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Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus (Nicole Holzenthal de Cimadevilla) Der gegenwärtige Beitrag entstand auf der Grundlage meines am Philosophischen Institut der Universität Wien im Juli 2011 gehaltenen wissenschaftsphilosophischen Vortrags zur Auseinandersetzung zwischen zwei aktuellen europäischen Philosophiennämlich dem „Philosophischen Materialismus“ (PhM) von Gustavo Bueno im nordspanischen Oviedo und dem „Konstruktiven Realismus“ (CR) von Friedrich Wallner aus Wien. Es handelt sich gleichzeitig gewissermaßen um eine Weiterführung meines in Aus dem Umfeld des Konstruktiven Realismus (CR). Studien zur Wissenschaftskultur veröffentlichten Beitrags „Berührungspunkte und Kontraste zwischen dem Konstruktiven Realismus und dem Philosophischen Materialismus“, in dem erste offensichtliche Vergleichspunkte in Form einer Einführung nebeneinandergehalten wurden. Nachdem dort allgemeine Ähnlichkeiten und Unterschiede hervorgehoben wurden, sollen im nun vorliegenden Artikel einzelne wissenschaftsphilosophische Fragen etwas ausführlicher behandelt werden, wobei sich deutlicher auch einige tiefgehende Unterschiede aufzeigen. Mein Vorgehen nun ist folgendes: Ausgehend von einigen für beide Philosophen zentralen Fragen zur Wissenschaftsphilosophie, werden die Problemstellungen beider Ansätze einander gegenübergestellt. Angesichts der Nähe des Wiener Publikums zum CR, sowohl beim Vortrag als auch unter der Leserschaft dieser Schrift, werde ich den größten Raum auf den im deutschsprachigen Raum noch unbekannteren PhM verwenden, der in den entsprechenden Punkten noch in Grundzügen vorzustellen ist, während der CR sich angesicht seines Bekanntheitsgrades auf kurze Thesen reduzieren lässt. Bei diesem Procedere ergeben sich einige Fragen, die sich dem Konstruktiven Realismus aus der Sicht des Philosophischen Materialismus stellen und umgekehrt. Noch ein paar Worte vorab. Mit Freude beobachtete ich auf der Tagung in Wien, dass die Philosophie heute in Wien ähnlich wie in Oviedo Menschen ganz unterschiedlicher Disziplinen anzieht: So waren neben Forschern der Philosophie bzw. Philosophiegeschichte, auch Biologen, Literaturwissenschaftler, Psychologen, Forscher im Bereich der Medizin usw. anzutreffen. Diese Interaktion zwischen dem philosophischen System und anderen Disziplinen ist für beide hier zu behandelnden Ansätze charakteristisch. Das von Gustavo Bueno in den 1970ern in Spanien gegründete, im spanischsprachigen Raum hoch anerkannte philosophische System des „Philosophischen Materialismus“ (PhM), mit dem ich mich die letzten Jahre vorwiegend auseinandergesetzt habe und das und von einer wachsenden Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen verwendet wird, umfasst als einen seiner Hauptbestandteile einen wissenschaftsphilosophischer Ansatz, der bei wissenschaftlichen Disziplinen den sogenannten „Kategorienabschluss“ beobachtet und sich daher selbst „Theorie des Kategorienabschlusses“ (Teoría del Cierre Categorial) nennt gleichzeitig der Name seines z.Zt. fünfbändigen wissenschaftstheoretischen Werkes. Diese Theorie baut weitgehend auf die gleiche Tradition auf wie der Konstruktive Realismus, weist in der Folge an manchen Stellen ähnliche, konstruktivistische Wege auf, ist aber dann an anderen Stellen völlig anders, weshalb eine detailliertere Auseinandersetzung in meinen Augen unabdingbar ist.

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Page 1: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus

und den Konstruktiven Realismus

(Nicole Holzenthal de Cimadevilla)

Der gegenwärtige Beitrag entstand auf der Grundlage meines am Philosophischen

Institut der Universität Wien im Juli 2011 gehaltenen wissenschaftsphilosophischen

Vortrags zur „Auseinandersetzung zwischen zwei aktuellen europäischen Philosophien“ –

nämlich dem „Philosophischen Materialismus“ (PhM) von Gustavo Bueno im

nordspanischen Oviedo und dem „Konstruktiven Realismus“ (CR) von Friedrich Wallner

aus Wien. Es handelt sich gleichzeitig gewissermaßen um eine Weiterführung meines in

Aus dem Umfeld des Konstruktiven Realismus (CR). Studien zur Wissenschaftskultur

veröffentlichten Beitrags „Berührungspunkte und Kontraste zwischen dem Konstruktiven

Realismus und dem Philosophischen Materialismus“, in dem erste offensichtliche

Vergleichspunkte in Form einer Einführung nebeneinandergehalten wurden. Nachdem dort

allgemeine Ähnlichkeiten und Unterschiede hervorgehoben wurden, sollen im nun

vorliegenden Artikel einzelne wissenschaftsphilosophische Fragen etwas ausführlicher

behandelt werden, wobei sich deutlicher auch einige tiefgehende Unterschiede aufzeigen.

Mein Vorgehen nun ist folgendes: Ausgehend von einigen für beide Philosophen

zentralen Fragen zur Wissenschaftsphilosophie, werden die Problemstellungen beider

Ansätze einander gegenübergestellt. Angesichts der Nähe des Wiener Publikums zum CR,

sowohl beim Vortrag als auch unter der Leserschaft dieser Schrift, werde ich den größten

Raum auf den im deutschsprachigen Raum noch unbekannteren PhM verwenden, der in

den entsprechenden Punkten noch in Grundzügen vorzustellen ist, während der CR sich

angesicht seines Bekanntheitsgrades auf kurze Thesen reduzieren lässt. Bei diesem

Procedere ergeben sich einige Fragen, die sich dem Konstruktiven Realismus aus der Sicht

des Philosophischen Materialismus stellen und umgekehrt.

Noch ein paar Worte vorab. Mit Freude beobachtete ich auf der Tagung in Wien,

dass die Philosophie heute in Wien ähnlich wie in Oviedo Menschen ganz

unterschiedlicher Disziplinen anzieht: So waren neben Forschern der Philosophie bzw.

Philosophiegeschichte, auch Biologen, Literaturwissenschaftler, Psychologen, Forscher im

Bereich der Medizin usw. anzutreffen. Diese Interaktion zwischen dem philosophischen

System und anderen Disziplinen ist für beide hier zu behandelnden Ansätze

charakteristisch.

Das von Gustavo Bueno in den 1970ern in Spanien gegründete, im

spanischsprachigen Raum hoch anerkannte philosophische System des „Philosophischen

Materialismus“ (PhM), mit dem ich mich die letzten Jahre vorwiegend auseinandergesetzt

habe und das und von einer wachsenden Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen

verwendet wird, umfasst als einen seiner Hauptbestandteile einen

wissenschaftsphilosophischer Ansatz, der bei wissenschaftlichen Disziplinen den

sogenannten „Kategorienabschluss“ beobachtet und sich daher selbst „Theorie des

Kategorienabschlusses“ (Teoría del Cierre Categorial) nennt – gleichzeitig der Name seines

z.Zt. fünfbändigen wissenschaftstheoretischen Werkes. Diese Theorie baut weitgehend auf

die gleiche Tradition auf wie der Konstruktive Realismus, weist in der Folge an manchen

Stellen ähnliche, konstruktivistische Wege auf, ist aber dann an anderen Stellen völlig

anders, weshalb eine detailliertere Auseinandersetzung in meinen Augen unabdingbar ist.

Page 2: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

1. Frage: Was ist eine Wissenschaft?

Auf die Frage, was denn überhaupt eine Wissenschaft sei, geben CR und PhM

zunächst eine ähnliche Antwort: Eine Wissenschaft wird immer als Konstruktion

aufgefasst, denn die Wissenschaftler konstruieren Wissenschaft.

Doch ist eine Wissenschaft beim CR eine Diziplin im Sinne einer Gesamtheit von

lehrbarem Wissen, während der PhM unter Wissenschaft nicht allein lehrbare Kenntnisse

versteht, sondern darüber hinaus den ganzen jeweiligen materiellen Wissenschaftskörper.

Bei genauerem Hinsehen, zeigen sich also folgende ontologische Unterschiede: Im

Konstruktiven Realismus (CR) wird eine Wissenschaft immer als ein Propositionssystem

konzipiert. Dies ist ein Ergebnis eines Konstruktionsprozesses, durch den mit ihm eine

Mikrowelt hergestellt wird. Die Gesamtheit der so konstruierten Mikrowelten bilden die so

genannte „Realität“. Diese konstruierte, künstliche Welt der „Realität“ ist ontologisch

streng zu unterscheiden von der „Wirklichkeit“ (der gegebenen, effektiven Welt) – ein

zentrales ontologisches Kriterium des CR.

Die Wissenschaftskonzeption des PhM dagegen ist anders, einerseits breiter und

andererseits begrenzter. Zur Unterscheidung „wissenschaftlicher“ Disziplinen von nicht

wissenschaftlichen, etwa praktischen Disziplinen sei es notwendig, genauer auf die Frage

einzugehen: Welche spezifischen Eigenschaften einer gegebenen Wissenschaft

unterscheiden sich inwiefern von denen anderer kultureller Institutionen?

