wandel des morbiditätsspektrums — wandel der medizin und ihrer umfelder

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Kunftige Umwelten and Versicherungen: Wandel des Morbiditatsspektrums — Wandel der Medizin and ihrer Umfelder* Von Hermann H. Maletz, Dusseldorf In einer Zeit eines umfassenden and tiefreichenden Wandels unserer poli- tischen, gesellschaftlichen and privaten Lebensbedingungen sind auch Gesundheit and Krankheit mit der sich ihrer annehmenden Medizin von einer ebenso grundlegenden wie nachhaltigen Veranderung erfaBt. Seit Jahren wird in den westlichen Industrielandern ein bestandig sich vollziehender Wechsel im Spektrum der Krankheiten and Todesursachen beobachtet, welcher in der Vergangenheit wiederholt AnlaB zu hochrangi- gen Darstellungen auf medizinischen Fachtagungen — so durch Bock 1980 auf der Therapiewoche in Karlsruhe, durch Wolff auf dem 86. Deutschen Arztetag 1983 sowie durch Siegenthalter auf der 90. Tagung der Deutschen Gesellschaft fur Innere Medizin in Wiesbaden 1984 — gegeben hat. Es ist eine ebenso reizvolle wie schwierige Aufgabe, einen kursorischen Uberblick uber das gewahlte Thema in einer fur Nichtmediziner verstandlichen Darstellung der Inhalte zu geben, ohne den wissenschaftlichen Anspruch allzu sehr zu beeintrachtigen. Zum besseren Verstandnis sollen zunachst einige Grundlagen der Betrachtung angesprochen werden. Begriffsdefinitionen, Arbeitsmethoden der Epidemiologie sowie der kurativen and praventiven Medizin sollen kurz erlautert werden. Zuletzt werden Aspekte der Medizin als historisches and kulturelles Gut angedeutet. Im weiteren wird versucht, anhand von sicher- lich der subjektiven Neigung des Autors entsprechenden Beispielfeldern darzustellen, wie sich der Wandel nicht nur im Spektrum der Krankheiten, sondern vor allem auch innerhalb ein- and derselben Krankheit aufzeigen laBt. Im einzelnen werden erlautert: — die sogenannte Lipidtheorie and die hiermit im Zusammenhang gestellten degenerativen Herz-Kreislaufkrankheiten, — AIDS, — Pocken, Tuberkulose and Hospitalinfektion, * Vortrag auf der Jahrestagung des Deutschen Vereins fur Versicherungswissen- schaft am 11. Marz 1992 in Munchen im Rahmen des Programms zum Generalthema ,,Kunftige Umwelten and Versicherungen", Teil II: Kunftige ,,Einzelumwelten"

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Page 1: Wandel des Morbiditätsspektrums — Wandel der Medizin und ihrer Umfelder

Kunftige Umwelten and Versicherungen:

Wandel des Morbiditatsspektrums —

Wandel der Medizin and ihrer Umfelder*

Von Hermann H. Maletz, Dusseldorf

In einer Zeit eines umfassenden and tiefreichenden Wandels unserer poli-tischen, gesellschaftlichen and privaten Lebensbedingungen sind auchGesundheit and Krankheit mit der sich ihrer annehmenden Medizin voneiner ebenso grundlegenden wie nachhaltigen Veranderung erfaBt.

Seit Jahren wird in den westlichen Industrielandern ein bestandig sichvollziehender Wechsel im Spektrum der Krankheiten and Todesursachenbeobachtet, welcher in der Vergangenheit wiederholt AnlaB zu hochrangi-gen Darstellungen auf medizinischen Fachtagungen — so durch Bock 1980auf der Therapiewoche in Karlsruhe, durch Wolff auf dem 86. DeutschenArztetag 1983 sowie durch Siegenthalter auf der 90. Tagung der DeutschenGesellschaft fur Innere Medizin in Wiesbaden 1984 — gegeben hat. Es ist eineebenso reizvolle wie schwierige Aufgabe, einen kursorischen Uberblick uberdas gewahlte Thema in einer fur Nichtmediziner verstandlichen Darstellungder Inhalte zu geben, ohne den wissenschaftlichen Anspruch allzu sehr zubeeintrachtigen.

Zum besseren Verstandnis sollen zunachst einige Grundlagen derBetrachtung angesprochen werden. Begriffsdefinitionen, Arbeitsmethodender Epidemiologie sowie der kurativen and praventiven Medizin sollen kurzerlautert werden. Zuletzt werden Aspekte der Medizin als historisches andkulturelles Gut angedeutet. Im weiteren wird versucht, anhand von sicher-lich der subjektiven Neigung des Autors entsprechenden Beispielfelderndarzustellen, wie sich der Wandel nicht nur im Spektrum der Krankheiten,sondern vor allem auch innerhalb ein- and derselben Krankheit aufzeigenlaBt. Im einzelnen werden erlautert:

— die sogenannte Lipidtheorie and die hiermit im Zusammenhang gestelltendegenerativen Herz-Kreislaufkrankheiten,

— AIDS,

— Pocken, Tuberkulose and Hospitalinfektion,

* Vortrag auf der Jahrestagung des Deutschen Vereins fur Versicherungswissen-schaft am 11. Marz 1992 in Munchen im Rahmen des Programms zum Generalthema,,Kunftige Umwelten and Versicherungen", Teil II: Kunftige ,,Einzelumwelten"

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— Umweltmedizin,

— allergische Krankheiten,

— Bluthochdruckerkrankung and

— funktionelle Syndrome.

