wie wohnen im alter? atelier mondial - cms-basel.ch · atelier mondial wie wohnen im alter? das...

16
Atelier Mondial Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

Upload: others

Post on 10-Sep-2019

3 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

Atelier MondialAtelier Mondial

Wie wohnen im Alter?

Das Magazin der Christoph Merian Stiftung

Nr. 6 Dezember 2018

Page 2: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

DIE ZEICHEN DER ZEIT ERKENNEN

Die Christoph Merian Stiftung (CMS) engagiert sich seit Jahr-zehnten im Altersbereich und hat in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Errichtung von Alterssiedlungen Pionierarbeit geleistet. Sie ermöglichte in den schwierigen Nachkriegsjahren und danach mit ihren Alterssiedlungen gerade auch wenig begüterten älteren Menschen ein Leben in damals modernen Wohnungen zu moderaten Preisen.

Seither haben sich die Ausgangslage und die Bedürfnisse von Seniorinnen und Senioren entscheidend verändert: Die Lebenserwartung ist markant gestiegen, der Umzug in eine Alterssiedlung erfolgt immer später. Somit haben das Durch-schnittsalter und die Verletzlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner stark zugenommen, ebenso die sozialen Anforde-rungen und die ökonomischen Auswirkungen.

Die CMS hat erkannt, dass sie als Vermieterin für diese anspruchsvolle Aufgabe nicht mehr das zwingend nötige Know-how mitbringt. Deshalb hat sie sich entschieden, die Verantwortung und den Betrieb ihrer Alterssiedlungen einer Institution anzuvertrauen, die für diesen spezifischen Bereich über eine reiche Erfahrung verfügt und auch zertifiziert ist. Nicht irgendeiner Institution oder privaten auswärtigen Inves-toren, die im Altersbereich aufs schnelle Geld aus sind, son-dern: dem Bürgerspital Basel. Ein idealer Partner, weil es eine Institution der Bürgergemeinde ist und wie die CMS öffent-lich-rechtlich und eng verbunden mit der Stadt Basel.

Wir sind uns bewusst, dass Neustrukturierungen auch Verunsicherungen auslösen können. Gerade bei den Bewoh-nerinnen und Bewohnern der CMS-Alterssiedlungen, denen wir uns als Liegenschaftsbesitzerin und Vertragspartnerin des Bürgerspitals verpflichtet fühlen. Die CMS fädelt sich aus dem Engagement für die ältere Generation mit der Übergabe unserer Alterssiedlungen an das Bürgerspital im Übrigen auch nicht aus. Ganz im Gegenteil. Wir werden uns im Förderbe-reich für neue Projekte im Altersbereich vor allem in wenig privilegierten Quartieren einsetzen und bestehende Projekte noch gezielter auf spezifische Bedürfnisse der älteren Gene-ration hin ausrichten.

Dieses RADAR vermittelt Ihnen einen Überblick über For-schungsresultate zum Thema ‹Leben und Wohnen im Alter›, lässt Expertinnen und Experten zu Wort kommen, individuelle Stimmen – und hat sechs ganz unterschiedliche Menschen aus drei Generationen zu ihren Vorstellungen befragt.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

Dr. Lukas FaeschPräsident der Kommission der Christoph Merian Stiftung

Balsam

Wie illustriert man ‹Wohnen im Alter›? Mit Fotos

lächelnder Seniorinnen und Senioren? RADAR

hat einen anderen Weg gewählt. Wir haben das

Basler Illustrations- und Projektkollektiv Balsam

beauftragt. Seit Oktober 2016 stellt das Netzwerk

im St. Johann jungen Illustratorinnen und Illus-

tratoren temporäre Arbeitsplätze zur Verfügung

und unterstützt sie bei Aufträgen und Auftritten.

Eine von ihnen, Annina Burkhard, hat für diese

Ausgabe das Titelbild und die Porträts der sechs

Menschen gezeichnet, die wir zum Leben und

Wohnen – heute und im Alter – befragt haben.

www.balsam.cc

3 Neuorientierung der CMS-Altersstrategie

Gut bleiben, aber anders

4 Alter ist nicht gleich AlterErkenntnisse aus der Altersforschung

5 Gefragt: Radikales UmdenkenDie neuen Alten ticken anders

6 Wie hätten wir’s denn gerne?12 Fragen an 6 Menschen aus 3 Generationen

12 Vom Land zurück in die StadtWohnräume und -träume einer grauen Pantherin

13 Jeder Mensch eine AutorinSein eigenes Buch schreiben mit der Edition Unik

14 4seasonsSaisongerecht kochen und erst noch Spass haben

15 Hundert Jahre IglingerhofEinst fast eine visionäre Kleinstadt

16 Aktuelles aus der CMSHasel und Hartriegel, junge Mütter und ihre Kinder

2

Editorial

Page 3: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

Die Alterssiedlungen der Christoph Merian Stiftung (CMS) waren einst Pionierprojekte. Das ist lange her. Seither hat sich vieles verändert: Das Durchschnittsalter der Be- wohnerinnen und Bewohner ist deutlich höher. Die Anforderungen an die Betreuung älterer Menschen sind gestiegen. Und auch die Vorstellungen und Bedürfnisse älterer Menschen, wie sie leben und wohnen möch-ten, haben sich gewandelt. Die CMS hat den Betrieb ihrer traditionellen Alterssiedlungen einer kompetenten, lokalen Partnerinstitu-tion übergeben: dem Bürgerspital Basel. Im Interesse vor allem der Bewohnerinnen und Bewohner. Ein Rückblick und Ausblick.

Seit den 1950er-Jahren engagiert sich die CMS in Wohnprojekten für ältere Menschen. Sie leistete nach dem Krieg im Alterswohnungsbau sogar eigentliche Pionierarbeit. 1954 errichtete sie eine erste Alterssied-lung an der Rheinfelderstrasse mit 95 Wohnungen für rund hundert Personen. Die Mietzinse waren moderat und betrugen damals zwischen CHF 63.– und 68.– pro Monat. Weitere Alterssiedlungen folgten: 1960 die Alterssiedlung Gellertfeld, 1966 die Alterssiedlung Albert Schweitzer-Strasse und 1981 schliesslich die Alterssiedlung Friedrich Oser-Strasse. Darüber hinaus übernahm die Stiftung den Betrieb der Alterssiedlung Basler Dybli von der gleichnamigen Stiftung in Riehen und den Dalbehof von der Sevogel-Stiftung an der Kapellenstrasse.

Mit dem wachsenden Wohlstand stieg gleichzeitig der individuelle Raumbedarf. Bereits in den 1980er- Jahren reagierte die Stiftung darauf und legte die klei-nen Einzimmerwohnungen (einst ohne Warmwasser) zu komfortableren Zweizimmerwohnungen zusammen. So halbierte sich das Wohnungsangebot an der Rhein-felderstrasse und im Gellertfeld. Der Dalbehof sowie die Friedrich Oser-Strasse berücksichtigten bereits bei der Erstellung das Bedürfnis nach mehr Wohnraum.

Danach geschah dreissig Jahre lang wenig bei den Alterssiedlungen, auch jenen der CMS. Veränderungen gab es hingegen im klassischen Altersheimbereich in der Schweiz und auch in Basel: Weil ältere Menschen in immer höherem Alter in ein Heim übersiedelten, begannen Altersheime zusätzlich Pflegeleistungen anzubieten und wurden zu kombinierten Alters- und Pflegeheimen. Die Alterssiedlungen der CMS funktio-nierten dagegen weiterhin als Teil des regulären Vermie-tungsgeschäfts.

Ab 2010 begann sich abzuzeichnen, dass die Aus-stattung der CMS-Alterssiedlungen den aktuellen Anforderungen der immer älteren Bewohnerinnen und Bewohner zum Teil nicht mehr genügte: In den 276 Wohnungen lebten mittlerweile 300 Bewohnerinnen

und Bewohner mit einem Durchschnittsalter von 84 Jahren. Dies zwang die Stiftung zum Handeln, im betrieblichen wie im baulichen Bereich. Zum einen wollte sie die Alterssiedlungen mit dem gemeinsam mit der Age-Stiftung entwickelten Konzept ‹Avantage› nach den Ansätzen der Gemeinwesenarbeit weiterent-wickeln, zum anderen realisierte sie mit einem alters-gerechten Neubau an der Wettsteinallee ein Vorzeige-projekt und unterzog in den Jahren 2013 bis 2014 die Altersresidenz Dalbehof einer aufwendigen Sanierung.

Dringend nötige StandortbestimmungDer Bedarf älterer Menschen generell und einzelner Mieterinnen und Mieter der CMS-Siedlungen nach mehr (Zusatz-)Betreuung, mehr Service und auch Pflege stieg unterdessen kontinuierlich. Dies bewog die CMS 2017 zu einer Standortbestimmung. Sie beauftragte Roland Wormser, einen ausgewiesenen Alters- und Organisationsexperten, mit einer umfassenden Analyse (siehe Seite 4). Diese zeigte klar auf, dass Zustand und Ausrichtung der CMS-Alterssiedlungen in der heutigen Form aktuellen und künftigen Anforderungen an Woh-nen in (hohem) Alter nicht mehr genügten. Weder bezüglich Betreuung noch bezüglich Service und Pflege oder baulicher Ausstattung: Die CMS-Immobilien aus den 1950er- bis 1980er-Jahren sind nicht durchgehend barrierefrei. Es fehlen zum Beispiel vereinzelt Lifte. Nasszellen und Küchen sind nicht überall altersgerecht. Zudem liegen zwei der Siedlungen an schlecht erschlos-senen Orten auf dem Bruderholz – was im Widerspruch steht zu den heutigen Vorstellungen von altersgerech-tem ‹Wohnen im Alter›: Mobilität und Einkaufen sind für gehbehinderte Menschen schwierig bis unmöglich. Die Analyse hat zudem auch aufgezeigt, dass klassi-sche Alterssiedlungen ohne Pflegeangebote ausgedient haben.

Was also tun? Mit einem historisch gewachsenen, veralteten Modell weitermachen als auf diesem Gebiet nicht spezialisierte Förderstiftung? Nein. Die CMS hat deshalb entschieden, ihre Alterssiedlungen nicht selber weiterzuführen, sondern einen kompetenten, verläss- lichen Partner zu suchen, der über eine hervorragende Fachkompetenz im Altersbereich verfügt.

Zukunftsweisende KooperationMit dem Bürgerspital Basel hat sie ihn gefunden. Das Bürgerspital, eine Institution der Bürgergemeinde und wie die CMS eine renommierte öffentlich-rechtliche Basler Institution, hat eine fundierte Erfahrung im Altersbereich. Es betreibt bereits sechs Alterszentren und ist damit in Basel der grösste Anbieter. Die CMS wird dem Bürgerspital per März 2019 den Betrieb von vier ihrer sechs Alterssiedlungen übergeben (Basler Dybli, Dalbehof, Gellertfeld, Wettsteinpark). Die Lie-genschaften selber bleiben im Besitz der CMS. Wo nötig, werden von der CMS altersgerechte Umbauarbeiten vorgenommen.

