welche vorsichtsmaßnahmen sie beachten müssen

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51 MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2012 (154. Jg.) _ Gründe für eine Immunsuppression bei Erwachsenen sind heute v. a. ge- wollte und therapeutisch indizierte For- men im Rahmen der Behandlung mit Biologika, Immunsuppressiva und Che- motherapeutika. Zu beachten sind aber auch krankheitsbegleitende, „mildere“ Formen der Immunsuppression wie z. B. bei Diabetes, Nieren- oder Leberinsuffi- zienz. Eine Sonderform stellt die erwor- bene Immunschwäche durch HIV dar. Alle von der STIKO empfohlenen Standardimpfungen mit Totimpfstoffen gelten auch für Immunsupprimierte. Sie sind unbedenklich. Allerdings ist die Wirksamkeit der Impfungen durch eine Immunsuppression beeinträchtigt oder kann sogar aufgehoben sein. Dazu kom- men (unabhängig vom Alter) die Impf- empfehlungen für Pneumokokken und Meningokokken. Vorsicht bei Lebendimpfstoffen! Die meisten heute verwendeten Vakzine sind Totimpfstoffe. Doch es gibt auch Ausnahmen wie die Mumps-Masern- Röteln-, Varizellen- und Gelbfieber- impfstoffe. Diese Lebendimpfstoffe ent- halten attenuierte Keime, die für im- Gerade bei geplanter oder vorliegender Immunsuppression ist ein Impfschutz wichtig. Doch müssen Sie vor der Impfung einige Regeln und Vorsichtsmaßnahmen beachten. Insbesondere bei schwerem zellulärem Immundefekt sind Lebendimpfstoffe oft kontraindiziert. Impfungen bei immunsupprimierten Patienten Welche Vorsichtsmaßnahmen Sie beachten müssen munsupprimierte Patienten eine Gefahr darstellen können. Im Allgemeinen sollten solche Impfungen unterbleiben. Allerdings sind sie nicht generell kontra- indiziert, z. B. ist eine Gelbfieberimp- fung bei HIV-Patienten mit gut einge- stelltem Immundefekt (Viruslast unter der Nachweisgrenze und CD4-Zellen über 200/µl) möglich. Die Gefährdung durch eine Lebend- impfung ist graduell und hängt von der Stärke und der Art der Immunsuppres- sion (zellulär? humoral?) ab. Im Einzel- fall muss somit ein Experte entscheiden, ob die Lebendimpfung angewendet wer- den kann. Das gilt allerdings nicht für die BCG- und die orale Polio-Impfung, die grundsätzlich nicht mehr von der STIKO empfohlen werden. Nach den Regeln der Deutschen Ge- sellschaft für Rheumatologie sollen unter Cyclophosphamid und Biologika Lebendimpfstoffe nicht eingesetzt wer- den. Dasselbe gilt für Methotrexat (MTX), Leflunomid, Azathioprin, Ciclo- sporin A und Mycophenolatmofetil. Für Sulfasalazin und Hydroxychloroquin werden keine Einschränkungen genannt. Kortikosteroide oberhalb der Cushing- FORTBILDUNG SCHWERPUNKT Prof. Dr. med. Johannes R. Bogner Sektion Klinische Infektiologie / Lehrbereich Allgemeinmedizin Medizinische Klinik und Poliklinik IV Klinikum der Universität München Koautoren: Dr. med. Jörg Schelling, Dr. med. Max Münchhoff, Dr. med. Ulrich Seybold, München schwelle gelten ebenfalls als Kontraindi- kation für Lebendimpfungen. Vor der Organtransplantation Impfschutz prüfen! Bei der Vorbereitung auf eine Organ- transplantation gelten strenge Regeln in Bezug auf die Überprüfung von Impf- schutz und -titern. Vor Beginn der Im- munsuppression empfiehlt die STIKO ausdrücklich die Impfung gegen Pneu- mokokken, Meningokokken und bei se- ronegativen Empfängern auch gegen Va- rizellen. Bei Asplenie oder funktioneller Asplenie gilt zusätzlich die Empfehlung für eine Haemophilus-influenzae-B- Impfung. Eine Immunsuppression kann z. B. durch eine Chemotherapie ausgelöst werden. © Mathias Ernert

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Page 1: Welche Vorsichtsmaßnahmen Sie beachten müssen

51MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2012 (154. Jg.)

