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Wolfgang Röd Benedictus de Spinoza Reclam

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Wolfgang RödBenedictus de Spinoza

Reclam

Röd · Benedictus de Spinoza

Wolfgang Röd

Benedictus de Spinoza

Eine Einführung

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Röd, Wolfgang:Benedictus de Spinoza : Eine Einführung /Wolfgang Röd. – Stuttgart : Reclam, 2002

(Universal-Bibliothek ; Bd. 18193)ISBN 3-15-018193-3

Alle Rechte vorbehalten© 2002, 2004 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart

RECLAM und UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Markender Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart

ISBN 978-3-15-950304-2ISBN der Buchausgabe 978-3-15-018193-5

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

1. Spinozas philosophisches Programm . . . . . . . . 132. Spinozas Metaphysik und der Geist der

Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223. Das Interesse am Spinozismus . . . . . . . . . . . 26

I

Spinozas Leben im Überblick

1. Jugend in Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . 312. Die Jahre in Rijnsburg . . . . . . . . . . . . . . . . 353. Die Zeit in Voorburg und Den Haag . . . . . . . 40

II

Methoden- und Erkenntnislehre

1. Die geometrische Ordnung . . . . . . . . . . . . . 442. Die Erkenntnisweisen . . . . . . . . . . . . . . . . 54

a) Die Erkenntnisweisen nach der KurzenAbhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

b) Die Erkenntnisweisen nach der Abhandlungüber die Verbesserung des Verstandes . . . . . 57

c) Die Erkenntnisweisen nach der Ethik . . . . . 613. Der Begriff der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . 64

a) Wahrheit und Adäquatheit von Ideen . . . . . 64b) Kritik am Cartesianischen Wahrheitskriterium 69

c) Notwendig wahre Ideen . . . . . . . . . . . . . 73d) Methode als reflexive Erkenntnis . . . . . . . . 75e) Reflexion auf den Verstand . . . . . . . . . . . 80

4. Der geometrische Geist . . . . . . . . . . . . . . . 82

III

Die erste Gestalt derSpinozanischen Metaphysik

1. Die Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862. Das Wesen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893. Spinoza und Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . 91

a) Übereinstimmungen . . . . . . . . . . . . . . . 91b) Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

4. Praktische Philosophie in derKurzen Abhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 101a) Die Lehre von den Affekten . . . . . . . . . . 101b) Vernünftige und unvernünftige Wertungen . . 104c) Vernünftige und unvernünftige Affekte . . . . 106

5. Erkenntnis und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . 110

IV

Die Grundlegung der Ontologiein der Ethik

1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . 1142. Grundbegriffe und Grundsätze . . . . . . . . . . . 118

a) Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118b) Die Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

3. Die Entwicklung des Substanzbegriffs . . . . . . . 127

Inhalt6

4. Unendliche und endliche Modi . . . . . . . . . . . 130a) Unendliche Modi der extensio . . . . . . . . . . 132b) Unendliche Modi der cogitatio . . . . . . . . . 133c) Die Ewigkeit der Substanz, der Attribute und

der unendlichen Modi . . . . . . . . . . . . . . 136d) Der Zusammenhang der Modi . . . . . . . . . 137

5. Die Macht der Substanz und die Macht der Modi 1396. Der Parallelismus der Attribute . . . . . . . . . . . 1427. Kritik der Teleologie und des Indeterminismus . . 145

V

Ontologie und Geometrie

1. Geometrische und ontologische Folgebeziehungen 150a) Geometrische Beispiele in der

Kurzen Abhandlung . . . . . . . . . . . . . . . 151b) Geometrische Beispiele in der Ethik . . . . . . 155

2. Unendliche Modi als Folgen der Attribute . . . . 159a) Das Folgen der Modi der extensio . . . . . . . 160b) Das Folgen der Modi der cogitatio . . . . . . . 166c) Die Zeitlosigkeit des Folgens . . . . . . . . . . 167

3. Vielheit und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

VI

Der Beweis der Existenz Gottesin der Ethik

1. Die Bedeutung des Gottesbeweises . . . . . . . . . 1742. Die Widerspruchsfreiheit der Gottesidee . . . . . . 1783. Die Substanz als causa sui . . . . . . . . . . . . . . 179

Inhalt 7

4. Die Einzigkeit der Substanz . . . . . . . . . . . . . 184a) Es gibt höchstens eine Substanz . . . . . . . . . 184b) Es gibt mindestens eine Substanz . . . . . . . . 188c) Der Primat der Gotteserkenntnis . . . . . . . . 192

VII

Geist, Körper und Anschauung

1. Das psychophysische Problem . . . . . . . . . . . 1952. Spinozas Auffassung der Idee . . . . . . . . . . . . 1993. Die Natur der Körper, insbesondere des

menschlichen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . 2034. Der Geist als Idee des Körpers . . . . . . . . . . . 2065. Das anschauliche Erkennen . . . . . . . . . . . . . 213

VIII

Die Lehre von den Affekten

1. Die Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2172. Spinoza und die herkömmliche Auffassung der

Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2193. Metaphysische Grundlagen der Lehre von den

Affekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221a) Definitionen und Postulate . . . . . . . . . . . 221b) Affektivität und Selbsterhaltungsstreben . . . . 223c) Affektivität und Macht . . . . . . . . . . . . . . 225d) Macht und Wesenheit . . . . . . . . . . . . . . 226

4. Die Grundaffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2295. Das Problem der Bewertung von Affekten . . . . 232

a) Vernünftige und unvernünftige Wertungen . . 232b) Die Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Inhalt8