Den SchluBteil bilden Uberlegungen fiber zukiinftige Aufgaben in derMedizin, zur Gesundheitsokonomie and zum Paradigmawechsel in derMedizin.

Wenn kurze Begriffserlauterungen zur besseren Verstandigung erfolgen,so in Anlehnung an ein Wort von Kant deshalb, weil Begriffe ohne Inhalteblutleer and Inhalte ohne Begriffe ins Leere zielen and wirkungslos bleiben.Der titelgebende Begriff der Morbiditi t beschreibt die Haufigkeit vonKrankheiten mit Hilfe statistischer HaufigkeitsmaBe zwecks Vergleich vonBevolkerungen bzw. Bevolkerungsuntergruppen. Dabei wird die Anzahl derPersonen der Bevolkerung, die zu einem gegebenen Zeitpunkt an einerbestimmten Krankheit erkrankt sind, als Pravalenz bezeichnet. Ihr prakti-scher Nutzen erweist sich bei der Bedarfsplanung von medizinischen Ein-richtungen and medizinischem Personal. Mit Inzidenz ist das Neuauftreteneiner bestimmten Krankheit in einer bestimmten Zeitperiode, meistensinnerhalb eines Jahres, gemeint. Wie die Pravalenz wird die Inzidenz in Pro-zent oder Promille der Bevolkerung ausgedruckt and dient der Planung vonpraventiven and kurativen GesundheitsmaBnahmen.

Will eine Methode, gleich ob zur Untersuchung and Behandlung von Indi-viduen oder bei Massenerhebungen Bestand haben, muB sie den Anforde-rungen an ihre Validitdt geniigen: Sie ist ein MaB fur die Richtigkeit einerMethode and fragt, ob z. B. eine diagnostische Verfahrensweise die auf siegerichtete Krankheit tatsachlich and zutreffend erfaBt. Der Begriff der Mor-

talitat beschreibt die alters- and ursachenabhangige Sterblichkeit mit ihrenVeranderungen iffier die Zeit and ihrer raumlichen Unterschiede.

Im Mittelpunkt des Interesses der Epidemiologie — ursprunglich einBegriff zur Beschreibung der Verbreitung iibertragbarer Krankheiten — ste-hen seit etwa drei Jahrzehnten die chronischen, nicht infektiosen Erkran-kungen, welche groBe Populationen betreffen. Ihre wesentlichen Inhaltebefassen sich mit der Haufigkeit and Verteilung von chronischen Krankhei-ten in der Bevolkerung, ihren ursachlichen Faktoren der Entstehungsweise(Pathogenese) von Krankheiten sowie der Erarbeitung von Daten fur diePlanung von MaBnahmen zur Vorbeugung (Prevention) and Behandlung(Kuration) dieser Erkrankungen.

In der epidemiologischen Arbeit spielen die Uberlegungen zur Kausalitatand Krankheiten, das theoretische Konzept der Risikofaktoren sowie dieverschiedenen Studientypen zur Verifizierung and Falsifikation der theore-

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tischen Vorstellungen die tragende Rolle. Bei der Suche nach Zusammen-hangen zwischen verursachenden EinfluBgroBen and Krankheiten gilt es,unechte and sekundare Zusammenhange von Kausalzusammenhangenscharf abzusondern. Ein kausaler Zusammenhang zwischen einem Faktorand einer Krankheit wird dann als gegeben angesehen, wenn bei Verande-rung der einen GroBe auch eine Veranderung der anderen festgestellt wird.Eine Beweisbarkeit des Kausalzusammenhanges ist damit jedoch nichtgegeben. Bewiesen werden kann er ausschlieBlich nur im Experiment, z.B.im Tierversuch, wobei selbst dann noch die Ubertragbarkeit der Ergebnisseauf den Menschen problematisch bleibt. Die epidemiologisch gewonnenenErgebnisse basieren jedoch auf Beobachtungsstudien, welche kausaleZusammenhange lediglich mit Wahrscheinlichkeit, nicht jedoch mitBeweiskraft aufzeigen konnen. Die epidemiologischen Studientypen dienendamit der Beobachtung von Krankheitshaufigkeiten, dem Nachweis vonZusammenhangen zwischen bestimmten Merkmalen als krankmachendeFaktoren and dem Auftreten von Erkrankungen. Ads deskriptive, analyti-sche and experimentelle Studie wird diese Erhebungstechnik seit vielenJahren, jedoch nicht unumstritten, eingesetzt. Insbesondere die Kohorten-studie als analytische Form untersucht den Zusammenhang zwischen zurKrankheit fuhrenden sogenannten Risikofaktoren and bestimmten Erkran-kungen and sieht diesen als statistisch erwiesen an, wenn die Inzidenz derKrankheit unter den Risikofaktorentragern hoher ist als bei den davon nichtbetroffenen Personen. Da dieser Studientyp beim vermuteten krankma-chenden Faktor vor Ausbruch der vermutlich damit im Zusammenhang ste-henden Erkrankung ansetzt and den zukiinftigen Verlauf beobachtet, sindsie als Prospektivstudien sehr beliebt. Hingegen pruft die Interventionsstu-die als experimentelle Studie ebenfalls mit prospektivem Charakter, ob dieinterventionelle Mal3nahme, sei sie praventiver oder therapeutischer Natur,einen Ruckgang der Erkrankungshaufigkeit bewirkt. Es sei jedoch noch-mals betont, daB alien Studientypen gemeinsam ist, keinen kausal-geneti-schen Zusammenhang zu beweisen, sondern ihn allenfalls wahrscheinlichmachen zu konnen.