UNSER ENGAGEMENT FÜRS ALTER NICHT WENIGER, ABER ANDERS

Unter dem Titel ‹Wohnen mit Service› garantiert das Bürgerspital neu ein umfassenderes Betreuungs- angebot, als die CMS dies bisher anbieten konnte. Neben den im Pensionspreis inbegriffenen Leistungen (wie zum Beispiel Sprechstunden, 24-Stunden-Notruf, Anlässe und vieles andere) können neu individuell à la carte zusätzliche, kostenpflichtige Leistungen des Bürgerspitals vor Ort und unkompliziert in Anspruch genommen werden (Coiffeur, Handwerker, Wäscherei, Schneiderei etc.).

Die beiden schlecht erschlossenen und nicht alters-gerechten CMS-Alterssiedlungen auf dem Bruderholz (Friedrich Oser-Strasse und Albert Schweitzer-Strasse) werden nicht mehr als Alterssiedlungen weitergeführt. Die jetzigen Bewohnerinnen und Bewohner können, so lange sie wollen, dort wohnen bleiben – oder in eine andere Alterssiedlung umziehen. Frei werdende Woh-nungen in diesen beiden Siedlungen werden künftig vor allem auch an jüngere Interessenten vermietet – was ein spannendes Zusammenwohnen von Jung und Alt ermöglicht, das auch in den Interviews in diesem RADAR von allen Generationen gewünscht wird (Seiten 6-11).

Für eine Übergangsphase von zwei Jahren bietet die CMS mit dem Bürgerspital überdies den Bewohnern der beiden Bruderholz-Siedlungen einen zusätzlichen mobilen Service mit Sprechstunden, Tages- und Not-fallnummern und Mittagstischen an. Dieses attraktive Zusatzangebot ist gleichzeitig ein möglicherweise zukunftsweisendes Pilotprojekt: Wenn es erfolgreich ist und auch genutzt wird, prüft die CMS ein solches Angebot auch für ihre anderen Liegenschaften. Eine interne Untersuchung bei einer CMS-Liegenschaft im Gellert hat beispielsweise ergeben, dass dort 38 Pro-zent der Bewohnerinnen und Bewohner über 75 Jahre alt sind. Da immer mehr ältere Menschen so lange wie möglich in ihrer angestammten Wohnung bleiben und nicht in ein Alters- und Pflegeheim wechseln möchten (vgl. die Beiträge in diesem RADAR), könnten solche mobilen CMS-Services für ältere Mieterinnen und Mieter einem grossen Bedürfnis entsprechen.

Die Übergabe der CMS-Alterssiedlungen an das Bürgerspital Basel erfordert auch neue Verträge der bisherigen Bewohnerschaft mit dem Bürgerspital, der neuen Betreiberin. Die neuen Pensionsverträge entspre-chen den hohen Schweizer und Basler Standards für Alterssiedlungen mit Service, sind seit Jahren für solche Wohnformen eigentlich üblich und bieten überdies einen noch umfassenderen Kündigungsschutz als die alten Verträge.

Es bleibt noch viel zu tunDie CMS wird sich über die Kooperation mit dem Bürger-spital hinaus weiter in anderen Bereichen für die Anliegen der älteren Generation in der Stadt Basel engagieren. Auch und gerade im Förderbereich. Die Abteilung Soziales hat 2016 eine umfassende Bedarfsanalyse durchgeführt. Das Resultat: Viele sozial Benachteiligte, finanziell schlecht gestellte und vereinsamte ältere Personen, auch mit Migrationshintergrund, Menschen im hohen Alter, die sich auf Wohnungssuche begeben müssen, und pflegende Angehörige bräuchten eigentlich viel mehr Unterstützung und Hilfe. Hier klaffen noch immer gravierende Lücken im sozialen Netz, auch in Basel. Ein Thema sind auch neue Formen von Nachbar-schaftshilfe. In all diesen Bereichen wird die CMS sich weiter engagiert einsetzen.

Dr. Beat von WartburgDirektor Christoph Merian Stiftung

3

Strategie

Page 4: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

‹Wohnen im Alter› ist zu einer Formel geworden, die so geläufig wie un- präzise ist. ‹Wohnen im Alter› umfasst vom selbstständigen Wohnen älterer Menschen in ihrer angestammten Wohnung bis hin zur Vollbetreuung in einem Pflegeheim die unterschiedlichsten Wohnformen.

Denn Alter ist nicht gleich Alter. Die Grenze beim AHV-Alter um das 65. Lebensjahr anzusetzen ist wenig hilfreich, weil Alternsprozesse viel-fältig und mehrdimensional sind. Der bekannte Altersforscher François Höpflinger 1 hat vor mehr als zwanzig Jahren eine Einteilung verschiedener Alternsphasen vorgenommen, die unter Fachleuten noch heute anerkannt und auch für die Abklärung der Lebens- und Wohnbedürfnisse älterer Menschen nützlich ist:

1. Alternsphase Noch Erwerbstätige (50+) beginnen sich mit dem Übergang in die nach-berufliche Phase zu beschäftigen. Viele überprüfen ihre Wohnsituation.

2. AlternsphaseMenschen im gesunden Rentenalter (65+) erleben heute dank moderner Medizin und gesunder, aktiver Lebensführung eine lange Phase behinde-rungsfreier Lebensjahre, oft für zwanzig Jahre und länger. Dank der heutigen Altersvorsorge können sie diese Phase oft autonom gestalten.

3. AlternsphaseVerstärkte Fragilisierung. Gesundheitliche Beschwerden und funktionale Einschränkungen (Hören, Sehen, Gehen) können ein selbstständiges Leben erschweren oder verunmöglichen. Ein geeignetes Wohnumfeld ist jetzt wichtig – und oft auch Hilfe im Alltag (Putzen, Einkaufen).

4. AlternsphasePflegebedürftigkeit. Mehr als ein Drittel der über 85-Jährigen in der Schweiz ist pflegebedürftig. Über vierzig Prozent von ihnen sind an De- menz erkrankt. Wohnen sie noch zu Hause, benötigen sie meist tägliche Betreuung und Pflege durch Angehörige oder professionelle ambulante Dienste, oder sie sind in einem Alters- und Pflegeheim.

Wohnbedürfnisse und gewünschte Wohnformen sind weiter abhängig vom Bildungshintergrund und den Einkommens- und Wohneigentums-verhältnissen. Auch regionale Faktoren spielen eine grosse Rolle, zum Beispiel ob jemand in einer städtischen oder ländlichen Umgebung lebt.

Wohnbedürfnisse und Wohnästhetik sind schliesslich von der indivi-duellen Lebensgeschichte geprägt. Jeder ältere Mensch trägt Spuren früherer Zeiten in sich. Die eigene Wohnung ist für sie oder ihn weit mehr als nur ein ‹Wohnraum›, sie ist vielmehr ein Ort persönlicher Erinnerungen

ALTER IST NICHTGLEICH ALTER

und Gegenstände. Bei einem Wechsel in ein Alters- oder Pflegeheim wollen Menschen deshalb oft nicht nur ‹Nützliches› mitnehmen, sondern das, was ihnen lebensgeschichtlich wichtig ist.

Die neuere Forschung bestätigt die lebensgeschichtliche Prägung der Wohnbedürfnisse eindrücklich. Die Altersforscherin Joëlle Zimmerli 2

hat nachgewiesen, dass unser Bild der heutigen älteren, pensionierten Generation noch immer stark vom traditionellen Gesellschaftsmodell der Vorkriegsgeneration mit den Jahrgängen 1915 bis 1942 bestimmt ist (Sparsamkeit, Bescheidenheit und traditionelle Rollenbilder). Die heute über 75-Jährigen werden jedoch bei besserer Gesundheit älter, sie möchten so lange wie möglich im privaten Zuhause wohnen und nicht in ein Alters-heim übersiedeln. Der Übertritt in ein Pflegeheim findet in dieser Gene-ration, verglichen mit früheren Generationen, deutlich später oder gar nicht mehr statt und beschränkt sich auf wenige, aber pflegeintensive Jahre (4. Alternsphase nach Höpflinger). Ihre Kinder wiederum, die heute 55- bis 75-jährigen Babyboomer (Jahrgänge 1943 bis 1963), sind mobiler, trennen sich häufiger vom Lebenspartner und wechseln auch ihr Wohn- umfeld häufiger. Für die Wohnungswirtschaft hat dies zur Folge, dass der Anteil alter Mieterinnen und Mieter aus beiden Generationen steigt und immer mehr alte Menschen zu Hause betreut werden möchten.

Diesen Trend bestätigt auch die vom Kanton Basel-Stadt regelmässig durchgeführte ‹Befragung 55plus›. In der letzten von 2015 3 gaben rund achtzig Prozent der Befragten an, dass sie im Alter sicher oder eher zu Hause bleiben möchten, eventuell mit Unterstützung etwa durch die Spitex. Nur rund dreizehn Prozent konnten sich gut vorstellen, in eine Seniorenresidenz überzusiedeln. ‹Zu Hause bleiben› ist also ein zentrales Anliegen.

Die unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Alterns- gruppen an Wohnformen hat die im Altersbereich tätige Ökonomin Ruth Köppel 4 in einer richtungsweisenden Publikation von 2016 gebündelt. Sie definiert zwei Wohnmodelle der Zukunft:

Wohn-Typ AAltersgerechte Wohnungen für frühzeitigen Einzug für die 1. und 2. Alterns- phase nach Höpflinger. In solche barrierefreien Wohnungen an möglichst zentraler und gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossener Wohn-lage ziehen meist Paare, weil ihnen zum Beispiel ihre bisherige Wohnung zu gross oder zu teuer geworden ist oder weil sie das Einfamilienhaus den Kindern übergeben wollen. Der Wohnungsmix umfasst 2½- bis 4½-Zim-mer-Wohnungen; wichtig ist die Möglichkeit, Parkplätze zu mieten. Wer einzieht, bleibt lange. Bei günstigen Mietzinsen kann es Jahre dauern, bis Interessierte oben auf der langen Warteliste angekommen sind. Die Bewohnerinnen und Bewohner brauchen weder Notruf noch Serviceleis-tungen und sind deshalb erst bereit, für diese zu zahlen, wenn sie sie auch beanspruchen.

Wohn-Typ BBetreute Wohnungen für späten Einzug für die Alternsphase 3 nach Höpf-linger. Hier ziehen Hochbetagte (80 Jahre alt und älter) erst ein, wenn sie die gebotenen Leistungen inkl. Pflege auch wirklich benötigen. Die Betreuungspauschale beträgt oft mehrere hundert Franken monatlich. Der Anteil der Alleinstehenden ist hoch. Der Wohnungsmix besteht aus kleineren Wohnungen (oft 1½-Zimmer- bis höchstens 3½-Zimmer-Woh- nungen). Die Aufenthaltsdauer ist kürzer, und Wohnungen werden schnel-ler frei. Parkplätze sind nur vereinzelt gefragt.