Beim Bezug auf Wissenschaftstheorien, die sich auf dieser Analyseebene halten wollen,

bedienen wir uns dem Adjektiv «gnoseologisch» [basierend auf Materie/Form] (als Gegenpunkt

zur «epistemologischen» [basierend auf Subjekt/Objekt]). Eine gnoseologische Theorie ist

demnach eine Theorie, die beabsichtigt, die Strukturen der positiven Wissenschaften

festzustellen, und zwar nicht so sehr als Teil von Handlungs- oder Propositionsstrukturen,

Informatik- oder soziologischen Strukturen, sondern insofern die positiven Wissenschaften

zusätzlich zu diesen selbstverständlich (als allgemeine Komponenten) implizierten Strukturen,

auch noch spezifische Strukturen aufweisen [d.h. die nur den Wissenschaftskörpern, nicht aber

anderen kulturellen Institutionen zukommen] [...]. (NH-Ü von QC: 17-18)

An dieser Textstelle sehen wir, für den PhM lässt sich eine Wissenschaft nicht allein

auf ein System aus Propositionen, Handlungen oder gesellschaftlichen Strukturen

reduzieren, sondern es handelt sich breiter gefasst um einen Wissenschaftskörper mit

„spezifischen Strukturen“, in dem all diese Spezifikationen gleichzeitig präsent sind, der

also eine ganze Menge an „materiellen“ Bestandteilen umfasst. Diese Bestandteile haben

sich im Konstruktionsprozess zu diesem Wissenschaftskörper aneinandergekettet

(Zirkularismus und Kategorienabschluss) und bilden so die Form des relativ

abgeschlossenen Wissenschaftskörpers. „Materie“ ist hier zweifelsohne sehr weit gefasst

und kann neben Physischem auch durchaus zwischenmenschliche Relationen oder

geometrische Proportionen enthalten. Es sei daran erinnert, laut der Ontologie des PhM

gibt es drei Arten der Materie: M1 (körperlich-physische Materie), M2 (intersubjektuale,

soziale bzw. psychologische Materie) und M3 (Relationen und Ideen). Die Bestandteile

eines Wissenschaftskörpers lassen sich sicherlich in subjektuale und objektuale

Bestandteile aufteilen, doch Wissenschaften haben kein Objekt, sondern ein ganzes

Wissenschaftsfeld aus einer Vielzahl an Objekten, oft aus allen drei Arten der Materialität,

und unter diesen Bestandteilen befinden sich in manchen Wissenschaften auch Subjekte.

Interessanter noch ist beim PhM aber die (nicht ontologische, auch nicht epistemologische,

Page 3: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

sondern „gnoseologische“1) Klassifizierung aller Bestandteile auf die drei Achsen des

sogenannten „gnoseologischen Raumes“. Dieser Raum lässt sich folgendermaßen

charakterisieren: „syntaktisch“ sind Termini, Relationen und Operationen/Handlungen;

„semantisch“ betrachtet besteht der Wissenschaftskörper aus Referenzialen, Phänomenen

und Essenzen bzw. essentiellen Strukturen; und aus „pragmatischer Sicht“ finden sich da

Normen, Dialogismen und Autologismen.

Bevor wir ein Beispiel für diese Struktur nennen, kurz noch einen Schritt zurück:

Zur Beantwortung der Frage, wie der PhM „Wissenschaft“ definiert, klassifiziert Bueno

zunächst 4 Konzeptionen von „Wissenschaft“:

1) All das, was wir tun können (Ort dieser Wissenschaft ist eine Art Werkstatt)

2) Ein geordnetes System an Propositionen, die von Prinzipien abgeleitet sind (Ort

dieser Wissenschaft ist die Akademie)

3) Beschränkung auf positive Naturwissenschaften

4) Erweiterung auf „Geistes-“ und Sozialwissenschaften“ (bzw. „Human- und

Verhaltenswissenschaften“)

Der Konstruktive Realismus deckt die ganze Bandbreite ab. Zu Beginn seiner

Formulierung hat er dazu tendiert, sich explizit auf auf 3), etwa die Physik, zu

konzentrieren, dann kamen jedoch Disziplinen wie die Psychologie und die Medizin hinzu,

um schließlich die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften implizit

abzulehnen bzw. methodologisch gar die Geisteswissenschaften höher zu bewerten, wie

wir unten sehen werden. Oft wird im CR Wissenschaft als Propositionssystem also 2)

definiert. Wenn Wallner von der Traditionellen Chinesischen Medizin spricht, klingt die

Wissenschaftlichkeit 1) der Praxis an. Für den PhM hingegen stellen zwar die kategorial

abgeschlossenen Naturwissenschaften 3) das Paradigma der „Wissenschaft“ dar, doch auch

mit den sogenannten „Human- und Verhaltenswissenschaften“ setzt er sich

wissenschaftsphilosophisch sehr intensiv auseinander. 1) und 2) werden von Bueno

abgelehnt. Insofern ist die Wissenschaftskonzeption des PhM enger gefasst als beim CR.

Ein gravierender Unterschied findet sich im Umgang mit Modellen. Der CR vertritt

die Meinung, Modelle gehören allein einer Mikrowelt an, nicht der Wirklichkeit, und in

dieser konstruierten Realität seien auch keine essenziellen Strukturen zu finden. So seien

etwa Moleküle immer Konstrukte und blieben künstlich, nie wirklich. Da der PhM diese

ontologische Unterscheidung so nicht konzipiert, bzw. wenn, dann von einer

„Hyperrealität“ (für Wallners Realität) spricht, kann er vertreten, beispielsweise Moleküle

seien zwar konstruiert, doch sie lehnen sich als Form (in dialektischer Zirkularität im

Prozess der Wissenschaftsentwicklung) immer an das gegebene Material an, weshalb das

Modell sich im Laufe der Wissenschaftsentwickung immer mehr verfeinert und, ja in

gewissem Sinne zur Materie passt.

Auf der gnoseologischen Ebene stellt der PhM, wie gesagt, mit dem sogenannten

„gnoseologischer Raum“ ein Modell darüber zur Verfügung, welche Typen von

Bestandteilen die Wissenschaftskörper allgemein konfigurieren. Durch deren Konkretion

lässt sich der spezifische Aufbau eines spezifischen Wissenschaftskörpers analysieren.

Umgekehrt lässt sich mit Hilfe dieses Schemas auch jeder einzelne

Wissenschaftsbestandteil (etwa eine Molekulär- oder Zellstruktur, s.u.) leicht

1 Der Leser sei daran erinnert, dass dieser Unterschied bereits in meinem Artikel „Berührungspunkte

und Kontraste zwischen dem Konstruktiven Realismus und dem Philosophischen Materialismus“ in

Greiner/Wallner (Hrsg.): Aus dem Umfeld des Konstruktiven Realismus. Studien zur

Wissenschaftskultur (2010) auf den S. 176-177 umrissen wurde. In Frage 3 kommen wir darauf

zurück.

Page 4: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

charakterisieren. Dieser Raum selbst versucht, kein dem Material aufgestülptes Modell

darzustellen, sondern eher ein Raster, das sich aus vielen gnoseologischen

Einzeluntersuchungen ergeben hat, und das nun dazu dient, Materialien der Wissenschaften

zu klassifizieren und gleichzeitig spezifische gnoseologische Strukturen der

Wissenschaftskörper (d.h. die nicht anderen kulturellen Institutionen zukommen) zu

charakterisieren.

Abbildung 1 „gnoseologischer Raum“ (NH-Ü von Gustavo Bueno TCC 1: 116)

Mit Hilfe der dreidimensionalen Struktur des gnoseologischen Raums lassen sich die

Bestandteile eines Wissenschaftskörpers im PhM orten und klassifizieren, wobei

Zuordnungen zu Achsenabschnitten miteinander kombiniert werden können. Zur

Veranschaulichung lässt sich nun als Beispiel aus der Biologie folgendes anbringen: Eine

Krebszelle etwa, die der Biologe bereits zuvor unter dem Mikroskop beobachtet hatte,

erscheint diesem GS laut PhM als autologisch erinnertes Phänomen eines Terminus.

Ist im Konstruktiven Realismus (CR) eine Krebszelle selbst ein Konstrukt, das zwar

„real“ ist, aber nicht „wirklich“, da das „Wirkliche“ sich nicht als solches erkennen lässt –

d.h. die Zelle ist als Modell gesetzt, nicht gegeben. So wäre sie dagegen beim PhM zwar

auch konstruiert, aber nun hingegen als Form derart am „Material“ orientiert, dass der

Unterschied konstruiert/nicht konstruiert allmählich verschmilzt, ein Vorgang, bei dem die

gegebene Realität erweitert wird, weshalb hierfür manchmal der bereits erwähnte Begriff

„Hyperrealität“ auftaucht. So beziehen sich die wissenschaftlichen Wahrheiten im PhM

wirklich auf die Realität, d.h. sie sind keine unechten bzw. falschen oder willkürlichen

Konstruktionen oder leere Spekulationen einer vernunftgemäß denkenden Urteilskraft o.ä.

Page 5: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

Und sie beziehen sich auf die Realität, nicht indem sie in sie eindringen, sie beschreiben,

sie adäquat darstellen oder representieren, sondern

[...] weil bestimmte Bestandteile der Realität selbst in die Aneinanderkettungen, welche den

Wissenschaftskörper bilden, eingegliedert werden. Dies ist der Kern dessen, was wir als

„Hyperrealismus“ bezeichnet haben. (NH-Ü von Bueno TCC III: 900)

David Alvargonzález präzisiert hinsichtlich der ihn beschäftigenden Evolutionsbiologie:

[...] die Wissenschaften beschreiben oder repräsentieren nicht die Realität, sondern sind wichtige

Abschnitte der vorher bereits existierenden Realität, die nun Teil einer Wissenschaft werden, um so

eine neue Realität hervorzubringen. Deshalb ist die Wahrheit der Evolutionsbiologie von unseren

Voraussetzungen her als eine Wahrheit zu verstehen, die unsere gegenwärtige Realität und auch unser

logisches Bewusstsein bildet. Unsere gegenwärtige Realität kann auf das wissenschaftliche Theorem

der biologischen Evolution nicht mehr verzichten. Der Kreationismus stellt eine deutlich irrationale Art

dar, diese Realität zu bestimmen, weil die “creatio ex nihilo“ die bloße Formulierung eines Prinzips

darstellt, dass nicht nur falsch ist, sondern auch völlig unverständlich. Außerdem stünde, wenn die

Evolutionsbiologie nicht in Betracht gezogen würde, damit unser logisches Bewusstsein jenseits einer

Menge von sehr wichtigen Phänomenen, Konzepten und Ideen. Insofern verzichten diejenigen, die die

wissenschaftliche Evolutionsbiologie ablehnen, auf einen wichtigen Bestandteil der momentan

zugänglichen Realität und dieser Verzicht ist doppelt schlimm, wenn diese rationalen Schemata durch

eine Menge von Mythen und metaphysischen Ideen ersetzt werden. (NH-Ü von Alvargonzález 1996, S.