Allen, insbesondere den groB angelegten epidemiologischen Studien — diealteste and groBte ist als Framingham-Studie and eine der jungsten als Hel-sinki-Haert-Study allgemein bekannt geworden — liegt das theoretischeKonzept der sogenannten Risikofaktoren zugrunde. Dieser urspriinglich ausder Lebensversicherungsmedizin stammende Begriff wird im engeren Sinnbei den chronisch-degenerativen GefaBkrankheiten angewandt, welcheunter dem Stichwort Arteriosklerose mit ihren Folgekrankheiten Herz-infarkt and Schlaganfall Allgemeingut geworden sind. Der multifaktorielleCharakter des Risikofaktorenkonzeptes macht die komplexe Pathogeneseder Arteriosklerose nicht als lineare Ursache-Wirkungs-Kette verstehbar.Multifaktoriell meint die in Diskussion stehenden Einzelfaktoren Hyper-

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cholesterinamie als Uberhohung des Cholesterinblutspiegels, die Bluthoch-druckerkrankung, das inhalierende Zigarettenrauchen, den Diabetes melli-tus, die Gicht and das Ubergewicht. Diese Vielzahl an Risikofaktoren wirktsich dem Konzept nach ursachlich and in ihrem Zusammenwirken potenzie-rend auf die Entstehung der Zielkrankheit aus.

Die segensreichen and in groBer Zahl erbrachten Leistungen der kurati-ven Medizin darzulegen, ware eine eigene Darstellung wert, so daB es nichtsinnvoll ist, sie an dieser Stelle auch nur aneinandergereiht aufzuzahlen. Siesind allgegenwartig and trotz noch vielfaltig bestehender ungeloster Auf-gaben nicht hoch genug einzuschatzen. Die Grenzen der kurativen Medizinand ihr blinder Fleck sind spater in aller Kiirze zu beleuchten.

Die Praventivmedizin scheint zwar erst im zeitgenossischen Medizin-jargon bekanntgeworden zu sein, ist jedoch tatsachlich seit Jahrtausendenintegraler Bestandteil der Heilkunde aller Kulturen. Um nicht ganz so weitzuruckzugehen, sei zum Beleg der im antiken Rom tatige Arzt Galen zitiert:„Der Zweck der Medizin ist die Gesundheit. Aber der Endzweck ist derBesitz der Gesundheit. Notwendig ist fur Arzte daher die Erkenntnis, durchwelche Mittel man die geschwundene Gesundheit wiedererlangt, die vor-

handene aber schiitzt."

Die Praventivmedizin setzt also beim Gesunden an mit deco Ziel dergesundheitserhaltenden Lebensfuhrung. Im Zentrum dieser Bemuhungensteht die einzelne Person in ihrer ,Einbettung ihres gesundheitsschadigen-den Verhaltens in sozialgruppenspezifische Lebensweisen im Zusammen-hang mit den alltagsbestimmenden Lebensbedingungen" (von Troschke).

Grundlegend mehr als bisher mussen sich die gesundheitlichen Anstrengun-gen von Arzten and medizinischen Institutionen dieser Thematik annehmen,um die bisher eher enttauschende Effektivitat aller MaBnahmen zurGesundheitserziehung, -Aufklarung und -Beratung nachhaltig zu erhohen.

Im Gegensatz zu dieser Primarpravention befassen sich alle MaBnahmenand Strategien der Sekundarpraventionen als bestausgebauter Teil derPraventivmedizin mit der Eliminierung oder zumindest Minimierung dergesundheitsschadigenden Faktoren nach Eintritt einer Krankheit. In diesenBereich fallt insbesondere die Rehabilitationsmedizin, welche im deutsch-sprachigen Raum beinahe schon als ,Staat im Staate" flachendeckend ver-wurzelt ist and insbesondere von der angelsachsischen Medizin auBerst kri-tisch bewertet wird. Ob ihr dortiges Fehlen ihre Entbehrlichkeit hinsicht-lich langfristigem Morbiditatsverlauf, krankheitsbedingt eingeschrankterLebensqualitat and Mortalitat beweist, sei dahingestellt. Die hierin liegen-den Fragen waren eines mehrtagigen internationalen medizinischen Fach-kongresses wurdig. Moglicherweise erfahrt dieses Thema im Zuge derAngleichung der Sozialsysteme der EG-Staaten in ferner Zukunft eine ent-sprechende kritische Wiirdigung.

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Darstellungen zur Medizin als historisches and kulturelles Gut and fiberdie soziale Determination von Gesundheit and Krankheit wurden den Rah-men der Veranstaltung and die Kompetenz des Autors bei weitem uber-schreiten and sind in fundiertester Forschungsarbeit u. a. von Schippergessowie von Thure von Uexkull beschrieben worden. Lediglich kurze Anmer-kungen seien gestattet.

