabe auch5Hier wird sowohl das System, auf dem der Algorithmus ausgeführt wird, als auch der Nutzer als Teil des

  • 4 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

    die gleiche Ausgabe gibt, d.h. dieselbe Ursache verursacht dieselbe Wirkung. Eine weitere For-derung ist, dass er genau das macht, wofür er konstruiert worden ist. Diese Forderung ist oft sehrschwierig nachzuweisen; denn ist der Bereich der Maschinenkonstruktion von den materiellenGrenzen beschränkt, hat der immaterielle Bereich der theoretischen Algorithmen sehr wenigeGrenzen. Ein Algorithmus kann unübersichtliche Komplexität erreichen, so dass es praktischunmöglich ist, die Zuverlässigkeit nur durch Untersuchungen des Quelltextes zu überprüfen.Der Ablauf des Algorithmus nähert sich dann an Systeme an, die trotz ihres deterministischenAblaufes nicht als solche untersucht werden können (s. oben). Dann ist es sinnvoll, den entspre-chenden Prozess auch mit Werkzeugen der Stochastik zu erforschen.

    1.1.3 Koexistenz von Zufall und Determination

    Eine sehr große Anzahl von Ereignissen enthält gleichzeitig Zufalls- und Determinationsmerk-male. Zum Beispiel: die Tendenz der Bewegungsrichtung eines kleinen Blattes, das auf derOberfläche eines Flusses schwimmt, hat einen deterministischen Teil – die Richtung des Flusses– und einen zufälligen Teil (Störungen durch zahlreiche kleine Nebenfaktoren: Steine, Wind,Strömungen). Ein anderes Beispiel ist die musikalische Aufführung eines Notentextes, wobeikleine Abweichungen vom Interpreten unternommen werden; sie hat einen deterministischenTeil (die vom Komponsiten gegebenen Noten) und einen – aus der Sicht des Betrachters –zufälligen Teil, nämlich die Abweichungen – die, aus der Sicht des Interpreten völlig determi-nistisch sind, wenn sie geplant wurden. Diese Abweichungen sind nicht zufällig im Sinne desengen Begriffs des Zufalls der gleichmäßigen Verteilung, sondern können in einem bestimmtenRahmen stattfinden (d.h. es besteht ein nicht gleichmäßig verteilter Ereignisraum).

    Es ist möglich, dass ein zufälliger Prozess determinierte Ergebnisse liefert und umgekehrt.Dafür werden hier zwei sehr wichtige Fälle erwähnt.

    Die zwei bekanntesten theoretischen Beispiele des Übergangs vom Zufall zur Determinationsind das Gesetz der großen Zahlen und das Null-Eins-Gesetz von Kolmogorov.

    Das Gesetz der großen Zahlen sagt, dass bei unabhängigen Wiederholungen eines Experi-ments, dessen mögliche Ausgänge Erfolg oder Nicht-Erfolg sind, das Verhältnis der Erfolge zuder Anzahl der Wiederholungen (die relative Häufigkeit) gegen die wahre Wahrscheinlichkeiteines Erfolges strebt. Diese Aussage wird hier anhand eines Beispiels demonstriert. Betrachtenwir zunächst das Auftreten der Zahl 1 als Erfolg und das Auftreten von 0 als Nicht-Erfolg. An-schließend realisieren wir ein Experiment, wobei dem Auftreten von 1 die Wahrscheinlichkeit70% zugewiesen ist, und wir wiederholen das Experiment zehnmal. In der Tabelle 1.1 könnenwir sehen, dass die relative Häufigkeit gegen 70% strebt.

    Das 0-1-Gesetz von Kolmogorov zeigt, wie bestimmte Systeme von zufälligen Ereignissensich deterministisch verhalten, wenn die Ereignissysteme, aus denen sie erzeugt worden sind,unabhängig sind. Ein physikalisches Analogon zu diesem Gesetz sind die mikroskopischen undmakroskopischen Eigenschaften der idealen einatomigen Gase: obwohl in der mikroskopischenEbene sich die Atome gleichmäßig nach allen möglichen Richtungen und Geschwindigkeiten

    Algorithmus betrachtet.

  • 1.1. ZUFALL UND DETERMINATION: ERLÄUTERUNGEN 5

    Tabelle 1.1: Eine kleine Demonstration des Gesetzes der großen Zahlen

    Zeitpunkt Ausgang des Experiments rel. Häufigkeit bis zum Zeitpunkt n

    1 1 11

    = 100%2 0 1�0

    2= 50%

    3 0 1�0�03

    = 33,33%4 1 1�0�0�1

    4= 50%

    5 1 1�0�0�1�15

    = 60%6 1 1�0�0�1�1�1

    6= 66,67%

    7 0 1�0�0�1�1�1�07

    = 57,14%8 1 1�0�0�1�1�1�0�1

    8= 62,5%

    9 1 1�0�0�1�1�1�0�1�19

    = 66,67%10 1 1�0�0�1�1�1�0�1�1�1

    10= 70%

    Tabelle 1.2: Erzeugung von Pseudozufallszahlen

    xn x2n

    1325 17556257556 570931360931 8667618667 751168891168 13642243642 . . .

    bewegen, verhält sich das Gas makroskopisch deterministisch, so dass sein Verhalten durch die(deterministische) ideale Gasgleichung beschrieben werden kann.

    Ein Beispiel für die andere Richtung (von der Determination zum Zufall) ist die Generierungvon Pseudozufallszahlen. Diese sind Zahlen, die nach einem deterministischen Algorithmus er-zeugt werden, der sie so konstruiert, dass sie bestimmte Tests über ihre Zufälligkeit bestehen.Das bedeutet, dass der Betrachter eine erfolgreich generierte Folge von Pseudozufallszahlenvon einer wahren zufälligen Folge nicht unterscheiden kann. Die Pseudozufallszahlen habensehr viele Anwendungen in der Praxis (Randomisierte Tests, Simulation von Fehlern), und esgibt verschiedene Verfahren für ihre Erzeugung. Eines der frühesten Verfahren ist das „midd-le square“-Verfahren von John von Neumann (1946):6 eine Ausgangszahl von 4 Ziffern wirdquadriert, die 2 letzten Ziffern werden vernachlässigt, und die letzten 4 Ziffern der neuen Zahlwerden als die nächste Zufallszahl erhalten. Eine Realisierung des Verfahrens ist in der Tabelle1.2 dargestellt. Es ist offensichtlich, dass bei der gleichen Ausgangszahl der identische Pro-zess entsteht; daher ist bei jeder Realisierung des Prozesses eine unterschiedliche Ausgangszahlerforderlich, wenn ein unterschiedlicher Prozess erwünscht ist.

    6[72, 59]

  • 6 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

    1.2 Zufall, Determination in der Musik; Ziel und Mittel

    der Arbeit

    Nach den obigen Erläuterungen folgt, dass Aspekte aller menschlichen Aktivitäten über dasPrisma der zufälligen und deterministischen Prozesse betrachtet werden können. Das gilt dannauch für die Musikkomposition und Aufführung. Jedoch ist eine aktive Auseinandersetzung derKomponisten mit diesen Begriffen ein Ereignis, das systematisch und in großem Umfang umdie Mitte des 20. Jahrhunderts begann.

    Die politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Umgebung, die mit dieser Entwick-lung zusammenhängt, wird im Abschnitt 4.2 präsentiert. Diese Umgebung war sehr reich anAnlässen für die Entwicklung von Zufalls- und Determinationskonzepten: die Entwicklung derWahrscheinlichkeitstheorie, die 1933 von Kolmogorov axiomatisiert wurde, die Unschärferela-tion von Heisenberg (1927), die Entstehung der Spieltheorie (1944) und der probabilistischenKombinatorik in Ungarn der fünfziger Jahre, die Entwicklung der Computertechnologie durchdie Arbeit von John von Neumann, sowie der Formalismus der Mathematik, der Informatikund der Naturwissenschaften boten sowohl einen theoretischen Hintegrund, als auch verschie-dene Mittel dafür. Im Bereich der Musik traten neue Technologien auf, die zum irreversiblenEinsatz der Maschine in die Musik führten: die elektronische Musik und die Verbreitung derSchallplatte sind zwei charakteristische Fälle.

    Parallel zu diesem reichen Nährboden zeigt die Musikentwicklung auch Tendenzen, dieZufalls- und Determinationsprinzipien zuspitzen. Durch eine grobe Perspektive sind zwei großeTendenzen erkennbar: im europäischen Raum bereiten die formalistischen Tendenzen im Opusvon Webern und Messiaen die Entstehung von Systemen vor, in denen alle Tonparameter kon-trolliert werden; zwei bekannte Beispiele sind der Serialismus von Stockhausen oder Boulezund die mathematische Musiktheorie von Xenakis. Im nordamerikanischen Raum entwickeltensich Zufallskonzepte bei der Aufführung (Cowell: Mosaic Quartet , 1935) zur Anwendung vonzufälligen Prozessen im Kompositionsprozess (Cage: Music of Changes , 1951) oder auch beiden graphischen Partituren von Feldman (Intersection I und II, 1951 bzw. 1953) und Brown(December 1952 ). Zufallskonzepte und Praktiken sind mit Determinationskonzepten in denfünfziger Jahren kombiniert worden (Cage: Music of Changes, 1951, Stockhausen: KlavierstückXI, 1956, Xenakis: Duel, 1959 Boulez: 3. Klaviersonate, 1955–57), während später noch weitereArten von Zufallskonzepten auftraten (polnische Aleatorik), und die graphische Notation einesystematische Richtung annahm (Logothetis, Haubenstock-Ramati).

    Eine feinere Perspektive zeigt qualitative Unterschiede in den Zufallskonzepten der verschie-denen Komponisten. Der westeuropäische Zufall zeigte eine starke Tendenz zur Kohärenz derForm und zur Kontrolle des Interpreten im Gegensatz zum amerikanischen. Der mathematischorganisierte Zufall von Xenakis ist wenig verwandt mit der Aleatorik des Interpreten bei Wer-ken wie das Klavierstück XI Stockhausens oder Intermission 6 Feldmans. Die algorithmischencomputergenerierten Kompositionen der ST -Reihe von Xenakis scheinen im Gegenpol zu den14 Seiten für Ausarbeitungen von Stockhausens Plus Minus zu stehen.

  • 1.2. ZUFALL, DETERMINATION IN DER MUSIK; ZIEL UND MITTEL DER ARBEIT 7

    Doch eine noch feinere Perspektive enthüllt erstaunliche Ähnlichkeiten zumindest zwischenden Werken von Stockhausen und Xenakis, sowie weitere Aspekte des Zufalls und der Deter-mination, die entweder als Konzepte, oder als Erzeugnisse der kompositorischen Arbeit amKonzept und Werk auftreten. In diesem Rahmen sind die Ziele dieser Arbeit definiert:

    • Die ausführliche Untersuchung der Struktur bestimmter Aspekte der Werke durch dieLinse der Zufalls- und Determinationsstrukturen.

    • Die Bestätigung oder Widerlegung der von den Komponisten oder Analytikern behaup-teten deterministischen oder stochastischen Eigenschaften dieser Werke.