20 [4.1])

Auf diese Weise muss die Realität als ein werdender Vorgang (in fieri) betrachtet

werden, der auch von der Konstruktion der wissenschaftlichen Wahrheiten selbst abhängig

ist. Bildet sich hierbei eine Art „Hyperrealität“ heraus, so ist sie als eine „erweiterte“

Realität zu verstehen, die nicht nur das in Betracht zieht, was unseren Sinnen direkt

erscheint (die Erscheinungen, Phänomene), sondern all das, was aktiv ist und das

Existierende bestimmt, selbst wenn wir es nicht wahrnehmen, was sehr nach der

Wallnerschen „Wirklichkeit“ klingt. Schauen wir uns aber die in PhM-Schriften genannten

Beispiele hierfür an (elektromagnetischen Wellen, Atomstrukturen oder auch

evolutionsbiolologische Vorgänge usw.), so ist aus der Sicht des CR dort die konstruierte

Modellhaftigkeit (Mikrowelt) hier immer impliziert.

Der PhM meint aber in anderen Worten formuliert, die Resultate wissenschaftlicher

Forschung (inklusive ihrer Modelle) werden in das zuvor gegebene Material

hineingewoben. Auf der semantischen Achse geschieht dabei folgendes: Eine Wissenschaft

geht vom phänomenischen Material aus (z.B. die unter dem Mikroskop beobachteten

Zellen, die selbst Referenziale sind) zurück zu dessen essentieller Struktur (der vor der

Laboruntersuchung bereits konstruierte Krebszellen-Typus, der nun erinnert wird), die

selbst eine Form darstellt (der Vorgang des Regressus). Es handelt sich hierbei um eine

Reduktion auf die essentielle Struktur, und diese ist mehr oder weniger vergleichbar mit

einer Landkarte (s.u.). – Auch der CR spricht von dieser wissenschaftlichen Reduktion. –

Das Beispiel o.g. aus der Biologie ist recht anschaulich: Ein Gewebe (Referenzial) lässt

sich auf eine Menge von unterschiedlichen Zellen, Molekülen, Nervenstränge usw.

zurückführen, welche laut PhM die „Essenz“ des Gewebes darstellen. Ein Neurobiologe

entwirft dabei eine etwas andere „Struktur“ als ein Onkologe; beide sind als innerhalb der

Biologie durchaus komplementär zu betrachten, doch oft entstehen auch Konflikte

zwischen alternativen wissenschaftlichen Reduktionen. Sind jedoch einmal essentielle

Strukturen konstruiert, die funktionieren, das heißt dem Material gerecht werden, lassen

sich diese essentiellen Strukturen danach innerhalb dieser Wissenschaft wieder auf das

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Material rückübertragen (Progressus), womit der dialektische Kreis (der Zirkularismus des

PhM) geschlossen wird. Der CR hat schon recht mit seiner Kritik an reduzierenden

Modellen, die der Wirklichkeit nicht vollständig gerecht werden, doch würde der PhM

darauf erwiedern, eben deshalb existiert die Pluralität der Wissenschaften, die zwar jede für

sich selbst reduzierend vorgeht, doch selbst in Konkurrenz zu einer anderen Disziplin steht,

die anders reduziert – was nicht immer als Ergänzung aufgefasst wird, sondern oft zu

großen Diskrepanzen und Auseinandersetzungen zwischen den Wissenschaften führt.

In beiden Ansätzen ist die Konstruktion zentral und damit auch die Handlung

überhaupt. Schreibt Wallner in der Systemanalyse (II: 109) „science is action in the last

decades“, so stellt er direkt neben die die Wissenschaften ausmachenden Propositionen die

Handlungen. Diese heißen im PhM Operationen. Dass sich im PhM die Wissenschaft nicht

allein auf Operationen reduzieren lässt, ist sehr zu unterstreichen, doch sind die

„Operationen“, wie wir noch sehen werden, sehr wichtig, weil sie unter anderem das

Kriterium für den Grad der Wissenschaftlichkeit selbst bereitstellen, denn je mehr das

„operative Subjekt“ sich neutralisieren lässt, desto höher ist der Grad an

Wissenschaftlichkeit. Hierauf kommen wir gleich zurück.

2. Frage: Wie entsteht eine Wissenschaft?

Fragen wir nun nach dem Konstruktionsprozess einer Wissenschaft selbst, so müssen

wir hierbei auf die Rolle des Subjekts achten.

Laut CR ist der Konstruktionsvorgang eine freie Erfindung durch Subjekte, insofern

handelt es sich bei der Realität der Wissenschaften um „frei erfundene Mikrowelten“

(Systemanalyse II: 71). Es sind soziokulturelle Bedingungen der Lebenswelt, welche die

Voraussetzungen bestimmen, wie eine Wissenschaft gebildet wird. Deshalb vertritt

Wallner, eine Wissenschaft in China setzt völlig Anderes voraus als eine westliche

Wissenschaft. Nun ist sich der Wiener Philosoph der daraus resultierenden Gefahr des

Relativismus bewusst, welcher sich aus diesem subjektiven Setzen ergibt und stellt ihm

deshalb seinen „Relationismus“ entgegegen, der sich, wie Wallner in seinem Master-

Seminar und bei seiner Vorlesung in Oviedo2 darstellte, um die Relationen zwischen

Theorien dreht, nicht im die Relativität derselben. Er geht davon aus, dass immer eine

Vielheit an Relationen zwischen ihnen vorliegt. Daher wirft auch Wallner selbst die Frage

auf, was die Wissenschaft von anderen Wissensarten unterscheidet bzw. wann

Wissenschaft erreicht ist. Um die Antwort bereits zu geben: Wissenschaft sei nur dann

vorhanden, wenn „Erkenntnis” bzw. „Einsicht“ hinzukomme und die Doktrin lehrbar sei.

Wir sehen, dies Kriterium ist epistemologisch begründet: Wissenschaft wird als Kenntnis

eines (oder mehrerer) Subjekte aufgefasst (Systemanalyse II: 147). Später greifen wir die

Frage auf, wann Erkenntnis bzw. Einsicht erreicht ist und bis wohin ein Wissen noch

unwissenschaftlich bleibt (siehe Frage 5).

Ganz anders ist dagegen für die Theorie des Kategorienabschlusses des PhM die

Wissenschaftskonstruktion keine freie Erfindung des Subjekts. Zwar findet auch dort die

2 Im Rahmen eines Masterstudiengangs zur Ausbildung für Philosophie-Lehrer der Sekundarstufe an

der Universität Oviedo, in der Sitzung vom 29.9.2011 und beim Abschlussvortrag von Friedrich

Wallner als Gastprofessor am Philosophischen Institut während des Kongresses Fronteras de la

ciencia: hibridaciones (Grenzen der Wissenschaft: Hybridisierungen), am Dienstag, 25.10.2011.

Geplant ist eine Publikation aller Vorträge und Master-Beiträge des Professor Wallner während

seines Aufenthaltes September/Oktober 2011 auf Spanisch.

Page 7: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

Rolle des „gnoseologischen Subjekts“ (des Wissenschaftlers) große Beachtung, doch

werden nun die konkreten Materialien ins Zentrum der Betrachtung gestellt, da von ihnen

die Wissenschaftsbildung ausgeht. Wissenschaften sind dem PhM keine Kenntnisse,

sondern Wissenschaftskörper. Diese Materialien werden zu Beginn der wissenschaftlichen

Arbeit von den „gnoseologischen Subjekten“ (GSe) ausgewählt und verwandeln sich ab

diesem Moment in „Termini“ dieser Wissenschaft bzw. Bestandteile des nun entstehenden

Wissenschaftsfeldes. Dabei bedingen nun die Eigenschaften dieser Materialien selbst (und

nicht so sehr der subjektuale wissenschaftliche Umgang mit ihnen) die hier möglichen

essentiellen Strukturen. Diese kristallisieren sich aus dem apothetisch (in gewisser Distanz)

gegebenen Material heraus. Und zwar ähnlich wie sich eine Landkarte aus der

„Stallitenansicht“ von „Google Earth“ herausgezeichnen lässt, indem man bestimmte

geographische Eigenschaften (entweder Flüsse, Strassen oder Berge...) herauswählt und

nachzeichnet. So wie ich beim geographischen Procedere den Fluss auf meiner Landkarte

nicht einfach irgendwohin und in irgendeiner Form malen darf, sondern mich an dem vom

Satelliten Vorgegebenen ausrichten muss, darf allgemein das GS die gegebenen

Materialien nicht völlig willkürlich zueinandersetzen. Zwar kann (muss und wird) das GS

handelnd eingreifen, Materialien „operativ manipulieren“ und so in gewisser Weise

verändern (etwa durch farbliche Hervorhebung Entferntes einander näherbringen und

Naheliegendes voneinander zu unterscheiden oder, bei chemischen Experimenten,

Substanzen zusammenmischen oder durch Katalysieren voneinander trennen), doch

erfindet das GS diese Materialien nie neu und ex nihilo. Der Wissenschaftler muss immer

von ihren Eigenschaften ausgehen, selbst wenn er sie „manipuliert“. Der

Kristallisierungsvorgang ist im PhM somit weder völlig subjektual determiniert, noch

allein objektual, sondern vielmehr besteht er bzw. vollzieht er sich im Wechselspiel von

Material und Form.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich für die Bedeutung des Subjekts in einer

Wissenschaft für die beiden Ansätze folgendes. Konstruiert im Wiener CR der

Wissenschaftler die Mikrowelt frei (und interpretiert sie anschließend: Einsicht bzw.