Viele Studien, insbesondere in den USA, haben die Bedeutung sozialerNetze fur die Gesundheit in einem AusmaB nachgewiesen, wie sie als Risiko-faktor nur noch das Rauchen besitzt. So unstrittig dieser Tatbestand ist, somu3 andererseits auch ein aul3erst unerfreulicher Aspekt zumindest amRande angemerkt werden. Gemeint ist die Instrumentalisierung von Krank-heit durch Politiker zur Verbesserung der Wahlaussichten in Form vonSozialgeschenken, der gesetzlichen Leistungstrager, Kranken- and Renten-versicherung in Form entmundigender Kolonisierung der Versicherten alsSchutzbefohlene sowie der sogenannten Leistungserbringer, denen esselbstverstandlich ausschlieBlich um das Wohl ihrer Patienten zu tun ist.Instrumentalisierung aber auch durch eben jene Patienten zur Erlangungvon sozialen Vorteilen wie Wehrdienstbefreiung, arbeitsfreie Tage, Schwer-behindertenstatus, krankheitsbedingte Rente and nicht zuletzt privaterVersicherungsschutz bei vorgeblicher Gesundheit and privater Versiche-rungsleistung bei vermeintlicher Krankheit oder Berufsunfahigkeit. Arbei-ten, wie die von Baier, Konstanz: ,Ehrlichkeit im Sozialstaat, Gesundheitzwischen Medizin and Manipulation" sowie ganz aktuell die Ausfuhrungenvon Adam: ,Mit dem sozialen Netz im Truben fischen — der Wohlfahrtsstaatschafft die Risiken, vor denen er schutzen will" in der FAZ vom 7. 3. 92 sindsicherlich mehr als nur bedenkenswert and sollten wie die hier vorgebrachteKritik nicht als Polemik gegen angebliche Randerscheinungen von zu ver-nachlassigem AusmaB des Sozialstaates abgetan werden.

Ads erstes Beispiel fur Morbiditatswandel, welches in der jungsten Fach-literatur wie im British Medical Journal vom 15.2. 92, aber auch in der geho-benen Laienpresse wie in „Die Zeit" vom 14.1.92 anti-konsensusartigdiskutiert wird, sei die sogenannte Lipidtheorie and die mit ihr assoziiertendegenerativen Herzkreislaufkrankheiten, insbesondere die koronare Herz-krankheit mit dem Herzinfarkt als Folge, naher erlautert. Der von dieserTheorie postulierte and mit epidemiologischen Studien beschriebene Kau-salzusammenhang zwischen Fettstoffwechselstorung, insbesondere Chole-sterinspiegelerhwhung im Blut, and der artheromatos bedingten Arterio-sklerose, insbesondere der HerzkranzgefaBe and der hirnversorgenden Arte-rien, bewegt die Fach- and Laiengemuter auf das Heftigste. Taglich stelltsich in deutschen Kliniken in 11000 Fallen die Frage, ob ein Herzinfarkt beidiesen Patienten eingetreten ist. In 10 % dieser Falle bestatigte sich derVerdacht, wobei 232 mal taglich oder bei 21 % dieser Infarktpatienten eintodlicher Verlauf zu beklagen ist.

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Die pathogenetische Theorie beschreibt die durch jedwede Ursache ent-stehende Cholesterinspiegelerhohung im Blut neben anderen, das Risikopotenzierenden Faktoren wie Rauchen, Ubergewicht, StreB and Bewe-gungsarmut, als den entscheidenden Kausalpunkt fur die volumeneinen-gende Schlagadererkrankung der HerzkranzgefaBe, der hirnversorgendenArterien sowie der Becken- and Beinarterien. Sie hat zu der von der Mehr-heit der Forscher getragenen Konsensusempfehlung der Absenkung desCholesterinspiegels auf einen Wert von 200 mg/ml gefuhrt. Von diesem Zielwerden 80% der Deutschen uber 40 Jahre als Risikofaktorentrager andpotentielle Patienten erfaBt. Der Kausalzusammenhang zwischen Fettstoff-wechselstorung and artheromatoser Arteriosklerose ist ausschlieBlich epi-demiologisch begrundet. Trotz weltweiter intensivster Forschung ist es bis-her nach Auffassung aller, auch die Lipidtheorie vertretender Experten,nicht gelungen, den molekularen Pathomechanismus als kausalgenetischenZusammenhang nachzuweisen. Die therapeutischen Interventionsstudienhaben samtlich keinen Ruckgang der Mortalitat an koronarer Herzkrank-heit and keinen nennenswerten Ruckgang der Morbiditat an eben dieserErkrankung zeigen konnen, welcher die Lipidtheorie schlussig beweisenwurde. Die Fragwurdigkeit der Lipidtheorie hat Berger (Dusseldorf) alsVertreter der immer starker werdenden Forschergruppe, die die Lipid-theorie ablehnt, zu der salopp-ironischen Bemerkung veranlaBt, sie sei ver-gleichbar mit der Argumentation der GroBmutter, wonach die Hypothese,der Storch bringe die Babys, mit der Assoziation des Ruckganges der Stor-chenpopulation mit derjenigen der Geburtenrate bewiesen sei. Nicht nurnach seiner Auffassung bestehe keine Indikation fur eine cholesterin-senkende Therapie bei Menschen alter als 50 Jahre, jedoch entfielen gerade inDeutschland 80 % aller Verordnungen blutwertsenkender Medikamente aufeben diese Gruppe, in den USA immerhin noch 54 %. Nach einhelliger Auf-fassung ist die Lipidtheorie als zutreffend anzuerkennen — ebenfalls auchnur epidemiologisch begrundet — bei der reinerbigen, familiaren Hypochole-sterinamie mit Nachweis im jugendlichen bzw. fruhen Erwachsenenalter.Bei dieser Form der Fettstoffwechselstorung versterben die betroffenenPatienten meist vor dem 30. Lebensjahr an so verursachtem Herzinfarkt.