Die Forschungsergebnisse und Analysen zeigen auf, dass es neue Wohn-modelle, Wohnformen und Wohnangebote für die ältere Generation braucht. Hier ist die Wohnwirtschaft gefordert – aber auch Stiftungen wie die CMS, welche die Herausforderung angenommen hat und ihre Alterssiedlungen nach neuesten Erkenntnissen in Kooperation mit dem Bürgerspital Basel neu ausrichtet.

Dr. Roland Wormser

ROLAND WORMSER

Roland Wormser ist Partner bei H Focus AG, einem pri-

vaten Kompetenz- und Beratungszentrum im Gesund-

heitswesen. Seit über zwanzig Jahren berät er Organi-

sationen in der Strategie- und Organisationsentwicklung

mit Schwerpunkt im Altersbereich. Elf Jahre lang war

er Verwaltungsratspräsident eines Alterszentrums. Die

CMS hat er bei der Strategieentwicklung für ihre Alters-

siedlungen unterstützt.

Die Vorstellung davon, wie wir im Alter leben und wohnen wollen, hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Das hat nicht nur, aber auch Konsequenzen für die Wohnungs-wirtschaft und die Planung und Gestaltung von Wohnraum für ältere Generationen. Die CMS hat sich bei der Neuausrichtung ihrer Alters-siedlungen auf aktuellste Erkenntnisse gestützt. Eine Übersicht.

1 François Höpflinger/Joris Van Wezemael (Hg.): Age Report III, Wohnen in höherem Lebensalter. Grundlagen und Trends. Zürich/Genf 2014. 2 Joëlle Zimmerli: Wohnbedürfnisse und Wohnmobilität im Alter – heute und in Zukunft. Studie im Auftrag des Amts für Raumentwicklung Kanton Zürich. Zürich 2012,

online: http://www.zimraum.ch/studien/wohnbeduerfnisse-und-wohnmobilitaet-im-alter-heute-und-in-zukunft 3 Online: http://www.statistik.bs.ch/befragungen/kantonal/befragung-55plus.html 4 Ruth Köppel: Was Betagte sich wünschen. In: Age-Stiftung (Hg.): Age Dossier 2016. Betreute Wohnungen mit Heimvorteil. Zürich 2016, S. 5–10,

online: https://www.age-stiftung.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Age_Dossier/Age_Dossier_2016.pdf (alle abgerufen am: 08.11.2018).

4

Forschung

Page 5: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

Die Gerontologin, Human-Resources-Managerin und Unternehmensberaterin Anna Ravizza ist seit Januar 2018 interimistische Leiterin des Bereichs ‹Wohnen im Alter› der CMS. Die passionierte Golferin wohnt am Murtensee und pendelt von ihrem Wohnort seither dreimal in der Woche nach Basel, wo sie die innovative Neuausrichtung der CMS-Alterssiedlungen mitkonzipiert hat und begleitet. Die Beschäftigung mit Altersfragen ist für sie zu einer Herzensangelegenheit geworden. Und das kam so:

Anna Ravizza hat sich 2005 beim Uhrenunternehmen Rolex in Biel als eine der ersten Personaldirektorinnen systematisch um die Lebensplanung der Mitarbei-tenden auch über die Pensionierung hinaus gekümmert. Weil sie der Überzeugung war, dass ein Unternehmen gerade auch gegenüber langjährigen Mitarbeitenden eine Verantwortung trage. Sie hat bei Rolex das Projekt ‹58plus› initiiert und Mit-arbeitende ab 58 mit fünf Weiterbildungstagen pro Jahr auf die Pensionierung vorbereitet. Ist so etwas denn überhaupt nötig? «O ja», sagt Ravizza. «Aus dem Arbeitsprozess austreten, noch fit sein, aber plötzlich nicht mehr ‹gebraucht› oder wahrgenommen werden: Da kommt oft die grosse Leere. Das kann depressiv machen oder zu Suchtproblemen führen. Wie und wo möchte man in den nächsten zwanzig, dreissig Jahren leben und wohnen, was tun mit all der Freizeit? Sich erst mit 65 mit diesen Fragen auseinanderzusetzen ist viel zu spät.»

Die Erfahrungen mit ‹58plus› und die Gespräche mit Mitarbeitenden waren für Ravizza ein persönliches Aha-Erlebnis. Das Thema hat sie gepackt und ihr Interesse an Altersfragen erst recht geweckt. Sie hat sich in Gerontologie weiter-gebildet und in Biel eine neue Altersresidenz aufgebaut und geführt, die ganz anders war als bisherige ‹Heime›. Kein isoliertes, beschauliches, blüemletes Trögli am Waldrand weit weg vom Schuss, sondern das pure Gegenteil: modern, mitten in der Stadt, mit öV gut erreichbar, mit einem Mix von Wohnungen und Einzelzim-mern im Pflegebereich, zwei Restaurants, Seminarräumen mit viel Publikumsver-kehr, integriertem Fitness-Center, einer Kita, einem stufenlosen Pflegeangebot von Null bis Intensivpflege und einzeln buchbaren Serviceleistungen. Ravizza: «Die ‹bescheidene› und ‹dankbare› Nachkriegsgeneration, die sich an den Waldrand ausgrenzen liess, stirbt weg. Die nachrückenden Seniorinnen und Senioren bleiben länger jung, sind autonomer, selbstbewusster und wollen weder bemuttert noch ‹parkiert› werden.»

Klar, nicht alle älteren Menschen würden sich für einen Umzug in eine Alters-residenz entscheiden, auch nicht in eine moderne. Die meisten wollten so lange wie möglich selbstständig zu Hause wohnen. Aber egal, ob jüngere oder ältere Seniorinnen, ob zu Hause oder in Altersresidenzen: «Man will Teil der Gesellschaft bleiben, wahrgenommen werden! Unter Menschen sein, weiterhin eine Rolle spie-len und aktiv mitgestalten. Das grosse Potenzial der Menschen über 65 wird heute noch viel zu wenig erkannt. Wer pensioniert wird, verschwindet heute oft vom gesellschaftlichen Radar. Das ist schlecht für die Betroffenen und schlecht für unsere Gesellschaft.»

Wer heute 65 sei, sei so fit wie früher 55-Jährige, das belegten zahlreiche Studien, sagt Ravizza. Die Generation Ü65 sei mobiler, sportlich häufig sehr aktiv und gegenüber neuen Technologien im Übrigen entgegen allen Clichés sehr offen. «Fitte ältere Menschen könnten und müssten deshalb viel stärker für Gemein-schaftsaufgaben gewonnen werden. In beider Interesse. Für Engagements in der

Nachbarschaftshilfe zum Beispiel, auch für die Betreuung von noch älteren Menschen. Wer keine Betreuungsaufgaben übernehmen will, kann sich ja rein orga-nisatorisch betätigen. Etwa generell bei der Freiwilligenarbeit auch auf anderen Gebieten. Oder sich politisch engagieren! Der Anteil der über 65-Jährigen in der Politik ist gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil viel zu klein.» Die erfahrene Altersexpertin: «Da sind vor allem die Gemeinden und die Quartiere gefordert. Jemand muss den Lead haben, Ideen entwickeln und den Anstoss geben. Nicht von oben herab etwas verordnen, sondern unkompliziert Vernetzungen ermöglichen.»

Für die ‹neuen Alten› sei vor allem auch eine ganz neue Wohnraumplanung und -politik nötig, ist Ravizza überzeugt. Für ältere Menschen, die sich gegen einen Umzug in eine Altersresidenz entscheiden und so lange wie möglich selbstständig wohnen wollten, seien die heutigen Wohnungsangebote ungenügend. Es mangle an zentral gelegenen und mit öV gut erreichbaren, nicht zu teuren Zwei- bis höchstens 3½-Zimmer-Wohnungen (für Ehepaare) mit Lift, Internet, schwellenlosem Zugang auch zu und in den Nasszellen und der Möglichkeit, je nach individuellem Bedarf Dienstleistungen à la carte beziehen zu können: Essen, Reinigung, Putzdienst, Spitex. Zumal mobile Angebote weniger Kosten verursachten. Auf jeden Fall keine Alters-Ghettos, sondern idealerweise eine durchmischte Mietklientel.

Gemischte Wohnmodelle mit Jung und Alt: tönt wunderbar. Aber was, wenn die Partys der Hipster die Älteren stören, wenn Babys nachts durchschreien und die Pingeligkeit der Älteren die Jüngeren nervt? Ravizza: «Unabdingbar ist bei gemischten Wohnmodellen, dass Alte und Junge Räume haben, in denen sie sich untereinander austauschen können. Es muss eine kontinuierliche Kommunikation sichergestellt sein. Das trägt zum Verständnis bei. Warum nicht in solchen neuen Wohnmodellen institutionell eine Mediatorin oder einen Mediator anstellen, die bei Konflikten gezielt vermitteln und eine gute Kommunikation ermöglichen? Das kommt allen zugute und wäre eine gute Investition.» Liegenschaftsbesitzer, -ver-mieter und Immobiliengesellschaften hätten das grosse Potenzial neuer, zukunftsgerichteter Wohnmodelle leider noch immer nicht erkannt. Gerade ältere Mieterinnen und Mieter seien langjährige, treue Mieter. Zögen nicht alle zwei Jahre aus wie jüngere, was Hausbesitzern auch viele Umtriebe erspare. «Die Herausfor-derung ist: Wir müssen auch bei der Planung von Wohnraum immer zwan-zig Jahre vorausdenken, entsprechend bauen und renovieren. Wir leben in unserer Gesellschaft zum ersten Mal mit vier bis fünf Generationen zusam-men. Das ist eine völlig andere Aus-gangslage als noch bis vor Kurzem. Höchste Zeit, dass wir handeln.»

scy Wer heute pensioniert wird, wird älter und bleibt länger jung als alle Generationen vor uns. Das erfordert ein radikales Umdenken der künftigen Lebens- und Wohnformen von Seniorinnen und Senioren. Anna Ravizza ist interimistische Leiterin der Abteilung ‹Wohnen im Alter› der CMS. RADAR hat mit ihr über Irrtümer, die neuen Herausforderungen und Chancen gesprochen. Und über brachliegende Ressourcen.

«HÖCHSTE ZEIT, DASS WIR HANDELN!»

ANNA RAVIZZA

Die 65-jährige Anna Ravizza begann ihre Berufskar-

riere in jungen Jahren als Fernmeldesekretärin bei

den ehemaligen PTT. Danach hat sie sich umfassend

weitergebildet: Wirtschaftsdiplom, Personalma-

nagement, General-Management, Master in Human

Resources, dipl. Heimleiterin, dipl. Gerontologin,

CAS-Weiterbildungen im Gesundheitswesen und im

Management. Sie war Personalchefin bei diversen

Grossunternehmen (u.a. Bernmobil und Rolex) und

Direktorin verschiedener Alterszentren. Seit Januar

2018 ist sie interimistische Leiterin ‹Wohnen im

Alter› der CMS. Nach der Neupositionierung der

CMS-Alterssiedlungen wird sie ab Frühjahr 2019 zum

Bürgerspital Basel wechseln, das die CMS-Alters-

siedlungen neu betreiben wird. Dort wird sie den

Ausbau des neuen Geschäftsfelds ‹Wohnen mit

Service› begleiten.