    • Die Entdeckung weiterer deterministischer oder stochastischer Eigenschaften.

    • Der Nachweis der Parallelitäten in den Werken Xenakis’ und Stockhausens bzgl. determi-nistischer oder stochastischer Eigenschaften.

    Das Hauptwerkzeug dieser Untersuchung sind partielle Analysen von 4 Werken von Xenakis(Duel, Herma, Morsima-Amorsima und Syrmos) und 3 Werken von Stockhausen (Klavier-stück X, Klavierstück XI und Plus Minus). Der Begriff „partiell“ soll erläutern, dass diejenigeTeilmenge von Aspekten der entsprechenden Werke analysiert wird (wie z.B. die rhythmischeEntwicklung, das Tonhöhe / Dauer Verhältnis, oder der Dichteprozess), die für diese Arbeit vonBedeutung ist. Ein direkter Gewinn aus der Reduktion der Anzahl der analysierten Ebenen istauch die Erweiterung des Spektrums der untersuchten Werke.

    Die Art der Analyse ist von drei wichtigen Merkmalen der untersuchten Musik determiniert:

    1. Die entstandene Musik ist von hoher Entropie charakterisiert.7 Wird diese Entropie alsMangel an Information betrachtet, dann folgt daraus ein Problem für den Analytiker:einen Ausgangspunkt bei der Arbeit zu setzen und eine Methode zu erfinden, ohne dassdabei die Analyse künstlich und willkürlich wird.

    2. Die angewendeten Kompositionsprozesse waren von hoher Komplexität. Diese Tatsachehat zwei Folgen. Erstens wird diese Komplexität, wenn ihre Struktur durch die Skizzen,Schriften und sonstige Informationen bekannt ist, auf die Analyse übertragen, die nichtnur das Ergebnis, sondern auch den Prozess und zuletzt die Beziehung zwischen dem Pro-zess und dem Ergebnis untersuchen will. Zweitens, wenn nicht ausreichende Informationüber die Kompositionsmethode existiert, ist es sehr schwierig – jedoch nicht unmöglich –den Kompositionsprozess zu rekonstruieren. Diese Schwierigkeit erhöht wieder die Kom-plexität der Analyse, die den Kompositionsprozess berücksichtigen will.

    3. Die Kompositionsmethoden waren neu und fast nie bei unterschiedlichen Werken die glei-chen. Dabei enstehen die folgenden Probleme für den Analytiker: eine Analyse eines Wer-kes durchzuführen, deren Mittel und Ergebnisse auch für die anderen Werke anwendbar

    7Der Term „Entropie“ wird im zweiten Teil der Arbeit rigoros definiert werden. Für die Zwecke der Einführungsoll der Begriff „Zustand von hoher Entropie“ als Synonym zum folgenden verstanden werden: „Verteilung allerParameter auf ein breites Spektrum ohne erkennbare Wiederholungen von Kleinstrukturen“.

  • 8 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

    sind, ohne dabei triviale Aussagen zu treffen. D.h. die Analyse soll gleichzeitig scharf undkein Mittel von einmaligem Gebrauch sein. Das gilt zwar für jede Analyse, aber in die-sem Fall ist das Problem beim Gegenstand der Untersuchung stärker ausgeprägt, denndie unterschiedlichen Kompositionsmethoden haben auch die Struktur der Werke direktbeeinflusst.

    Dafür werden neben der Analyse mithilfe von Skizzen und vorhandenen Analysen drei weitereArten von Analysen eingesetzt, die einander nicht ausschließen:

    1. Statistische Analyse Die Untersuchung einer großen Menge von Daten anhand statisti-scher Werkzeuge ist sinnvoll, wenn die Entstehung der Daten von stochastischen Faktorenbestimmt wurde oder wenn bei der Perzeption nicht die einzelnen Elemente, sondern ihreGesamtheit entscheidend ist. Die Vorteile der statistischen Analyse sind, dass sie auf je-der Form eingesetzt werden kann, und dass sie Strukturen, die für eine Untersuchung mit„bloßem Auge“ – oder Ohr – nicht erkennbar sind, enthüllt. Der wichtigste Nachteil ist,dass die Sammlung und Darstellung der Daten in einer verwendbaren Form äußerst auf-wendig ist. Weiter kann die Interpretation der Ergebnisse, wenn weitere Abhängigkeitennicht berücksichtigt werden, zu falschen Aussagen führen.

    2. Zero-Knowledge-Analyse8 Dabei wird ein Werk ohne die Kenntnis von vorhandenenAnalysen oder Skizzen einer Komposition analysiert. Die einzige verwendbare Informationwird die Struktur von älteren Werken des Komponisten oder auch intertextuelle Bezügezu Werken anderer Komponisten sein. Diese Art von Analyse bietet Information überdie Transparenz der Strukturierung des Werkes: je größer ihre Effizienz, desto höher dieTransparenz. Der wichtigste Nachteil dieser Analyse ist die Definition eines Ausgangs-punktes, der ihre Effizienz maximiert; diese Definitionen sind in der Arbeit durch dieanalytischen Vorarbeiten und die kompositorische Tätigkeit des Autors bestimmt.

    3. Musteranalyse Äußerst komplizierte Kompositionsprozesse führen in vielen Fällen zuunerwarteten Ergebnissen bzgl. der Details und Zusammenhänge. Dabei bilden sich Mus-ter, die in der kompositorischen Plannung nicht vorgesehen waren. Die Erkennung undder Vergleich dieser Muster, unabhängig vom Kompositionsprozess, ist das Ziel der Mus-teranalyse.9 Das größte Problem bei einer solchen Analyse ist die Erkennung von Musternin einem Kontext von hoher Entropie, denn das kann, wenn mechanistisch angewendet, zuallen möglichen Aussagen führen. Dabei muss immer der musikalische Satz, d.h. die Über-ordnung aller musikalischen Parameter berücksichtigt werden. Der Vorteil dieser Analyseist, dass sie unabhängig vom Kompositionsprozess ist und Ergebnisse über die Rezeptiondes Werkes liefert. Der Nachteil ist, dass die Resultate nur für eine Menge von Menschengelten, die einen ähnlichen musikalischen Hintergrund besitzen.

    8Der Term ist von der Wissenschaft der Informatik geborgt: Zero-Knowledge-Proofs sind Protokolle, durchdie der Besitzer einer Information einen anderen, der diese Information nicht besitzt, überzeugen kann, dass ersie besitzt. In dieser Arbeit ist jedoch die Verwendung des Terms „Zero-Knowledge“ modifiziert worden.

    9Für weitere Einzelheiten s. Unterabschnitt 2.3.2.

  • 1.3. EINFÜHRUNG IN DIE STATISTISCHEN MITTEL DER UNTERSUCHUNG 9

    In jedem Abschnitt der folgenden zwei Kapitel werden verschiedene Aspekte je eines Werkesvon Xenakis und Stockhausen analysiert. Im letzten Unterabschnitt jedes Abschnittes werdenBemerkungen über die Ergebnisse der Analysen gemacht und ggf. weitere Aspekte des Zufallsund der Determination der entsprechenden Werke präsentiert, die durch die Analysen nichtersichtlich sind. Im letzten Kapitel werden alle Zufalls- und Determinationsmerkmale kommen-tiert zusammengefasst und verschiedene Faktoren, die mit der Entwicklung der Zufalls- undDeterminationskonzepte relevant waren (als Ursachen, Wirkungen oder verwandte Phänome-ne), präsentiert und analysiert.

    1.3 Einführung in die statistischen Mittel der Untersuchung

    In dieser Arbeit werden Aussagen über große Datenmengen nicht intuitiv oder durch Diagramm-darstellung der Daten getroffen, sondern über statistische Prüfung von Hypothesen (Tests).Deshalb ist es zweckmäßig zu erläutern, wie ein statistischer Test angewendet wird.

    Für die statistische Prüfung werden zunächst zwei Hypothesen aufgestellt: die Nullhypothese(H0) und die – abweichende – Alternativhypothese (H1). Beispiele dafür sind die folgendenPaare:

    • Prüfung auf proportionale Abhängigkeit:

    – H0 Die Tonhöhen und die Dauern im Stück X sind proportional unabhängig;

    – H1: Die Tonhöhen und die Dauern im Stück X sind proportional gekoppelt;

    • Prüfung auf eine Verteilung:

    – H0: die Tonhöhen im Stück X sind gleichmäßig über den ganzen Umfang verteilt;

    – H1: die Tonhöhen im Stück X sind nicht gleichmäßig über den ganzen Umfangverteilt;

    Um die Nullhypothese anzunehmen oder abzulehnen, wird eine Größe T benutzt, die von denDaten und von der Hypothese abhängig ist und Teststatistik heißt. Die mathematische Kon-struktion der Teststatistik ist von der jeweiligen Hypothese abhängig. Wenn die Nullhypothesestimmt, dann ist die Verteilung der Teststatistik bekannt, und wird in einem Sicherheitsbereicherwartet, z.B. in einem Bereich, wo 95% der ganzen Wahrscheinlichkeit gesammelt ist10. Wenndas der Fall ist, dann wird die Nullhypothese angenommen. Tritt aber die Teststatistik imkritischen Bereich, wo z.B. nur 5% Wahrscheinlichkeit gesammelt ist (d.h. dort, wo die Teststa-tistik bei 5% der Experimente auftreten sollte), auf, dann wird die Abweichung als signifikantbetrachtet, und die Nullhypothese wird abgelehnt.

    Wir demonstrieren dies an einem elementaren Beispiel. Betrachten wir den Tonhöhenum-fang des Klaviers als Zahlen: t0, . . . , 87u und die Klassen der Tonhöhen, die in der Tabelle 1.3

    10Dieser Sicherheitsbereich kann ggf. vergrößert oder verkleinert werden. In dieser Arbeit ist immer auf 95%gesetzt.

  • 10 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

    Tabelle 1.3: 4 Klassen, die 88 beobachteten Tonhöhen umfassen, die Anzahl der beobachtetenTonhöhen (O, aus observed) und die erwartete Verteilung (E, aus „expected“).

    Klasse O Et0, . . . , 21u 24 88

    4� 22

    t22, . . . , 43u 19 22t44, . . . , 65u 18 22t66, . . . , 87u 28 22

    präsentiert sind. Die beobachteten Tonhöhen in der 1. Klasse (von 0 bis 21) sind 24, in der2. Klasse 19, usw. Wir erwarten, dass die Tonhöhen gleichmäßig verteilt sind; trotzdem bemer-ken wir eine Häufung am Rand und eine Verminderung im Zentrum der Verteilung. Ist aberdiese Abweichung signifikant, sodass wir die Hypothese der gleichmäßigen Verteilung ablehnensollen?