Greten (Hamburg) als Vertreter der Lipidtheorie kommt zu dem Fazit, daBnur bei genetisch-determiniertem Infarktrisiko and gleichzeitig erhohtemCholesterinspiegel die Indikation zur therapeutischen Dauerinterventionbesteht. Spatestens bei einer solchen klar definierten Schnittstelle zeigt sichder potentielle Gewinn der Genomanalyse zur Erkennung der gefahrdetenPersonen, die bisher nur mit mehr oder weniger sensitiven Wahrscheinlich-keitsgraden identifiziert and einer entsprechenden Therapie zugefuhrt wer-den konnen. Durch den negativen Ausgang einer Genomanalyse kann diegroBe Mehrheit der dbrigen, bisher als Hochrisikofaktortrager benannten

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Personen, von uberflussigen and auBerst kostenintensiven sowie neben-wirkungsbelasteten MaBnahmen verschont bleiben. Wir mussen uns wahr-scheinlich damit abfinden, daB auch in 50 Jahren der Tod als Folge der arte-riosklerotischen GefaBkrankheit ebenso haufig sein wird wie heute. Kanndenn, wie Berger (Dusseldorf) zu Recht fragt, ein Gesundheitswesen nochbesser sein, wenn die von ihm versorgten Populationen im hohen andhoheren Lebensalter an derjenigen typischen Altersschwache versterben, anwelcher man naturnotwendigerweise versterben muB?

Im Folgenden soil nur kurz ein aktueller Uberblick uber das erworbeneImmun-Defect-Syndrom — AIDS — eingegangen werden, bei welchem es sich— Morbiditatswandel vollig anderer Art — hochstwahrscheinlich um eine De-Novo-Infektionskrankheit des Menschen handelt. Dabei erfiillt sie bis heutenicht die strengen Kriterien einer Infektionskrankheit. So schreibt Diehl(Koln) in dem von ihm 1991 mit herausgegebenen Lehrbuch der InnerenMedizin: ,Wenngleich viele Unklarheiten hinsichtlich der Faktoren beste-hen, die den zeitlichen Verlauf der Infektion and die Pathogenese determi-nieren, glaubt man, daB fur das Auftreten des Immun-Defects die Infektionder T-Helferzellen durch das HIV mit der daraus resultierenden Funktions-storung and Zytolyse mit entscheidend ist." Unverandert betrifft dieKrankheit zu fiber 90 % Patienten aus den sogenannten Risikogruppen derhomophilen Manner, der IV-Drogenabhangigen, der Bluter and der KinderHIV-infizierter Mutter. Diese Gruppen sind insgesamt zu 30 % - 80 %durchseucht. Die AIDS-Zahl in den USA betrug per Februar 1991 164900,in Deutschland per 31.1.1992 7658, davon 49,8% verstorben. Bei derAngabe der Zahl der Verstorbenen sind definitorische Unterschiede furAIDS, Rucksichtnahmen bei der Nennung AIDS als Todesursache sowie dieFreiwilligkeit der AIDS-Todesfallmeldungen fur Verzerrungen in der Stati-stik verantwortlich. Seit dem 2. Halbjahr 89 ist ein Absinken der Kurve derZuwachsrate an AIDS-Krankheitsfallen festzustellen. Die Zahl der HIV-Positiven, definitionsgemaB noch nicht an AIDS erkrankten Personen,betrug in Deutschland per 31.1.92 beim Bundesgesundheitsamt zwangs-gemeldet 49 984. Hierbei ist zu berucksichtigen, daB sich alle europaischenLander nicht der neuen AIDS-Definition der USA angeschlossen haben,welche HIV-positive and noch nicht an AIDS erkrankte, aber mit einembestimmten Labormerkmal versehene Personen einbezieht. Auch die Zahlder diagnostizierten HIV-Infektionsfalle ist seit 1987 kontinuierlich gesun-ken. Ab Erstdiagnose AIDS ist eine Verlangerung der ZJberlebenszeit von imMittel 11 Monaten (bis 1989) auf 13,7 Monate (in 1991) zu verzeichnen,wahrscheinlich als Therapieeffekt auf eine ausschlieBliche AIDS-assoziierteForm von Lungenentzundung. Trotz intensiver Forschungs- and Entwick-lungsarbeit besteht derzeit noch keine Aussicht auf die absehbare Einfiih-rung eines effektiven, sicheren and zuverlassigen Impfstoffes.

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Als Beispiele fur dem Morbiditatswandel unterworfene Infektionskrank-heiten, welche durch seuchenhygienische MaBnahmen teils zu Recht, teils zuUnrecht in Vergessenheit geraten sind, seien die Pocken and die Tuberku-lose erwahnt. Die Pocken sind zu recht vergessen. Die durch den englischenArzt Jenner 1798 eingefuhrte and 1874 im Deutschen Reich gesetzlich vor-geschriebene Pockenschutzimpfung hat zu deren kontinuierlichem Ruck-gang gefuhrt. Bis dahin blieb die Bevolkerungszahl in Europa seit dem Endedes Romischen Reiches nicht durch Kriege, Hungersnote and die Pest, son-dern wesentlich durch die Pocken nahezu konstant. Durch die weltweiteImpfaktion der WHO konnten die Pocken definitiv beseitigt werden, so daBdie Welt 1982 von der WHO fur pockenfrei erklart werden konnte.

Zu Unrecht beinahe in Vergessenheit geraten ist hierzulande die Tuber-kulose. Sie zeigt derzeit weltweit eine Inzidenz von 9 bis 10 Millionen, vor-wiegend in den Entwicklungslandern. Sie stellt immer noch die haufigsteinfektionsbedingte Todesursache mit 4 Millionen jahrlich dar. In Deutsch-land and in den westlichen Industrielandern zeigt sich eine kontinuierlicheAbsenkung der Inzidenz nach einem Gipfel in der ersten Halfte des 19. Jahr-hunderts. Dennoch gibt es auch heutzutage bei uns bedrohliche Krankheits-verlaufe durch verzogerte Diagnosestellung, weil kaum noch an ihre Mog-lichkeit gedacht wird. 90% bis 95% aller Infektionen verlaufen klinischerscheinungsfrei. Dennoch: Die miliare Lungentuberkulose hat eine Letali-tatsrate von 29 % bis 64 %.

