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„Die Meistersinger von Nürnberg“ ist Richard Wagners (1813–1883) längste, heiterste und meist rezipierte Oper, die er selbst mehrfach als sein bes- tes Werk bezeichnete. Anlässlich des 200. Geburts- tags des großen Komponisten holt das Germani- sche Nationalmuseum die Originalpartitur aus dem Tresor und zeigt sie ab dem 21. Februar im Rahmen einer Studioausstellung. In den 1868 in München uraufge- führten Meistersingern stellt Wagner die ideale deutsche Stadt einer großen deut- schen Vergangenheit dar. Überraschenderweise wurde dem Verhält- nis Wagners zum realen Nürnberg des 19. Jahrhunderts bislang nur wenig Aufmerksamkeit ge- schenkt. Dabei kam Wagner mehrfach in die Frankenmetro- pole, in der zeitweise seine Schwester Clara mit ihrem Mann Hein- rich Wolfram lebte. Hier besuchte er das neue Stadt- theater und hörte in der Oper „Die Schweizerfamilie“ von Joseph Weigel die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient. Als 16-Jähriger hatte er sie zum ersten Mal in Beet- hovens „Fidelio“ in Leipzig erlebt und (angeblich) daraufhin beschlossen, Musiker zu werden. Das Wiederhören in Nürnberg hinterließ einen weite- ren prägenden Eindruck. Teils lapidar, teils amüsiert, aber auch mit einem gewissen Unwillen schildert der Musiker Anekdo- ten und Erlebnisse während seiner Aufenthalte. In epischer Breite beschreibt er zum Beispiel mit einer Wirtshausrauferei ein eher banales Ereignis, das ihn jedoch später zur „Prügelszene“ in den „Meis- tersingern“ inspirieren wird. In der Ausstellung hinterfragen zeitgenössische Nürnberger Stadtansichten das romantisieren- de Bild, das Wagner zeichnete, denn schon damals gab es sowohl winklige Gassen als auch weite, offene Plätze. Die Ausstel- lung verdeutlicht die verschiedenen Selbstbilder Nürn- bergs zwischen mittelalterlichem Mythos und mo- dernem Handels- zentrum. Auch das damals noch junge „Germa- nische Museum“ sah Wagner. Am 10. August 1861 stand es neben aller- lei Nürnberger „Merkwürdig- keiten“ auf dem Programm, das er gemeinsam mit einem befreunde- ten Journalisten und Politiker Emile Ollivier und dessen Frau Blandine, der älteren Tochter von Franz Liszt, absolvierte. Als sechzehnter von rund 50 Besuchern trug sich Wagner in das Besucher- buch des Hauses ein, das das befreundete Ehepaar ein wenig pikiert als „armselig“ bezeichnete. Umso interessanter ist deshalb die Tatsache, dass, bei allem anfänglichen Desinteresse, die Ori- ginalpartitur der Meistersinger im Jahr 1902, kaum 20 Jahre nach Wagners Tod, ihre endgültige Heimat ausgerechnet in Nürnberg, im Germanischen Natio- nalmuseum fand. Die Studioausstellung zeigt die mehr als 400 Seiten umfassende Wagner-Handschrift der Meis- tersinger. Zudem erzählt sie mittels Autographen, zeitgenössischen Graphiken und Objekten die Ge- schichte des Werks und der Partitur in ihrem Ver- hältnis zu Nürnberg. Anhand des individuellen Zeugnisses des „Welt- reisenden“ in Sachen Musik wird außerdem exem- plarisch sichtbar, welchen Bedeutungswandel das Germanische Nationalmuseum zwischen Wagners Besuch 1861 und der Übergabe der Partitur im Jahr 1902 erfuhr. Wagner – Nürnberg – Meistersinger: Das Nürnberg seiner Zeit Links: Johann Lindner: Brustbild des Dirigen- ten und Komponisten Richard Wagner, 1871 Germanisches National- museum Paul Ritter: Refectorium im ehemaligen Kartäuserkloster, 1857, Germanisches Nationalmuseum

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Page 1: Wagner – Nürnberg – Meistersinger: Das Nürnberg ...€¦ · „Die Meistersinger von Nürnberg“ ist Richard Wagners (1813–1883) längste, ... besuchte er das neue Stadt-theater

Nr. 44 | 4. Dezember 2012 03

Tagträume – NachtgedankenPhantasie und Phantastik in Graphik und Photographie führt zu den Wurzeln der Surrealisten

Germanisches Nationalmuseum

„Er ist so schön … wie die unvermutete Begeg-

nung einer Nähmaschine und eines Regenschirms

auf einem Seziertisch!“ Diese sinnwidrige Metapher

für die Schönheit eines

Jünglings aus Lautréa-

monts „Les Chants de

Maldoror“ aus dem Jahr

1870 regte die Surrea-

listen der 1920er Jahre

zu ihren phantastischen

Bildgedanken an.