    Wäre die wahre Verteilung gleichmäßig, dann würden wir 22,25 Tonhöhen pro Klasse er-warten. Die Chi-Quadrat-Statistik χ20 nimmt im diesem Fall den foglenden Wert an:

    χ20 �p24� 22q2

    22�p19� 22q2

    22�p18� 22q2

    22�p28� 22q2

    22� 0, 182� 0, 409� 0, 727� 1, 636

    � 2, 954

    Für große Stichproben strebt die Verteilung von χ20 gegen eine χ2-Verteilten Zufallsvariable mit3 Freiheitsgraden, daher wird χ20 mithilfe einer solchen Verteilung approximiert (s. Abbildung1.2). In diesem Fall ist χ20 � 2, 954. Zur Sicherheitswahrscheinlichkeit 0,95 sollte χ20 größer als7,815 sein, sodass die Abweichung als signifikant betrachtet werden kann. Dies ist hier nichtder Fall, folglich ist die Hypothese, dass die Tonhöhen gleichverteilt sind mit der Stichprobeverträglich.

  • 1.3. EINFÜHRUNG IN DIE STATISTISCHEN MITTEL DER UNTERSUCHUNG 11

    Abbildung 1.2: Die χ2-Verteilung mit 3 Freiheitsgraden von 0 bis 10. Der markierte Bereich(bis 8) trägt die Wahrscheinlichkeit 5%. Der senkrechte Strich in 2,954 zeigt die Stelle derχ20-Statistik des obigen Experiments.

  • 12 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG

  • Kapitel 2

    Xenakis: Analysen und Bemerkungen

    2.1 Duel

    2.1.1 Einführung

    Das Werk Duel ist 1959 für zwei Orchester im Auftrag der französischen Rundfunk- und Fern-sehanstalten O.R.T.F., Paris geschrieben.1 Die Besetzung für jedes der zwei Orchester ist diefolgende:

    • Piccolo

    • Oboe

    • Klarinette in B

    • Klarinette in Es

    • Baß-Klarinette

    • Fagott

    • Kontra-Fagott

    • 2 Trompeten

    • Posaune

    • kleine und große Trommel

    • 2 Bongos

    • 3 Congas

    • Streicher (2/2/0/8/4)

    1[32, 35]

    13

  • 14 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.1: Die Spielmatrix von Duel``````````````̀Dirigent X

    Dirigent Y A B C IV V VI

    A -1 +1 +3 -1 +1 -1B +1 -1 -1 -1 +1 -1C +3 -1 -3 +5 +1 -3IV -1 +3 +3 -1 -1 -1V +1 -1 +1 +1 -1 -1VI -1 -1 -3 -1 -1 +3

    Jedes Orchester wird von einem anderen Dirigenten geleitet.Duel ist eines der wenigen Werke von Xenakis, die eine offene Form besitzen. Jedem Diri-

    genten stehen 6 Taktiken2 zur Verfügung. Die Auswahl einer Taktik von einem Dirigenten inKombination mit der Taktik, die schon vom Orchester des anderen gespielt wird, schreibt denDirigenten positive oder negative Punkte zu. Die Punkte werden von einer numerischen Matrixbestimmt, die von Xenakis selbst konstruiert worden ist. Diese Spielmatrix ist in der Tabelle2.1 dargestellt.

    Um die Punktezuweisung zu schildern, geben wir ein Beispiel: wähle der Dirigent Y dieTaktik IV; wählt X die Taktik C gewinnt er 5 Punkte und verliert Y 5 Punkte. Wählt Y weiterdie Taktik VI, gewinnt er 3 Punkte, die von X abgezogen werden.

    Das Spiel kann nach einer von vornherein abgesprochenen Anzahl von Auswahlschritten,nach dem Erreichen eines Maximums an Punkten oder nach einer von vornherein abgesproche-nen Dauer enden.

    Das Ziel des Spieles ist möglichst viele Punkte zu gewinnen. Die Beziehung dieses Zielsmit dem ästhetischen Ergebnis der Aufführung wird im letzten Teil des Unterabschnitts 2.1.4diskutiert.

    Strukturierung der Makroform

    Die Makroform des Stückes wird aus 6 auskomponierten Stücken (den Taktiken) und der Spiel-matrix gebildet. Die Taktiken entsprechen den möglichen Zügen des Spiels und die Matrixentspricht den Regeln.

    Um die sechs Taktiken zu bestimmen, definiert Xenakis zunächst sechs Instrumentations-und Merkmalstrukturen:

    I Pointillisme des cordes

    II Tenues des cordes

    III Glissandi croisés des cordes

    IV Percussion normale2Die genaue Definition wird unten gegeben. Im Rahmen der Einführung soll „Taktik“ das Dirigieren eines

    aus einer vorgegebenen Menge bestimmten musikalischen Stückes bedeuten.

  • 2.1. DUEL 15

    V Vents

    VI Silence

    Jeder der obigen Taktiken ist in der Partitur durch ein Musikstück repräsentiert. Im weiterenwerden diese Stücke mit den Namen Duel-I bis Duel-VI oder, wenn es nicht zu Doppeldeutig-keiten kommt, als 1. Stück, 2. Stück (oder Stück 1, Stück 2) usw. bezeichnet. Wir bemerkenhier, dass die von Xenakis gegebenen Bezeichnungen für die Stücke 1–3 nicht nur instrumenta-torische, sondern auch Inhaltsangaben miteinbeziehen. Das 4. Stück heißt „percussion normale“,damit vielleicht seine Instrumentation sich von anderen Schlagzeugtechiken unterscheidet, wiez.B. „klopfen mit der Hand auf den Geigekasten“ (was im späteren Werk Stratégie vorkommt).

    Weiter definiert Xenakis die kombinierten Taktiken A, B und C:

    A I oder II oder III, d.h. irgend eins der Streicherstücke.

    B (A und IV) oder (A und V) oder (IV und V), d.h. alle möglichen 2-tupel.

    C IV und V und A, d.h. alle 3-tupel.

    So sind alle (kombinierten) Taktiken A, B, C, III, IV und VI definiert, und stehen jedemDirigenten zur Verfügung. Hier muss bemerkt werden, dass die Taktiken A, B und C nichtdeterministisch sind. Für diesen Zufall setzt Xenakis im Gegensatz zum Zufall der offenenForm des Stückes keine direkten Vorschriften.

    Jede Taktik kann bei irgendeinem Taktstrich beendet werden. Eventuelle Wiederaufnahmederselben Taktik kann sich vom Taktstrich, wo sie abgebrochen wurde, oder von einem miteinem Buchstaben versehenen Taktstrich abspielen.

    Der Kern der Makroformkonstruktion des Stückes ist die Spielmatrix. Sie repräsentiert dieRegeln des Spieles. Ihre Konstruktion ist ausführlich von Xenakis erklärt3 und besteht aus 9Schritten:

    1. Erstellung einer Matrix mit ästhetisch qualitativen Einträgen über die Kombinationender Taktiken I, II, III, IV, V. Ergebnis: Matrix M1.

    2. Erweiterung der Matrix aufgrund von spieltheoretischen Überlegungen durch die Hin-zufügung einer neuen Taktik: Silence (Taktik VI). Neue (wenig von M1 abweichende)ästhetische Evaluation der Kombinationen. Ergebnis: Matrix M2 (s. Tabelle 2.2a).

    3. Übersetzung der qualitativen Einträge auf Einträge von natürlichen Zahlen (1–5). Ergeb-nis: Matrix M3.

    4. Veränderung von M3 mithilfe von einer Approximationsmethode unter der Forderung ei-ner gemischten Strategie, d.h. Wahrscheinlichkeiten für jede Taktik und jeden Dirigenten,die nicht 0 oder 1 sind. Ergebnis: Matrix M4.

    3[23, 113-122]

  • 16 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.2: Die Matrizen M2 und M8

    (a) Die Matrix M2``````````````̀Dirigent X

    Dirigent Y I II III IV V VI

    I p g g�� g� g� pII g p p g p� pIII g�� p p g� g pIV g� g g� p g pV g� p� g g p pVI p p p p p p�

    (b) Die Matrix M8``````````````̀Dirigent X

    Dirigent Y I II III IV V VI

    I p p� g�� p g pII p� p p p p� pIII g�� p p g�� p� pIV p g�� g�� p p pV p� p p� p� p pVI p p p p p g��

    5. Anwendung einer numerischen Methode (Simplex Verfahren) auf M4, um die optimaleStrategie für die zwei Dirigenten zu erhalten, und Veränderung vonM4, um eine gemischteStrategie zu erhalten. Ergebnis: Matrix M5.4

    6. Veränderung vonM5 mit elementaren Matrixoperationen, so dass das Spiel ein faires Spielist (d.h. es begünstigt keinen bestimmten Dirigenten). Ergebnis: Matrix M6.

    7. Vereinfachung von M6 (Division durch 13). Ergebnis: Matrix M7 (die Spielmatrix).

    8. Übersetzung der numerischen Einträge in ästhetisch qualitative Einträge. Ergebnis: M8(s. Tabelle 2.2b). Die Matrix M8 unterscheidet sich von M2 an 16 Stellen (2 � 4 gleichund in symmetrischen Stellen, 7 ungleich und in nicht symmetrischen Stellen und 1 aufder Hauptdiagonale), d.h. 44% der Anzahl aller ursprünglichen Werte.

    9. Ersetzen der Taktiken I, II, III durch die kombinierten Taktiken A, B und C. Dieseendgültige Spielmatrix sei mit M9 bezeichnet.

    Dazu muss bemerkt werden, dass der Dirigent X konstruktiv, während der Dirigent Y de-struktiv spielt. D.h. dass Dirigent X dort gewinnt, wo die Kombination als „very good“, währendDirigent Y die meisten Punkte dort gewinnt, wo die Kombination als „passable“ empfundenwird. Diese Tatsache, wie auch die Beziehung zwischen der Form und den ästhetischem An-sprüchen des Komponisten, wird im Unterabschnitt 2.1.4 diskutiert werden.

    4M5 unterscheidet sich von M4 nur in 2 Einträgen.

  • 2.1. DUEL 17

    Mikroform

    Die einzige Information, die Xenakis über die Mikroform des Werkes gibt, liegt in den Spielan-weisungen der Partitur:5

    . . . deux chefs [. . .] peuvent choisir et jouer une des six constructions sonores [...]que nous nommerons tactiques, qui sont de structure stochastique (=probabiliste).

    Christoph Schmidt, der Duel und Stratégie analysierte, gibt auch keine weiteren Bemerkungenzu der Mikroform von Duel:6

    Die einzelnen Klanggebilde (Strategien), welche dem Orchester zur möglichen An-wendung im Spiel als Text in herkömmlicher Notation vorliegen, sind vollständigim Notentext festgehalten und besitzen teilweise stochastische Strukturen.

    Im Rahmen dieser Arbeit wird zunächst eine Analyse des 5. Stückes ohne vorherige Information(z.B. Zugriff auf die Skizzen, vorherige Analysen) und anschließend eine mit älteren Werkenvergleichende Analyse durchgeführt werden. Weiter wird die erste Untersuchung anhand derBefunde aus der vergleichenden Analyse kritisiert werden. Schließlich werden alle restlichenStücke auch analysiert werden (Duel-I bis IV ).