5

Expertin

Page 6: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

12 FRAGEN AN 6 MENSCHEN AUS 3 GENERATIONEN

ANITA TRAUB, 85

Schweizerin, pensionierte Buchhalterin,

keine Kinder, lebt allein in der

CMS-Alterssiedlung Gellertfeld

LEBEN UND WOHNEN HEUTE UND IM ALTER

6

Nachgefragt

Page 7: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

scy RADAR hat sechs ganz unterschiedliche Menschen in Basel persönlich in Interviews befragt: zu existen-ziellen Fragen des Lebens, Zusammenlebens, sozialer Kontakte, Wohnens, Alterns, Sterbens – aber auch zu scheinbar Nebensächlichem wie Musikvorlieben und Lieblingsspeisen.

Die beiden ältesten sind über achtzig Jahre alt und leben heute schon nicht mehr so, wie viele unserer überholten Alterskonzepte gegenwärtig noch funkti-onieren: mit Café complet und Schweizer Ländlern am Waldrand in einem Altersheim parkiert. Sie wollen wei-terhin autonom leben und wünschen sich allenfalls punktuelle Unterstützung beim selbstständigen Leben und eine bessere Infrastruktur in ihren Wohnungen. Die beiden jüngsten Befragten sind noch keine zwanzig und gehen frühestens in 46 Jahren in Pension, ab 2064. Diese Generation wird gemäss demografischen Prog-nosen multikultureller sein und noch unterschiedlichere Biografien und Bedürfnisse haben als frühere. Nur ein Detail: Riz Casimir, Braten, klassische Musik oder Rock sind bei dieser Generation out. Angesagt sind hingegen Rap und internationale Küche, auch des Herkunfts-lands. Auch das wird, dereinst, die Rahmenbedingungen der künftigen Altersbetreuung mitbestimmen.

Allen ist trotz aller Unterschiede etwas gemeinsam: Freunde, Familie und gute Kontakte zu einer möglichst gleichgesinnten, toleranten Nachbarschaft sind zen-tral für ihr Wohlbefinden. Alter ihres gewünschten Lebensumfelds: irrelevant. Gleichsam ein Plädoyer für gemischte Wohnformen.

Sie alle verbindet zudem die Sorge, im Alter dement zu werden, Kinder und Familie zu belasten und die Kon-trolle über sich selbst zu verlieren. Deshalb ist auch der Freitod für einige ein Thema – als noch unbeantwortete Frage, mit grossen Zweifeln behaftet.

Ahmad Schech Mohamed (18), Mira Rauscher (19), Emanuel Strässle (54), Silvia Gnech (54), Hans Lengs-feld (81) und Anita Traub (85) haben uns Antworten gegeben zu ihrem Alltag und existenziellen Lebensfra-gen. Wir geben sie hier kurz und pointiert wieder, in der Reihenfolge ihres Alters.

AHMAD SCHECH MOHAMED, 18

kurdischer Syrer, Praktikant Fachmann

Betreuung in der Alterspflege, lebt mit

Eltern und sechs Geschwistern im Gundeli

7

Nachgefragt

Page 8: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

WAS IST DAS WICHTIGSTE FÜR SIE IM LEBEN?

AHMAD Meine Familie ist mir das Allerwich-tigste.

MIRA Die Menschen, die mir nahestehen.

EMANUEL Freiheit, Freiraum, freies Schaf-fen. Auch deshalb bin ich Künstler.

SILVIA Ein guter Freundeskreis, ein erfüllen-der Beruf und eine gesunde Lebensführung mit guter Ernährung und genügend Schlaf. Und ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühle und mich auch mal zurückziehen kann.

HANS Meine Familie. Wichtig sind mir auch: Unabhängigkeit, Freiheit und Mobilität.

ANITA Freunde und gutes Essen! Ein gemüt-liches Essen mit lieben Menschen ist für mich etwas vom Schönsten.

WAS WÜRDEN SIE IN IHREM LEBEN ÄNDERN, WENN SIE KÖNNTEN?

AHMAD Ich wünschte, die Schule wäre nicht so schwierig.

MIRA Im Moment gar nichts! Ich bin sehr zufrieden mit meinem bisherigen und heu-tigen Leben.

EMANUEL Da ich keinen anderen Job machen könnte, wäre es gut, wenn ich mit meiner künstlerischen Arbeit mehr Geld ver-dienen würde. Dann könnte ich auch mehr reisen: zum Beispiel nach Kalifornien, um alte Freunde zu besuchen, bevor sie wegster-ben. Ich würde auch gerne mehr in der Natur sein. Aber dafür fehlt mir momentan die Zeit.

SILVIA Ich hätte meinen beruflichen Weg vielleicht etwas früher gezielter einschlagen sollen.

HANS Eigentlich nichts. Oder doch, etwas ganz Praktisches: Ich hätte gerne einen Lift zu meiner Altbauwohnung im dritten Stock, in der ich seit fünfzehn Jahren wohne.

ANITA Ich würde wohl nicht mehr heiraten.

WAS MUSS IHRE WOHNUNG UNBEDINGT HABEN, DAMIT SIE SICH WOHLFÜHLEN?

AHMAD Küche, Bad und zwei Zimmer. Am liebsten würde ich in einem Dorf leben, das aber nicht zu weit weg von der Stadt liegen sollte. Lieber nicht in einem Appartement mit vielen Leuten, die aufeinander hässig sind und streiten.

MIRA Unbedingt ein grosses, gemütliches Wohnzimmer mit einem grossen Sofa, in dem das gemeinschaftliche soziale Leben stattfindet! Wichtig ist mir auch ein eigenes Zimmer, in das ich mich zurückziehen kann, ganz für mich. Und ein kleiner Balkon.

EMANUEL Sie muss vor allem ruhig sein. Ich bin extrem geräuschempfindlich. Und sie muss hell sein. Ich bin auf dem Land aufge-wachsen, lebe aber gerne in der Stadt. Ich brauche beides: die Natur und die Anonymi-tät der Stadt. Ich liebe das Urbane. Ich habe lange Zeit im Gotthelfquartier gewohnt. Das war mir aber zu bürgerlich, zu wenig lebendig.

SILVIA Licht und Sonne und einen Balkon! Sonst brauche ich keinen grossen Komfort. Am wohlsten fühle ich mich in Altbauwoh-nungen.

HANS Sie muss zentral in der Stadt liegen und mit öV gut erreichbar sein, damit ich ins Kino, ins Theater, ins Konzert, in Museen und in die Lesegesellschaft gehen kann. Und sie sollte einen Balkon haben. Und jetzt im Alter einen Lift.

ANITA Eine schöne Küche, ein schönes Bad und einen Balkon, auf dem man Blumen pflanzen kann. Die Wohnung muss zentral gelegen sein – und es muss auch Grün drum rum haben. Wie die früher Alterssiedlungen geplant haben weit weg vom Zentrum: furchtbar!

SILVIA GNECH, 54

italienischschweizerische Doppelbürgerin,

dipl. Therapeutin/Masseurin, lebt allein im

Klybeckquartier

8

Nachgefragt

Page 9: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

WEN HABEN SIE LIEBER ALS NACHBARN: GLEICHALTRIGE ODER GLEICHGESINNTE?

AHMAD Ich wohne gerne mit jungen Men-schen zusammen, aber auch mit alten. Ich habe alte Leute sehr gerne, weil sie so viele spannende Geschichten erzählen.

MIRA Nachbarn sollten tolerant sein, auch wenn man nicht viel mit ihnen zu tun hat. Wie alt sie sind, spielt für mich keine Rolle.

EMANUEL Auf jeden Fall Gleichgesinnte. Ich lebe in einem Haus, in dem auch andere Kunstschaffende und kulturell interessierte Menschen wohnen. Im Nebenhaus ist eine Studenten-WG. Die machten früher öfters bis zum frühen Morgen Partys auch unter der Woche. Ich reflektiere aber am besten frühmorgens und brauche mindestens sechs Stunden Schlaf. Da musste ich dann schon intervenieren, um meine Arbeit überhaupt noch tun zu können.

SILVIA Ganz klar: Gleichgesinnte. Mir ist wichtig, dass ich mich mit den Nachbarn gut verstehe, egal wie alt sie sind.

HANS Mir sind Nachbarn wichtig, denen ich vertrauen kann. Das müssen nicht Men-schen aus dem gleichen Umfeld sein. Das Alter spielt keine Rolle. In unserem Haus wohnt eine Familie mit Kindern. Das finde ich sehr schön.

ANITA Das Alter spielt für mich keine Rolle. Wichtig ist mir, dass ich mich mit meinen Nachbarn gut verstehe, dass sie ein gewisses Niveau haben – und dass ich mit ihnen gute Gespräche führen kann! Ob 20 oder 100: egal.

WER KOCHT BEI IHNEN ZU HAUSE – UND WAS ESSEN SIE AM LIEBSTEN?

AHMAD Meine Mutter und meine älteste Schwester kochen. Am liebsten mag ich Mahshi mit gefüllten Weinblättern, Fleisch, Reis, Kartoffeln, Auberginen und Tomaten.

MIRA Meine Mutter und mein Bruder kochen. Am liebsten mag ich Currys, asiatisch oder indisch.

EMANUEL Ich koche gerne, für mich alleine, meine Tochter und auch für Freunde: Pasta, Risotto, mediterrane Küche, viel Gemüse und saisonales Obst. Ich esse seit ein paar Jahren kein Fleisch mehr. Meine Tochter ist Veganerin, da musste ich mir in der Küche etwas einfallen lassen.

SILVIA Ich koche selbst für mich – und meine Freunde. Am liebsten mag ich Braten mit Kartoffelstock und Rotkraut mit Marroni.

HANS Ich lebe allein und koche nur, wenn ich Besuch habe, zu Weihnachten zum Bei-spiel Rindsbraten für die Familie. Mittags gehe ich in die Kantine meines ehemaligen Arbeitgebers, abends esse ich kalt. Am liebs-ten? Italienisch vielleicht, Spaghetti Bolog-nese.

ANITA Ich koche selber für mich, und das sehr gerne. Jeden Tag mindestens einmal warm mit allem Drum und Dran und schön präsentiert mit Stil. Am liebsten habe ich Riz Casimir. Oder eine schöne Gemüsesuppe.

WELCHE MUSIK HÖREN SIE AM LIEBSTEN?

AHMAD Songs vom amerikanischen Rapper Whiz Kalifa, zum Beispiel ‹See you again›. Aber natürlich auch kurdische und arabische Musik. Und Musik vom deutschen Rapper Kurdo, der kurdisch-irakische Wurzeln hat.