Um die Wurzeln der Mo-

derne, speziell der Kunst

der Surrealisten, geht es

auch in der aktuellen Son-

derausstellung „Tagträu-

me – Nachtgedanken“. Als Modell diente Alfred H.

Barrs 1936/37 im Museum of Modern Art, New York,

veranstaltete legendäre Ausstellung „Fantastic Art,

Dada, Surrealism“. Unter diesem Titel zeigte der

Gründungsdirektor des MoMA Werke seiner Zeitge-

nossen in der Gegenüberstellung mit Arbeiten von

u.a. Bosch, Arcimboldo, Piranesi, Hogarth, Goya,

Grandville. Die Zusammenschau verhalf dem Surre-

alismus zu einem historischen „Stammbaum“. Ohne

Zweifel hatten die psychische Sensibilität und die

künstlerischen Methoden

der Surrealisten den Blick

auf eine lange Tradition

subjektiv-phantastischer

Kunst geöffnet, die vom

Spätmittelalter über den

Manierismus und den

Barock bis in die Moderne

reicht.

Diese Tradition greift

die Ausstellung im Ger-

manischen Nationalmu-

seum auf, die noch bis

zum 3. Februar zu sehen ist. Sie zeigt überwiegend

Blätter aus den reichen Beständen der eigenen

Graphischen Sammlung, von der Mitte des 15. Jahr-

hunderts bis etwa 1945. Auch hier sollen die Mo-

tivzusammenhänge epochenübergreifend verfolgt

werden, gegliedert in einzelne Themenbereiche.

Trotz vergleichbarer Darstellungen, die Motivati-

on der Künstler variierte: Von der Höllenangst des

christlichen Mittelalters über die Begeisterung der

Neuzeit für naturwissenschaftliche, speziell opti-

sche Phänomene bis hin zu den Ausbrüchen des

Unbewussten im Zeitalter der Vernunft.

Das Auge spielt als Bildgegenstand eine zentrale

Rolle. Seine Beschreibung als Organ der Wahrneh-

mung und Spiegelung psychischer Zustände ist eine

Erkenntnis des 18. Jahrhunderts. Damals wurde sei-

ne Anatomie und Funktionsweise zu einem Gegen-

stand der Wissenschaft. Das Auge entwickelte sich

zum Symbol für Vernunft und Erkenntnis, zugleich

gilt es bis heute als Spiegel der Seele oder Sinnbild

innerer Zustände.

Hannah Höch stellte ihre 1929 begonnene Colla-

ge „Der Strauß“ erst 1965 fertig. Aus Zeitungsaus-

schnitten gestaltete sie ein buntes Blumenbouquet,

als Blüten setzte sie zahlreiche Augen ein: weibliche

und männliche, braune, blaue und grüne, rechte

und linke. Sie vertreten nicht nur einunddreißig

verschiedene Individuen, sie nehmen auch ein-

unddreißig verschiedene Blickrichtungen ein und

schauen aus unterschiedlichen Perspektiven auf ihr

Gegenüber und ihre Umwelt. Höch, die zum engen

Kreis der Berliner Dadaisten gehörte und politisch

dachte, wollte die Gesellschaft in ihrer ganzen Wi-

dersprüchlichkeit erfassen. So lässt die Künstlerin

„ihren Blick“ schweifen und bezieht diverse Positi-

onen, um den sich daraus ergebenden Ausschnitt zu

verifi zieren und verschiedene Haltungen zur Welt

zu demonstrieren.

Daneben galt auch der Traum zu allen Zeiten und

in allen Kulturen als Fenster zu überirdischen Mäch-

ten. Der Traum offenbarte göttliche Weissagungen,

visionäre Blicke in die Zukunft, Erkenntnisse, Rat-

schläge und Erweiterungen des Bewusstseins – oft

diente er in Überlieferungen als Brücke zwischen ir-

discher und überirdischer Sphäre. Goya zeigt in sei-

ner Aquatinta „Der Schlaf/Traum der Vernunft ge-

biert Ungeheuer“ den Künstler selbst, der erschöpft

an seinem Arbeitstisch eingeschlafen ist. Um ihn

her wimmelt es von dämonischen Nachttieren, die

als dunkle Schatten aus seinen Alpträumen aufstei-

gen. Die inneren Gedankenspiele manifestieren sich

ganz real und werden zu ihn bedrohlich umgeben-

den Dämonen.

Erläutern und erzählen lässt sich viel zu diesen

phantastischen Bildwelten. Öffentliche Führungen

fi nden jeden Mittwochabend um 18 Uhr und jeden

Sonntag um 14 Uhr statt. Ein besonderes Angebot

gibt es außerdem jeden Mittwoch um 19.15 Uhr:

Die „Nachtgedanken“ richten sich an Besucher, die

sich gerne mit in die Führung einbringen möchten.