    2.1.2 Makroform: Ein Entschlüsselungsversuch

    Eine erste Untersuchung des 5. Stückes zeigt eine große Ähnlichkeiten zum Werk Achorripsis(1956–57) in den folgenden Aspekten:

    1. Die Instrumentenpartien bestehen aus langen melodischen Abschnitten, die von langenPausenabschnitten getrennt werden.

    2. Die melodische Struktur der Bläserlinien umfasst große Intervalle; die rhythmische Un-terteilung ist in Achtel-, Vierteltriolen- oder Achtelfünftolen. Die rhythmische Dichte istin den melodischen Abschnitten relativ stabil.

    3. Die Besetzung im 5. Stück aus Duel und die Bläserbesetzung von Achorripsis sind iden-tisch.

    Mit den obigen Bemerkungen als Ansatz werden wir untersuchen, ob dem 5. Stück einer ähn-lichen Makrostruktur unterliegt, wie die Makrostruktur von Achorripsis.

    Die Konstruktion der Makrostruktur von Achorripsis ist in den folgenden Schritten zusam-mengefasst:

    1. Der Komponist definiert zunächst eine Dimension aus 7 Klangfarbengruppen (s. Tabelle2.3) und eine Dimension aus 28 Zeiteinheiten. Diese ergeben 7�28 � 196 Stellen, die vonEreignissen belegt werden werden. Diese Ereignisse sind Klassen von durchschnittlichenDichten, d.h. Anzahl der Töne pro Takt.

    5[7]6[61, 33-34]

  • 18 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.3: Die Klangfarbengruppen aus Achorripsis

    Name der Gruppe InstrumenteFlöte Piccolo, Klarinette in Es, Klarinette in BOboe Oboe,Fagott, Kontrafagott

    Streicher gliss. Streicher (gliss.)Schlagzeug Xylophon, Holzblock, gr. TrommelPizzicato Streicher (pizz.)

    Streicher arco Streicher (arco)

    Tabelle 2.4: Die Vielfachheit der Ereignisse aus Achorripsis

    Ereignis Vielfachheit (� pk � 196)keins 107einfach 65zweifach 19dreifach 4vierfach 1

    2. Mit einem Durchschnitt von λ � 0.6 Ereignisse pro Einheit ist eine Poissonverteilungdefiniert (eine Einheit entspricht hier einer Stelle von den 196); die Wahrscheinlichkeitenfür die ersten 6 Ereignisse sind dann nach der Poissonformel die folgenden :

    p0 � 54, 88%

    p2 � 32, 93%

    p3 � 9, 88%

    p3 � 1, 98%

    p4 � 0, 3%

    p5 � 0, 04%

    Die Wahrscheinlichkeiten multipliziert mit der Anzahl der Stellen ergeben die Vielfach-heiten der entsprechenden Ereignisse (Tabelle 2.4). Die Vielfachheiten der Ereignisse sindDurchschnittswerte. In der von Xenakis gegebenen Matrix beträgt die einfache Dichte(das einfache Ereignis) 4,5 oder 5 oder sogar 6,5 Töne/Takt.

    3. Die Ergebnisse werden weiter unter Anwendung der Poissonverteilung in den Spalten undReihen einer 7� 28 Matrix (die „Achorripsis Matrix“) verteilt. Die Spalten dieser Matrixwerden weiter in dieser Arbeit Achorripsis Blöcke genannt und mit den AbkürzungenA1-A28 bezeichnet.7

    4. Dem Stück wird die Dauer von 7 Minuten zugewiesen. Dies impliziert, dass jede Spalteder Achorripsis Matrix 15 Sekunden dauert (oder 6,5 4{4-Takte zum Tempo ♩=26).

    7Wir verwenden den Buchstaben „A“, um die Blöcke von den Taktzahlen übersichtlicher zu unterscheiden.

  • 2.1. DUEL 19

    Tabelle 2.5: Die Ereignisklassen von Achorripsis und ihre Dichten

    Ereignisklasse Dichte (Töne/Takt)keins 0einfach 5zweifach 10dreifach 15vierfach 20

    5. Definition der Ereignisse nach der folgenden Überlegung:8 die maximale Klangdichte, dievon einem Orchester erreicht werden kann sei 10 Klänge/sec. Wenn diese Dichte dem Ma-ximum Ereignis entspricht (dem vierfachen), dann soll die Dichte 10{4 � 2.2 Klänge/Taktdem einfachen Ereignis zugewiesen werden. Analog sind die restlichen Ereignisse definiert.Für die Metronomangabe ♩=26 und einen Inhalt von 4 Vierteln pro Takt bedeutet diesdie Dichte der Ereignisse in der Tabelle 2.5.

    Bei der Analyse des 5. Stückes aus Duel werden wir das Stück auf eine zu Achorripsis ähnlicheStruktur untersuchen. Angenommen, das das 5. Stück aus Duel einer solchen Strukturierungunterliegt, fehlt uns die Kenntnis der folgenden Parameter:

    • die Dauer jedes Ereignisses;

    • die Vielfache, die die Ereignisse bestimmen9. Eine ähnliche zur Konstruktion von Achor-ripsis Überlegung würde die Ereignisse wieder auf der Vielfachreihe von 5 definieren, wenndas Tempo ♩=26 wäre. Aber erstens gibt es im 5. Stück keine Tempoangabe und zweitenswird unsere Untersuchung zeigen, dass eine Definition der Ereignisse auf der Vielfachreihevon 5, nicht begründet werden kann (s. unten).

    Das erste Ziel wird die Bestimmung der Dauer der Ereignisse sein. Eine zu Achorripsis ähnlicheStrukturierung hätte die Eigenschaft, dass Perioden im Notensatz von Duel entstehen, derenDauern gleich den Dauern der Ereignisse aus Achorripsis wäre.10 Das würde bedeuten, dass wirRegelmäßigkeiten im Dichtenprozess der Instrumentenpartien erkennen sollten.

    Um Regelmäßigkeiten zu untersuchen, konstruieren wir zuerst eine Tabelle mit den entspre-chenden Dichten pro Takt (Tabelle 2.7).11 Wir weisen darauf hin, dass unsere Taktzahlangabenmit der Zahl 1 beginnen; Xenakis nummeriert die Takte in Achorripsis und Duel mit der Zahl 0beginnend, so dass die Takte eine Zeitachse darstellen. Zusätzlich bemerken wir, dass die Takt-nummerierung von Xenakis in Duel eine Inkonsequenz aufweist: es gibt zwei Sprünge zwischenden Takten 41/42 und 50/51. Die Zuordnung der Takte ist also die folgende:

    8[23, 31]9In Achorripsis waren die Ereignisse über der Vielfachreihe von 5 definiert (s. Tabelle 2.5).

    10Alle Ereignisse aus Achorripsis besitzen in der Strukturierung dieselbe Dauer.11Wir zählen die Töne ab, die in jedem Takt beginnen. Ausgehaltene Töne zählen wir nicht, mit Ausnahme

    der langen Töne des Kontrafagottes und der Posaune in den Takten 54–55 bzw. 35–37.

  • 20 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.6: Zuordnung der Taktnummerierung

    Nummerierung in der Partitur 0 . . . 40 50 . . . 58 60 . . . 69 70+1 -8 -9

    Taktzahlen 1 . . . 41 42 . . . 50 51 . . . 60 -

    Eine erste Betrachtung verrät uns, dass die folgenden Instrumente sehr oft zusammen spie-len:

    • Flöte und Klarinette;

    • Oboe und Fagott;

    • Trompeten 1 und 2.

    Diese Beobachtung unterstützt die Annahme, dass dieses Stück einer zur Achorripsis ähnli-chen Gruppierung der Blasinstrumente unterliegt (vgl. Tabelle 2.3). Daher ist plausibel, dieKlangdichten in der Flöte-, Oboe- und Blechgruppe zu untersuchen.

    Eine nähere Betrachtung der Tabelle 2.7 liefert die Information, dass mehrfaches instru-mentales Ein- oder Aussetzen in den Takten 1, 15, 22, 29 und 35 stattfindet. Zusätzlich findetder charakteristische Eingang der Oboe im Takt 43 statt. Es ist bemerkenswert, das die Zahlen1, 15, 22, 29 und 43 die Nachfolger der folgenden Vielfachen von 7 sind: 0, 14, 21, 28 und 42.Die Zahl 35 ist selbst ein Vielfaches von 7. Das ist ein Hinweis, dass die Dauer der Ereignisse7 Takte sein könnte. Um die Annahme zu testen, dass die Dichte sich alle 7 Takte ändert,betrachten wir den Dichteprozess der Instrumentengruppierungen für die Blasinstrumente ausder Tabelle 2.3 (Abbildung 2.1).

    Wir bemerken, dass tatsächlich alle 7 Takte die Dichte auf ein anderes Niveau springt. Z.B.,die Blechbläsergruppe besitzt in den Takten 0–14 eine Dichte von 0 Tönen pro Takt, in denTakten 14–21 eine durchschnittliche Dichte von 6 Klängen pro Takt, in den Takten 21-28 einedurchschnittliche Dichte von 0 Tönen pro Takt usw. Da 60 � 8 �7�4 ist, teilt die siebentaktigePeriode die Gesamtheit (60 Takte) in 8 Abschnitte der gleichen Länge (7 Takte) und 1 Abschnittvon 4 Takten (der Rest, Takte 57–60), d.h. insgesamt entstehen 9 Abschnitte.

    Dazu bemerken wir zwei Tatsachen:

    1. Die Länge der Periode (7 Takte) liegt sehr nah an 6,5, was der Fall in Achorripsis war. Diesführt zur Vermutung, dass die tatsächliche Länge 6,5 ist, und dass wir eine Abweichunggemessen haben.

    2. Unsere Unterteilung hat einen kleinen Rest hinterlassen (Takte 57–60). Dies führt zurVermutung, dass wir eine Abweichung der wahren Länge gemessen haben. Hier entstehtdie Frage, ob die Periode 6,5 Takte (wie in Achorripsis) oder sogar 60{9 � 62{3 sein könnte,die gar keinen Rest hinterlässt. Um diese Frage zu beantworten, untersuchen wir den

  • 2.1. DUEL 21

    Tabelle 2.7: Die Dichten des 5. Stückes aus Duel

    Tak

    te1

    23

    45

    67

    89

    1011

    1213

    1415

    1617

    1819

    2021

    2223

    2425

    2627

    2829

    30

    Pi.

    21

    21

    41

    11

    32

    33

    12

    22

    13

    21

    22

    1Ob.

    43

    13

    22

    21

    32

    31

    11

    3Cl.1

    13

    34

    31

    11

    41

    31

    21

    14

    11

    23

    13

    3Cl.b

    .1

    22

    41

    21

    22

    22

    42

    11

    1Fg

    .2

    33

    32

    21

    23

    22

    22

    33

    C.F.

    32

    32

    23

    11

    31

    12

    42

    22

    11

    Trp1

    25

    23

    31

    12

    4Trp2

    11

    43

    22

    22

    2Trbn.

    13

    21

    13

    32

    Tak

    te31

    3233

    3435

    3637

    3839

    4041

    4243

    4445

    4647

    4849

    5051

    5253

    5455

    5657

    5859

    60Pi.