Erkenntnis), so ist in der Ovetenser Philosophie des PhM und dessen Theorie des

Kategorienabschlusses zufolge die Rolle des Subjekts in der Wissenschaftskonstruktion je

nach Art der Wissenschaften unterschiedlich und je nach dem, welche Phase bzw. welches

Moment der Wissenschaft gerade betrachtet wird. Hier wird nämlich eine im PhM

eingeführte Differenzierung meines Erachtens nach sehr wichtig, und zwar die zwischen

der Entstehung einer Wissenschaft (der eigentliche Kristallisierungsvorgang) und ihrer

Struktur (der resultierende Wissenschaftskörper). Bei der Entstehung einer Wissenschaft

handelt das „gnoseologische Subjekt” (der Wissenschaftler), vollzieht Handlungen bzw.

„Operationen“ (v.a. Zusammenbringen und Auseinanderbringen von bestimmten

Materialien zueinander). Entstehung und Struktur lassen sich allein dissoziieren, nicht

völlig voneinander trennen und also auch nicht als separat voneinander konzipieren (d.h.

Wissenschaftskörper sind immer dynamisch und befinden sich in permanenter

Entwicklung).

In dieser Formierungsphase (Entstehung) räumt auch der PhM kulturellen,

geschichtlichen, gesellschaftlichen etc. Bedingungen einen gewissen Einfluss auf den

Vorgang der Wissenschaftsbildung ein, wie der CR, der lebensweltliche Einfüsse betont.

Im PhM ist das jedoch mehr bei manchen Wissenschaften als bei anderen der Fall, wie wir

unten sehen werden. Aus dem einmal herausgebildeten bzw. herauskristallisierten

Wissenschaftskörper – d.h. aus seiner Struktur – kann das „gnoseologische Subjekt” und

dessen Operationen mehr oder weniger heraus-„neutralisiert” worden sein. Der Grad, zu

Page 8: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

welchem dies möglich ist, hängt von der jeweiligen Wissenschaft ab. Diese Fragestellung

greifen wir unten unter den Punkten 3 und 5 wieder auf.

3. Frage: Charakterisierung der Wissenschaftstheorie und ihre Aufgabe

Nun ist das Selbstverständnis der beiden Wissenschaftsphilosophien (und damit auch

ihre jeweilige Aufgabe) sehr unterschiedlich. Kurz formuliert ist ja die des CR vorwiegend

„epistemologisch“, während die Theorie des Kategorienabschlusses sich als

„gnoseologisch“ auffasst. Zudem ist die Aufgabe des CR, den Wissenschaftlern als

Therapie zur Seite zu stehen und ihnen nichts aufzudoktrinieren, während der PhM einfach

nur klassifizieren und eine „Landkarte“ der Wissenschaften erstellen und deren

Funktionsweisen analysieren möchte.

Der CR ist aus der Sicht des PhM, der diese Unterscheidung hochhält, deshalb

epistemologisch, weil er auf die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt basiert (S/O):

Das Subjekt konstruiert und die so konstruierte Objektwelt (Realität) stellt sich der

wirklichen Objektwelt (Wirklichkeit) gegenüber. Die Objekte der Mikrowelten sind dem

CR dabei keine Beschreibungen der wirklichen Gegenstände, auch passen sie sich ihnen

nicht an, sondern sind frei gesetzt. Wenn dahingegen die Theorie des

Kategorienabschlusses „gnoseologisch“ sein soll, so heißt das für den PhM, dass sie ein

viel größeres Gewicht auf die Unterscheidung von Materie/Form legt, als auf das ebenso

auftauchende epistemologische Kriterium. Materie und Form sind dabei „konjugierte

Konzepte“, d.h. wie die beiden Seiten einer Münze kann die eine nicht ohne die andere

sein. Ausgehend von der Materie wird beispielsweise auf ihre Form geschlossen (und

umgekehrt).

Seine wissenschaftsphilosophische Aufgabe sieht der CR darin, dem Wissenschaftler

zu helfen, sich zu orientieren und über seine eigene Wissenschaft sagen zu können, auf

welchen Voraussetzungen sie fußt. Dabei kann er sich gut auf die kulturellen

(lebensweltlichen) Bedingungen der Wissenschaftskonstruktion konzentrieren, die von

Kultur zu Kultur recht unterschiedlich sind. Dagegen ist das Anliegen der Theorie des

Kategorienabschlusses, die Gesamtkonstellation der Wissenschaften und deren

Konstruktion, Funktionen und aber auch Wahrheitskonzeption zu klären. Für ihn sind

Wissenschaften in ihrer Entstehung auch sozioökonomisch, kulturell usw. bedingt.

Die gemeinsame Kulturbedingtheit der Wissenschaft, welche nämlich von beiden als

eine kulturelle Institution betrachtet wird (SA II: 71 und QC: 12), äußert sich im PhM als

Kristallisierung in „sozialem und kulturellem Kontext ideologischer Verschwommenheit“

(QC: 99). Zwar finden wir in beiden Fällen in gewissem Sinne eine Ablehnung der oft

geforderten Kulturfreiheit der Wissenschaft (Systemanalyse II: 73 und 93), doch liegt bei

den Ansätzen eine unterschiedliche Nuancierung vor. Laut CR scheint eine jede

Wissenschaft in jedem Moment der Lebenswelt verhaftet; dagegen ergibt sich im PhM, und

zwar besonders bei Wissenschaften im Sinne 3, doch die Möglichkeit einer Wissenschaft,

die strukturell (d.h. in ihrer Struktur, jedoch nicht bei ihrer Entstehung!) Momente der

Subjektneutralisierung und damit eine gewisse Ablösung von der Kulturbedingtheit

aufweist. Bei diesen Wissenschaften mag eine Neutralisierung der Operationen und

operatorischen Subjekte stattfinden und mit ihr in der Struktur (also, wie gesagt, nicht in

der Entstehung oder Rekonstruktion von Wissenschaft). Die Neutralisierung liege

gradweise unterschiedlich vor, je nach Wissenschaft. meines Erachtens lässt sich diese

Neutralisierung bzw. Eliminierung nämlich als Neutralisierung der Kulturabhängigkeit

Page 9: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

auslegen. Denn nehmen wir zum Beispiel den Satz des Pythagoras: Sobald dieses Theorem

erst einmal formuliert (also die „Entstehung“ abgeschlossen) ist, kann von den

Operationen, die zu ihm geführt haben (von der architektonischen Praxis etwa) abgesehen

werden, insofern nun Strukturen entstanden sind, die auch auf anderem Wege erlangt

werden können. Es ist ja per Konfluenz auf unterschiedliche Weise zum Theorem zu

gelangen (zwei mathematische Beweise für ein bestimmtes Theorem). Diese „synthetische

Identität“ (Wahrheit, s.u.) – hier etwa für die Oberfläche eines Kreises A = πr2 – ist dann

laut PhM universell gültig (in Europa wie in China oder Neuguinea).

Beide Philosophen lehnen die weitverbreitete Auffassung ab, die Wissenschaft

beschreibe die Wirklichkeit. Die Wissenschaft (re)konstruiert sie ja vielmehr, wobei eine

gewisse Transformation bei beiden nicht ausgeschlossen wird. Ist beiden

wissenschaftsphilosophischen Ansätzen ihre Ablehnung des „Deskriptionismus”

gemeinsam, so verstehen beide jedoch darunter nicht genau das Gleiche. Die

unterschiedliche Auffassung besteht darin, dass der von Wallner kritisierte

„Deskriptionismus“, welcher vergeblich eine Wirklichkeitsbeschreibung vorgebe und so

versuche, Wirklichkeit mit der Realität gleichzusetzen, seinerseits weitestgehend Buenos

„Adäquationismus“ entspricht, in der Form (bzw. Theorie) und Materie vergeblich

gleichzusetzen versucht werden. Die vier wissenschaftsphilosophischen (gnoseologischen)

Ansätze des PhM habe ich bereits im Artikel „Berührungspunkte und Kontraste“ (auf S.

175) dargestellt: Deskriptionismus, Adäquationismus, Theoretizismus und Zirkularismus.

Hier sei nur kurz daran erinnert, dass widerum das gnoseologische Kriterium Materie/Form

Anwendung findet. Die Gewichtung von Materie einerseits und Form andererseits ist beim

adäquationistischen Ansatz in etwa gleich, d.h. man glaubt dann, beide in

Übereinstimmung bringen zu können. Der Deskriptionismus bedeutet demgegenüber (laut

PhM) eine Verschiebung der Gewichtung. Denn läuft nun die Kritik am

deskriptionistischen Ansatz über das erwähnte gnoseologische Kriterium Material/Form, so

kommt beim wissenschaftsphilosophischen Deskriptionismus das Hauptgewicht auf die

Materie, und die Form des Wissenschaftskörpers (Theorie) gilt weniger wichtig als der

Inhalt. (Im Extremfall folgt geradezu eine Geringschätzung der Theorie.)