_ Gründe für eine Immunsuppression bei Erwachsenen sind heute v. a. ge-wollte und therapeutisch indizierte For-men im Rahmen der Behandlung mit Biologika, Immunsuppressiva und Che-motherapeutika. Zu beachten sind aber auch krankheitsbegleitende, „mildere“ Formen der Immunsuppression wie z. B. bei Diabetes, Nieren- oder Leberinsuffi-zienz. Eine Sonderform stellt die erwor-bene Immunschwäche durch HIV dar.

Alle von der STIKO empfohlenen Standardimpfungen mit Tot impfstoffen gelten auch für Immunsupprimierte. Sie sind unbedenklich. Allerdings ist die Wirksamkeit der Impfungen durch eine Immunsuppression beeinträchtigt oder kann sogar aufgehoben sein. Dazu kom-men (unabhängig vom Alter) die Impf-empfehlungen für Pneumokokken und Meningokokken.

Vorsicht bei Lebendimpfstoffen!Die meisten heute verwendeten Vakzine sind Totimpfstoffe. Doch es gibt auch Ausnahmen wie die Mumps-Masern-Röteln-, Varizellen- und Gelbfieber-impfstoffe. Diese Lebendimpfstoffe ent-halten attenuierte Keime, die für im-

Gerade bei geplanter oder vorliegender Immunsuppression ist ein Impfschutz wichtig. Doch müssen Sie vor der Impfung einige Regeln und Vorsichtsmaßnahmen beachten. Insbesondere bei schwerem zellulärem Immundefekt sind Lebendimpfstoffe oft kontraindiziert.

Impfungen bei immunsupprimierten Patienten

Welche Vorsichtsmaßnahmen Sie beachten müssen

munsupprimierte Patienten eine Gefahr darstellen können. Im Allgemeinen sollten solche Impfungen unterbleiben. Allerdings sind sie nicht generell kontra-indiziert, z. B. ist eine Gelbfieberimp-fung bei HIV-Patienten mit gut einge-stelltem Immundefekt (Viruslast unter der Nachweisgrenze und CD4-Zellen über 200/µl) möglich.

Die Gefährdung durch eine Lebend-impfung ist graduell und hängt von der Stärke und der Art der Immunsuppres-sion (zellulär? humoral?) ab. Im Einzel-fall muss somit ein Experte entscheiden, ob die Lebendimpfung angewendet wer-den kann. Das gilt allerdings nicht für die BCG- und die orale Polio-Impfung, die grundsätzlich nicht mehr von der STIKO empfohlen werden.

Nach den Regeln der Deutschen Ge-sellschaft für Rheumatologie sollen unter Cyclophosphamid und Biologika Lebend impfstoffe nicht eingesetzt wer-den. Dasselbe gilt für Methotrexat (MTX), Leflunomid, Azathioprin, Ciclo-sporin A und Mycophenolatmofetil. Für Sulfasalazin und Hydroxychloroquin werden keine Einschränkungen genannt. Kortikosteroide oberhalb der Cushing-

FORTBILDUNG–SCHWERPUNKT

Prof. Dr. med. Johannes R. BognerSektion Klinische Infektiologie / Lehrbereich AllgemeinmedizinMedizinische Klinik und Poliklinik IVKlinikum der Universität München

Koautoren: Dr. med. Jörg Schelling, Dr. med. Max Münchhoff, Dr. med. Ulrich Seybold, München

schwelle gelten ebenfalls als Kontraindi-kation für Lebendimpfungen.