6. Das Ideal der menschlichen Natur . . . . . . . . . 2387. Metaphysische Voraussetzungen . . . . . . . . . . 242

IX

Erkenntnis aus reiner Vernunft

1. Die Möglichkeit vollkommenen Wissens . . . . . 2462. Wissen nach der Abhandlung über die

Verbesserung des Verstandes . . . . . . . . . . . . . 2483. Die Auffassung des Wissens in der Ethik . . . . . 250

a) Empirisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . 250b) Rationales Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 251c) Rationale Gotteserkenntnis . . . . . . . . . . . 255d) Intuitives Wissen von Gott . . . . . . . . . . . 256

4. Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

X

Freiheit, Ewigkeit des Geistesund Liebe zu Gott

1. Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266a) Bedeutungen von »Freiheit« . . . . . . . . . . . 266b) Kritik der Lehre von der Willensfreiheit . . . . 268

2. Freiheit als Unabhängigkeit von Leidenschaften 2703. Freiheit und vernünftige Gottesliebe . . . . . . . . 276

a) Freiheit im metaphysischen Sinne . . . . . . . . 276b) Die Liebe zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . 278c) Die Ewigkeit der Gottesliebe . . . . . . . . . . 280

4. Die Ewigkeit des Geistes . . . . . . . . . . . . . . 283a) Der Gesichtspunkt der Ewigkeit . . . . . . . . 283b) Das Heil der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . 286

Inhalt 9

XI

Rechts- und Staatsphilosophie

1. Das natürliche Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 291a) Der Charakter der Naturrechtslehre . . . . . . 291b) Aspekte des natürlichen Rechts . . . . . . . . . 293c) Naturrechtslehre und Ontologie . . . . . . . . 296d) Konsequenzen des naturrechtlichen Ansatzes 298

2. Natürliches Recht und natürliches Gesetz . . . . . 2993. Die Konstruktion des Staatsbegriffs . . . . . . . . 301

a) Die Lehre vom Sozialkontrakt . . . . . . . . . 301b) Die Staatsentstehung nach dem

Politischen Traktat . . . . . . . . . . . . . . . . 3064. Staat und vernünftige Gemeinschaft . . . . . . . . 310

a) Die zwangsrechtliche Ordnung . . . . . . . . . 310b) Gemeinschaft ohne Zwang . . . . . . . . . . . . 314

5. Die Einheit des Staates nach demPolitischen Traktat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

6. Der geometrische Geist in der Staatslehre . . . . . 3187. Naturrecht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . 321

XII

Religionsphilosophie und Bibelkritik

1. Die Motive der Religionskritik . . . . . . . . . . . 3272. Religiöser Aberglaube und wahre Religion . . . . 331

a) Die Rolle der Einbildungskraft . . . . . . . . . 331b) Religiöse Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . 333c) Die wahre Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 335d) Die Bibelkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338e) Die philosophische Perspektive . . . . . . . . . 340

Schluß: Spinoza und die neuzeitliche Metaphysik . . 342

Inhalt10

Abkürzungen und Zitierweise . . . . . . . . . . . . . 355Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416

Inhalt 11

Einleitung

1. Spinozas philosophisches Programm

Spinoza war ein Denker, der die Grundideen seiner Philo-sophie früh konzipierte und sie im weiteren Verlauf beharr-lich und konsequent entfaltete. Welche Ziele er als Philo-soph verfolgte, sagte er in einer Fragment gebliebenen frü-hen Schrift, die vielleicht seine früheste war, nämlich derAbhandlung über die Verbesserung des Verstandes. DieÜberlegungen am Anfang dieses Entwurfs umreißen einphilosophisches Programm, das Spinoza im Verlauf der fol-genden Jahre mit eindrucksvoller Konsequenz realisiert hat;wegen ihrer Authentizität und Klarheit sind sie besondersgeeignet, als Leitfaden einer kurzen Einführung in Spinozasphilosophisches Denken zu dienen.

Der erwähnte Entwurf beginnt mit den Worten: »Nach-dem mich die Erfahrung gelehrt hatte, daß alles, was im ge-wöhnlichen Leben häufig vorkommt, eitel und nichtig sei[. . .], beschloß ich endlich nachzuforschen, ob es nicht etwasgebe, das wahrhaft gut ist und das an sich teilhaben läßt[. . .], ja ob es nicht etwas gebe, das ich, wenn ich es gefun-den und mir angeeignet hätte, auf ewig mit dauernder undhöchster Freude genießen könne.« (TIE § 1; II,5) In diesemPassus wird das Grundmotiv seines philosophischen Den-kens genannt. Einerseits geht es darum, etwas zu finden,das, im Gegensatz zu vergänglichen Gütern, wahrhaft gutist; andererseits kommt es, wenn ein solches Gut gefundenist, darauf an, es sich anzueignen bzw. sich mit ihm zu ver-einigen und in dieser Vereinigung zur Glückseligkeit zugelangen.

Um das so gekennzeichnete Ziel bemühte sich Spinoza inden folgenden Jahren; als er sein Hauptwerk, die Ethik, be-

endete, glaubte er, es erreicht zu haben, wie aus den Sätzen,mit denen er es abschloß, hervorgeht: »der Weise [. . .] wirdin seinem Gemüt kaum bewegt, sondern er ist sich seinerselbst, Gottes und der Dinge unaufhörlich mit einer gewis-sen ewigen Notwendigkeit bewußt und genießt immer diewahre Gemütsruhe. Wenn auch der von mir gewiesene, zudiesem Ziel führende Weg höchst mühsam zu sein scheint,kann er doch gefunden werden. Freilich muß mühsam sein,was so selten entdeckt wird. Wie wäre es sonst möglich, daßdas Heil [. . .] fast allgemein vernachlässigt wird? Doch allesVortreffliche ist ebenso schwierig wie rar.« (E V, 42 Sch;II,308 – freiere Übers.)