Trotz der gleichzeitigen Ablehung des Deskriptionismus ist im PhM jedoch die

Wissenschaftlichkeit nicht dann erreicht, wenn „Erkenntnis” hinzukommt (CR), sondern

vielmehr, wenn ein „Abschluss3“ vollzogen wird, bei dem sich die Termini zu einem

Wissenschaftsfeld zusammenknüpfen.

4. Frage: Die Frage nach der wissenschaftlichen Wahrheit

Im Berührungspunkte-Artikel wurde bereits erwähnt, dass der PhM

Wissenschaftskörper als „supraindividuelle, objektive Entitäten“ bzw. „suprasubjektive

Institutionen“ auffasst, wohingegen ja der CR es dem Subjekt zukommen lässt, die

jeweilige Wissenschaft zu konstruieren, weshalb diese ein subjektuales Gebilde darstellt.

Trotz dieses Unterschieds sehe ich jedoch auch eine Übereinstimmung, was die Wahrheit

einer Wissenschaft anbetrifft: die Ablehnung einer absoluten Wahrheit. Der Konstruktive

Realismus unterstreicht, dass von einer absoluten Wahrheit abzusehen ist, da es nur

„lokale“ Wahrheiten gibt und diese werden in erster Linie als kulturell lokal aufgefasst:

3 Sei es ein Kategorienabschluss oder nur ein operativer Abschluss.

Page 10: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

Eine Kultur im Sinne von Kulturkreis mag fähig sein, von der europäischen Variante

abweichende Wissenschaften zu konstruieren, wie etwa die Traditionelle Chinesische

Medizin, die daher eine eigene Wahrheit hat.

Auch dem PhM ist die Idee von nicht-absoluten Wahrheiten nicht fremd. Dort ist

eine Wahrheit ebenso in gewissen Sinne „lokal“ (auch wenn Bueno dies nicht so nennt),

aber nicht nur im kulturellen Sinne, obschon er die Wissenschaftsentstehung historisch in

Europa verankert. Die wissenschaftliche Wahrheit wird vom PhM als nicht-absolut – also

sozusagen „lokal“ – konzipiert, insofern sie vielfach vorhanden ist: insofern Wahrheiten

also in den einzelnen Wissenschaftskörpern entstehen und ihnen je angehörig sind.

Die Frage nach der Wahrheit hat im PhM nun immer mit dem sogenannten

zirkulären Vorgehen zu tun: der Schluss vom Stoff einer Wissenschaft (Materie, besonders

Phänomene, Termini, physikalische Referenziale usw.) auf deren Form (essenzielle

Strukturen bzw. Theorie) und umgekehrt wieder zurück. Zirkularistisch ist dem PhM ein

Ansatz, der voraussetzt, dass die Relation zwischen den formellen und den materiellen

Vielheiten der Wissenschaften ein zirkuläres und dialektisches Schema aufweist, und zwar

derart, dass beide Vielheiten-Typen sich gegenseitig permanent einander bedingen. David

Alvargonzález definiert den spezifisch materialistischen Zirkularismus in der

Wissenschaftsphilosophie in seinem Artikel über den Darwinismus so:

Der materialistische Zirkularismus bedeutet eine Spezifikation dieses allgemeinen [zirkularischen]

Schemas auf zweierlei Art: Erstens sind hier diese (formellen und materiellen) Vielheiten nie von der

Ebene der Handlungen unabhängig, die Subjekte an körperlichen Objekten durchführen. Zweitens wird

voraussetzt, die aufzustellenden zirkulären Schemata haben Grenzen, welche das Feld einer jeden

Wissenschaft und die Wahrheitsbereiche eines jeden Theorems definieren, weshalb es auch keinen Sinn

macht, von einer Zirkularität in Bezug auf die Gesamtheit aller existierender Phänomene zu reden.

(NH-Ü von Alvargonzález 1996: 20)

Vielmehr ist es nur die von den Wissenschaftlern als gnoseologischen Subjekten bei

der Entstehung eines Wissenschaftskörpers ausgewählte Material-Selektion

(Wissenschaftsfeld), auf die sich der Wahrheitsbereich einer konkreten Wissenschaft

bezieht – und insofern können wir diesen Wahrheitsbereich durchaus als „lokal“

bezeichnen. Bei der Präzisierung wird auch die Identität bestimmter Bestandteile des

Wissenschaftsfeldes thematisiert und die Beziehung von Propositionen zu den

unabdingbaren Handlungen des „gnoseologischen Subjekts“.

Aus der Sicht der zirkularistisch-materialistischen Philosophie ist anzunehmen, dass die Essenz der

wissenschaftlichen Wahrheit mit der Identität mancher Termini im Wissenschaftsfeld zu tun hat. Die

Wahrheit einer Wissenschaft ist [...] für die Materialien spezifisch, die für das jeweilige

Wissenschaftsfeld charaktieristisch sind. Obwohl sie mittels Propositionen formuliert wird, entsteht

bzw. wird diese Identität durch Operationen an körperlichen Gegenständen und durch die Relationen

zwischen unterschiedlichen Materialien konstruiert. Es handelt sich daher um eine Konstruktion,

welche Gegenstände, chirurgische Operationen und materielle Relationen erfordert. Deshalb betrachten

wir diese als eine synthetische Identität. (ebd.)

Was im CR als interkulturelles Phänomen „lokale Wahrheit“ genannt wird, könnte im PhM

also genauso heißen, stellt sich dort aber nicht als interkulturelles, sondern als

interdisziplinäres Phänomen heraus:

[...] der materielle Kontext, in dem eine systematische, synthetische Identität konstruiert wird,

beschränkt sich immer auf bestimmte Klassen von Phänomenen und auf finite Materialkontexte. Eben

diese Limitiertheit führt dazu, dass der Zirkularismus, der ja die Theorie des Kategorienabschlusses

charakterisiert, uns stets zwingt, die für jede einzelne Wissenschaft charakteristischen Materialien zu

Page 11: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

bestimmen, so dass eine wissenschaftliche Wahrheit immer auf eine spezifische Menge an Phänomenen

begrenzt ist, die sich widerum von der Gesamtheit der Welt absetzen lassen. (NH-Ü von Alvargonzález

1996: 21; meine Kursive)

Wie können wir uns nun etwas konkreter vorstellen, dass die Wissenschaftlichkeit

(im Sinne 3) im PhM erst dann erlangt ist, wenn ein Regressus auf essenzielle Strukturen

vollzogen wurde und eine synthetische Identität entstanden ist und daher auch die

Wahrheiten im PhM als den verschiedenen Wissenschaftsfeldern angehörige „lokal“

aufzufassen sind (nicht absolut)? Eine chemische Wahrheit muss nicht deckungsgleich mit

einer physikalischen und schon gar nicht mit einer biologischen Wahrheit sein – von der

kulturanthropologischen ganz zu schweigen. Der gleiche „Gegenstand“, beispielsweise

eine Menge Salz, wird von der Chemie als NaCl aufgefasst, hat jedoch in der

Kulturanthropologie eine andere Wahrheit. Etwa impliziert sie bei den Maring Neuguineas

immer eine sozio-kulturelle Bedeutung, die mit der schwierigen Gewinnung von Salz im

Gebiet des Stammes zusammenhängt. Salz-besitzende Maring ziehen daraus Vorteile beim

Tauschen und bei ihren Allianzen. Doch ist die Frage nach der Wahrheit in den

Wissenschaften, die β-operative Situationen einschließen, anders anzugehen als bei

eindeutig α-operativ vorgehenden Wissenschaften, wie wir nun sehen werden.

5. Frage: Der wissenschaftstheoretische Status der „Geisteswissenschaften“

Zu Beginn der Behandlung dieser Frage stellt sich die ebenso von beiden Autoren

aufgeworfene Frage der Bezeichnung jener Wissenschaften, die weder formale

Wissenschaften, noch Naturwissenschaften sind. In Ablehnung der französischen und

englischen Bezeichnungen „lettres“ bzw. „humanités“ und „humanities“, in denen der

Wissenschaftscharakter terminologisch abgesprochen scheint, bevorzugt Wallner die

deutsche Bezeichnung „Geisteswissenschaften“. Auch Bueno möchte sie als

Wissenschaften verstanden sehen und übernimmt daher nicht die spanische Bezeichnung

„humanidades“, sondern wendet sich der Bezeichnung „ciencias humanas“ zu, die wir hier

als „Humanwissenschaften“ übersetzen, obwohl sie das gleiche semantische Feld wie die

„Geisteswissenschaften“ abdecken4, denn Bueno möchte sich gegen den dort implizierten

„Spiritualismus“ wehren. Bueno nimmt hier bewusst die Verhaltenswissenschaften hinzu

und redet daher von „Human- und Verhaltenswissenschaften“, da beide ähnliche

gnoseologische Eigenschaften aufweisen – nämlich vor allem die Subjektimplikation in

ihrer Struktur.5

Im Konstruktiven Realismus, und zwar in der 1997 erschienenen Schrift How To

Deal With Science If You Care For Other Cultures, werden nun die

„Geisteswissenschaften“ methodologisch höher wertgeschätzt als die Naturwissenschaften,

insofern ihre Methode, die Interpretation, führende Methode auch der Naturwissenschaften

4 „Human- und Verhaltenswissenschaften“ bei Bueno entsprechen also bei Wallner

„Geisteswissenschaften“. Textstellen des einen Autors an die Terminologie des anderen anzupassen,

hielte ich in diesem Fall für eine Korsettierung. 5 Siehe hierzu den Artikel von Gustavo Bueno: „La Etología como ciencia de la cultura“, besonders

den letzten Abschnitt „Continuismo y discontinuismo entre el campo de la Etología y los campos de

la Antropología y las Ciencias Humanas” in: El Basilisco, 2. Epoche, Nr. 9, 1991, S. 3-37 und

ebenso „En torno al concepto de 'Ciencias Humanas'. La distinción entre metodologías α-operatorias

y β-operatorias”, in: El Basilisco, 1. Epoche, Nr. 2, Mai-Juni 1978, S. 12-46.