Vor der Organtransplantation Impfschutz prüfen!Bei der Vorbereitung auf eine Organ-transplantation gelten strenge Regeln in Bezug auf die Überprüfung von Impf-schutz und -titern. Vor Beginn der Im-munsuppression empfiehlt die STIKO ausdrücklich die Impfung gegen Pneu-mokokken, Meningokokken und bei se-ronegativen Empfängern auch gegen Va-rizellen. Bei Asplenie oder funktioneller Asplenie gilt zusätzlich die Empfehlung für eine Haemophilus-influenzae-B-Impfung.

Eine Immunsuppression kann z. B. durch eine Chemotherapie ausgelöst werden.

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52 MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2012 (154. Jg.)

FORTBILDUNG–SCHWERPUNKT

Reiseimpfungen■ Da es sich beim Gelbfieber- um einen Lebendimpfstoff handelt, der bereits bei Gesunden häufig schwere Nebenwir-kungen hervorruft, sollten Sie immun-supprimierten Patienten von der Imp-fung bzw. von der Reise in das betreffen-de Land abraten oder ein Attest ausstel-len, das die Kontraindikation begründet. ■ Impfungen gegen Typhus und Cholera werden von der WHO zwar nicht grundsätzlich empfohlen, aber von manchen Ländern vor der Einreise ver-langt. Für beide Impfungen stehen Tot-impfstoffe zur Verfügung.

Mögliche Kontrollen des ImpferfolgsVon unterschiedlicher Qualität und Aussagekraft sind mögliche Kontrollen des Impferfolges. Nach einer Übersicht der STIKO von 2005 ist bei Immunsup-primierten eine Impftiterkontrolle bei bestimmten Impfungen möglich (Tab. 1). Doch stellt sich hier die Frage, wel-che therapeutischen Konsequenzen eine fehlende Antikörperantwort hat.

Weitere ProphylaxemaßnahmenNeben Impfungen stellen für Immunsup-primierte auch die Umgebungsprophylaxe und das Vermeiden von Erregern – Expo-sitions- sowie Postexpositionsprophylaxe

– wichtige Präventionsmaßnahmen dar. Das gilt v. a. für Patienten mit unzurei-chendem oder nicht überprüfbarem Impf-erfolg sowie bei Patienten, bei denen Lebendimpfungen kontraindiziert sind. Bedeutend ist in solchen Fällen auch die konsequente und umfassende Impfung aller möglichen Kontaktpersonen. Eine Übertragung von Impfstämmen ist nur bei der Windpockenimpfung (sehr selten), OPV-(orale Poliovakzine-) und Typhus-Lebend impfung beschrieben. Bei der MMR-Impfung ist bisher kein Beleg für die Übertragung des Impfvirus ge lungen.

Impfungen bei Antikörpermangel-ImmundefektBei Patienten mit substitutionsbedürf-tigem Antikörpermangel-Immundefekt (A- oder Hypogammaglobulinämie) gilt, dass durch die Substitution mit Im-munglobulin ein passiver Immunschutz erreicht wird. Eine Impfung mit Tot-impfstoffen ist zwar möglich und sicher, aber unter Immunglobulin-Substitution nicht vergleichbar effektiv. Der Impf-schutz wird hier nicht sicher erreicht. Unter Umständen wird dennoch eine positive T-zelluläre Immunantwort auf-gebaut, die von Vorteil sein kann.

Bei den Lebendimpfstoffen interfe-riert die Immunglobulin-Substitution

mit der Masern- und Varizellenimp-fung. Eine postexpositionelle Prophyla-xe nach Kontakt mit diesen Erregern ist bei Patienten ohne dauerhafte Immun-globulinsubstitution sinnvoll. Bei dem häufigsten angeborenen Immundefekt, dem auch im Erwachsenenalter auftre-tenden IgA-Mangel, ist generell die Ga-be von Tot- und Lebendimpfstoffen si-cher, der Impfschutz jedoch möglicher-weise abgeschwächt. Die Immunisie-rung folgt entsprechend den allgemei-nen Impfempfehlungen.