Spinoza sah sich als junger Mann vor eine Entscheidunggestellt, die seinem weiteren Leben die Richtung gebensollte; ihm wurde klar, daß er zwischen zwei grundsätzlichverschiedenen Werteinstellungen zu wählen hatte: entwedernach vergänglichen äußeren Gütern zu streben oder auf siezugunsten des wahren Gutes, das in der vernünftigen Er-kenntnis besteht und unvergänglich ist, zu verzichten. Da ersich nicht sicher war, das wahrhaft Gute erreichen zu kön-nen, fiel ihm, wie er am Anfang der Abhandlung über dieVerbesserung des Verstandes (TIE §§ 2–16; II,5–9 – freiereÜbers.) bekannte, die Entscheidung nicht leicht: »Ich sahnämlich die Vorteile, die man durch Ehre und Reichtümergewinnt, und [mir war klar], daß ich darauf verzichten müs-sen würde, sie zu erstreben, wenn ich mich allen Ernstes umetwas anderes, Neues bemühen wollte.« Offenbar fiel esihm schwer, die Aussicht auf Ansehen und Wohlstand auf-zugeben, denn er suchte zunächst nach einem Kompromiß:»Ich überlegte [. . .], ob es vielleicht möglich wäre, eine Um-orientierung vorzunehmen [. . .], ohne die Ordnung und all-gemeine Orientierung meines Lebens zu ändern.«

Seine Versuche, einen solchen Mittelweg zu finden, führ-ten jedoch nicht zum Erfolg. Den Grund des Fehlschlagenserblickte er darin, daß die Wertungen, zwischen denen zuwählen war, grundsätzlich nicht vereinbar sind: Ein Stand-

Einleitung14

punkt, von dem aus Ansehen und Reichtum als höchsteWerte gelten, ist mit einer Einstellung, die durch die Bereit-schaft zum Verzicht auf diese Güter gekennzeichnet ist,nicht zu vereinbaren. Nach und nach trat jedoch eine Klä-rung ein. Ansehen und Vermögen erwiesen sich, ungeachtetder Vorteile, die sie bieten, bei genauerer Prüfung als un-überwindbare Hindernisse der erstrebten Neuorientierung.Spinoza wog Vor- und Nachteile gegeneinander ab und kamzu dem Ergebnis, daß das, was gewöhnlich am meisten ge-schätzt wird, nämlich Reichtum, Ehre und sinnliche Lust,den Blick auf andere Werte verstellt. Die sinnliche Lustscheint ein Wert zu sein, aber sie macht es fast unmöglich,an anderes zu denken, und zieht oft die größte Unlust nachsich. Auch Ansehen und Reichtum lenken, wenn sie alshöchste Güter betrachtet und um ihrer selbst willen erstrebtwerden, den Geist von anderen Zielen ab. Die Freude an ih-nen kann nur zu leicht in Trauer umschlagen, wenn nämlichHoffnungen, die man in bezug auf sie gehegt hat, unerfülltbleiben.

In dieser Situation galt es zu bestimmen, was dem Men-schen wahrhaft nützlich ist: »Ich war gezwungen zu unter-suchen, was mir nützlicher sei«, wie Spinoza rückblickendschrieb. Ihm wurde klar, daß das gemeinhin für wertvollGehaltene nur scheinbar gut ist: »Durch gründliches Nach-denken kam ich zu der Einsicht, daß ich, genau betrachtet,sichere Nachteile für ein sicheres Gut aufgeben würde. Ichmerkte nämlich, daß ich in größter Gefahr schwebte unddaher gezwungen war, mit aller Kraft nach einem Heilmit-tel zu suchen, auch wenn es noch unerprobt war, wie einTodkranker, der, ohne Medikamente den sicheren Tod vorAugen, um jeden Preis ein Heilmittel haben will, auchwenn dessen Wirksamkeit noch nicht feststeht, setzt erdoch seine ganze Hoffnung darauf. Die Denkweise dergroßen Masse der Menschen bietet aber nicht nur kein Mit-tel zur Erhaltung unseres Seins, sondern sie steht im Ge-gensatz zu ihr.«

Spinozas philosophisches Programm 15

Was hier anklingt, wird in Spinozas reifer Metaphysikausgeführt. Das gilt vor allem für die Lehre von der Selbst-erhaltung, die hier nur gestreift wird, die aber in Spinozasentwickelter Philosophie eine zentrale Rolle spielt. DerMensch strebt nach Spinoza nicht nur nach Erhaltung desLebens, sondern nach Erhaltung seines Seins im umfassen-den Sinne, namentlich nach der Erhaltung des Geistes undseiner spezifischen Aktivität. Für Spinozas Betrachtungs-weise ist es kennzeichnend, daß das Streben nach Erhaltungseiner selbst nicht nur als empirische Tatsache festgestellt,sondern metaphysisch als Ausdruck der göttlichen Macht,die sich in allem Endlichen äußert, gedeutet wird. Außer-dem faßte Spinoza das Selbsterhaltungsstreben als Rechtauf, daß dem Menschen, wie allen endlichen Wesen, vonNatur aus zukommt. Die Idee des natürlichen Rechts derSelbsterhaltung bildet die Grundlage seiner Rechts- undStaatsphilosophie, der Spinoza zwei Werke, den Theolo-gisch-politischen Traktat und den Politischen Traktat, sowieeinen umfangreichen Passus der Ethik gewidmet hat.