Page 12: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

werden soll. Denn nur durch Interpretation könne Erkenntnis – sein Kriterium für

Wissenschaftlichkeit – erreicht werden.

Only through interpretation the meaning of a scientific proposition system can be decided. (Wallner

HSOC: 50)

Gegenüber der im PhM vorgesehenen Möglichkeit einer relativen

Subjektneutralisierung in Humanwissenschaften (die im Grenzfall auf α-operative

Situationen zurückgehen können, obwohl sie in diesem Moment Gefahr laufen, keine

Humanwissenschaften mehr zu sein), etwa bei statistischen Untersuchungen innerhalb

dieser Disziplinen, nimmt der CR eine noch kritischere Haltung ein:

If you stress too much the methods of the natural sciences [in Geisteswissenschaften], you will loose

sight of the primary activity of the Geisteswissenschaften. (Wallner HSOC: 49)

Die primäre Aktivität der Geisteswissenschaften sei eben die Auslegung. Die

Interpretation könne den Naturwissenschaftlern nämlich laut CR dabei helfen, ihre eigene

Disziplin zu verstehen und die Struktur eines wissenschaftlichen Objekts sei dabei nicht

mehr wichtig:

[…] in constructing a for scientific object you need not and you cannot decide its ontological status. To

start with the constructed object is ontologically undefined. (From this point of view we can see the

importance of interpretation for scientific objects – for without any interpretation it is impossible to

decide what a scientific object is, anyway.) When we have determined the ontological structure of an

object after its construction, then it becomes (scientific) reality. In other words, it is decided to be our

free interpretation, what the objects are we give meaning to. (HSOC: 49-50; meine Kursive)

Dass die Auswahl der Objekte (im PhM Termini), welche wir interpretieren bzw.

denen wir eine Bedeutung zumessen, – und zwar in der Entstehung – der freien Auswahl

des Wissenschaftlers unterliegt, ist für den PhM weitestgehend auch akzeptabel.

Bei den „Human- und Verhaltenswissenschaften“ des PhM ist eine (eingeschränkte

bzw. erweiterte) Wissenschaftlichkeit (im Sinne 4) dann erreicht, wenn man – bei der

Interpretation des ausgewählten Materials – zumindest auf einen Rahmenkontext

zurückgehen (bzw. einen „operativen Abschluss“ durchführen) kann. Wie gesagt, kann

unter Umständen das „operative Subjekt” und dessen Operationen aus dem einmal

herauskristallisierten Wissenschaftskörper (Struktur) ganz oder teilweise „neutralisiert”

worden sein. Der Grad, zu welchem dies möglich sei, hänge von der jeweiligen

Wissenschaft ab, denn manche Wissenschaften neutralisieren das Subjekt und seine

Handlungen mehr, andere weniger: An den Extremen stehen die Wissenschaften mit

sogenannter α-operativer Methodik, wie etwa Pawlows Reflexlehre mit einer hohen

Neutralisierung, und denen gegenüber die sogenannten Disziplinen mit β-operativer

Methodik, welche die Subjekte gar nicht neutralisieren, wie etwa die Rechtssprechung,

deren Wissenschaftlichkeit insofern auch in Frage gestellt ist.

Es gibt Handlungen (PhM: „Operationen“), die zwar zur Konstruktion (Entstehung,

siehe Frage 2) der Wissenschaft beitragen, dann schließlich aber nicht mehr zum

Wissenschaftsfeld selbst (Struktur) gehören. Dies ist bei den α-operativ vorgehenden

„Naturwissenschaften“ der Fall. Dagegen bleiben die Handlungen anderen Disziplinen

bzw. ihrem jeweiligen Wissenschaftsfeld intern, wenn sie sich dort nicht neutralisieren

lassen, was bei den meisten Geistes-, Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Fall ist. Sie

bleiben der β-operativen Situation verbunden. Hier ist nun die Handlung des

Page 13: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

Wissenschaftlers (GS) und der beobachteten Subjekte auch in der Struktur präsent. Ist es in

den α-operativ vorgehenden Wissenschaften unerheblich, welcher Wissenschaftler eine

Handlung durchgeführt hat, da die sich dort sowieso „neutralisieren“ lassen, denn die

Struktur ist nun das, was interessiert, so ist dagegen in den β-operativen Wissenschaften

nun mit der Anwesenheit von internen Operationen und Subjekten auch die kulturelle

Bedingtheit permanent wesentlich mehr präsent.

Ein eindeutiges Beispiel: Wenn nun ein GS, beispielsweise „Kulturanthropologe“

wie Edward LiPuma, einen Stamm in den Bergen Neuguineas (Maring) besucht und sie

dabei erforscht, so beeinflusst er durch seine Handlungen das Verhalten der

Urbevölkerung, die auf seine Anwesenheit und Operationen reagieren. Er und sein

Verhalten ist nicht wegzudenken aus dem Vorgang des Studiums, etwa wenn sie auf seine

Geschenke reagieren und dafür Zeremonien durchführen. Neben dem gnoseologischen

Subjekt (LiPuma) stellen auch die nativen Maring sogenannte „operative Subjekte“

(konkreter noch: agierende Subjekte der Anthropologie SA) dar. Diese sind genauso wie

ihre „Operationen“, ihr Handeln, Jagen, Feiern und sonstige Zeremonien selbst nicht

wegzudenkende Bestandteile des Wissenschaftsfeldes, das der Kulturanthropologe zu

umreißen versucht.

Die „Humanwissenschaften“ (Sozial- und Geisteswissenschaften) und ebenso die

Verhaltenswissenschaft zeichnen sich, allgemein formuliert, durch ein unstabiles

Gleichgewicht zwischen beiden α-operativen und β-operativen Situationen aus: Dies

bedeutet eine permanente Schwankung zwischen beiden Situationen, mit folgenden

„Gleichgewichtszuständen“.

Abb.2 „Gleichgewichtszustände bei den Human- und Verhaltenswissenschaften“ (NH-Ü von

Gustavo Bueno TCC Band 1: S. 211 – hier erweitert um Beispiele)

In der Tabelle grau hinterlegt ist der Normalbereich der uns hier interessierenden

Wissenschaften – den „Humanwissenschaften“, Sozial- und „Geisteswissenschaften“, inkl.

Verhaltenswissenschaft. Sie sind wissenschaftsphilosophisch für den PhM wegen ihrer

„problematischen“ Wissenschaftlichkeit (Sinn 4) besonders interessant und für den CR

Page 14: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

wegen ihrer Erkenntnis, die auf der Interpretation beruht. Für uns in der gegenwärtigen

Untersuchung liegt ihr Interesse aber auch in der Kulturabhängigkeit, die hier ja besonders

ausgeprägt ist. Wir exemplifizieren dies gleich spezifisch anhand von Beispielen aus der

Kulturanthropologie.

Ganz oben in der Tabelle finden wir ein Grenzstadium dieser Wissenschaften: α1

liegt vor, wenn die Subjekte neutralisiert wurden und ein Regressus auf eine eigentlich für

„Naturwissenschaften“ charakteristische Situation unternommen wurde. Insofern hört die

„Humanwissenschaft“ bzw. Verhaltenswissenschaft dann eigentlich auf, eine solche

(Human- bzw. Verhaltenswissenschaft) zu sein. Dies ist etwa der Fall, wenn Pawlow das

Verhalten seiner speichelproduzierenden Untersuchshunde bei der reflexologischen Studie

auf rein mechanische Vorgänge zurückführt. Ausgehend vom Verhalten (Operationen) des

„operativen Subjekts“ Hund vollzieht der behavioristische Verhaltensforscher hier einen

Regressus zu nicht operatorischen Faktoren (d.h. unabhängig von Handlungen), die ja

eigentlich für Naturwissenschaften kennzeichnend sind.

Ganz unten in der Tabelle sehen wir das gegenüberliegende Grenzstadium dieser

„Geistes“-Wissenschaften: β2 bezeichnet diejenige Situation, in der diese Wissenschaften

für den PhM aufhören, Wissenschaften zu sein, da hier bloß Handeln von Subjekten, reine

Praxis bzw. Technologie vorliegt.

Der grau unterlegte Bereich ist nun aber bei Weitem nicht homogen. Werden

Handlungen auf umfassende Zusammenhänge zurückgeführt, so befinden wir uns noch in

geisteswissenschaftlichen Stadien, aber solche, in denen das „operative Subjekt“

weitgehend bis nur ansatzweise neutralisiert ist: α2. Hier gibt es zwei Stufungen: Wenn

man zu allgemeinen Strukturen gelangt, indem man statistische Methoden anwendet, wie

dies etwa Roy Rappaport in The Pigs for the Ancestors tat, so erreicht man das generische

I-α2 (weitgehende Neutralisierung). Erreicht man dagegen spezifische Strukturen, wie etwa

Claude Lévi-Strauss in seinem Strukturalismus, so kommt man zur spezifischen Situation

II-α2 (ansatzweise Neutralisierung).

Weniger neutralisiert sind die „operativen Subjekte“ dagegen im darunterliegenden

Bereich β1. Zu ihm gelangt man per Regressus auf essentielle Zusammenhänge. Wenn ein

Archäologe beispielsweise ein vorgeschichtliches Keramikgefäß reproduziert, um die

genaue Produktionsweise der ursprünglichen Herstellung herauszufinden, befindet er sich

im Stadium β1 – genauer gesagt ist dies ein Beispiel für den Ansatz „Verum est factum“ in

seiner generischen Form I-β1. Beeindruckend ist der Werkzeugkoffer eines solchen

archäologischen Nachbildners6, in dem sich neben allerlei Stöckchen bearbeitete

Knocheninstrumente verschiedenster Formen befinden, um die gleichen Resultate im Ton

zu verursachen wie sie die ausgegrabenen Keramikgegenstände aufweisen. Doch das

Ausschlaggebende ist hier nicht das Instrumentarium, sondern die operativen Handlungen

der Reproduktion der Funde. Spezifisch II-β1 wäre dagegen die Anwendung der

Spieltheorie.