Nicht unerwahnt bleiben darf eine zwar nicht neue, aber vielleicht zu sehrverleugnete ,Infektionskrankheit": Der infektiose Hospitalismus, die imKrankenhaus vom Patienten erworbene Infektion durch therapie-resistente,krankenhausstandige Keime. Nach neuesten Angaben des Bundesgesund-heitsamtes versterben in Deutschland jahrlich 30000 bis 40000 Menschenan dieser wahrscheinlich nicht vollstandig vermeidbaren iatrogenen Infek-tionskrankheit, wobei diese Zahlen aufgrund von Untersuchungen in denUSA and Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft hochgerechnetentstanden sind.

Morbiditatswandel im Sinne der Ausweitung der Krankheitshaufigkeitendemonstrieren die Allergien. Sie stellen den groBten Tell der Krankheitender klinischen Immunologie dar. Als Immunantwort gegen harmlose Anti-gene stellen sie eine krankmachende Immunreaktion dar. Dabei scheint eineZunahme der Zahl von allergisch Erkrankten vorzuliegen, der Anteil derAllergiker an der Gesamtbevolkerung in Mitteleuropa betragt 10 % bis 20 %.Es ist unklar, ob die Zunahme der Zahl durch eine verbesserte Diagnostikscheinbar zustande kommt oder ob eine tatsachliche Inzidenzprogressionvorliegt. Denkbar ist, daB sie bedingt wird durch die wachsende Zahl derAllergene, welche iffier Nahrung, Atmung and Hautkontakt aufgenommenwerden, die dann auch nur schwach allergisch Veranlagte aufgrund der

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Massivitat ihres Auftretens zu Allergikern macht. Als bedeutsames Phano-men wirkt sich auBerdem aus, daB Pollen als ubiquitares naturliches Anti-gen eine Vehikelfunktion fur aus der Umwelt stammende Schadstoffparti-kel haben. Gleichviel gilt unverandert: Ob and wann eine Allergieerkran-kung ausbricht, hangt ab von dem Auspragungsgrad der genetischen Veran-lagung zur Allergie einerseits and von Dauer and Intensivitat der Allergen-belastung andererseits.

Als erwiesener kardiovascularer Risikofaktor mit einem geradezu alsspannend zu bezeichnenden Verlaufswandel ist die Bluthochdruckkrank-heit (Hypertonie) anzusehen, welche 15 % der Bevolkerung erfaBt. DieseZahl verdoppelt sich, wenn alle die Personen mit erfaBt werden, welche einesogenannte Grenzwerthypertonie haben. Bei zunehmender Umkehrung derAlterspyramide ist zu erwarten, daB 45 % der Personen alter als 65 Jahreeine Hypertonie entwickeln, bei Hinzurechnung der Grenzwerthypertonieerhoht sich dieser Prozentsatz auf 75 %. Ihre Bedeutung als Risikofaktorerhalt die Hypertonie insbesondere im Hinblick auf den sogenanntenSchlaganfall, weiterhin fur den Herzinfarkt and die chronische Nieren-leistungsschwache. Der entscheidende Wandel bei diesem Krankheitsbildist durch die medikamentose Therapie erreicht worden, wie dies wohl beikeiner anderen Krankheit massenweise so eingetreten ist. Gab es noch vor30 Jahren so gut wie keine wirksame medikamentose Behandlungsmethodeand muBte man in verzweifelten Fallen das infolge der hypertoniebedingtenHerzkrankheit entstandene Beinwasser auf nahezu heroische Weise mitBlutentnamekanulen aus dem Bein abtropfen lassen, so steht dem Arzt seit-dem eine zunehmend groBer gewordene Palette immer weiter verfeinerterMedikamente zur Verfugung, um den Bluthochdruck wirksam and dauer-haft auf Normalwerte in der uberwiegenden Zahl der betroffenen Patientenabzusenken. Die groBten therapeutischen Erfolge zeigen sich mittlerweile inder drastischen Absenkung der Zahl der todlich verlaufenden Schlag-anfalle, insbesondere bei denjenigen, die durch die sogenannte bluthoch-druckbedingte Hirnmassenblutung verursacht werden.

Der wohl grollte Wandel im Wechselspiel Morbiditat and Medizin scheintsich im Bereich der Umweltmedizin zu vollziehen. Als sehr junges Fach istes seit ca. 20 Jahren vor allem in den USA etabliert and befaBt sich mit dengesundheitlichen Auswirkungen von Umweltbelastungen in Nahrung, Luft,Wasser and Boden. Die versicherungsmedizinische Abteilung des DeutschenVereins fur Versicherungswissenschaft hat bei ihrer diesjahrigen Tagung inLeipzig diesem Thema ein eigenes Referat gewidmet, welches gerade furDeutschland vor dem Hintergrund der Umweltbelastung in den neuen Bun-deslandern ein bisher kaum gekanntes AusmaB an Bedeutung erreicht hat.Hier sei die Beschrankung auf nur wenige Anmerkungen erlaubt. Diemethodischen Probleme der Umweltmedizin liegen begrundet in der