Der Gedanke des Heils, auf den hier mit Hilfe der meta-phorischen Rede von einem Heilmittel hingewiesen wird,verbindet sich mit dem Begriff des Nutzens, an dem sich dieEntscheidung über die Lebensweise orientiert. Dabei istkein Nutzen von jener Art gemeint, die die Vertreter desempiristischen Utilitarismus im Auge hatten, sondern einmetaphysisch verstandener Nutzen, der mit dem Ideal einesvernünftig erkennenden und handelnden Menschen zusam-menhängt, d. h. eines Menschen, der im Einklang mit der inGott fundierten umfassenden Ordnung der Wirklichkeiturteilt bzw. entscheidet und damit der Glückseligkeit oderdes Heils teilhaftig wird, wie Spinoza in der Ethik ausfüh-ren sollte.

Hätte Spinoza unsere Sprache gesprochen und hätte ersich nicht gescheut, ein bereits reichlich abgegriffenes Wortzu gebrauchen, hätte er, anstatt von der Erhaltung des Seins,von »Selbstverwirklichung« sprechen können. Während

Einleitung16

aber heute mit diesem Ausdruck oft nur die Erfüllung sub-jektiver Wünsche gemeint ist, war Spinoza überzeugt, daßder Mensch sein Wesen dadurch verwirklicht, daß er sichseiner Verbindung mit dem Ewigen und Unendlichen, d. h.mit Gott, vergewissert. Von der Liebe zu Gott stellte er fest:»Die Liebe zu dem, was ewig und unendlich ist, nährt dieSeele mit reiner Freude und ist frei von aller Trauer. Dies isthöchst wünschenswert und muß mit aller Kraft erstrebtwerden.« (TIE § 10; II,7) Auch hier wird ein Thema be-rührt, das in der Ethik, namentlich in deren letztem Teil,ausführlich erörtert wird.

Das Ziel des Strebens nach Vervollkommnung wird mitder Einsicht erreicht, daß die Wirklichkeit eine Einheit ist,der auch der Mensch angehört. Der Mensch ist ein end-liches, somit beschränktes Wesen, dessen Erkennen be-grenzt ist; er kann aber den Gedanken einer vollkommene-ren menschlichen Natur bilden und danach streben, demIdeal einer solchen Natur nahezukommen, nämlich einerNatur, die durch das »Wissen von der Einheit des Geistesmit der Gesamtnatur« bestimmt ist. Die Natur im umfas-senden Sinne ist göttlich, so daß die Einsicht, der Natur an-zugehören, zugleich als Wissen von der Zugehörigkeit zuGott aufgefaßt werden kann. In der Abhandlung von Gott,dem Menschen und seiner Glückseligkeit, die im selbenZeitraum entstanden ist, in dem auch die Abhandlung überdie Verbesserung des Verstandes geschrieben wurde, wirdGott als Totalität der Wirklichkeit aufgefaßt, so daß außerGott nichts sein kann und alles, was existiert, in Gott ist.Gott erkennen heißt daher, sich selbst als zugehörig zu Gotterkennen. Von dieser Zugehörigkeit zu wissen bedeutet, siezu bejahen, und das heißt nach Spinoza, Gott zu lieben. Wirwissen unmittelbar, »daß Gott die Ursache aller Erkenntnisist, die allein durch sich selbst und durch kein anderes Dingerkannt wird [. . .] und daß wir von Natur aus derart mitihm vereinigt sind, daß wir ohne ihn weder bestehen nochbegriffen werden können. Und weil zwischen Gott und uns

Spinozas philosophisches Programm 17

eine so enge Verbindung ist, ist offensichtlich, daß wir ihnnur unmittelbar erkennen können.« (KV II, 22; I,101)

Das höchste Gut – die Gotteserkenntnis und Gottesliebe– soll aber nicht vom Einzelnen allein, sondern in Verbin-dung mit anderen Menschen erstrebt werden. Im Hinblickauf die vollkommene menschliche Natur, deren Vorstellungwir bilden, betonte Spinoza: »Das höchste Gut ist, dahin zugelangen, daß man nach Möglichkeit zusammen mit ande-ren in den Genuß einer solchen Natur kommt.« Das höch-ste Gut besteht darin, gemeinsam mit anderen Gott zu er-kennen und sich Gott zugehörig zu wissen. Zur Glückselig-keit gehört, »daß viele sie mit mir erlangen« bzw. »daß vieleandere dasselbe wie ich erkennen, so daß ihr Verstand undihre Begierde völlig mit meinem Verstand und mit meinerBegierde übereinstimmen« (TIE § 14; II,8).

In der Ethik hat Spinoza später erklärt, warum dieGlückseligkeit größer ist, wenn Gott gemeinsam mit ande-ren vernünftigen Menschen zu erkennen gesucht wird (EIV, 35 ff.; II,232 ff.): Die Menschen stimmen miteinandernur dann notwendig überein, wenn sie sich von der Ver-nunft leiten lassen. Der Vernünftige wird nämlich ein Gut,das er für sich erstrebt, auch allen anderen wünschen, unddas um so mehr, je mehr er Gott erkennt. Das höchste Gutist derart, daß viele gleichzeitig seiner teilhaftig sein können,denn aus der menschlichen Wesenheit folgt, daß es allenMenschen gemeinsam ist. Der Mensch kann ohne das Ver-mögen, sich des höchsten Gutes zu erfreuen, weder seinnoch begriffen werden.