    24

    11

    12

    11

    22

    1Ob.

    34

    32

    79

    106

    89

    Cl.

    22

    22

    22

    31

    21

    15

    13

    26

    34

    1Cl.b

    .3

    32

    21

    22

    13

    21

    Fg.

    33

    31

    67

    96

    86

    C.F.

    13

    31

    11

    12

    55

    53

    Trp1

    44

    22

    43

    22

    22

    12

    Trp2

    22

    23

    22

    12

    Trbn.

    33

    31

    11

    12

    25

    22

    24

    22

    32

    52

  • 22 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Abbildung 2.1: Der Klangdichteprozess des 5. Stückes von Duel

    Dichteprozess alle 6,5 bzw. 62{3 Takte in den Abbildungen 2.2a und 2.2b.12 Wir bemerken,dass die Klangdichten sich schnell innerhalb der entsprechenden Zeitintervalle ändern, alsodiese Hypothese muss abgelehnt werden.

    Damit ist das erste Ziel behandelt. Das nächste Ziel ist, die Verteilung der Zellen zu erkennen.Dafür ist die Information über die Ereignisvielfache notwendig.

    Betrachten wir erst die durchschnittlichen Dichten der Ereignisse (Klänge pro Takt) für dievorgeschlagenen Gruppierungen um eine Periode von 7 Takten (Tabelle 2.8a), und anschließendrunden wir sie (Tabelle 2.9b).

    Das Stabdiagramm der gerundeten Dichten (Abbildung 2.3) zeigt eine Häufung um 0 und 6und einen Ausreißer auf 13, was auf die Vielfachreihe von 6 hinweist (0,6,12). Die Rundung aufdie Vielfachreihe von 6 und die entsprechenden Vielfachheiten sind der Tabelle 2.9 präsentiert.

    Unter der Annahme, dass diese Daten (die Vielfachheiten) Poissonverteilt sind (wie es inAchorripsis der Fall war), können wir eine Maximum-Likelihood Schätzung des Parameters λder Verteilung geben; es ist λ̂ � 0.5185185, was auch sehr nah zum Parameter aus Achorripsissteht (λAch � 0.6). Ein Vergleich der Wahrscheinlichkeiten der beobachteten und der theoreti-schen Poisson zu λ � 0.5185185 Verteilungen kann man in der Abbildung 2.4 sehen. Obwohldie Anpassung relativ gut aussieht, wäre eine statistische Überprüfung der Anpassung durcheinen χ2-Anpassungstest wegen der kleinen Anzahl der Daten nicht möglich.

    12Vergl. dafür die ganzen Zahlen, z.B. 13, 26, 39 für Abbildung 2.2a und 20, 40 für Abbildung 2.2b, denn diePunkte entsprechen der Anzahl der Klänge pro ganzen Takt.

  • 2.1. DUEL 23

    (a) Unterteilung in Perioden von 6,5 Takten

    (b) Unterteilung in Perioden von 62{3 Takten

    Abbildung 2.2: Alternative Unterteilungen des Dichteprozesses

  • 24 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.8: Die Dichten der Gruppen alle 7 Takte

    (a) Durchschnittliche DichtenXXXXXXXXXXXXTakte

    Gruppe „Flöte“ „Oboe“ „Blech“

    1-7 5,71 6.43 08-14 6 0 0.1415-21 0,43 5,29 6,1416-28 3,71 1,57 0,2929-35 5,14 6 6,2936-42 2,71 0 2,2943-49 1,14 13 2.1450-56 4,14 0,71 2,8657-60 0,75 4,5 3

    XXXXXXXXXXXXTakteGruppe „Flöte“ „Oboe“ „Blech“

    1-7 6 6 08-14 6 0 015-21 0 5 616-28 4 2 029-35 5 6 636-42 3 0 243-49 1 13 250-56 4 1 357-60 1 5 3(b) Gerundete durchschnittliche Dichten

    0

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

    Häu

    figke

    it de

    r P

    erio

    den

    Durchschnittliche Anzahl von Noten (gerundet)

    Abbildung 2.3: Stabdiagramm der gerundeten Dichten

  • 2.1. DUEL 25

    Tabelle 2.9: Rundung der Dichten und Vielfachheiten für 6XXXXXXXXXXXXTakte

    Gruppe „Flöte“ „Oboe“ „Blech“ Vielfachheiten

    1-7 6 6 0 1 1 08-14 6 0 0 1 0 015-21 0 6 6 0 1 116-28 6 0 0 1 0 029-35 6 6 6 1 1 136-42 0 0 0 0 0 043-49 0 12 0 0 2 050-56 6 0 0 1 0 057-60 0 6 6 0 1 1

    0

    0.2

    0.4

    0.6

    0.8

    1

    0 1 2

    Wah

    rsch

    einl

    ichk

    eit

    Ereignisse

    Poisson (λ=0.5185185)Beobachtete Daten

    Abbildung 2.4: Vergleich der beobachteten und der vermuteten Verteilung

  • 26 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    2.1.3 Mikro- und Makroform: Die Puzzle-Strukturierung

    Das 5. Stück

    Die Feststellungen im Abschnitt 2.1.2 verstärken die Vermutung, dass wohl strukturelle Ähnlich-keiten zwischen Achorripsis und dem 5. Stück aus Duel bestehen. In diesem Abschnitt werdenwir demonstrieren, dass die Verwandtschaft der zwei Stücke engere Beziehungen aufweist.

    Eine vergleichende Untersuchung der Partituren von Achorripsis und Duel (nachdem dieUntersuchung im Abschnitt 2.1.2 stattgefunden hat) zeigt, dass – außerhalb von wenigen Aus-nahmen – alle Takte für jede Instrumentengruppe bzw. jedes einzelnes Instrument des 5. Stückesin bestimmten Takten derselben Gruppe in Normal- oder Krebsform aus Achorripsis lokalisiertwerden.13 Zum Beispiel: die Takte 1–7 der Flöte-Gruppe entsprechen den Takten 48–54 ausAchorripsis in der selben Gruppe; die Takte 1–7 der Oboe-Gruppe entsprechen den Takten65–61 aus Achorripsis in Krebsform. Die Zuordnung wird im Verlauf des Stückes komplizierter.Die gesamten Zuordnungen sind in der Tabelle 2.10 dargestellt. Mit dem Fragezeichen sindunbekannte Zuordnungen bezeichnet.

    Damit wir die Achorripsis-Blöcke, die in Duel verwendet werden, übersichtlicher betrachten,sind diese in der Tabelle 2.11 ohne die Richtung (vorwärts oder rückwärts) dargestellt.

    Zu diesen Zuordnungen bemerken wir folgendes:

    Allgemeine Struktur Der Satz der drei Instrumentengruppen besteht aus 6 Einheiten; inihnen wird jeweils meistens ein Achorripsis Block verwendet.

    Auswahl der Achorripsis Blöcke Die Auswahl der Achorripsis Blöcke beschränkt sich aufdie Blöcke A7, A9, A10, A11, A17, A18, A19, A22, A23, A25 und A28. Einige Instrumen-tenpartien der Blöcke werden in den jeweiligen Gruppen nicht verwendet.

    Gruppenstrukturablauf Die Gruppen weisen einen ähnlichen Prozess in Bezug auf die fol-genden Aspekte auf:

    Verwendung der Blöcke Eine parallele Verwendung der folgenden Blöcke findet statt:

    • A9, in der 1. Einheit der Flöte- und der Blechgruppe (obwohl sie nicht gleich-zeitig stattfinden);

    • A18, in der 4. Einheit der Flöte- und der Oboegruppe;

    • A25, der 5. Einheit der Flöte- und der Oboegruppe;

    • A25, in der 6. Einheit der Oboe- und der Blechgruppe.

    13Die Verwendung von Takten aus älteren Werken ist kein Einzelfall im Opus von Xenakis, wie Gibsonberichtet ([42]). Doch hier handelt es sich nicht um einige Takte, sondern um das komplette Stück. Eine ähnlichePuzzle-Strukturierung weist das späteren Mosaïques aus dem Jahr 1994 auf, wobei der Titel sich auf die Puzzle-Technik bezieht.([42, 1]).

  • 2.1. DUEL 27

    Tabelle 2.10: Zuordnung der Takte zwischen Duel (5. Stück) und Achorripsis

    (a) Zuordnung der Takte für die Flöte-Gruppe

    Instr. Duel Achorripsis Blöcke Duel Achorripsis Blöcke

    Fl. 1–7 52–58 29–34 ÐÝÝÝÝÝ112–117

    Cl. 1–7 52–58 A9 29–31,32–34 ÐÝÝÝÝÝ115–117,? A18

    Cl.b. 1–7 52–58 30–33,34 111–114,116

    Fl. 8–14 ÐÝÝÝÝÝ144–150 371{2–38,39–43 1571{2–158,160-164 A25

    Cl. 8–14 ÐÝÝÝÝÝ144–150 A23 38–44 � ÐÝÝÝÝÝÝÝ1571{2–163

    Cl.b. 8–14 ÐÝÝÝÝÝ144–150

    Fl. 21–28 137–144 A22

    Cl. 21–25,26–28 137–141,ÐÝÝÝÝÝ142–144 + 49,50–52,53–55,56 177,ÐÝÝÝÝÝ181–183,� ÐÝÝÝÝÝ178–180,? A28

    Cl.b. 21–24 137–140 [A23] 52–58 108–114 1{2A17+1{2A28

    Instr. Duel Achorripsis Blöcke Duel Achorripsis Blöcke

    Ob. 1–5 ÐÝÝÝ61–65 29–34 112–117

    Fg. 1–71{2 ÐÝÝÝÝÝ591{2–65 A10 29–34 ÐÝÝÝÝÝÝÝÝÝÝÝ� 112–# � 117, A18

    C.-F. 1–6 ÐÝÝÝ60–65 281{2–34 1121{2–118

    Ob. 15–22 40–47 43-48 158,#ÐÝ157,159,ÐÝ160,ÐÝ162,161 A25

    Fg. 15–21 ÐÝÝÝ41–47 A7 44-49 ÐÝÝÝÝÝ157–1626

    C.-F. 15–21 ÐÝÝÝ40–46

    Ob.

    Fg.

    C.-F. 25–281{2 ÐÝÝÝÝÝÝÝÝÝ1421{2– � 145 (Cl. b.) [A22+A23] 53–56,57–60 ?,ÐÝÝÝÝÝÝÝ� 159–162 [A25]

    (b) Zuordnung der Takte für die Oboe-Gruppe

    Instr. Duel Achorripsis Blöcke Duel Achorripsis Blöcke

    Trp.1 15–21 ÐÝÝÝÝÝÝ52– � 58 46–48 ÐÝÝÝÝÝ� 67–69 (Trp.2) [A11]

    Trp.2 16–221{2 ÐÝÝÝÝÝ521{2–58 A9

    Trbn. 14–21 ÐÝÝÝ52–59

    Trp.1 29–34 ÐÝÝÝÝÝ114–119 p� 117q 51–55 ÐÝÝÝÝÝÝÝ170 � –174 [A27]

    Trp.2 29–34 112–117 [A18]+[A19] 51–54 171–174

    Trbn. 30–35 ÐÝÝÝÝÝÝÝÝ113� � 118

    Trp.1

    Trp.2

    Trbn. 381{2–44 ÐÝÝÝÝÝÝÝ157–1631{2 A25 55–60 ÐÝÝÝ� 159,158,�157,� ÐÝ160,161,162 A25

    (c) Zuordnung der Takte für die Blech-Gruppe

  • 28 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.11: Die Achorripsis Blöcke im 5. Stück aus Duel

    Tak

    te1

    23

    45

    67

    89

    1011

    1213

    1415

    1617

    1819

    2021

    2223

    2425

    2627

    2829

    30

    Pi.