Literatur unter mmw.de

Für die Verfasser:Prof. Dr. med. Johannes Bogner Sektion Klinische Infektiologie/ Lehrbereich Allgemeinmedizin Medizinische Klinik und Poliklinik IV Klinikum der Universität München, Pettenkoferstr. 8a, D-80336 München, E-Mail: [email protected] muenchen.de

Tabelle 1

Mögliche Kontrollen des Impferfolgs (modifiziert nach STIKO 2005) Erkrankung Methode Akzeptierte Grenzwerte Kommentar

Diphtherie ELISA ≥ 0,1 IE/ml Bigl S and R Drechsler: Bestimmung von Diphtherieantitoxin im Serum – ein Methodenvergleich. Mikrobiologe 1997; 93–95

Tetanus ELISA ≥ 0,1 IE/ml

Hib RABA ≥ 0,15 μg/ml „Kurzzeit-schutz“, ≥ 1 μg/ml „Lang-zeitschutz“

Auch bei nicht nachweisbaren Titern können Gedächtniszellen induziert worden sein, und eine Boosterreaktion ist möglich.

Hepatitis B ELISA ≥ 100 IE/ml –

Polio NT, z. B. Hep2-Zellen > 1:4 –

Pneumokok-ken (Konjugat-impfstoff )

ELISA > 0,35 µg/ml Dieser Grenzwert bezieht sich auf einen ELISA ohne 22F-Prä-adsorption. ELISAs mit Präadsorption sind spezifischer.

Röteln HHT, ELISA, HIG ≥ 1:32 Nachweis spezifischer IgG-Antikörper (Serokonversion) korreliert mit Schutz vor Erkrankung.

ELISA = Enzyme Linked Immunosorbent Assay; RABA = Radio antigen binding assay; NT = Neutralisationstest; HIG = Hämolyse-in-Gel-Test

Anmerkung: für Pertussis, Meningokokken, Mumps, Masern und Varizellen sind die Grenzwerte nicht definiert.

Vaccination of patients with immune deficiency

Immunisation – immune deficiency – vaccine

Keywords

Page 3: Welche Vorsichtsmaßnahmen Sie beachten müssen

Literatur1. Duchet-Niedziolka P, Launay O, Coutsinos Z, et

al. Vaccination in adults with auto-immune di-sease and/or drug related immune deficiency: results of the GEVACCIM Delphi survey. Vaccine 2009;27:1523–9.

2. Horster S, Laubender RP, Lehmeyer L, et al. Influence of antiretroviral therapy on immuno-genicity of simultaneous vaccinations against influenza, pneumococcal disease and hepatitis A and B in human immunodeficiency virus positive individuals. The Journal of infection 2010;61:484–91.

3. Jeurissen A, Boudewijns M, Proesmans M, Ceuppens JL, De Boeck K, Bossuyt X. Evaluation of the immune response to pneumococcal capsular polysaccharides. Acta clinica Belgica 2003;58:106–10.

4. Kieninger-Baum DM, Zepp F. [Vaccination in adults]. Der Internist 2011;52:239–49.

5. Pletz MW, Zanger P, Jilg W, Kern WV. [Vaccina-tions]. Deutsche medizinische Wochenschrift (1946) 2011;136:2011–5.

6. STIKO. Empfehlungen der stänigen Impfkom-mission (STIKO) am Robert Koch Institut, Stand Juli 2011. Epdemiologisches Bulletin 2011.

7. STIKO RKI. Impfungen bei Patienten mit Im-mundefizienz. Epdemiologisches Bulletin 2005.

8. Whitelegg AM, Birtwistle J, Richter A, et al. Measurement of antibodies to pneumococcal, meningococcal and haemophilus polysaccha-rides, and tetanus and diphtheria toxoids using a 19-plexed assay. Journal of immunological methods 2012;377:37–46.

9. M. Riffelmann, M. Littmann, C. Hülße, J. O"Brien, C. H. Wirsing von König, and KRESH-Studienärzte. Pertussis bei Erwachsenen: Häufigkeit, Symptome und Kosten. Dtsch. Med. Wochenschr. 131:2829–2834, 2006