Das Streben nach dem höchsten Gut kann nur Erfolg ha-ben, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. Wie in der Ab-handlung über die Verbesserung des Verstandes bemerktwird, gehören zu diesen Bedingungen nicht nur einzelwis-senschaftliche Erkenntnisse, sondern es ist auch nötig, diemit wissenschaftlichen Theorien verbundenen Erkenntnis-ansprüche im Rahmen der Metaphysik zu rechtfertigen. Zudiesem Zweck bedarf es einer Methode, die es möglich

Einleitung18

macht, Wissenschaft und Philosophie auf sichere Grundla-gen zu stellen. Eine weitere Bedingung erfolgreichen Stre-bens nach dem höchsten Gut ist eine Rechtsordnung, die dieFreiheit des Denkens gewährleistet. An naturwissenschaft-lichen Problemen war Spinoza stets interessiert, wie aus derKorrespondenz hervorgeht, wogegen er auf die Bedeutungder Technik und der Medizin, der Francis Bacon und Des-cartes so große Beachtung geschenkt hatten, nur kurz hin-wies. In der Ethik hat er die Umrisse der Naturphilosophieskizziert und in deren Rahmen eine mechanistische Auffas-sung der Vorgänge im menschlichen Körper entwickelt. Aufdieser Grundlage beruht seine Theorie der anschaulichenVorstellungen und der Affekte. Letzten Endes sind allenaturwissenschaftlichen und technischen, politischen undwirtschaftlichen, moralischen und pädagogischen Bemü-hungen auf das mit dem höchsten Gut gegebenen Ziel zubeziehen.

Wiederholt setzte sich Spinoza, wie erwähnt, mit Grund-fragen der Rechts- und Staatsphilosophie auseinander, näm-lich im Theologisch-politischen Traktat, in einem ausführ-lichen Passus im vierten Teil der Ethik und im PolitischenTraktat. Dabei spielte die Idee der Freiheit eine zentraleRolle. Im rechtlichen Sinne ist frei, wer nur Gesetzen ge-horcht, an deren Zustandekommen er mitgewirkt oder de-nen er mindestens zugestimmt hat, wie es im Rahmen einerrepublikanischen Verfassung der Fall ist. Die Denk- undRedefreiheit ist ein Aspekt dieser Freiheit. Frei ist derMensch aber auch insofern, als er vernünftig denkt und inseinem Denken unabhängig ist vom Einfluß der Leiden-schaften. Der Erörterung der Affekte ist ein großer Teil vonSpinozas Moralphilosophie gewidmet. Spinoza fragte nachder Entstehung der Leidenschaften sowie nach Möglichkei-ten ihrer Kontrolle und ihrer Überwindung.

Über den besonderen Begriffen von Freiheit – als Freiheitim juristischen Sinne, als Freiheit von Leidenschaften, alsFreiheit von Vorurteilen – steht der metaphysische Begriff

Spinozas philosophisches Programm 19

der Freiheit, dem gemäß frei ist, was nur nach der Notwen-digkeit der eigenen Natur wirkt. Absolut frei in diesemSinne ist nur Gott, doch kann der Mensch an der FreiheitGottes teilhaben, wenn er einsieht, daß er Gott zugehörigist, und wenn er die Zugehörigkeit zu ihm bejaht. Da»Gott« die Natur in umfassender Bedeutung oder die Tota-lität des Seins bedeutet, ist für den vernünftigen Geist, derdie umfassende Ordnung des Seins erkennt und bejaht, dieGesetzmäßigkeit des Geschehens nicht eine fremde Not-wendigkeit, die er erleidet, sondern die Notwendigkeit derGesamtnatur, deren Teil er ist. In diesem Sinne ist der ver-nünftig erkennende Mensch frei. Spinoza hat die so verstan-dene Freiheit mit der Glückseligkeit und mit dem Heil, aufdas sich das Streben des vernünftigen Geistes richtet, identi-fiziert (E V, 36 Sch; II,303).

Wenn das Heil bzw. die Glückseligkeit in der vernünfti-gen Erkenntnis Gottes besteht, dann läßt sich die Fragenach der Natur der Erkenntnis und nach den Methoden derErkenntnisgewinnung nicht umgehen. Wie alle Vertreterder rationalistischen Philosophie war Spinoza überzeugt,daß es rein vernünftige, d. h. prinzipiell von der Erfahrungunabhängige Erkenntnis geben könne und daß sie vollkom-men, d. h. unbedingt und endgültig sei. Die Frage ist, wieeine solche Erkenntnis als möglich begriffen werden kann.Die Antwort meinte Spinoza im Rahmen seiner Metaphy-sik geben zu können: Vernünftiges Denken und Sein kön-nen übereinstimmen, weil beide denselben Ursprung haben,nämlich Gott bzw. die absolut unendliche Substanz, die sichsowohl in den Begriffen der Vernunft als auch in den We-senheiten der Dinge manifestiert. Wegen des gemeinsamenUrsprungs von Denk- und Seinsordnung entsprechen demDenken in klaren und deutlichen Begriffen die Wesenheitender Dinge, so daß der Anspruch, im vernünftigen Denkenetwas vom Sein erfassen zu können, als gerechtfertigt er-scheint. In der Abhandlung über die Verbesserung des Ver-standes ist in diesem Sinne von einem Seienden – nämlich

Einleitung20

Gott – die Rede, »welches die Ursache aller Dinge ist, wiedessen objektive Wesenheit die Ursache aller unserer Ideenist«. Wenn es ein solches Seiendes gibt, »dann wird sich un-ser Geist [. . .] so weit als möglich auf die Natur beziehen«(TIE § 99; II,36). In der Ethik wird dieser Gedankengangentfaltet und sein Ergebnis auf die berühmte Formelgebracht: »Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen istmit der Ordnung und Verknüpfung der Dinge identisch«(E II, 7; II,89).

Der Bedeutung der Methode war sich Spinoza von An-fang an bewußt, wie sich zeigt, wenn er feststellt: »Vor al-lem muß die Art und Weise gedanklich bestimmt werden, inder der Verstand [. . .] gereinigt werden kann, so daß er dieDinge [. . .] möglichst gut erkennt.« (TIE § 17; II,9) DieseAufgabe scheint er durch die Untersuchungen in der Ab-handlung über die Verbesserung des Verstandes für erledigtgehalten zu haben, denn er ist später nicht mehr auf sie zu-rückgekommen.