MIRA Bands vor allem. Alles von Hip-Hop, Rap, Indie bis Ska und Reggae, ausser Charts Musik.

EMANUEL In meinen Jugendjahren gerne Pink Floyd, die Stones, die Beatles und später auch gerne deutschsprachige Liedermacher, heute querbeet. Vor zwei Jahren habe ich Akkordeon zu spielen begonnen. Ich versu-che Lieder zu spielen, die mich bewegen. So wollte ich unbedingt das Wiegenlied lernen, das ich für meine Tochter gesungen habe, ‹Bajuschki Baju›, ein wunderschönes russi-sches Wiegenlied.

SILVIA Ich gehöre zur Rock-Generation und mag Rock am liebsten, auch Punkrock und Hardrock. Die Rolling Stones sind meine Lieblinge.

HANS Ich habe bis vor Kurzem noch Klavier gespielt. Klassische Musik sagt mir am meis-ten zu – das bürgerliche Repertoire eben. Auch zum Beispiel Beatles oder Leonard Cohen. Ich höre aber wenig Musik – und nie nebenbei.

ANITA Klavierkonzerte, zum Beispiel von Beethoven. Und dazwischen sehr gerne auch Ländler.

EMANUEL STRÄSSLE, 54

Schweizer, Künstler, lebt mit der

erwachsenen Tochter im Kleinbasel

9

Nachgefragt

Page 10: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

WENN SIE ALT UND GEBRECHLICH SIND: WELCHE UNTERSTÜTZUNG ERWARTEN SIE VON IHREN KINDERN, FREUNDEN, VOM STAAT?

AHMAD In unserer Kultur ist es selbstver-ständlich, dass sich die Familie um ältere Menschen kümmert. Bei uns geht niemand in ein Altersheim. Aber ich finde das schon ok hier, dass die Menschen im Altersheim sind. Wenn Bewohnerinnen und Bewohner zum Beispiel dement sind und die Verwand-ten keine Zeit haben, muss sich ja jemand um sie kümmern.

MIRA Wenn ich vielleicht mal Kinder habe, würde ich nicht von ihnen verlangen, dass sie mich unterstützen oder pflegen. Ich möchte diese Verpflichtung auch gegenüber meinen Eltern nicht eingehen müssen. Dafür gibt es heute und wohl auch in Zukunft Menschen, die dafür ausgebildet und auch bezahlt werden. Vom Staat? Ich denke, ich werde mal genug verdienen, dass staatliche Unterstützung nicht nötig sein wird.

EMANUEL Meiner Tochter möchte ich mög-lichst nichts aufbürden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je in ein Altersheim gehen würde. Generationenübergreifende Alters-Wohnprojekte finde ich zwar gut – aber ich bin sozial nicht durchwegs kompa-tibel. Ich könnte mir Alternativen vorstellen, etwa in ein Kloster zu gehen.

SILVIA Kinder habe ich keine. Ich möchte mal in eine Alters-WG ziehen, sodass man sich gegenseitig helfen kann: Der eine kann vielleicht nicht mehr gut laufen, die andere sieht vielleicht nicht mehr gut. Vielleicht ziehe ich auch mit meiner Schwester zusam-men. Vom Staat? Ich habe immer geschaut, dass ich gut versichert bin und mein Leben möglichst selbst bestreiten kann.

HANS Meine Kinder haben ihre eigenen Familien und sind beruflich sehr gefordert. Und solche Freunde habe ich nicht, von denen ich Unterstützung oder Hilfe erwar-ten würde. Ich werde wohl mal auf Spitex und Essen auf Rädern zurückgreifen. Im Moment hätte ich sehr gerne Unterstützung bei der Wohnungssuche, denn ich muss wegen der Treppen wohl in absehbarer Zeit raus aus meiner Wohnung. Es fehlt mir aber an Energie dafür.

ANITA Ich habe keine Kinder. Wenn es mir wirklich schlecht geht, dann höre ich einfach auf zu essen und zu trinken. Dann werde ich schwach und schlafe nur noch. Die Neben-wirkungen überwacht mein Hausarzt, zu dem ich grosses Vertrauen habe – und er wird die entsprechenden Massnahmen treffen.

WIE OFT TREFFEN SIE SICH MIT FAMILIE UND FREUNDEN?

AHMAD Ich wohne ja noch zu Hause und sehe meine Familie immer. Richtige Freunde habe ich hier keine. Ich meine richtige Freunde, die immer für dich da sind. Ein richtiger Freund ist mein Cousin, der im Kriegsgebiet in Syrien lebt. Aber nette Kolle-gen habe ich schon, und die sehe ich auch häufig. Zweimal pro Woche im Fussballtrai-ning – und auch liebe Kollegen aus meiner ehemaligen Schule hier.

MIRA Ich wohne noch zu Hause und sehe meine Familie täglich. Auch meine Freundin-nen und Freunde treffe ich jeden Tag. Entwe-der im Zusammenhang mit meinen Hobbys Fasnacht und Volleyball – oder in der Stadt, an Partys, Konzerten und Festivals. Das wird, je nach Belastung im Studium, sicher abneh-men in Zukunft.

EMANUEL Meine Tochter sehe ich natürlich regelmässig. Mittags esse ich oft mit meinen Künstlerkolleginnen und -kollegen und koche auch gerne für Freunde. Zwei meiner Ge- schwister leben in der Region, die treffe ich regelmässig.

SILVIA Ich gehe jede Woche meine betagten Eltern besuchen, und am Freitag und Sams-tag gehe ich immer mit Freunden in den Ausgang. Ich tanze sehr gerne!

HANS Rund einmal pro Woche besuche ich eines meiner vier Kinder und deren Familien in Zürich und Basel. Dazwischen verabrede ich mich auch mit Freunden, zum Wandern zum Beispiel. Und ich besuche regelmässig meine Freundin, die in Deutschland lebt.

ANITA Meinen Bruder und meine Schwäge-rin treffe ich regelmässig oder telefoniere mit ihnen. Und ebenso oft meine Freundinnen und Freunde. Mit den Kindern meiner ehe-maligen Pflegekinder fahre ich manchmal mit meinem elektrischen Rollstuhl aus. Die steigen dann auf den Rollstuhl auf und fah-ren mit – und wir finden das alle sehr lustig!

WEN BITTEN SIE UM HILFE, WENN SIE EINE SCHWERE GRIPPE HABEN?

AHMAD Meine Familie natürlich, meine Mut-ter vor allem.

MIRA Meine Familie, mit der ich zusammen-wohne und die mich umsorgt.

EMANUEL Ich kann es mir kaum leisten, krank zu werden, und bin es zum Glück auch selten. Ich versuche darum zu meinem Kör-per zu schauen. Im Notfall würde ich auch Freunde oder Leute im Haus um Hilfe bitten.

SILVIA Vor ein paar Jahren hätte ich noch meine Mutter gefragt, aber sie ist mit ihren 82 Jahren jetzt zu alt und braucht selber Hilfe. Ich habe einen guten Freundeskreis, da hilft man sich gegenseitig.

HANS Meine Ex-Frau, die mir eine vertraute Freundin geblieben ist.

ANITA Für Kleinigkeiten frage ich meine Nachbarinnen. Wenn es etwas Ernsteres ist: meinen Bruder und meine Schwägerin oder meine Nichten und Neffen.

MIRA RAUSCHER, 19

Schweizerin, Biologiestudentin

im ersten Semester, lebt mit

der Familie im Gotthelfquartier

10

Nachgefragt

Page 11: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

WIE GUT KOMMEN SIE KLAR MIT IHREM HEUTIGEN EINKOMMEN? REICHT ES FÜR HEUTE UND AUCH MORGEN?

AHMAD Ich verdiene ein bisschen und gebe zu Hause etwas ab. Aber ich werde sicher mal einen guten Job haben als Krankenpfle-ger und werde dann hoffentlich genug ver-dienen.

MIRA Ich habe eben mein Studium begon-nen und rechne damit, dass ich einmal einen gut qualifizierten und bezahlten Job haben werde, der mir Freude macht und mich auch im Alter gut abstützt. Im Moment jobbe ich und verdiene mir einen Zustupf zu meinem Studium.

EMANUEL Eigentlich reicht es heute schon nicht. Deshalb mache ich mir manchmal grosse Sorgen, wie das wird, wenn meine körperlichen Kräfte weiter schwinden. Aber irgendwie ging es ja immer. Ich hoffe natür-lich immer wieder, dass ich auch Kunstob-jekte verkaufen kann.

SILVIA Ich lebe bescheiden und halte mich an mein Budget. Wenn etwas mehr in der Kasse ist, reserviere ich das für schlechtere Zeiten.

HANS Ich habe mehr als dreissig Jahre lang bei einem der grossen Basler Pharmaunter-nehmen gearbeitet und habe eine gute Pen-sion und natürlich AHV. Es reicht – auch in Zukunft, hoffe ich.

ANITA Es reicht gut. Aber ich brauche auch nicht viel. Meine Haare schneide ich mir zum Beispiel selber und spare so auch Geld für den Coiffeur. Ich schnipple einfach ab, was raussteht. Und sehe doch immer elegant aus – nicht wahr?

WORAN DENKEN SIE, WENN SIE AN IHRE LETZTE LEBENSPHASE DENKEN – UND WAS MACHT IHNEN DABEI AM MEISTEN SORGEN?

AHMAD Vor Schmerzen habe ich Angst. Oder dass ich dement werde und dann viel-leicht unhöflich werde und Menschen ver-letze.

MIRA Wenn ich mal dement und sehr krank werden sollte, würde ich nicht weiterleben wollen. Dann käme für mich Sterbehilfe schon infrage.

EMANUEL Dass ich nicht genügend aufge-räumt habe und dass meine Tochter meine Wohnung oder mein Atelier räumen müsste. Vielleicht gehe ich, wenn es nicht mehr geht, in den Wald und lebe in der Natur und mit Tieren und sterbe dann dort einen natürli-chen Tod. Vorstellbar ist für mich auch ein Freitod. Das Leben selbst zu beenden ist meiner Meinung nach ein Grundrecht. Ich hoffe und denke, dass meine Tochter diese Entscheidung akzeptieren würde.

SILVIA Ich hoffe, dass ich möglichst lange gesund bleibe, beschwerdefrei gehen kann und nicht blind werde.

HANS Die Unplanbarkeit des Alters be- schäftigt mich. Und dass ich meine geistige Autonomie verlieren könnte und dement werde. Ich bin unentschlossen: Exit ist für mich ein Thema, wenn es so weit ist. Ande-rerseits war es für mich sehr wichtig, das natürliche Lebensende meiner Grosseltern und Eltern mitzuerleben. Um diese Erfahrung möchte ich meine Kinder und Enkel eigent-lich nicht bringen.

ANITA Mir macht gar nichts Sorgen! Ich weiss, was ich will – und ich kann mich auch wehren. Und ins Spital lasse ich mich auch nicht mehr einliefern. In letzter Zeit habe ich das Vertrauen in diese Institutionen verloren. Dasselbe gilt für Pflegeheime.