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schwierigen Abgrenzbarkeit von anderen Einflussen wie Rauchen, Ernah-rung, Alkohol, Freizeit and Beruf als sogenannte StorgroBen. Zudem tretendie Umweltrisiken im Vergleich zu den genannten Individualrisiken in ver-gleichsweise kleinen Dosen am Wirkortorganismus auf. Daruber hinaus istdie Identifizierung eines einzelnen, evtl. toxischen Stoffes schwierig wegenseines Vorkommens in Substanzgemischen. Der groBe Zeitraum zwischenExposition and Manifestation (Kryptokausalitat), die bisher ausschlieBlichretrospektive Quantifizierung der Exposition, der nur kleine Anteil derExponierten an den Kranken wie fehlende Grenzwerte fur tolerable Dosen(Ausnahmen, wie z. B. fur Asbest, existieren) kennzeichnen die weiterenmethodologischen Schwierigkeiten. Die im Vordergrund insbesondere desLaieninteresses stehende krebserzeugende Wirkung aus der Umwelt ist bisauf wenige Ausnahmen nicht sicher erfaBbar. Nach bisherigem Wissens-stand sind 4% bis 5 % aller Krebstodesfalle auf kanzerogene Arbeitsstoffewie z. B. PVC zuruckzufuhren. Studien aus den USA beschreiben den aufUmwelteinflusse zuruckzufuhrenden Anteil der Krebserkrankungen von2 %. Insgesamt sind bisher lediglich Vermutungen iffier Zusammenhangezwischen Umweltschadstoffen and Krankheiten anzustellen.

Ein von der Medizin noch immer nicht recht akzeptierter Wandel vollziehtsich im Bereich der sogenannten funktionellen, Syndrome, welche immervordringlicher ins Blickfeld geruckt werden mussen. Aus diesem Grund hatdie versicherungsmedizinische Abteilung des Vereins auch diesem Themabei ihrer diesjahrigen Tagung in Leipzig ein Referat gewidmet. Nach US-amerikanischen Studien hatten 70 % der Patienten mit funktionellen Herz-beschwerden 10 Arzte and mehr konsultiert. Nach internationaler Daten-lage, die allerdings wegen der uneinheitlichen diagnostischen Zuordnungschwankende Werte angibt, leiden 40 % bis 60 % der Patienten der allge-meinarztlich arbeitenden niedergelassenen Arzte an funktionellen Syn-dromen. Wiederum in den USA werden durch diese Patienten in Hospitalern6 mal hohere and in den Arztpraxen 14 mal hohere Betreuungskosten verur-sacht, als durch die ubrige Bevolkerung. Es finden sich zahlreiche Syn-onyme fur den mittlerweile hierzulande etablierten Begriff „funktionelleSyndrome" wie vegetative Dystonie, vegetative Neurose, psychogene Syn-drome, Organneurose, psycho-vegetative Storung and andere mehr. Seit ca.300 Jahren sind die funktionellen Syndrome unter wechselnder Bezeich-nung in der medizinischen Literatur bekannt, die Erstbeschreibung stammtwohl von Thomas Sydenham aus dem Jahre 1681. Er hebt den chamaleon-artigen Charakter der Beschwerden hervor, an denen uber die Halfte seinesnicht fieberhaften Krankengutes litt. In diesem Zusammenhang ist interes-sant, daB trotz aller Naturwissenschaft and Medizintechnik sich offenbarder Anteil dieser Kranken an der Gesamtzahl uber die Jahrhunderte nichtverandert hat. Kurz and vereinfacht gesagt, zeichnen sich die funktionellenSyndrome durch nichtorgankrankhaft bedingte Funktionsstorungen eines

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oder mehrerer Organe aus, ausgelost and unterhalten durch (meist unbe-wuBte) seelische Konflikte. Auf die Bedeutung der funktionellen Syndromefur Medizin and Gesellschaft werde ich im SchiuBteil noch einmal zuruck-kommen.

Wenn auch unvollkommen, so soil im Folgenden ein kurzer Ausblick ver-sucht werden. Es ist sicherlich auBerst schwierig, zukunftige Aufgaben derMedizin klar zu umreiBen. Im Mittelpunkt werden zweifellos jedoch diechronischen Krankheiten stehen, zu welchen auch die eben genannten funk-tionellen Syndrome zahlen. 80 % bis 90 % der Menschen in den Industrie-staaten sterben bei etwas vereinfachender Zusammenfassung an dreiKrankheitsgruppen: 50 % an Arteriosklerose, 20 % bis 25 % an bosartigenTumoren, 10 % bis 15 % an chronisch-entzundlich bedingten Erkrankungender Leber, der Niere and der Atmungsorgane. Bei diesen Krankheiten isteine Heilung bis auf eine kleine Minderheit nicht moglich. Das Leiden lin-dern and ertraglich zu gestalten, bei vitalbedrohender VerschlechterungUberfuhrung aus der akuten Not in die chronische Phase unter Hinnahmevon weiterem morphologischem and funktionellem Verlust mit semen bio-psycho-sozialen Konsequenzen wird sicherlich die wesentliche Aufgabezukiinftiger Medizin sein. Als Beispiel sei das chronische Lungenherz (corpulmonale) genannt, welches — wie der Name sagt — zwei zentrale Organsy-steme verknupft. In uber 80 % der Falle des cor pulmonale ist die chronischobstruktive Lungenkrankheit (COLD) die Ursache. Ist das so krank gewor-dene Herz einmal dekompensiert, reduziert sich die Lebenserwartung aufetwa 5 Jahre.