Methodologisch besonders wichtig ist die Forderung,zwischen Beschreibung, Klassifikation und Erklärung vonTatsachen einerseits und ihrer moralischen Bewertung ande-rerseits genau zu unterscheiden. So betonte Spinoza, daß esin der Psychologie der Leidenschaften darum gehe, »diemenschlichen Handlungen so zu betrachten, als ob von Li-nien, Flächen und Körpern die Rede wäre«, und nichtdarum, die menschliche Natur zu beweinen, zu verlachen,zu verachten oder zu verwünschen (E III, Praef; II,137).Dieselbe Einstellung kommt in seiner Rechts- und Staats-philosophie zur Geltung: Die Handlungen der Menschensind nicht zu verlachen, zu beklagen oder zu verwünschen,sondern zu verstehen. Demgemäß wollte Spinoza »die Af-fekte nicht als Gebrechen der menschlichen Natur, sondernals Eigenschaften betrachten, die zu ihr ebenso gehören wiezur Natur der Luft Wärme, Kälte, Sturm« (TP I, 1; III,274).

Die methodologischen Erörterungen dienen schließlichauch dazu, Hindernisse des vernünftigen Denkens zu besei-

Spinozas philosophisches Programm 21

tigen, nämlich die Vorurteile und die tiefverwurzelten Irrtü-mer, denen der Mensch gewöhnlich verhaftet ist. Die Me-thodologie hat somit auch eine propädeutische bzw. einetherapeutische Aufgabe, die nicht um ihrer selbst willen,sondern im Interesse der letzten theoretischen und prakti-schen Ziele des Menschen in Angriff zu nehmen ist.

2. Spinozas Metaphysik undder Geist der Geometrie

Spinozas Philosophie ist vor allem Metaphysik; auch dieMoralphilosophie, die Psychologie der Affekte, die Lehrevon Recht und Staat beruhen auf metaphysischen Grundla-gen und lassen sich unabhängig von ihnen nicht verstehen.Spinoza war ein Vertreter der rationalistischen Metaphysikseiner Zeit, weshalb es angezeigt ist, einen Blick auf derenCharakter zu werfen.

Die rationalistische Metaphysik des 17. Jahrhunderts un-terscheidet sich von der Metaphysik der vorangegangenenEpochen durch eine neue Aufgabenstellung: Ihre Vertreterfragten nicht mehr, wie Aristoteles und die Scholastiker,nach dem Seienden als solchem und nach dessen allgemein-sten Bestimmungen, sie wollten auch nicht mehr in ersterLinie das Wesen der Wirklichkeit im ganzen oder das We-sen einzelner erfahrungsjenseitiger Wirklichkeitsbereicheerkennen, sondern sie versuchten begreiflich zu machen,wie Erfahrung bzw. Erkenntnis von Gegenständen über-haupt möglich ist. Dabei wird nicht nur vorausgesetzt, daßes Gegenstandserkenntnis im allgemeinen gibt, sondern eswird angenommen, daß es innerhalb bestimmter Grenzensichere Erkenntnis der Wirklichkeit gibt, nämlich in Formwissenschaftlicher Aussagen über Zusammenhänge im Be-

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reich der Natur. Die neuzeitliche Naturwissenschaft er-schien vielen Naturwissenschaftlern und Philosophen des17. Jahrhunderts als die Verwirklichung des alten Ideals un-bedingt sicherer Erkenntnis der Natur. Seit den Anfängendes philosophischen Denkens im Altertum wurde immerwieder beansprucht, etwas vom Wesen der Dinge sicher er-kennen zu können, doch ohne daß dieser Anspruch über-zeugend gerechtfertigt worden wäre; in der von Galilei,Kepler, Huygens und anderen repräsentierten neuen Wis-senschaft schien dieses Ideal verwirklicht.

Diese Ansicht hatte wichtige Konsequenzen für die Me-taphysik: Wenn die Aufgabe, das Wesen der Wirklichkeit si-cher zu erkennen, der Naturwissenschaft übertragen wurde,dann hatte entweder die Metaphysik als hinfällig zu gelten,oder ihre Aufgabe mußte neu definiert werden. Die ersteRichtung schlugen manche empiristischen Theoretiker ein,in deren Nachfolge später Hume und die Positivisten dieAuflösung der Metaphysik in einzelwissenschaftliches Den-ken proklamierten. Der zweiten Richtung folgten die Ver-treter der rationalistischen Metaphysik. Descartes, Spinoza,Leibniz und andere wiesen der Metaphysik eine neue Auf-gabe zu; ihrer Ansicht nach hat sie vor allem die Funktion,begreiflich zu machen, wie sichere Wirklichkeitserkenntnismöglich ist.

Diese Aufgabe schien nur lösbar zu sein, wenn sich zei-gen ließ, daß die Strukturen des vernünftigen Denkens mitden Strukturen der Wirklichkeit selbst übereinstimmen.Um eine solche Übereinstimmung behaupten zu können,hielt man es für nötig, beide Ordnungen – die des vernünf-tigen Denkens und die des Wesens der Dinge – auf ein ge-meinsames Prinzip zurückzuführen. Der rationalistischenMetaphysik lag der Glaube an eine umfassende Vernunft-ordnung zugrunde, in die unsere Begriffe ebenso wie dieWesenheiten der Dinge eingebettet sind, so daß auf dieÜbereinstimmung von begrifflicher Ordnung und Wesens-ordnung geschlossen werden kann.