Was nun die Beeinflussung durch die Kultur anbetrifft: Aufgrund der Tatsache, dass

in den Wissenschaften mit α-operativer Methodik die Operationen und Subjekte dem

Wissenschaftsfeld als Struktur extern sind, muss ihre Beeinflussung von der Kultur

limitierter sein als bei den anderen Disziplinen. Wenn nämlich β-operative Situationen in

einer Disziplin immer wieder auftauchen, bedingt die den operativen Subjekten eigene

Kultur nicht nur bei der Bildung (Entstehung) des Wissenschaftsfeldes, sondern oft auch

6 Etwa der in Aragon (Spanien) tätige Historiker und Archäologe Javier Fanlo, dessen

Werkzeugkoffer selbst Ergebnis jahrelanger Forschung ist.

Page 15: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

permanent die Struktur des Wissenschaftskörpers (d.h. alles, was diese Disziplin aussagt).

Deshalb schließe ich zur Folge, dass auch der PhM, obschon ohne diese Terminologie,

durchaus „lokale Wahrheiten“ anerkennt, wie dies der Konstruktive Realismus tut. Eine

Kultur kann also andere β-operativ vorgehende Disziplinen ausbilden als andere

Kulturkreise. Konkret: Die Scharia basiert auf anderen Premissen als das britische oder das

kontinentale Rechtssystem. Die traditionelle chinesische Medizin muss nicht mit der

europäischen übereinstimmen. Doch ist damit noch nicht gesagt, dass beide Ansätze auch

auch gleichwohl die Wissenschaftlichkeit solcher praktischer Disziplinen annehmen

müssen.

Die oben aufgeworfene Frage, wann denn für den CR Erkenntnis bzw. Einsicht

erreicht ist und wann ein Wissen dagegen noch unwissenschaftlich bleibt, wurde somit

nebenbei beantwortet: „Knowledge“ trete erst nach der Interpretation ein. Und deshalb

seinen die „Geisteswissenschaften“ den „Naturwissenschaften“ auch methodologisch

überlegen:

[...] the central method of the Geisteswissenschaften – interpretation – is becoming a leading method in

the natural sciences. [...] (HSOC: 50)

Und als führende Methode gehört sie auch zum Training eines guten CR-

Therapeuten für desorientierte Naturwissenschaftler, die sonst nicht wissen, was sie tun,

wenn sie ihre Wissenschaft betreiben, die also sonst keine Erkenntnis oder Einsicht

erlangen:

[...] interpretative ability expresses the superiority of a scientist or of a science. This gives the

Geisteswissenschaften a two-fold function: people practising Geisteswissenschaften must be regarded

as masters of interpretation and can become trainers for natural scientists. (ebd.)

In den β-operativ vorgehenden „Geistes-“ bzw. „Human- und

Verhaltenswissenschaften“ taucht aber noch ein weites wissenschaftsphilosophisches

Problem auf, das Gustavo Bueno in seiner Abhandlung Nosotros y ellos (Wir und sie; Abk.

N&E) besonders behandelt. Gemeint ist das Problem der Perspektive, die das

gnoseologische Subjekt, der Wissenschaftler, in Bezug auf die untersuchten operativen

Subjekte einnimmt. Beide sind nun ja im Wissenschaftsfeld, etwa der Kulturanthropologie,

präsent. Da dieser Punkt auch die Wissenschaftlichkeit der entsprechenden Disziplin

betrifft, möchte ich hier etwas genauer, besonders auf das 5. Kapitel von N&E eingehen,

das übersetzt „Das „Prisma“ von Pike aus der Sicht der Theorie des

Kategorienabschlusses“ heißt (N&E: 65-87).

Laut Kenneth Pike7, der die Unterscheidung 1954 in die Kulturanthropologie

eingeführt hat, ist die „Etic““-Perspektive das, was der Beobachter von seinen eigenen

Koordinaten aus wahrnehmen oder analysieren kann. Wie bereits gesagt, nennt Bueno

diesen Beobachter GS, „gnoseologisches Subjekt“; dieser steht außerhalb der

beschriebenen Kultur.

Dem wird nun von Pike die „Emic“-Perspektive gegenübergestellt, die vorliegt,

sobald der Beobachter GS versucht, sich in die Sichtweise des untersuchten Subjekts zu

versetzen, diesen bezeichnet dann Bueno als das „agierende Subjekt“ (AS). Bei seiner

7 In seinem Buch Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behavior

(1954) übernimmt Pike die von Phonemik/Phonetik abstammende Unterscheidung emic/etic in die

in die Sozialwissenschaften, besonders die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie.

Page 16: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

Ablehnung, die Traditionelle Chinesische Medizin von den Koordinaten der westlichen

Medizin aus zu interpretieren, lässt sich vermuten, Wallner sympathisiert eher mit der

emic-Perspektive, denn mit der etic-Perspektive. Doch impliziert der Vorgang der

Verfremdung andererseits nicht immer auch eine Etik-Perspektive?. Das wäre in Zukunft

noch genauer zu untersuchen.

Legt man nun diese Unterscheidung aus einer rein epistemologischen Sicht

(erkenntnistheoretisch) aus, lässt sich das Emische zunächst als Innenperspektive in

apothetische (distanzierte) Propositionen auffassen und das Etische als die

Außenperspektive.

In Nosotros y ellos wird ein Gedankenexperiment in Oviedo beschrieben, das Bueno

zusammen mit Marvin Harris 1985 unternahm: Vor ihnen steht eine Flasche Wein auf dem

Tisch. Bueno zieht diese Weinflasche als Beispiel für einen apothetischen Gegenstand

heran, der von einem Forscher GS und einem „agierenden Subjekt“ AS wahrgenommen

wird. Bueno behauptet nun, es existiere weder seitens des Anthropologen, noch des

Eingeborenen ein Handlungssystem, das fähig wäre, operativ in das Innere des Kopfes des

anderen vorzudringen. Die Emic-Handlungen stellen keinen Mentalfluss dar, sondern

konstruieren apothetische Figuren: Erst wenn beide auf die apothetische Flasche zeigen,

wird eine Komunikation zwischen GS und AS ermöglicht.

Das Postulat eines Feldes, das aus apothetischen Objekten besteht, kann als unabdingbar aufgefasst

werden, um die Möglichkeit einer sprachlichen Komunikation zu erklären (NH-Ü von N&E: 72)

Dies gelte allgemein für die Übertragung von Kenntnissen. Das Problem der

Perspektive, nämlich dass, obwohl es sich um das gleiche apothetische Objekt handeln mag

(beispielsweise der Mond), wenn er von unterschiedlichen Observatorien aus angeschaut

wird, liege keine vollständige Übereinstimmung der Phänomene vor.

Um nun die gnoseologische Interpretation – und zwar von der

wissenschaftsphilosophischen Frage aus: wie wird der materielle Modus in den formellen

Modus übersetzt? – der Pikeschen Unterscheidung zu veranschaulichen, greift Bueno auf

eine weitere Anekdote zurück: Ein Boot nähert sich bei starkem Sturm der kantabrischen

Steilküste. Die Beobachter “Sa” stehen an der oberen Kante der Steilküste und die

Besatzung des Bootes “Sb” befindet sich mitten in einem heftigen Sturm (vgl. N&E: 73-4).

Die Beobachter „Sa” symbolisieren in der Parabel die GSe, die zunächst nicht die

Vorderseite der Felswand sehen, und die Bootbesatzung „Sb” stehen für die ASe. Die

Perspektive der Beobachter „Sa” ist etic, und von oberhalb der Steilküste stellen diese GSe

unter Umständen falsche Hypothesen auf (wie hier beispielsweise die Annahme, die

Bootsbesatzung sei im Inbegriff, Selbstmord zu begehen). Die Perspektive der

Bootbesatzung “Sb”, die für die AS stehen, zeichnet sich durch Emic-Handlungen aus;

diese Subjekte sehen die „Vorderseite“ der Steilküste und finden da eine Art Aushöhlung,

in die sie sicher hineinschiffen und aussteigen können, was wiederum die GSe oben nicht

sehen.

Noch eine Abstraktionsstufe höher, mag nun die „Vorderseite“ für das Materielle

stehen und die „Rückseite“ für das Formelle, in das gnoseologische Subjekte die

Materialien übersetzen. So ähnlich also, wie in dem Moment, in dem die Beobachter auch

das sehen, was zuvor die Bootsbesatzung sah (also die Vorderseite), korrigieren die GSe

ihre vorherige Wahrnehmung (der Rückseite), und übersetzen nun das gelernte Materielle

richtig in den formellen Modus. Dieser (gnoseologische) Vorgang wird so ähnlich

vollzogen, wenn Gse versuchen, fremde oder fremdartige Kulturinstitutionen in intelligible

Page 17: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

Formen zu bringen. Zwar scheint dies dem CR in manchen Fällen unangebracht,

beispielsweise wenn er unterstreicht, die Meridiane (TCM) sollen nicht als Nervenstränge

(europäische Medizin) uminterpretiert werden, da die Aussagen des chinesischen

Satzsystems dann widersprüchlich erscheinen; doch in anderen Fällen führt die

Anwendung der CR-Methode der Verfremdung8 auch im neuen Kontext zu vernünftigen

Aussagen. Im PhM kommt es in solchen Fällen jedenfalls zu einer Dialektik:

Es geht jedenfalls darum zu ermöglichen, dass das Emische auf seine Rückseite reduziert wird und

umgekehrt das Etische in seine Vorderseite übersetzt – zumindest in den Situationen, in denen das

Emische als das Innere und das Etische als ein Äußeres erscheint.” (NH-Ü von N&E: 75)

Doch letztere sei immer noch eine epistemologische Interpretation, d.h. noch keine

gnoseologische. Eine solche werde erst dann voll erreicht, wenn ein gnoseologisches

System wie die Theorie des Katergorienabschlusses, im Besonderen dessen

Unterscheidung der beiden Situationen α-operativ und β-operativ, angewandt wird, mit all

ihren Differenzierungen, die wir oben gesehen haben.