WIE ALT MÖCHTEN SIE WERDEN?

AHMAD 150! Ich möchte in die Zukunft sehen können und wissen, wie das dann sein wird. Ob es dann immer noch Kriege gibt und die Menschen sich um Öl streiten. Ich hoffe, es wird dann nur noch ein Land geben, nämlich das Land Erde – und nicht so viele Länder, die sich bekriegen.

MIRA Ich möchte so alt werden, dass ich mich noch gesund und fit fühle und das Leben noch geniessen kann.

EMANUEL Ich habe mit der Instanz ‹oben› mal 86 abgemacht. Wenn ich aber schon früher nicht mehr frei sein kann, möchte ich nicht auf dieser Zahl beharren. Natürlich hoffe ich, dass ich die Zeichen der Zeit früh-zeitig erkennen und danach handeln kann.

SILVIA Hundert Jahre alt! Das wollte ich schon als Kind.

HANS So alt, solange mein Verstand mich nicht im Stich lässt.

ANITA Ich sagte früher: Ich will mal 124 Jahre alt werden. Heute sage ich: Ich will noch so lange leben, solange ich noch Freude am Leben habe. Sobald ich abhän-gig werde, will ich nicht mehr weiterleben.

HANS LENGSFELD, 81

Deutscher, pensionierter Mitarbeiter

eines grossen Basler Pharmaunternehmens,

lebt allein in der Innenstadt, vier erwachsene

Kinder und sieben Grosskinder

11

Nachgefragt

Page 12: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

Die 75-jährige Elisabeth Nussbaumer ist Vizepräsidentin der ‹Grauen Panther Nordwestschweiz›, einer Lobby-Organisation für ältere Menschen in der Region. Für RADAR hat sie ihre persönlichen Wohner-fahrungen und -vorstellungen fest- gehalten. Und sie sagt auch: Hört auf, nur in Alterskategorien zu denken.

Wohnen im Alter: Zu diesem Thema werden zahlreiche Studien erstellt, veröffentlicht, diskutiert – in öffentlichen Foren, in der Polit-landschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis. Da frage ich mich manchmal schon: Gibt es eigentlich auch Studien zum Wohnen mit 25, mit 40? Und wenn nein, warum nicht? Welchen Hintergrund hat das Kümmern um die Wohnbedürfnisse der Alten – und was heisst denn eigentlich im Alter?

Wohnen war für mich immer ein ganz wichtiger Bestandteil meiner Lebensqualität. Sich zu Hause wohlfühlen ist elementar für meine Befindlichkeit. Das hat einerseits mit dem Ort, mit der Lage, mit der Architektur, mit der Umgebung zu tun – aber vor allem mit den Menschen im nächsten Umfeld.

Ich habe auch in jungen Jahren nie in einer WG gewohnt – ich brauche meine eigene Küche! Zu Beginn unserer Familienphase haben wir in Reinach so gewohnt, dass rund um uns andere Familien waren, mit denen zusammen wir Mittagstische, Spielgruppen, Baby-sitting etc. organisierten. Die Kontakte untereinander haben sich bis heute erhalten, und wenn sich die damaligen Kleinkinder nach vierzig Jahren irgendwo treffen, tauschen sie Erinnerungen an damals aus. Später haben wir zusammen mit einer dieser Familien ein altes Bauernhaus in einem Baselbieter Dorf gekauft und umge-baut. Auch dort war es wieder so, dass wir uns als Hausgemein-schaft mit zunächst drei und später vier Familien den Alltag unseren Bedürfnissen entsprechend geteilt haben. Familie und Beruf waren darum kein Problem. Es war garantiert, dass immer jemand zu Hause war, wenn die Kinder von der Schule heimkamen, und dass unter der Woche abwechselnd gekocht wurde. Diese Möglichkeit von Gemeinsamkeit und gleichzeitiger Privatsphäre in der eigenen Woh-nung finde ich optimal. Abends nach der Arbeit spontan bei einem Glas Wein zusammensitzen, aber sich auch zurückziehen können, wenn einem danach ist, das ist für mich Wohnglück pur.

Ich bin kein ‹Landkind›. Ich bin in einem Vorort von Basel auf-gewachsen, und es war für mich immer klar, dass ich – wenn ich denn einmal älter sein würde – in die Stadt zurückkehren wollte. Ein Trämli vor dem Haus, zu Fuss auf den Markt, ins Kino oder ins Theater, alles Wesentliche in der Nähe, Freundinnen und Freunde, die spontan vor-beikommen können.

Lange habe ich mich vor allem theoretisch mit Zukunftspers-pektiven beschäftigt. Denn mein ‹Traumhaus› auf dem Land wollte mich nicht loslassen. Zudem gab es, auch nachdem Ehepartner und

Kinder ausgezogen waren, keinen zwingenden Grund dafür, sofort etwas an meiner Wohnsituation zu ändern. Es war für mich klar, dass ich nicht irgendwo in der Stadt allein in einer Wohnung zusam-men mit wildfremden Menschen zusammenleben wollte.

Wie aber eine Hausgemeinschaft neu aufbauen, wie ich sie während 35 Jahren erlebt hatte? Unkompliziert, tolerant, verbind-lich und dennoch flexibel? Ich habe mich bei diversen Gruppierungen kundig gemacht, einmal bin ich sogar fast in ein Projekt in der Stadt eingestiegen. Allerdings zeigte sich hier der Unterschied zwischen 30 und 65! Die Leichtigkeit, mit der wir uns als junge Familien mit ande-ren, ähnlich ‹gestrickten› Leuten zusammengetan hatten, ist eben im höheren Alter nicht mehr vorhanden. Alle bringen unendlich viele Erfahrungen mit. Und alle wissen – viel besser als vor fünfzig Jahren –, was sie wollen oder vielmehr: nicht (mehr) wollen. Ich hatte dann den Mut oder die Energie nicht, mich auf das Experiment einzulas-sen. Weil ich unsicher war, ob ich mich wohlfühlen würde – vielleicht auch, weil ich die andern zu kompliziert fand. Zudem wohnte ich nach wie vor sehr günstig in meinem viel zu grossen Haus, und es bestand kein unmittelbarer Zwang, mich zu entscheiden.

Ich habe dann den Schritt doch gewagt. Seit gut vier Jahren wohne ich jetzt tatsächlich in der Stadt. Durch Bekannte wurde ich auf eine Wohnung aufmerksam, die von der Lage, von den Räumlich-keiten und von den Mitbewohnern her eine so attraktive Alternative zu meinem Haus im Dorf bot, dass ich mich spontan begeistern liess. Ich hab’s bisher nie bereut. Ich habe den Rhein vor meinen Fenstern, das Trämli in der Nähe, bin zu Fuss in fünf bis zehn Minu-ten fast überall in der Stadt, und die meisten meiner Freundinnen und Freunde wohnen in erreichbarer Nähe. Auch für die Grosskinder bin ich in zehn Minuten erreichbar. Glück gehabt – einmal mehr!

Auch mein Bedürfnis nach unkomplizierter Nachbarschaft hat sich in Bezug auf Verlässlichkeit und Toleranz erfüllt. Bekannte fan-den zwar, mit siebzig solle man nicht in eine Wohnung ohne Lift ziehen. Aber das tägliche Treppensteigen hält mich vorläufig noch fit. Ich hoffe, ich schaffe das mindestens noch fünf bis zehn Jahre lang – sonst ist dann halt wieder ein Wohnungswechsel fällig.

Wohnen im Alter – es ist mir klar, dass es da noch viele anderen Facetten gibt. Probleme mit der Vertreibung von langjährigen Mie-terinnen und Mietern aus der gewohnten Umgebung, unbezahlbare Mieten, Vereinsamung. Vieles ist in Bewegung, es gibt Projekte in den Quartieren, die sich mit den Problemen auseinandersetzen. Es gibt viele Ideen für neue Wohnprojekte und ‹altersgerechte› Über-bauungen auch für generationenübergreifendes Wohnen. Bei einem Rundgang durch diverse Quartiere mit dem Schwerpunkt ‹Wie errei-chen wir die unerreichbaren älteren Menschen?› ist mir allerdings aufgefallen, dass sich Herausforderungen für das Zusammenleben wohl nicht nur mit Konzepten vom Reissbrett lösen lassen. Nach-barschaftshilfe kann man nicht verordnen. Dort, wo in Quartieren bisher tatsächlich etwas geschah, waren es immer einzelne Men-schen, die sich an ihrem Arbeitsort oder innerhalb einer Siedlung unkompliziert und gezielt um andere kümmerten und so sehr viel bewirken konnten.

Es gibt nicht einfach ‹das Alter› und es gibt nicht ‹die Alten›. Es gibt kein Universalrezept – denn es gibt unendlich viele Individuen und wohl ebenso viele unterschiedliche Vorstellungen und Träume in Bezug auf Leben und Wohnen. Wir sollten möglichst vielen das Mögliche ermöglichen.

Elisabeth Nussbaumer Vizepräsidentin ‹Graue Panther Nordwestschweiz›

www.grauepanther.ch

«WIR SOLLTEN MÖGLICHST VIELEN DAS MÖGLICHE ERMÖGLICHEN»

12

Graue Panther

Page 13: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

scy Jahrelang hat Gudrun Löffler ihre schwierige Kindheit aufzuarbeiten und niederzuschreiben versucht. Erst mit Unterstützung der Edition Unik ist es ihr gelungen. Sie hat sich freigeschrieben und ist vom Projekt so begeistert, dass sie nach ihrem ersten Buch gleich ein zweites Buch in Angriff nimmt. Dieses Mal in Basel, wo die Edition Unik nach Zürich seit diesem Herbst ebenfalls Begleitung bis zum fertigen Buch anbietet. RADAR hat sie erzählt, wie es dazu kam.

Auf das Schreibprojekt Edition Unik ist Gudrun Löffler durch Zufall gestos- sen. In der Beilage einer Zeitung las sie davon und war zuerst skeptisch. Sie hatte zuvor ihre Kindheitserinnerungen aufzuschreiben versucht. Etwas unstrukturiert und chaotisch, wie sie selber sagt. Sie habe immer gerne geschrieben. Aber es blieb ein ungeordnetes Sammelsurium mit vielen Notizen und Zetteln. Sie informierte sich auf der Website der Edition Unik. «Schreib dein Buch», stand dort. Es liess sie nicht mehr los.

Gudrun Löffler hat sich vor einem Jahr im damals noch ausschliess-lich in Zürich durchgeführten Projekt angemeldet, nahm an der Einfüh-rungsveranstaltung teil, an den Workshops und wurde unterstützt: beim Sammeln ihres Materials, beim Strukturieren, bei technischen Problemen bis hin zur Gestaltung und zum fertigen Buch, das sie nach einem 17-wöchigen Schreibprozess heute stolz in den Händen hält: in senfgelbes Leinen gebunden, sorgfältig editiert und gedruckt wie Bücher der Welt-literatur. Nur dass darauf nicht ein illustrer Name steht, sondern: ‹Gudrun Löffler – Geist, schaff’ Leben – Vom Fliegenlernen›. Den Titel hat sie ganz bewusst gewählt, in Anlehnung und Abgrenzung zum christlich ausge-richteten Herder-Verlag in Freiburg im Breisgau. Ein emanzipatorischer Imperativ, gleichsam ein Appell an sich selber, denn das Motto des Verlags lautet anders, nämlich: ‹Geist schafft Leben›. Der Freiburger Verlag hat sehr direkt mit ihrer Biografie zu tun. Und nur schon der Buchtitel war eine Befreiung.