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Wenn im Rahmen dieser Metaphysik von Gott, demmenschlichen Geist und der Welt gesprochen wird, ge-schieht das in anderer Weise als in der älteren Metaphysik:In der neuzeitlichen Metaphysik ist die Erkenntnis Gottes,des Geistes und der Welt nicht mehr Ziel der metaphysi-schen Bemühungen, sondern die Aussagen über Gott, Seeleund Welt dienen dazu, den Anspruch sicherer Wirklich-keitserkenntnis, einschließlich der naturwissenschaftlichenErkenntnis, zu begründen. Die Sätze über das höchste We-sen, über den menschlichen Geist und über die Natur sindBestandteile einer Theorie, in deren Rahmen perfektes, ob-schon begrenztes Wissen von Wesensbeziehungen der Rea-lität als möglich begriffen werden soll.

Die allgemeinen Charakteristika der rationalistischenMetaphysik der Erkenntnis finden sich auch bei Spinoza.Wie die anderen Vertreter des Rationalismus nahm auch eran, daß die umfassende Ordnung, in die die Ordnung unse-rer Ideen und die Ordnung der Dinge eingebettet sind, ob-jektiv vernünftig ist, d. h. daß sie durch Beziehungen be-stimmt ist, die vernünftig eingesehenen Beziehungen ent-sprechen. Da die Mathematik als Muster einer Wissenschaftaus reiner Vernunft galt, lag es nah, in den Beziehungenzwischen mathematischen Sätzen das Modell der Beziehun-gen zwischen den Wesenheiten der Dinge zu erblicken. Ausdemselben Grund erschien es naheliegend, sich bei der Dar-stellung der Metaphysik an der Form zu orientieren, die dieGeometrie durch Euklid erhalten hatte und von der Aristo-teles gemeint hatte, daß sie die Form jeder strengen Wissen-schaft sein müsse. Niemand ist der geometrischen Ordnungso konsequent gefolgt wie Spinoza, der in seinem Haupt-werk die Sätze der Metaphysik aus wenigen Definitionenund Axiomen ableitete.

Wichtiger als die geometrische Form ist jedoch der»Geist« der im Sinne des Essentialismus interpretiertenGeometrie. Nach Spinoza beziehen sich die Begriffe derGeometrie auf ideale Entitäten – auf allgemeine »Naturen«

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bzw. auf Wesenheiten –, so wie seiner Ansicht nach auchden logischen Beziehungen zwischen geometrischen Aussa-gen objektive ideale Zusammenhänge entsprechen. Bezie-hungen dieser Art bestehen nach Spinoza auch zwischen derabsolut unendlichen Substanz mit ihren Attributen und denendlichen Seienden.

Der Glaube, daß die Natur geometrische Form habe unddaher objektiv vernünftig sei, läßt sich bis zu den Griechenzurückverfolgen. Platon hat gelehrt, daß der Demiurg dieWelt, auf die Ideen hinblickend, mit Hilfe geometrischerFormen geordnet habe, und vor ihm hatten die Pythagoreerangenommen, daß das Wesen der Dinge zahlenmäßig be-stimmt sei. Diese Auffassung fand in der frühen Neuzeit einEcho bei Galilei, der von dem Buch der Natur meinte, es seiin mathematischer Sprache geschrieben.

Spinoza hat die Natur nicht so geometrisiert, wie das Py-thagoras und Platon getan hatten. Er nahm nicht an, daß esPartikeln gebe, die geometrische Form haben, sondern erbetrachtete die Teilchen, aus denen die Dinge seiner Ansichtnach bestehen, als Massenpunkte, die sich nicht durch ihregeometrische Gestalt, sondern nur durch ihre Bewegungenunterscheiden. Die Geometrie war vielmehr insofern Vor-bild seiner Metaphysik, als er die Beziehung zwischen demUrsprung der Natur und den Wesenheiten der Dinge nachdem Vorbild der Beziehungen zwischen den Prinzipien derGeometrie und deren Lehrsätzen interpretierte. Aus derSubstanz, sofern sie ausgedehnt ist, folgen seiner Ansichtnach Ausdehnungs- und Bewegungsverhältnisse, durch diedie Natur der Dinge bestimmt ist, und in formal gleicherWeise folgen aus ihr die vernünftigen Ideen, deren Zusam-menhang daher dem Zusammenhang der Wesenheiten ent-spricht. Der »Geist der Geometrie« – und nicht so sehr diegeometrische Form – macht die Spinozanische Philosophiezu einem systematisch einheitlichen Ganzen; er prägt sieaber auch da, wo die »geometrische« Form nicht zur Gel-tung kommt. Der Bedeutung dieses »Geistes« für Spinozas

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Metaphysik soll in der folgenden Darstellung besondereBeachtung geschenkt werden.

Die unendliche Substanz, zu deren Wesen Ausdehnungund Denken gehören und deren Manifestationen alle end-lichen materiellen und geistigen Seienden sind, heißt beiSpinoza auch »Natur«, und dieser Ausdruck bezeichnet so-wohl den Grund als auch die Totalität der Wirklichkeit. Dieso verstandene Natur nannte Spinoza oft »Gott«. Da derGott, von dem er sprach, somit kein transzendentes Wesen,kein Weltschöpfer und kein persönliches Wesen ist, kannman verstehen, daß seine Auffassung Anstoß erregte, zumalSpinoza auch die Seele nicht als Substanz betrachtete unddie Annahme einer individuellen Unsterblichkeit ablehnte.Man warf ihm Atheismus und Materialismus vor, dochwurde er manchmal auch als Wegbereiter einer atheistischenund naturalistischen Philosophie anerkannt und bewundert.Er selbst hat sich gegen den Vorwurf des Atheismus ver-wahrt und betont, daß er Gott nicht geleugnet, sondern nureinen unangemessenen, weil anthropomorphen Gottesbe-griff zurückgewiesen habe. Ebenso hätte er sich dagegenverwahren können, als Materialist bezeichnet zu werden, daer die Eigenständigkeit des Geistes anerkannte und die Zu-rückführung des Bewußtseins auf materielle Vorgänge alsunmöglich betrachtete.