In kleinen Gruppen wird in gemeinsamem Gespräch

ein Exponat betrachtet und diskutiert. Persönliche

Sichtweisen und Ideen sind willkommen, statt eines

Monologs soll ein fruchtbarer Dialog entstehen.

„Die Meistersinger von Nürnberg“ ist Richard

Wagners (1813–1883) längste, heiterste und meist

rezipierte Oper, die er selbst mehrfach als sein bes-

tes Werk bezeichnete. Anlässlich des 200. Geburts-

tags des großen Komponisten holt das Germani-

sche Nationalmuseum die Originalpartitur aus dem

Tresor und zeigt sie ab dem 21. Februar im Rahmen

einer Studioausstellung.

In den 1868 in München uraufge-

führten Meistersingern stellt

Wagner die ideale deutsche

Stadt einer großen deut-

schen Vergangenheit dar.

Überraschenderweise

wurde dem Verhält-

nis Wagners zum

realen Nürnberg des

19. Jahrhunderts

bislang nur wenig

Aufmerksamkeit ge-

schenkt. Dabei kam

Wagner mehrfach

in die Frankenmetro-

pole, in der zeitweise

seine Schwester Clara

mit ihrem Mann Hein-

rich Wolfram lebte. Hier

besuchte er das neue Stadt-

theater und hörte in der Oper „Die

Schweizerfamilie“ von Joseph Weigel

die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient.

Als 16-Jähriger hatte er sie zum ersten Mal in Beet-

hovens „Fidelio“ in Leipzig erlebt und (angeblich)

daraufhin beschlossen, Musiker zu werden. Das

Wiederhören in Nürnberg hinterließ einen weite-

ren prägenden Eindruck.

Teils lapidar, teils amüsiert, aber auch mit einem

gewissen Unwillen schildert der Musiker Anekdo-

ten und Erlebnisse während seiner Aufenthalte. In

epischer Breite beschreibt er zum Beispiel mit einer

Wirtshausrauferei ein eher banales Ereignis, das

ihn jedoch später zur „Prügelszene“ in den „Meis-

tersingern“ inspirieren wird. In der Ausstellung

hinterfragen zeitgenössische Nürnberger

Stadtansichten das romantisieren-

de Bild, das Wagner zeichnete,

denn schon damals gab es

sowohl winklige Gassen

als auch weite, offene

Plätze. Die Ausstel-

lung verdeutlicht

die verschiedenen

Selbstbilder Nürn-

bergs zwischen

mittelalterlichem

Mythos und mo-

dernem Handels-

zentrum.

Auch das damals

noch junge „Germa-

nische Museum“ sah

Wagner. Am 10. August

1861 stand es neben aller-

lei Nürnberger „Merkwürdig-

keiten“ auf dem Programm, das

er gemeinsam mit einem befreunde-

ten Journalisten und Politiker Emile Ollivier

und dessen Frau Blandine, der älteren Tochter von

Franz Liszt, absolvierte. Als sechzehnter von rund

50 Besuchern trug sich Wagner in das Besucher-

buch des Hauses ein, das das befreundete Ehepaar

ein wenig pikiert als „armselig“ bezeichnete.

Umso interessanter ist deshalb die Tatsache,

dass, bei allem anfänglichen Desinteresse, die Ori-

ginalpartitur der Meistersinger im Jahr 1902, kaum

20 Jahre nach Wagners Tod, ihre endgültige Heimat

ausgerechnet in Nürnberg, im Germanischen Natio-

nalmuseum fand.

Die Studioausstellung zeigt die mehr als 400

Seiten umfassende Wagner-Handschrift der Meis-

tersinger. Zudem erzählt sie mittels Autographen,

zeitgenössischen Graphiken und Objekten die Ge-

schichte des Werks und der Partitur in ihrem Ver-

hältnis zu Nürnberg.

Anhand des individuellen Zeugnisses des „Welt-

reisenden“ in Sachen Musik wird außerdem exem-

plarisch sichtbar, welchen Bedeutungswandel das

Germanische Nationalmuseum zwischen Wagners

Besuch 1861 und der Übergabe der Partitur im Jahr

1902 erfuhr.

Links: Michael Wolge-

mut: Tanz der Skelette,

1493

Unten: Wendel Diet-

terlin: Phantastische

Ornamentfi guren, 1615,

Germanisches National-

museum

Francisco de Goya: Der Schlaf/Traum der Ver-

nunft gebiert Ungeheuer, 1799, Privatbesitz

Wagner – Nürnberg – Meistersinger: Das Nürnberg seiner ZeitLinks: Johann Lindner:

Brustbild des Dirigen-

ten und Komponisten

Richard Wagner, 1871

Germanisches National-

museum

Paul Ritter: Refectorium im ehemaligen Kartäuserkloster, 1857, Germanisches Nationalmuseum

Hannah Höch: Der Strauß, 1929/65,

Germanisches Nationalmuseum © VG Bild-Kunst, Bonn 2012