    A9

    A23

    A22+[A

    23]

    A18

    Ob.

    A10

    A7

    A18

    Cl.1

    A9

    A23

    A22+[A

    23]

    [A18]

    Cl.b

    .A9

    A23

    [A22]

    [A18]

    Fg.

    A10

    A7

    A18

    C.F.

    A10

    A7

    [A22+A23]

    A18

    Trp1

    A9

    [A18]+

    [A19]

    Trp2

    A9

    A18

    Trbn.

    A9

    [A18]+

    [A19]

    Tak

    te31

    3233

    3435

    3637

    3839

    4041

    4243

    4445

    4647

    4849

    5051

    5253

    5455

    5657

    5859

    60

    Pi.

    (A18)

    A25

    Ob.

    (A18)

    A25

    Cl.

    ([A18])

    A25

    A28

    ?

    Cl.b

    .([A18])

    1 {2A17+

    1 {2A18

    Fg.

    (A18)

    A25

    C.F.

    (A18)

    [A25]

    Trp1

    ([A18]+

    [A19])

    [A11]

    [A27]

    Trp2

    A18

    [A27]

    Trbn.

    ([A18]+

    [A19])

    ?A25

    A25

  • 2.1. DUEL 29

    Zerlegung der Blöcke Die Darstellung der Achorripsis Blöcke ist nicht immer linear(vorwärts oder rückwärts) sondern geschieht auch unter Zerlegung; diese wird kom-plizierter in der Verwendung des Blocks A25 in der vorletzten Einheit der Oboegrup-pe und in der letzten Einheit der Blechgruppe.

    Aktive Teilmenge der Gruppe Die folgenden Ähnlichkeiten sind beobachtet:

    1. Einheit Alle Gruppen: alle Instrumente sind aktiv (kein Instrument hat Pausen);

    2. Einheit Alle Gruppen: alle Instrumente sind aktiv;

    3. Einheit Oboe und Blech Gruppe: nur das 3. Instrument ist aktiv;

    4. Einheit Flöte und Oboe Gruppe: alle Instrumente sind aktiv;

    5. Einheit Alle Gruppen: die ersten 2 Instrumente sind aktiv;

    6. Einheit Oboe und Blech Gruppe: nur das 3. Instrument ist aktiv.

    Kleine Veränderungen Die Achorripsis-Blöcke werden nicht immer exakt verwendet. KleineVeränderungen finden statt, die in zwei Arten klassifiziert werden können: rhythmischeVeränderungen, die die Dauer von bestimmten Noten verlängern oder verkürzen und Ton-höhenveränderungen, z.B. die Klarinette im Takt 2 spielt inDuel f 3, obwohl in Achorripsis(Takt 53) ein d3 steht. Bzgl. der letzteren ist es nicht klar, ob es sich um Druckfehler derAchorripsis, Abschreibfehler in Duel14 oder bewusste Veränderungen handelt.

    Synchronisation in den Blöcken Die Verwendung der Achorripsis-Blöcke ist nicht immerbzgl. der Instrumente der jeweiligen Gruppe synchron. So finden Verschiebungen dermelodischen Linien in einigen Fällen statt (s. Tabelle 2.12). Auf der anderen Seite gibt essynchrone Verwendungen in einem Fall, in dem der Block zu unterschiedlichen Gruppenund Einheiten gehört: A25 in den Takten 381{2–44, Klarinette und Posaune. Ein Sonderfallist

    der Block A18 In der Mitte des Stückes spielen alle Instrumente den Block A18. Esbesteht eine synchrone Verwendung des Blockes von der Oboe und der 2. Trompete(Richtung vorwärts) und eine synchrone Verwendung von der Flöte, der Klarinetteund dem Fagott (Richtung rückwärts). Asynchrone Verwendung findet zwischen denGruppen {Ob.+Trp.2}, {C.-F.} und {Cl.b.} (Richtung vorwärts) sowie zwischen denGruppen {Fl.+Cl.+Fg.} und {Trp.1+Trbn.} (Richtung rückwärts) statt.

    Verwendung von Takten aus anderen Instrumenten In zwei Fällen spielen Instrumen-te eine Partie aus Achorripsis, die dort für ein anderes Instrument geschrieben ist: dieTakte 25-281{2 im Fagott entsprechen Takten der Bassklarinette und die Takte 46–48 der1. Trompete entsprechen Takte der 2. Trompete.

    Ausnahmetakte Es gibt wenige Takte, für die keine Beziehung zu Achorripsis gefunden wor-den ist. Dies sind die Takte 32–34 der Klarinette, 53–56 des Kontrafagottes und das

    14Die Partitur von Duel ist ein Faksimile.

  • 30 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.12: Nicht-synchrone Verwendungen von Achorripsis Blöcken

    Block Gruppe Einheit InstrumenteA7 Oboe 2 Fg., C.-F.A9 Blech 1 Trp. 1,2A18 Oboe 4 Ob., C.-F.A25 Oboe 5 Ob.,Fg.A25 Oboe/Blech 6 C.-F., Trbn.

    Tabelle 2.13: Vergleich der Unterteilungen

    Unterteilung Unterteilung Unterteilung Unterteilungvom Abschn. 2.1.2 der Flöte-Gruppe der Oboe-Gruppe der Blech-Gruppe

    1–7 1–7 1–71{28–14 8–1415–21 15–22 14–2121–28 21–28 25–281{229–35 29–34 281{2–34 29–3536–42 371{2–44 381{2–4443–49 43–49 46–4850–56 49–58 51–5557–60 53–60 55–60

    ausgehaltene H der Posaune in 35–38. Der Fall des Taktes 34 des Fagottes könnte demTakt 112 aus Achorripsis entsprechen (und so ist er in der Tabelle 2.11b aufgenommen).Der Takt 56 der Klarinette kann als Verlängerung des Taktes 55 interpretiert werden(ausgehaltener Ton).

    Nach der Analyse der Strukturierung des 5. Stückes stellt sich die Frage, inwiefern unsereAnalyse aus dem Abschnitt 2.1.2 erfolgreich war.

    Der erste Teil des Entschlüsselungsversuches betrifft die Periodenlänge 7. Die Tabelle 2.14stellt den Vergleich der Unterteilung in siebentaktigen Perioden mit den Einheiten, welche dieinnere Strukturierung bestimmen (s. Tabelle 2.10) dar. Wir beobachten, dass die Unterteilungaller siebentaktigen Einheiten, in der wir das Stück im Abschnitt 2.1.2 analysierten, seine innereStruktur widerspiegelt; daher war diese Unterteilung gerechtfertigt.

    Der zweite Teil des Entschlüsselungsversuches schätzte die Vielfachreihen der Ereignisseund die Verteilung. Um die beobachteten Werte der durchschnittlichen Dichten pro Gruppe inden siebentaktigen Perioden (bezeichnet als „B“) mit denen aus der Matrix von Achorripsis zuvergleichen (bezeichnet als „E“), stellen wir die Werte in der Tabelle 2.14 dar. Wir beobachten,dass die Verzerrung der in Achorripsis geplanten Werte (bezeichnet mit „E“) von den folgendenTatsachen verursacht wird:

    1. Weglassen von Instrumenten in den Blöcken;

    2. fragmentarische Verwendung der Gruppen;

    3. Kombinationen von Achorripsis Blöcken;

  • 2.1. DUEL 31

    4. teilweise Rückwärtsverwendung der Achorripsis Blöcke in den Einheiten;

    5. ungenaue Anpassung der Einheiten in Duel mit den siebentaktigen Einheiten;

    6. nur wenige Achorripsis Blöcke werden verwendet.

    So wurde z.B. im Abschnitt 2.1.2 die 13 in der Oboe Gruppe 43–49 als das zweifache Ereignisinterpretiert (2 � 6 � 12), obwohl sie aus dem dreifachen Ereignis stammt (3 � 5 � 15). DieKomplexität und die Unregelmäßigkeit der kompositorischen Entscheidungen führte dazu, dassdie Entschlüsselung hier nicht erfolgreich war.

    Tabelle 2.14: Vergleich der Anzahl von Tönen pro Takt

    Gruppen Takte B E BlockFlöte 1-7 5,71 5,5 A9

    Gruppe 8-14 6 6,5 A2315-21 0,4322-28 3,71 5 A22+[A23]29-35 5,14 4 A1836-42 2,71 4,5 A25-{Cl.b.}43-49 1,1450-56 4,14 5,5/- A28-{Fl.,Cl.b.}/[A17+A28]-{Fl.,Cl.}57-60 0,75

    Oboe 1-7 6.43 6 A10Gruppe 8-14 0

    15-21 5,29 4 A722-28 1,57 - [A22+A23]-{Ob.,Fg}29-35 6 3,5 A1836-42 043-49 13 14 A25-{C.-F.}50-56 0,7157-60 4,5 20 [A25]-{Ob.,Fg}

    Blech 1-7 0Gruppe 8-14 0.14

    15-21 6,14 5,5 A922-28 0,2929-35 6,29 5 [A18] (+[A19])36-42 2,29 10,5 A25-[Trp.1,2]43-49 2.14 10 [A11]-{Trp.2,Trbn.}50-56 2,86 6 [A27]-{Trbn.}57-60 3 10,5 A25-{Trp.1,2}

    Das 4. Stück

    Diese Befunde lassen sich auch für das 4. Stück von Duel (Schlagzeug) erweitern. Die Partiendieses Stückes sind:

    • 2 Bongos (weiter mit „A“ bezeichnet)

  • 32 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.15: Zuordnung der Instrumente zwischen Duel (4. Stück) und Achorripsis

    Duel AchorripsisBongos 1,2 XylophonCongas 1,2 Holzblock

    kl. & gr. Trommel gr. TrommelConga -

    Tabelle 2.16: Zuordnung der Takte zwischen Duel (4. Stück) und Achorripsis

    Instr. Duel Achorripsis Blöcke Duel Achorripsis Blöcke

    Bong. 5–6 78–79 43–48 14–19

    Cong. 1–2,3–6 73–74,76–79 A12 » » A3

    Tromm. 1–3,4–6 73–75,77-79 » »

    Bong. 10–14 62–66 49–54 157–162

    Cong. 7–14 59–66 A10 » » A25

    Tromm. » » » »

    Bong. 15–22 105–112 A17 55–60 27–32

    Cong. » » + » » A5

    Tromm. 15–21,22 105–111,? [A18] » »

    Bong. 23–24,25–25 163–164,166-169 61–66 125–130

    Cong. » » A26 » » A20

    Tromm. 24–28 165–169 » »

    Bong. 29–34 118–123 67–72 40–45

    Cong. 29–35 118–124 A19 » » A7

    Tromm. » » » »

    Bong. 36–42 66–72

    Cong. » » A11

    Tromm. » »

    • 2 Congas (weiter mit „B“ bezeichnet)

    • kleine und große Trommel (weiter mit „C“ bezeichnet)

    • Conga

    Diese Besetzung ist nicht die gleiche wie die Schlagzeugbesetzung aus Achorripsis. Trotzdemwerden Blöcke aus Achorripsis mit der Instrumentenzuordnung der Tabelle 2.15 verwendet. DieConga der 4. Partie besitzt eine Form, die unterschiedlich zu derjenigen der anderen Instrumenteist und keine Beziehung zu Achorripsis aufweist.