Der Geist, der in ihrem erzkatholischen, konservativen Umfeld herrschte und angeblich Leben schaffen sollte, habe ihr Leben mehr behindert als ermöglicht, sagt Gudrun Löffler heute. Und das fing früh an. Ihre Eltern, beide Religionspädagogen und Sozialarbeiter, gaben sie, das älteste von fünf Kindern, bereits als Säugling zu Pflegeeltern. Das Kind war emotional zwischen den leiblichen und den Pflegeeltern hin und her gerissen, litt, besuchte das katholische Mädchengymnasium, brach es wieder ab, wurde vom Vater ebenso wie zwei ihrer Brüder in den Her-der-Verlag geholt, schloss die Ausbildung als Verlagskauffrau ab und ver-liess den Verlag danach sofort.

SCHREIBT EUER BUCH!

Viel später hat Gudrun Löffler sich von ihrem belastenden Umfeld gelöst, sich weitergebildet und ein eigenständiges Leben geführt – die letzten Jahre in Basel. Was sie zwischen ihrer Geburt und ihrer Emanzipation erlebt und erlitten hat, steht heute zwischen leinengebundenen, senfgel-ben Buchdeckeln. Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern in ihrem Buch. Nur für sie und ihre Freundin, die sie zum Schreiben ermuntert und ihr auch bei der Bildgestaltung geholfen hat.

«Ich habe meine Kindheit und Jugend in Therapien aufzuarbeiten versucht, wie viele andere das ja auch tun», sagt Gudrun Löffler. Thera-peuten hätten ihr auch schon geraten, sich ihre Lebensgeschichte von der Seele zu schreiben, aber es habe nie geklappt. Erst mit diesem beglei-teten, strukturierten Schreibprozess bei der Edition Unik sei es ihr endlich gelungen. «Nichts bisher hat mich so sehr befreit wie dieses Projekt. Respekt für meine Ressourcen zu erfahren, war ein unheimlich gutes Gefühl. Ich bin sehr glücklich, dass ich das gemacht habe, auch wenn es zwischendurch hart war und mich psychisch sehr gefordert hat.»

Die Erfahrung mit ihrem ersten Buch hat sie so begeistert, dass sie sich gleich an ein zweites gemacht hat. Dieses Mal in Basel, wo die Edi-tion Unik seit diesem Herbst neu ebenfalls jährlich zwei Schreibrunden anbietet. Das nächste Buch wolle sie, sagt Gudrun Löffler, dann nicht nur für sich selber, sondern auch für andere, vor allem Familienmitglieder schreiben. «Eine Art Leitfaden, eine Emanzipationshilfe als Ermutigung, wie man sich aus belastenden Fesseln befreien könnte.»

EDITION UNIK

Die vom Basler Kulturunternehmer und Kurator Martin Heller und seinem Zürcher Unterneh-

men Heller Enterprises 2014 lancierte Edition Unik ist ein Kulturprojekt, das Menschen die

Möglichkeit gibt, ihre (Lebens-)Geschichte aufzuschreiben. Zielpublikum sind vor allem

Personen, die noch nie geschrieben haben. Sie werden beim Sammeln und Strukturieren ihres

Materials und ihrer Ideen unterstützt und in Workshops angeleitet. Nach rund vier Monaten

wird das Material zu einem hochwertigen Buch gedruckt. Je nach Bedürfnis bleibt es bei zwei

Ausgaben pro Teilnehmerin und Teilnehmer oder es werden mehrere Bücher für den privaten

Gebrauch produziert – aber nicht öffentlich verlegt. Das Basispaket kostet 550 Franken für

zwei Bücher – ohne Korrektorat, Mentoring und zusätzliche Bücher. Seit Herbst 2018 ist das

Projekt von Zürich auf Basel ausgeweitet worden. Die nächste Runde startet im Frühjahr 2019.

Bisher sind in der Edition Unik rund 300 Bücher entstanden.

Die Christoph Merian Stiftung unterstützt das Projekt im Jahr 2018 mit CHF 30’000.

www.edition-unik.ch

13

Unik

Page 14: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

4SEASONS EIN WERKSTATTBERICHT

sen Dessertträume aus Gemüse, Kochen mit Eingemachtem. Oder doch lieber eine Pilzexkursion, ein Workshop zum Thema Food-Waste? Das Kursprogramm des Projektes ‹4seasons› liest sich ver-führerisch. Die Entscheidung fällt nicht leicht. Sofort schmecke ich süss-aromatische Gewürze auf der Zunge, sehe knackiges Gemüse vor meinem geistigen Auge, rieche den Duft von feuchtem Waldboden in der Nase.

Ich entscheide mich für den dreistündigen Kochkurs zum Thema Essig. Kursort ist die Kochnische in der Basler Markthalle. An diesem Dienstagabend findet sich eine bunt gemischte Gruppe aus lernwilligen, begeisterungsfähigen Menschen unter-schiedlichen Alters zusammen. Der Ort ist ansprechend, die Atmosphäre locker und unkompliziert. Sofort ergibt sich ein reger Austausch unter den Kursteilnehmenden. Um Essig selber herzustellen – so lernen wir – braucht es viel Zeit. Mehr Zeit, als wir im Kurs zur Verfügung haben. Ziel des Abends ist deshalb nicht die Herstellung von frischem Essig. Sondern wir veredeln jeweils in kleinen Gruppen gekauften Essig. Mit Gewürzen, Beeren oder Wurzeln – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Genau darum geht es den Initiantinnen von ‹4seasons›. Sie wollen bei den Teilnehmenden die Lust wecken, Neues auszuprobieren, mit altem Wissen zu expe-rimentieren, gemeinsam zu kochen und sich schliesslich beim Verkosten am gros-sen Tisch darüber auszutauschen. Denn das Ziel des Projektes ist es, über neue Erfahrungen das Bewusstsein für nachhaltige Ernährung zu schärfen. Umwelt-schonende Ernährung muss – allen Vorurteilen zum Trotz – nicht teuer sein. Im Gegenteil: Der Verein 4seasons bietet gezielt Kochkurse, Exkursionen und Workshops für Menschen mit kleinem Budget an. Denn für eine gesunde und nachhaltige Ernährung braucht es kein dickes Portemonnaie, sondern vielmehr gute Kenntnisse über Lebensmittel, wie sie produziert werden und wo sie in der Region beschafft werden können. Kochpraxis ist natürlich von Vorteil.

Gemeinsam mit den Teilnehmenden gehen die Kursleitenden von ‹4seasons› in kurzweiligen und lebhaften Kursen der Frage nach, wie sich die Ausgaben für Lebensmittel niedrig halten lassen. Gleichzeitig wird gelernt, saisongerecht und gesund zu kochen, ohne dabei Lebensmittel zu verschwenden. Lebensmittelpro-duzentinnen und -produzenten erklären in Workshops und auf Exkursionen die Herstellungsbedingungen von Nahrungsmitteln. Fachleute vermitteln Wissen über ökologische Zusammenhänge und die Auswirkungen des eigenen Konsumverhal-tens auf die Umwelt. Interessierte begegnen sich in Gärten und an Küchentischen zum Austausch.

Die Veranstaltungen von ‹4seasons› rund um gesunde und nachhaltige Ernäh-rung für Menschen mit wenig Geld – oder auch mit mehr Geld – sind im Raum Basel einzigartig. Durch die Zusammenarbeit mit den lokalen sozialen Organisationen wird ein ansprechendes Angebot erarbeitet, das nicht nur Wissen vermittelt, son-dern auch den Wissensaustausch fördert. Das Projekt, von der CMS mit jährlich CHF 18’000 in den Jahren 2018 bis 2020 gefördert, zeigt auf, dass eine nachhaltige Lebensweise nicht vom Einkommen abhängig ist. Es macht Lust aufs Entdecken.

Mir hat es auf jeden Fall den Ärmel reingezogen. Zusammen mit den anderen Kursteilnehmenden fülle ich meinen mit Himbeeren und Ingwer veredelten Essig in schöne Glasflaschen ab. Die beiden Kursleiterinnen haben aus einem Fair-Teiler Salat, Gemüse und Nüsse mitgebracht. Zusammen mit selbst gebackenem Brot können wir nun unseren Essig degustieren. Gemeinsam an einem langen Tisch, in regem Austausch über die gemachten Erfahrungen, fällt es den Teilnehmenden schwer, die gemütliche Runde am Schluss des Abends wieder zu verlassen.

www.4seasons-basel.ch

14

4seasons

Page 15: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

Der gekaufte GaulEin Pferd, «das mager auf den Markt kommt, aber gesund, recht gebaut und in guten Jahren ist» – so landwirtschaftlich stimmig empfiehlt 1918 ein Gutachten der Christoph Merian Stiftung den Iglingerhof. Zum Hof, wo noch Petroleumlampen Licht spenden, gehören damals verschlafene 66 Hektaren. Die CMS will aber genau solche Bauernhöfe kaufen. Sie ahnt, dass ihr stadtnaher Landwirtschaftsbesitz früher oder später vom stetig wachsenden Basel übernommen wird. Am 20. September 1918 wird der Kauf des Iglingerhofs besiegelt, und ein Pächter übernimmt den Betrieb.

Die Anfangszeit ist nicht einfach. Der Präsident der Stiftungskom-mission will nicht froh werden, als er in der Stiftungsgeschichte von 1936 über den Ankauf des Iglingerhofs schreibt. Der Betrieb rentiert nicht, der Pachtzins ist sogar gesunken. Der Ärger über den Besitz des Iglinger-hofs quillt aus jeder seiner Zeilen. Man liest Worte wie «ungünstiger Zeitpunkt», «übersetzte Preise», «Zweifel an der Zweckmässigkeit», «erschwerte Aufsicht», «nicht im besten Zustande» und schliesslich das Totschlagargument für jeden Bauernhof: «ganz ungenügende Wasser-versorgung». Wahrscheinlich denkt er sich, dass man 1918 das Pferd doch gründlicher hätte anschauen sollen. Und dennoch: Andere Stiftungshöfe, die nach der vorletzten Jahrhundertwende angekauft wurden und näher bei der Stadt lagen, wurden meist industriell erschlossen und gingen alle-samt der Landwirtschaft verloren. Der Iglingerhof hat gut überlebt, und sein Umfang ist heute etwa der gleiche wie vor hundert Jahren. Es hätte aber auch anders kommen können.