3. Das Interesse am Spinozismus

Obwohl Spinozas System unter den Bedingungen gegen-wärtigen Philosophierens wegen seines spekulativen Cha-rakters kaum mehr akzeptiert werden wird, stößt es immernoch auf Interesse, ja das Interesse an ihm hat seit einigenJahrzehnten merklich zugenommen. Das hängt sicherlich

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zum Teil mit seiner Form zusammen: Spinozas System be-eindruckt durch seine Geschlossenheit, obwohl es sich beigenauerer Prüfung als nicht ganz so kohärent erweist, wiees auf den ersten Blick den Anschein hat.

Das Interesse an Spinozas Philosophie erklärt sich aberauch aus der Tatsache, daß in ihr Probleme diskutiert wer-den, die in der Gegenwart noch als aktuell betrachtet wer-den. Das gilt zum Beispiel für den Versuch, das Verhältnisvon Materie und Bewußtsein in einer sowohl vom Materia-lismus als auch vom Mentalismus verschiedenen Weise zubestimmen, für sein Programm einer rein beschreibenden,nicht-imperativischen Ethik oder für seine Rechts- undStaatsphilosophie mit ihren liberalen Elementen. Auch dieRelativierung der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis, aufdie Spinozas Metaphysik hinausläuft, dürfte für manche zu-gunsten des Spinozismus sprechen. Nach Spinoza erfassendie Wissenschaft von der materiellen Natur und die Wissen-schaft vom Bewußtsein nur jeweils eine Seite der Wirklich-keit, so daß es unter Spinozas Voraussetzungen ebenso un-möglich ist, das Bewußtsein auf materielle Zusammenhängezu reduzieren, wie die Materie im Geist aufgehen zu lassen.

Attraktiv dürfte Spinozas Denkweise auch für viele sein,die es ablehnen, das Verhältnis von Mensch und Natur alsGegensatz zu sehen, hat doch Spinoza den Menschen alsTeil der Natur im weiten Sinne aufgefaßt und betont, daß ernicht gleichsam einen Staat im Staate innerhalb der Naturbilde, sondern nur im Zusammenhang mit ihr verstandenwerden könne. Deshalb bleibt seine Philosophie von einerKritik verschont, wie sie manchmal in bezug auf Descartesvorgebracht wird, der als vermeintlicher Wegbereiter eineseinseitig naturwissenschaftlich-technischen Weltbildes fürgewisse als negativ betrachtete Entwicklungen des moder-nen Denkens verantwortlich gemacht wird.

Eindrucksvoll ist schließlich auch Spinozas kritische Ein-stellung, die sich in der Zurückweisung anthropomorpherNaturauffassungen, insbesondere der teleologischen Sicht

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der Natur, in seiner Ablehnung einer moralisierenden Psy-chologie oder in der Kritik der herkömmlichen theologi-schen Bibelauslegung äußert. Mit Spinozas kritischer Ein-stellung hängt seine Forderung, die wissenschaftliche Er-kenntnis von Wertungen freizuhalten, eng zusammen.

Über solchen Übereinstimmungen im einzelnen darf dertiefgreifende Unterschied, der zwischen dem Spinozismusund der heute herrschenden Denkweise besteht, nicht über-sehen werden: Während Spinoza dem philosophischenDogmatismus verpflichtet war, macht sich im gegenwärti-gen Denken eine starke antidogmatische Tendenz bemerk-bar. Wegen seines Dogmatismus war Spinoza nicht in derLage, Meinungen, die von der seinen abwichen, ernst zunehmen oder gar einzuräumen, daß seine Ansicht mög-licherweise korrekturbedürftig sei. Seine Reaktion auf (frei-lich alles andere als angemessene) Einwände gegen seine Po-sition ist in dieser Hinsicht aufschlußreich: Auf die Frage,wie er denn wissen könne, daß seine Philosophie die bestesei, antwortete er schroff, er erhebe nicht den Anspruch, diebeste Philosophie ersonnen zu haben, sondern er wisse, daßer die wahre erkenne, und das wisse er so, wie jeder Ver-ständige weiß, daß die Winkel eines Dreiecks zwei Rechtengleich sind. Das genüge, wenn man im Kopfe richtig sei.

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Im Interesse einer gedrängten Darstellung der Spinozani-schen Philosophie wird es nötig sein, sich auf ihre Grund-gedanken zu konzentrieren und manche weniger wichtigeEinzelheit zu übergehen. Die folgenden Überlegungen be-ruhen auf der Überzeugung, daß man Spinoza nicht gerechtwerden kann, wenn man ihn nicht als Metaphysiker ver-steht, der die neue Auffassung der Metaphysik in ihrer ra-tionalistischen Variante möglichst konsequent zur Geltungbringen wollte und der stärker als andere vom »Geist derGeometrie« durchdrungen war. Das heißt nicht, daß Spino-

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zas naturphilosophische Auffassungen, seine Religionsphi-losophie, seine Rechts- und Staatsphilosophie geringzuach-ten wären; es heißt aber, daß sich diese Bereiche seiner Phi-losophie nicht angemessen würdigen lassen, wenn sie nichtim Zusammenhang mit ihren metaphysischen Grundlagenbetrachtet werden.

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