    Hier ist die Struktur der Umordnung der Achorripsis Blöcke sehr viel einfacher. Die Zuord-nung der Takte ist in der Tabelle 2.16 präsentiert.

    Zum 4. Stück haben wir die folgenden Bemerkungen:

    1. Die Verwendung der Blöcke geschieht ohne Krebsformen und fast immer ohne Zerlegun-gen; weiterhin ist sie fast immer synchron.

  • 2.1. DUEL 33

    2. Im Vergleich zum 5. Stück treten Veränderungen der Achorripsis Blöcke selten auf.

    3. In Achorripsis spielen die drei Instrumente Xylophon, Holzblock und große Trommel ineinem Tonhöhenniveau; im 4. Stück aus Duel werden diese Partien in 2 Tonhöhenniveausbei den entsprechenden Instrumenten gespalten. Die Partie des Xylophons ist dabei inunbestimmter Tonhöhe (Congas) umgeschrieben.

    Wir fassen die Ergebnisse der obigen Analysen zusammen. Das 5. und das 4. Stück15 ausDuel sind als Umordnung von bestimmten Blöcken aus Achorripsis komponiert worden. DieAnwendung der Umordnung unterscheidet sich zwischen einfacher (4. Stück) und komplizierterAnwendung (5. Stück). Eine Analyse des 5. Stückes ohne vorherige Information hat nur zumTeil erfolgreiche Ergebnisse geliefert. Die Vielfalt der Verwendungen der Achorripsis Blöcke im5. Stück und die Nutzung einer kleinen Teilmenge aller Ereignisse aus Achorripsis verzerrte diein Achorripsis ursprüngliche Dichte der Ereignisse und ihre Verteilung.

    Nach der Ausführung der obigen Analysen bestand die Frage, ob die ersten drei Strei-cherstücke eine Beziehung zu Achorripsis aufweisen. Eine Suche nach ähnlichen Stücken ausAchorripsis lieferte keine Ergebnisse. Allgemeiner, sind Merkmale der Stücke 1.-3. aus Duel(lange und schnelle Bewegung in kleinen Bereichen, kleine Schritte, Wiederholbarkeit von cha-rakteristischen Ereignistypen) für Achorripsis nicht charakteristisch. Im Gegensatz weist dieStruktur der ersten Taktiken aus Duel eine große Ähnlichkeit mit der Struktur von Syrmosauf. Die beiden Partituren sind im Rahmen dieser Arbeit verglichen worden und es ist festge-stellt, dass alle drei Stücke aus Duel aus Syrmos-Stücken zusammengesetzt worden sind.16 Imnächsten Abschnitt wird diese Beziehung ausführlich analysiert.

    Die Stücke 1–3

    Jeder Takt der ersten drei Stücke von Duel ist im Werk Syrmos zu erkennen. Scheint dieseStrukturierung eine Ähnlichkeit zur Strukturierung der Stücke 4 und 5 zu sein, ist sowohl ihreForm als auch ihr Inhalt wesentlich verschieden.

    Die Zuordnungen der Takte zwischen den zwei Werken ist in der Tabelle 2.17 präsentiert.Die Merkmale dieser Strukturierung sind die folgenden:

    1. Die Syrmos-Takte werden fast ausschließlich in Krebsform verwendet.

    2. Zahlreiche Veränderungen der Syrmos-Takte finden statt:

    (a) Veränderungen von Akzidenzien

    (b) Weglassen von Zwischentakten

    (c) Der Zuordnung der Partien ist nicht immer die identische Zuordnung15Ohne die Conga Partie (4. Partie)16Die umgekehrte Vermutung (dass Syrmos aus Duel -Stücken entstanden ist, muss verworfen werden, da

    Xenakis in [6, Einführungstext] schreibt: „Die mathematische Struktur dieses Werkes [Syrmos] entspricht der„Analogique A“ und „Analogique B “, d.h. sie beruht auf stochastischen Prozessen nach Markov.“ Weitere Hinweisebestätigen die Entstehungsreihenfolge (s. unten).

  • 34 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.17: Zuordnung der Takte zwischen Duel-I,II,III und Syrmos

    (a) Zuordnung der Takte für Duel-I

    Instr. Duel-I Syrmos Bemerkungen

    Vl.I,1,2 1–2,3 106–107,ÐÝ108

    Rest 1–3 106–108

    Alle 4–7 ÐÝÝÝÝÝÝ115� 118

    Alle 8–21 ÐÝÝÝÝÝÝ119� 132-Vc(119)

    Alle 22–24 ÐÝÝÝÝÝÝ177� 179-gliss(Vl.II) Verschiebungen von Partien

    Alle 25–34 � ÐÝÝÝÝÝ25� 34-ten.-gliss.

    Alle 35–42 ÐÝÝÝÝÝÝ368� 386-gliss. Komprimierung,

    Verschiebungen von Partien

    Alle 43–51 ÐÝÝÝÝÝÝ266� 274

    Alle 52–68 ÐÝÝÝÝÝÝÝ� 84� 100-Vl.II 5,6

    Duel-II Syrmos Bemerkungen

    1–7 ÐÝÝÝÝÝÝ204� 210

    8–14 ÐÝÝÝÝÝÝ345� 351-pizz.-Trill. versch. Veränderungen

    15–22 ÐÝÝÝÝÝÝ323� 330-pizz.-gliss(323)

    23–26 ÐÝÝÝÝÝÝÝÝr148s � 151-pizz.(151)

    27–33 ÐÝÝÝÝÝÝ139� 145 Verschiebung von Partien,Ausnahmen

    34–42 ÐÝÝÝÝÝÝÝÝr334s � 342-fr.c.l.

    43–56 ÐÝÝÝÝÝÝ187� 200 Ausnahmen (Pausen)

    57–70 ÐÝÝÝÝ14� 1 Veränderungen

    71–77 ÐÝÝÝÝÝÝ166� 172-gliss.

    (b) Zuordnung der Takte für Duel-II

    Duel-III Syrmos Bemerkungen

    1–7 ÐÝÝÝÝÝ35� 41 Ausnahmen

    8–14 ÐÝÝÝÝÝÝ181� 187

    15–19 ÐÝÝÝÝÝ66� 70-pizz.-très sec

    20–24 ÐÝÝÝÝÝÝ312� 316-pizz.-fr.c.l.

    [25]–28 ÐÝÝÝÝÝÝÝÝ256� r259s-pizz.

    29–36 ÐÝÝÝÝÝÝ150� 157-pizz.

    37–38 ÐÝÝÝÝÝÝ147� 148

    39–43 ÐÝÝÝÝÝÝ281� 285

    44–49 ÐÝÝÝÝÝÝ235� 240

    50–62 ÐÝÝÝÝÝ13� 25

    63–66 ÐÝÝÝÝÝÝÝÝr252s � 255

    (c) Zuordnung der Takte für Duel-III

  • 2.1. DUEL 35

    (d) Hilfslinien werden weggelassen

    (e) Pausen werden hinzugefügt

    3. Jedes Stück aus Duel entspricht einem bestimmten Merkmal, wie ihre Bezeichnung zeigt:Pointillisme des cordes (staccato, col legno batt.) im 1. Stück, ausgehaltene Töne im2. Stück und glissandi im 3. Stück. Bei der Verwendung der Syrmos-Takte werden dieje-nigen Noten, die zu der entsprechenden Merkmalen nicht gehören, weggelassen.

    Besonderheiten in der Partitur

    Bei der Analyse der Faksimiles von Duel und Syrmos sind einige Besonderheiten beobachtetworden; hier werden nur die charakteristischsten drei von ihnen erwähnt.

    Bei der ersten Besonderheit handelt es sich um eine gleichzeitige Akzidenzienveränderungund Schlüsselwechsel:

    567 I I II �I�I� I �I

    5

    � I I5

    � I66 I IIIIVl. II 4

    � �

    Beispiel 2.1: Die Takte aus Duel

    ð � �� �� � �� �ð ��

    85 Vl. II 4��� � � ��5

    �84 ���5

    �5

    � ��3

    Vc. 1

    Beispiel 2.2: Die Takte aus Syrmos

    Eine solche Veränderung ist einmalig im gegebenen Notentext und deshalb charakteristisch.Es ist nicht klar, ob es sich um eine falsche Übertragung des Komponisten handelt, da dieAkzidenzien nicht übereinstimmen.

    Die zweite Besonderheit ist zwischen den Takten 184 aus Syrmos und 11 aus Duel-III inVl. II 4: in Syrmos spielt die 4. Vln.II ein as und in Duel ein fes (s. Beispiel 2.3). Die ersteBesonderheit ist hier, dass ein fes dort erscheint, wo ein e sehr viel plausibler wäre: es gibt keinemelodische Bewegung um es, was diese Notation (fes statt e) rechtfertigen würde. Zweitenssind die meisten Veränderungen der Tonhöhen Veränderungen der Akzidenzien. Eine vorsichtigeBeobachtung des Taktes 184 aus Syrmos zeigt einen Mangel in der der Originalpartitur (in derRepräsentation des Taktes im Beispiel 2.3 ist dieser Mangel symbolisch reproduziert): die ersteLinie des Taktes ist schlecht kopiert worden, und daher kann ein schnelles Lesen der Partiturzum falschen Eindruck führen, dass das ein fes ist. Das ist auch ein Hinweis darauf, dass Syrmoszuerst entstanden ist.

  • 36 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Beispiel 2.3: Eine Terzverschiebung oder ein Abschriftfehler bei der Krebsform

    Die dritte Besonderheit ist, dass in den Stücken 1–3, der Anfang (oder das Ende) der verwen-deten Syrmos-Fragmente mit leeren gestrichenen Takten (1. Stück) oder mit einem Sternzeichen(2. und 3. Stück) markiert sind. Besonders diese Tatsache bestärkt die Hypothese, dass Syrmosals Material für Duel gedient hat und nicht umgekehrt.