Satellitenabsturz in IglingenDie 1960er-Jahre sind die Zeit von Hochkonjunktur und Babyboom, die Zukunft erscheint im hellsten Licht. Nun werden Idealsiedlungen für mehrere Tausend Bewohnerinnen und Bewohner auf der grünen Wiese geplant. Die Basler Chemie gründet 1962 die ‹AG für Wohnbauplanung der Industrie› mit dem Ziel, das Fricktal für ihre Angestellten zu erschlies-sen. Der Gemeindeplaner von Magden sieht seine Chance gekommen. Zusammen mit dem Geographischen Institut der Universität Basel und der CMS studiert er 1963/64 die Möglichkeit einer Satellitenstadt auf dem Boden, auf dem auch der Iglingerhof steht. Die Studien sind gigantisch. Sie rechnen mit 2’250, 3’000 und mindestens (!) 5’000 Menschen. Die aargauische Kantonsverwaltung hält das alles aber für ein «reines Spe-kulationsobjekt» und verweigert jegliche Unterstützung. Die Iglinger Visionäre schaffen es nicht, die zuständigen Stellen aus deren, wie sie meinen, Schlaf zu rütteln. Der Satellit Iglingen wird gegroundet, die stadtplanerischen Visionen für das Fricktal werden in der Liebrüti bei Kaiseraugst und im Augarten bei Rheinfelden Realität.

Sankt Nikolaus bei der ScheuneWäre Iglingen zur Satellitenstadt geworden, hätte vom Hof nur sie über-lebt: die merkwürdige spätgotische Kapelle. Heute ist sie der Abschluss einer Stallscheune, einst war sie der Chor einer 1860 abgebrannten Klos-terkirche. Diese architektonische Kuriosität ist mindestens 500 Jahre alt, der Iglingerhof selbst entstand als alemannische Siedlung vor rund 1’500 Jahren. Der Name Iglingen bedeutet vermutlich ‹Bei den Leuten des Igo›. Was für eine Siedlung Iglingen war, um wen es sich beim Germanen Igo handelte und was in den folgenden Jahrhunderten geschah, ist nicht bekannt. 1255 kauft das Kloster Olsberg die Siedlung, lässt dort den sehr beliebten Heiligen Nikolaus verehren und richtet eine klösterliche Nieder-lassung für Männer, ab 1465 eine für Frauen ein.

Das religiöse Zusammenleben endet nach der Reformation im 16. Jahrhundert, der Bauernhof besteht aber weiter. Als die CMS das Anwesen erwirbt, ist die Kapelle ein baufälliger Geräteschuppen. 1945/46 finanziert die Stiftung die Wiederherstellung. Eines der erneuerten Kapellenfenster zeigt nun das Wappen der Familie Merian. Die Kapelle steht sowohl unter dem Schutz des Bundes als auch unter dem des Kantons Aargau, jener des Himmels scheint gegeben.

FAST WÄRE ER EINE KLEINSTADT GEWORDEN: DER IGLINGERHOF

asa Der Iglingerhof bei Magden (AG) ist der älteste Land-wirtschaftsbetrieb der Christoph Merian Stiftung (CMS). Den Pachthof umgibt eine vielfältige Hügellandschaft mit Wiesen, Weiden, Hochstamm-Obstbäumen, Hecken, Ackerland und Wald. Ebenso vielfältig ist die Betriebsform: Die Pächterfamilie hält Milchvieh, Mastvieh und Pferde und betreibt Ackerbau. Seit genau hundert Jahren ist der Iglin-gerhof im Besitz der CMS.

15

Iglingerhof

Page 16: Wie wohnen im Alter? Atelier Mondial - cms-basel.ch · Atelier Mondial Wie wohnen im Alter? Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 6 Dezember 2018

JUNGE MÜTTER – LEBENSGESCHICHTENccl Jung, keine abgeschlossene Berufsausbildung – und schwanger.

Junge Mütter leben mit einem hohen Risiko, in ökonomischer

Abhängigkeit zu verbleiben und keine sozial eigenständige Biogra-

fie aufbauen zu können. In Basel leistet der Verein AMIE seit 2007

Pionierarbeit im Bereich der Berufsintegration junger Mütter. Das

Programm von AMIE stellt sicher, dass junge Mütter auf ihrem Weg

in ein eigenständiges und unabhängiges Leben die Unterstützung

bekommen, die sie benötigen.

Zum Beispiel Lucia, die ihr ungewolltes Kind einer Pflegefamilie über-

lassen wollte und sich dann doch anders entschied. Oder Yangdron,

die aufgrund ihrer Schwangerschaft den Einstieg ins Berufsleben

verschieben musste.

Das Porträtbuch gibt Einblick in das Leben junger Mütter und

soll auf ihre Situation aufmerksam machen. Die Autorin und Jour-

nalistin Martina Rutschmann hat mit neun Frauen ausführliche

Gespräche geführt. Die porträtierten Mütter erzählen ungeschminkt

von ihrem Lebensweg, ihren Gefühlswelten und ihrem Alltag.

Ausgewählte Fachbeiträge vertiefen die Problematik und beleuchten

das Thema aus gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher

Perspektive. Der Fotograf Daniel Infanger setzte mit den jungen Frauen

jeweils individuelle Bildserien um, die sie in ihrem eigenen Umfeld, in

ihrem Alltag und in Bewegung zeigen.

‹Junge Mütter – Lebensgeschichten› ist ein einfühlsames Port-

rätbuch über das frühe Muttersein, über Freundschaft, Mut und

Durchhaltevermögen. Die Publikation erschien im Oktober 2018 im

Christoph Merian Verlag.

Amie Basel (Hg.)

Junge Mütter

Lebensgeschichten

240 Seiten, 113 farbige Abbildungen,

Klappenbroschur, 15 × 21 cm

CHF 29.-/EUR 28,–

ISBN 978-3-85616-878-0

Simon Goll, Obergärtner in den Merian Gärten, weiss die Antwort:Ich finde, der Asthaufen gehört im Winter einfach zu den Merian Gärten. Er ist Anziehungspunkt für Kinder (hier finden sich die besten Stecken zum Spielen), temporäres Naturkunstwerk und vor allem Zeugnis unserer Winterarbeit. Denn im Winter stehen bei mir als Leiter des Teams Landschaftspflege fast täglich Holzar-beiten auf dem Programm: Wildhecken, Waldränder und andere Gehölze müssen gepflegt werden.

In den Wildhecken entfernen wir aufgekommene Bäume, welche die Hecke zu stark beschatten – meist handelt es sich um schnellwachsende Arten wie Eschen und Robinien. Bei den Sträuchern nehmen wir die Arten zurück, die andere verdrän-gen, wie Hasel oder Hartriegel. Umgekehrt stellen wir auch einzelne Sträucher wie Kreuzdorn oder eine schöne Kornelkirsche frei, um sie zu fördern. So sichern wir, dass die Vielfalt erhalten bleibt. Diese Arbeit muss im Winter gemacht werden, da in dieser Zeit keine Vögel in den Hecken brüten. Um die Störung der Wildtiere gering zu halten, sind die Heckenbereiche in Sektoren unterteilt und werden alternierend nur alle drei Jahre bearbeitet.

Auch die Pflege der Waldränder gehört zu unserer Winterarbeit. Wir entfernen die Bäume und Sträucher, welche zu weit über die Wiesen hinauswachsen. Unser Ziel ist ein gestufter Waldrand mit einem sanften Übergang vom Krautsaum über Kleinsträucher zu den Bäumen. Wichtige Vorgaben für die Eingriffe liefert dabei die Biodiversitätsstrategie, auf deren Basis wir den langfristigen Pflegeplan erarbeiten.

Zentral für uns ist auch die Ästhetik. Wir sind ein Garten, da steht das Besuchser-lebnis im Vordergrund. Unsere Eingriffe erfolgen deshalb gezielt, damit das Erschei-nungsbild auch nachher natürlich und harmonisch wirkt. Ich bin froh, dass unser Team damit viel Erfahrung hat. Wir schauen jeweils vor Ort gemeinsam an, was zurückgeschnitten werden soll und was stehen bleibt. Wir sind mit Motorsägen, Schnittschutzausrüstung, Gesichts- und Gehörschutz ausgestattet und können die Arbeiten dann gleich erledigen. So ist keine grosse Kennzeichnung wie im Forst nötig und die Auswirkung auf die Besucherinnen und Besucher bleibt (nebst dem Maschinenlärm) gering.

Das Holz, das anfällt, wird übrigens direkt im Garten sortiert. Was sich als Brennholz eignet, wird zugeschnitten, gespalten und für den Holzofen im Lehmhaus eingelagert. Der Rest landet hier auf dem Asthaufen und wartet auf den Häcksler. Das ist eine grosse Maschine, welche alles zu Holzschnitzeln für unsere Heizung verarbeitet. Pro Winter ergibt das im Schnitt rund 200 Kubikmeter Schnitzel – deren Energie würde ausreichen, um sechs Einfamilienhäuser ein Jahr lang zu heizen.

Ich staune immer wieder über den Berg Holz, der klein beginnt, aber schnell auf vierzig Meter Länge und fünf Meter Höhe anwächst. Während man in den Hecken und Gehölzen unsere Eingriffe kaum sieht, zeigt sich hier, wie viel Material der Garten liefert. Und obwohl das Holz ein wichtiger Ertrag für uns ist, freuen wir uns, wenn Besucherinnen und Besucher den einen oder anderen Ast mitnehmen und sich zu Hause ein Stück Merian Gärten in die Vase stellen.

ASTHAUFENaba Auch wenn die Astern verblüht sind und die Sammlungen ruhen, gibt es in den Merian Gär-ten viel zu sehen und zu bestaunen. Jedes Jahr wächst ab November auf dem Brüglingerhof ein Berg Äste und Zweige in die Höhe, so mächtig wie eine weitere Scheune. Ein verblüffter Besu-cher fragte kürzlich: Was ist das für ein riesiger Haufen?

St. Alban-Vorstadt 12

Postfach

CH-4002 Basel

T + 41 61 226 33 33

www.cms-basel.ch

Redaktion: Carlo Clivio (ccl), Elisabeth Pestalozzi, Kommunikation CMS; Sylvia Scalabrino (scy), Basel

Mitarbeit: Alexandra Baumeyer (aba), Leiterin Vermittlung & Kommunikation Merian Gärten;

Sandra Engeler (sen), Projektleiterin Soziales CMS; André Salvisberg (asa), Archivar CMS

Gestaltung: BKVK, Basel – Beat Keusch, Anna Klokow

Illustrationen: Balsam, Basel – Annina Burkhard

Korrektorat: Dr. Rosmarie Anzenberger, Basel

Druck und Bildbearbeitung: Gremper AG, Basel/Pratteln

Auflage: 3’500 Exemplare; erscheint dreimal jährlich (April, August, Dezember)

Bildnachweis: Archiv Gudrun Löffler (S. 13), Kathrin Schulthess (S. 14, S. 15 unten, S. 16 oben), Archiv CMS (S. 15)

16

Aktuell