Wenn also beispielsweise aus einer Situation, in welche sowohl operative Subjekte

des Typs „gnoseologisches Subjekt“ als auch des Typs „agierendes Subjekt“ involukriert

sind, all diese Subjekte nun neutralisiert werden – dies ist meines Erachtens der Fall,

nachdem die Bootsbesatzung (ASe) den Beobachtern (GSe) die rettende Ausbuchtung

gezeigt haben – , da hierbei eine Kenntnis bzw. Wahrheit zum Vorschein kommt und dabei

alle implizierten Subjekte unwichtig werden, so haben wir die Situation α1 erreicht. Die

reduzierte geologische Wahrheit (α1) lautet in etwa: An der kantabrischen Steilküste xx km

östlich von Llanes befindet sich eine natürliche Ausbuchtung, die kleinen Booten bei Sturm

eine Landemöglichkeit bietet.

Doch wollen wir nicht an ein solches Grenzstadium gelangen, sondern noch

innerhalb der „Humanwissenschaften“ bleiben, so käme dies in der Anekdote

beispielsweise folgender Situation nahe: Nach der stürmischen Landung würden die

Beobachter ein eigenes Boot nehmen und selbst die Steilküste nach der Ausbuchtung

absuchen, um dann selbst auch eine Landung an der gegebenen Stelle zu unternehmen. Das

bedeutete nun „gnoseologisch übersetzt“: die ursprünglichen Handlungen der ASe

(Bootsbesatzung) von neuen Handlungen umgeben und auf diese zurückgeführt zu haben;

verständlich werden sie dabei durch einen „Regressus auf andere Operationen“ (N&E: 76).

Damit wären wir bei der Situation β1 angelangt.

Anstatt weitere alternativ mögliche Verfahren zu veranschaulichen, möchte ich nun

kurz zur interkulturellen Anwendung kommen. Wenn nun die ASe einer Kultur K1

angehören und die GSe einer anderen Kultur K2, dann ist ein Regressus auf β1 nur dann

möglich, wenn in K2 komplexere Handlungen möglich sind, welche den Operationen der

K1 angehörigen ASe einen gewissen erklärenden Rahmen geben. Ähnliches gilt auch für

den o.g. Regressus auf α1. Daraus schließt Bueno, dass es durchaus komplexere Kulturen

gibt und weniger komplexe: Erstere gehen im Übrigen in der Regel eher auf die zweiten zu,

in einem Versuch, sie zu verstehen, als umgekehrt. Oft sei es nun nicht wirklich möglich,

eine dritte Perspektive zu erlangen, die die Emic- und die Etic-Perspektive überschreitet

8 Eine schöne Definition der Methode der „Verfremdung“ bietet beispielsweise Lukas Pawlik:

„Zurück in die Zukunft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Verfremdung“, in

Greiner/Wallner/Gostentschnik (Hrsg.): Verfremdung - Strangification. Multidisziplinäre Beispiele

der Anwendung und Fruchtbarkeit einer epistemologischen Methode. (2006) S. 27.

Page 18: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

(N&E: 81), sondern die Etic-Perspektive weise eine Potentialität auf, die genügt, um in sich

die Emic-Perspektive der anderen Kultur aufzunehmen.9 (Vgl. N&E: 81ff).

Wir haben bereits erwähnt, wenn der Konstruktive Realismus auf die Traditionelle

Chinesische Medizin angewandt wird, weigert sich Waller dabei gegen jede Reduktion

chinesischer Konzeptionen auf westliche Medizin-Konzeptionen und unterstreicht, dass die

K1 eben nicht auf Konzeptionen der K2 reduziert werden soll (noch umgekehrt). Allerdings

muss Wallner dafür nicht nur die gegenseitige Inkompatibilität in Kauf nehmen, sondern

sogar das gegenseitige Unverständnis. Diese interkulturelle Thematik soll in meinem

nächsten Beitrag aufgegriffen werden.

Schlusswort

Philosophische Systeme sind keine Puzzles, man kann daher Teile verschiedener

Systeme nicht einfach miteinander austauschen. Was aber zu leisten ist, eine

Auseinandersetzung, kann für alle implizierten Seiten sehr fruchtbar sein, um sich

bestimmter Problemsituationen bewusst zu werden bzw. aus ihnen herauszukommen.

Ziel dieser Auseinandersetzung des Philosophischen Materialismus mit dem

Konstruktiven Realismus ist es, dass der eine dem anderen Fragen stellt und ja, neue

Probleme aufwirft, die dieser vielleicht nicht so sehr ins Zentrum seiner Betrachtungen

gestellt hat.

Bei dieser Debatte, die gerade erst begonnen hat, fühle ich mich als ein privilegierter

Zuschauer eines philosophischen Geschehens. Denn Dank des großen Vorteils, diese

beiden Philosophen persönlich zu kennen und mit ihnen in Kontakt zu stehen, kann ich nun

einfacher vergleichend schauen, wie zwei gegenwärtige Philosophen sich ähnlichen

Problemen gegenüberstellen. Manchmal arbeiten sie ähnlich, aber nie gleich, bauen auf

dieselbe Tradition auf, scheinen immer wieder zu einem ähnlicher Ansatz zu kommen und

doch schlagen sie plötzlich unterschiedliche Lösungen vor bzw. setzen ganz andere

Wertungen.

Konfrontationspunkte auszumachen ist in der Philosophie nie etwas Negatives,

sondern etwas Positives, Konstruktives: Denn die Kritik, die Unterscheidung lässt uns

deutlicher Strukturen erkennen, die ohne Kontrast womöglich undeutlich blieben.

Der vielleicht wichtigste gemeinsame Punkt beider Ansätze und gleichzeitig ihr

Erfolg liegt meines Erachtens darin, eine leider weitverbreitete Meinung – die Philosophie

habe keinen Sinn mehr – über Bord geworfen zu haben!

9 Laut Clifford Geertz habe Evans Pichard dies geschafft, so Gustavo Bueno N&E: 81-82.

Page 19: Wissenschaftsphilosophische Fragen an den Philosophischen Materialismus und den Konstruktiven Realismus

Lektüreempfehlungen10

Alvargonzález, David: “El darwinismo visto desde el materialismo filosófico” (Der

Darwinismus aus der Sicht des Philosophischen Materialismus), in: El Basilisco

(Oviedo), Nr. 20, 1996, S. 3-46.

Bueno, Gustavo: Nosotros y ellos (Wir und sie). Oviedo: Pentalfa, 1990. (= N&E)

Bueno, Gustavo: Teoría del Cierre Categorial (Theorie des Kategorienabschlusses). 5

Bde. Oviedo: Pentalfa, 1992-93. (= TCC)

Bueno, Gustavo: ¿Qué es la ciencia? La respuesta de la teoría del cierre categorial. (Was

ist die Wissenschaft? Die Antwort der Theorie des Kategorienabschlusses). Oviedo:

Pentalfa, 1995. (= QC)

Kurt Greiner, Fritz Wallner, Martin Gostentschnik (Hrsg.): Verfremdung - Strangification.

Multidisziplinäre Beispiele der Anwendung und Fruchtbarkeit einer epistemologischen

Methode. Bern/Frankfurt/New York/Brüssel: Peter Lang, 2006.

Hidalgo, Alberto: „Bueno Martínez, Gustavo”. In Denis Huisman (Hrsg.): Dictionnaire des

philosophes. Paris: P.U.F., 1984. 419-421.

Hidalgo, Alberto: „Philosophical Materialism“ (englische Version), in: Eikasia (Oviedo)

Nr. 2, Januar 2006, S. 1-5.

Holzenthal, Nicole: „Bueno, Gustavo“ in Brockhaus-Enzyklopädie. Mannheim: Brockhaus,

2003.

Holzenthal, Nicole: „Berührungspunkte und Kontraste zwischen dem Konstruktiven

Realismus und dem Philosophischen Materialismus – Skizze einer Gegenüberstellung

zweier wissenschaftsphilosophischer Ansätze“; in Kurt Greiner und Fritz Wallner

(Hrsg.): Aus dem Umfeld des Konstruktiven Realismus. Studien zur Wissenschaftskultur.

Bern/Frankfurt/New York/Brüssel: Peter Lang, 2010. 165-187.

Pike, Kenneth L.: Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human

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Rappaport, Roy: The pigs for the Ancestors. Ritual in the Ecology of a New Guinea People

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2.

Wallner, Fritz: How To Deal With Science If You Care For Other Cultures. Wien:

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Wallner, Fritz: Systemanalyse als Wissenschaftstheorie II: Kulturalismus als Perspektive

der Philosophie im 21. Jahrhundert. Bern/Frankfurt/New York/Brüssel: Peter

Lang, 2010.

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Alle für diesen Artikel von mir angefertigten Übersetzungen sind mit „NH-Ü“ (Übersetzung von Nicole

Holzenthal) gekennzeichnet, gefolgt von den bibliographischen Angaben des Originals.