Als weitere groBe Krankheitsgruppe mit extrem langer beschwerdereicherLaufzeit sei das Rheuma als Sammelbegriff von mindestens 300 verschiede-nen Erkrankungen dieses Formenkreises erwahnt, welches ca. 3 MillionenPatienten in Deutschland betrifft. Des weiteren werden intensive For-schungsbemuhungen notwendig sein, um auf dem Gebiet der standig zuneh-menden Zahl der Viruskrankheiten Erfolge erreichen zu konnen. Gleichesgilt fur die immunologisch bedingten Erkrankungen.

Mit dem Stichwort Multimorbiditat ist vielleicht das schwierigste Kapitelzukunftiger Aufgaben der Medizin angesprochen. Gemeint ist das gleich-zeitige Vorliegen mehrerer therapiebedurftiger Krankheiten, welche mitsteigendem Lebensalter fast gesetzmaBig an Haufigkeit zunehmen. Insbe-sondere von der Multimorbiditat and ihrer Multimedikation leitet sich derAuftrag ab, Medikamente zu ersetzen durch krankheitsadaquate Lebens-fuhrung and nichtmedikamentose HeilmaBnahmen wie physikalische anddiatetische Therapie. Statt in unwissenschaftliche Polypragmasie zu verfal-len, wird es arztliche Aufgabe mehr and mehr werden, den Patienten stut-zend and fuhrend beizustehen bei der Annahme der chronischen Krankheitand dem Leben mit ihr. Hierauf weist das angelsachsische Coping hin, wel-

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ches die Fahigkeit bezeichnet, auf Dauer mit Unabanderlichem fertig zuwerden. Moglicherweise kommt es auf diesem Wege zu einer Wiederfindungand Neuuberlegung der Demut bei Arzt and Patient: Demut vor der Krank-heit statt Kampf gegen and Sieg uber sie?

Es ware wohl unredlich, im Rahmen des gestellten Themas nicht wenig-stens einen kurzen Blick auf Fragen and Fakten der Gesundheitsokonomiezu werfen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 1989 (inden alten Bundeslandern) 276,8 Mrd. DM fur samtliche gesundheits- andkrankheitsbezogenen Leistungen aufgewendet. Sie erfuhren damit seit 1970eine jahrliche Steigerungsrate von 7,5%. Ihr Anteil am Bruttosozialproduktbetrug 1970 noch 6,4%, 1990 nach vorlaufigen Berechnungen 9,6%, waseiner Steigerung von 50 % entspricht. Zum Vergleich sei ein Blick in andereIndustriestaaten geworfen and vorbehaltlich fraglicher Vergleichbarkeitbezuglich dessen, was diesem Leistungsbereich zugeordnet wird. So wurdennach Angaben der OECD in 1989, bezogen auf das Bruttosozialprodukt,

ausgegeben in:

USA 11,5%GroBbritannien 5,9%Japan 6,7%Frankreich 8,8%Schweiz 7,7%Schweden 9,0%

Diese Zahlen liefern bereits — ohne weitere Vertiefung in die Einzelberei-che — hinreichendes Material fur die Diskussion um die Ausgabenpolitik imGesundheitswesen. Diese befal3t sich im wesentlichen mit der Ausgaben-steuerung and Beitragssatzstabilitat vor dem Hintergrund der sogenanntengrundlohnsummen-gekoppelten Ausgabenzuwachsraten. Mit solchen wohlweder nationalokonomisch, noch politisch, noch sprachlich geschliffenenWortungetumen laBt sich weder von der Politik noch von den Sozialpart-nern der Allokationsdiskurs mit ordnungspolitisch bedenklichen and ver-fassungsrechtlich anstaBigen Mal3nahmen and Vorschlagen zur Ausgaben-steuerung umgehen.

Zum SchluB sei der in der Einleitung angefuhrte Paradigmawechsel derMedizin als wichtigste SchluBfolgerung angesprochen. Die weitgehende andwohl auf Hilflosigkeit der naturwissenschaftlichen Medizin basierende Aus-blendung der psychogenen Erkrankungen, die nach einer Mannheimer Stu-die immerhin 26% der Bevolkerung betreffen, deren Ausblendung aus dermodernen Medizin wird in Zukunft nicht mehr allzu lange durchzuhaltensein. Ihre Beschaftigung mit den organischen als den einzig ,richtigen"Krankheiten wird ohne voile Einbeziehung psychischer and sozialer Pro-bleme weder der Bevolkerung noch sich selbst gegenuber ihre Glaubwurdig-keit bewahren konnen.

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Kunftige Umwelten and Versicherungen 71

Aus der Sicht der psychosomatischen Medizin — in Deutschland durchJakob von Uexkull in der ersten Jahrhunderthalfte and in der zweiten durchThure von Uexkull wesentlich entwickelt — muB das der naturwissenschaft-lich-technisch sowie merkantilistisch-utilitaristisch strukturierten Indu-striekultur komplementare reduktionistische Maschinenmodell des mensch-lichen Korpers Uberwunden werden zu Gunsten einer Humanmedizin. EineHumanmedizin, welche sich mit der Gesamtheit der psychischen, sozialenand biologischen pathogenen Einflusse beschaftigt, mit einer dem einzelnenPatienten angemessenen and durchaus phasenweise wechselnden Gewich-tung der einzelnen Faktoren. So besehen, ist Paradigmawechsel vomMaschinen- zum Ganzheitsmodell menschlichen Krankseins als Aufgabeand Gewinn eine wahrhaftige ,res publica", welche auch die kuhlsten Rech-ner and pragmatischsten Macher fur sich gewinnen sollte. Die Gesellschaftand jeder einzelne zoge hieraus einen steuerfreien Mehrwert, der gewinn-bringend in das Leben aller investiert werden konnte.