    2.1.4 Bemerkungen

    Struktur und Charakteristik

    Die obigen Analysen haben gezeigt, dass ein vielschichtiges und inhomogenes Verfahren dieKonstruktion von Duel bestimmte:

    • die Makroform ist offen und wird von Prinzipien der Spieltheorie bestimmt;

    • die Mittelform ist ein Mosaik aus Stückchen, die aus zwei verschiedenen Werken stammen(Syrmos und Achorripsis), so dass die Duel -Stücke in zwei Gruppen klassifiziert werdenkönnen: die Streicher- oder S-Stücke (Duel-I,II,III ) und die A-Stücke (Duel-III,IV );

    • die Ordnung der Töne in den Stückchen jeder Gruppe ist durch jene Verfahren determi-niert, auf denen die Konstruktion von Syrmos bzw. Achorripsis gestützt war. Im Falle vonSyrmos sind es Markovprozesse und im Falle der beiden Werke sind es die Realisierungenvon Wahrscheinlichkeitsverteilungen.

    Die Inhomogenität der zwei Gruppen wird auch in die Aufführung des Stückes übertragen, denndie Streicherstücke können anschließend zu oder gleichzeitig mit den Stücken der A-Gruppegespielt werden. Die Unterschiede der Instrumentation der zwei Gruppen verstärkt diese In-homogenität und schafft Differenzierungen und Kontraste, die entweder in Reihe oder parallel(gleichzeitig in beiden Orchestern) stattfinden. Die Partitionierung der fünf Stücke erfolgt in 2Gruppen bzgl. des Stammmaterials, in 3 Gruppen bzgl. der Instrumentation und in 5 Grup-pen bzgl. der Spielart. Das Fehlen von einer Parametrisierung und das Fehlen von einer aufdem ganzen Umfang realisierten Verteilung dieser Merkmale in Kombination mit ihrer Wie-derholbarkeit (im Rahmen des Spiels) verleiht jedem der fünf Stücke einen eindeutigen underkennbaren Stil und der Aufführung die erforderliche Dynamik. Das Neue beim Schaffen von

  • 2.1. DUEL 37

    Xenakis ist, dass diese charakteristischen Eigenschaften durch das Begrenzen der Verallgemei-nerung der Kompositionstechnik und durch die Nutzung eines heterogenen Materials erobertwerden.

    Das Problem der Taktikauswahl

    Es ist bemerkenswert, dass Xenakis in der Anleitung der Partitur den Dirigenten eine großeFreiheit von Auswahlmechanismen für die Taktiken erlaubt. So können sie eine der 6 Taktikendurch eine der folgenden Methoden auswählen:

    1. willkürlich, ohne Beachtung der Matrix;

    2. durch eine abgesprochene Spielfolge;

    3. durch Kartenziehen, aus einem Vorrat aus 6 Karten;

    4. durch das Ziehen von nummerierten Kugeln (1-6) verschiedener Proportionen aus einerUrne;

    5. durch das Streben nach Gewinn gemäß der Regeln der Spielmatrix.

    Es bestehen große qualitative Unterschiede zwischen den obigen Spielmethoden. Der Ablaufdes Spiels ist bei den ersten zwei Methoden nur von den Dirigenten abhängig. Dabei wird dieAbwechslung der Stücke von den willkürlichen Entscheidungen oder von der Kooperation derDirigenten determiniert, und es ist sehr wahrscheinlich – bzw. wird sogar erwartet, dass derAblauf im Sinne des Spieles unwichtig – wenn nicht unmöglich – ist.

    Bei den Methoden 3 und 4 wird der Ablauf einem Zufallsmechanismus überlassen. Sowohlin diesem Falle als auch im Falle der 5. Methode treffen die zwei Dirigenten keine willkürlichenEntscheidungen auf ästhetischer Basis, sondern entscheiden sich über einen äußeren Mechanis-mus17. Dieser Mechanismus kodiert auf der einen Seite ästhetische Bewertungen des Kompo-nisten, ist aber auf der anderen Seite von ihnen sehr weit entfernt.18 In jedem Falle ist dasErgebnis der Realisierung zufällig bzgl. sowohl der Reihenfolge und Form der Stücke als auchdes ästhetischen Wertes der ganzen Realisierung (da die Realisierungen sehr stark variierenkönnen).

    Hier entsteht die Frage über die Art des Zufalls. Bei den Methoden 3 und 4 ist dies leicht zubeantworten: die Taktiken werden nach der vorbestimmten Verteilung der Karten bzw. Kugelnverteilt. Bei der 5. Methode ist dies komplizierter.

    Bevor dieser Fall analysiert wird, muss erwähnt werden, dass Xenakis die Methoden 1 bis 4als „degenerierte“ Konfliktsituationen bezeichnet, und das Spielen mit strategischen Entschei-dungen (Methode 5) empfiehlt:19

    17Bei den Methoden 3 und 4 ist er vom Zufall und bei der Methode 5 vom Gewinn-Verlust-Mechanismusbestimmt, der zwar nicht zufällig ist, aber den Zufall verursacht.

    18Die Gründe dafür sind: a) die lange und komplizierte Spielmatrixkonstruktion, und b) das Streben nachdem Gewinn des Dirigenten Y ist auf die „wenig guten“ Kombinationen (s. oben) von Taktiken orientiert.

    19Duel, Spielanweisungen.

  • 38 KAPITEL 2. XENAKIS: ANALYSEN UND BEMERKUNGEN

    Tabelle 2.18: Die optimalen Strategien für Duel

    I II III IV V VIChef X 14

    56656

    656

    656

    856

    1656

    Chef Y 1956

    756

    656

    156

    756

    1656

    La seule [façon] valable, la seule qui apporte quelque chose de nouveau, dans le casde plusieurs orchestres, est celle qui est sanctionnée par des gains et des pertes, pardes victoires et des défaites.

    [...] En fait, chacun devra prévoir plusieurs coups futurs de son adversaire pourpouvoir choisir la meilleure succession de tactiques, comme par exemple au jeu d’échecs.

    Soll das Spielen durch strategische Entscheidungen bestimmt werden, ergibt sich die Frage nachder optimalen Strategie. Diese wird von Xenakis selbst bei der Konstruktion der Matrix ange-geben; die Matrix M7 impliziert ein Paar von eindeutigen optimalen Strategien für jeden derDirigenten X und Y (s. Tabelle 2.18).20 Diese Strategien sind endliche Folgen von Wahrschein-lichkeiten, mit denen die entsprechenden Taktiken gewählt werden sollten; z.B. der Dirigent Xsollte die Taktik I mit Wahrscheinlichkeit 19{56 auswählen (d.h. in 25% der Fälle), die Taktik IImit Wahrscheinlichkeit 6{56 (d.h. in 11% der Fälle) usw.

    Die direkte Folge einer solchen Realisierung – die allerdings konsequent zu den Konstrukti-onsprinzipien von Xenakis wäre – ist die Simulation eines nicht deterministischen Algorithmusvon den Dirigenten. Dabei sind Überraschungen bei der Aufführung ausgeschlossen, denn wirdjede Taktik mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit von dem jeweiligen Dirigenten gewählt,dann wird sie auch mit derselben Wahrscheinlichkeit vom Zuhörer erwartet. Der Prozess derAuswahl wäre in diesem Fall sogar besser von einer undeterministischen Rechenmaschine rea-lisierbar und das Ergebnis wäre eine nicht gleichmäßige Verteilung über eine Menge aus 6Elementen (den Taktiken). Dadurch wäre diese Praxis ein Spezialfall der Methode 4, wobeijede Urne die entsprechende Anzahl von den nummerierten Kugeln enthalten würde (z.B. fürden Dirigenten X: 14 Kugeln mit der Beschriftung „1“, 6 Kugeln mit der Beschriftung „2“, 6Kugeln mit der Beschriftung „3“ usw. Vgl. dafür die Werte der optimalen Strategien aus derTabelle 2.18.).

    Xenakis schließt diesen Fall nicht ausdrücklich aus, doch erwartet offensichtlich nicht, dassdie Dirigenten die optimalen Strategien übernehmen; diese Erwartung wird indirekt geäußert:erstens, durch den Ausschluss der Methode 4, und zweitens über die Art des Spielens, die er inden Spielanweisungen empfiehlt:

    Ainsi, dans le cas de DUEL, les chefs devront suivre les points (gains et pertes)inscrits dans la Matrice du Jeu.

    Xenakis erwartet dadurch, dass die menschlichen Dirigenten die Möglichkeiten ihrer Spielfä-higkeiten ausnutzen, und nicht die Werkzeuge der Wissenschaft. So wird der Ablauf des Spiels

    20[23, 116–121]

  • 2.1. DUEL 39

    immer neu bestimmt, und die Erwartung beim Zufall nicht determiniert. Die optimalen Stra-tegien mögen in den Skizzen existieren, sind aber kein Spielvorschlag; sie verhindern, wie eininneres Sicherheitsschloss, dass der erwartete Ablauf nicht deterministisch wird.

    Zufall beim Kompositionsprozess

    Wie oben gezeigt worden ist, erfolgte die Konstruktion der Spielmatrix (d.h. der Hauptspielre-geln) in 7 Schritten. Der Ausgangspunkt dieses Konstruktionsprozesses ist eine Matrix (M1),die konkrete ästhetische Beurteilungen enthält und das Ergebnis eine numerische Matrix (dieSpielmatrix M7), die bestimmte Eigenschaften besitzt, und bei 44% von M1 verschieden ist.

    Die oben beschriebene Konstruktion kann als ein sehr komplexer Algorithmus aufgefasstwerden. Die Eingabe ist die ästhetische Bewertung der Taktiken und die Ausgabe ist einenumerische Matrix, die zwar ein faires und interessantes (ohne Sattelpunkte) Spiel beschreibt,die aber auch auf eine andere ästhetische Bewertung hinweist. Das bedeutet folgendes:

    1. Der (dynamische) Verlauf des Spiels ist wohl wichtiger als die ästhetische Bewertungder einzelnen (statischen) Kombinationen von Xenakis. Daher ist es möglich, 44% derursprünglichen Bewertung verändern zu lassen. Die Nutzung des Ausdrucks „subjectiveevaluations“ für die ästhetische Bewertung der Kombinationen soll in der Theorie vonXenakis als eine Unterschätzung der Kraft dieser Bewertung verstanden werden. Sie sollmehr als ein Ansatz und weniger als Ziel wirken. Daher auch die Diskrepanz zwischenM2 und M8. Die alternative Hypothese würde heißen, dass die Überraschung der vomUrsprung weit entfernten MatrixM8, ein Teil des randomisierten Prozesses der Entstehungdes Werkes ist. Ein Gegenargument dafür wäre die Einmaligkeit der Spielmatrix: sie istbei jeder Realisierung dieselbe. Doch Xenakis geht hier noch einen Schritt weiter:21

    La généralisation de cette idée serait de permettre la participation active dupublic, qui, par un scrutin collectif, établirait la Matrice du Jeu. Mais cette ex-périence pourrait être tentée ultérieurement. Par contre, les paris sont ouverts. . .

    2. Das Ergebnis des Konstruktionsprozesses wirkt für den Komponisten als das Ergebniseines stochastischen Prozesses wegen der folgenden Tatsachen:

    • Der Konstruktionsprozess der Matrix kann bis zu einem hohen Grad22 automatisiertwerden.

    • Das Ergebnis als äs