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Nr. 44 | 4. Dezember 2012 03
Tagträume – NachtgedankenPhantasie und Phantastik in Graphik und Photographie führt zu den Wurzeln der Surrealisten
Germanisches Nationalmuseum
„Er ist so schön … wie die unvermutete Begeg-
nung einer Nähmaschine und eines Regenschirms
auf einem Seziertisch!“ Diese sinnwidrige Metapher
für die Schönheit eines
Jünglings aus Lautréa-
monts „Les Chants de
Maldoror“ aus dem Jahr
1870 regte die Surrea-
listen der 1920er Jahre
zu ihren phantastischen
Bildgedanken an.
Um die Wurzeln der Mo-
derne, speziell der Kunst
der Surrealisten, geht es
auch in der aktuellen Son-
derausstellung „Tagträu-
me – Nachtgedanken“. Als Modell diente Alfred H.
Barrs 1936/37 im Museum of Modern Art, New York,
veranstaltete legendäre Ausstellung „Fantastic Art,
Dada, Surrealism“. Unter diesem Titel zeigte der
Gründungsdirektor des MoMA Werke seiner Zeitge-
nossen in der Gegenüberstellung mit Arbeiten von
u.a. Bosch, Arcimboldo, Piranesi, Hogarth, Goya,
Grandville. Die Zusammenschau verhalf dem Surre-
alismus zu einem historischen „Stammbaum“. Ohne
Zweifel hatten die psychische Sensibilität und die
künstlerischen Methoden
der Surrealisten den Blick
auf eine lange Tradition
subjektiv-phantastischer
Kunst geöffnet, die vom
Spätmittelalter über den
Manierismus und den
Barock bis in die Moderne
reicht.
Diese Tradition greift
die Ausstellung im Ger-
manischen Nationalmu-
seum auf, die noch bis
zum 3. Februar zu sehen ist. Sie zeigt überwiegend
Blätter aus den reichen Beständen der eigenen
Graphischen Sammlung, von der Mitte des 15. Jahr-
hunderts bis etwa 1945. Auch hier sollen die Mo-
tivzusammenhänge epochenübergreifend verfolgt
werden, gegliedert in einzelne Themenbereiche.
Trotz vergleichbarer Darstellungen, die Motivati-
on der Künstler variierte: Von der Höllenangst des
christlichen Mittelalters über die Begeisterung der
Neuzeit für naturwissenschaftliche, speziell opti-
sche Phänomene bis hin zu den Ausbrüchen des
Unbewussten im Zeitalter der Vernunft.
Das Auge spielt als Bildgegenstand eine zentrale
Rolle. Seine Beschreibung als Organ der Wahrneh-
mung und Spiegelung psychischer Zustände ist eine
Erkenntnis des 18. Jahrhunderts. Damals wurde sei-
ne Anatomie und Funktionsweise zu einem Gegen-
stand der Wissenschaft. Das Auge entwickelte sich
zum Symbol für Vernunft und Erkenntnis, zugleich
gilt es bis heute als Spiegel der Seele oder Sinnbild
innerer Zustände.
Hannah Höch stellte ihre 1929 begonnene Colla-
ge „Der Strauß“ erst 1965 fertig. Aus Zeitungsaus-
schnitten gestaltete sie ein buntes Blumenbouquet,
als Blüten setzte sie zahlreiche Augen ein: weibliche
und männliche, braune, blaue und grüne, rechte
und linke. Sie vertreten nicht nur einunddreißig
verschiedene Individuen, sie nehmen auch ein-
unddreißig verschiedene Blickrichtungen ein und
schauen aus unterschiedlichen Perspektiven auf ihr
Gegenüber und ihre Umwelt. Höch, die zum engen
Kreis der Berliner Dadaisten gehörte und politisch
dachte, wollte die Gesellschaft in ihrer ganzen Wi-
dersprüchlichkeit erfassen. So lässt die Künstlerin
„ihren Blick“ schweifen und bezieht diverse Positi-
onen, um den sich daraus ergebenden Ausschnitt zu
verifi zieren und verschiedene Haltungen zur Welt
zu demonstrieren.
Daneben galt auch der Traum zu allen Zeiten und
in allen Kulturen als Fenster zu überirdischen Mäch-
ten. Der Traum offenbarte göttliche Weissagungen,
visionäre Blicke in die Zukunft, Erkenntnisse, Rat-
schläge und Erweiterungen des Bewusstseins – oft
diente er in Überlieferungen als Brücke zwischen ir-
discher und überirdischer Sphäre. Goya zeigt in sei-
ner Aquatinta „Der Schlaf/Traum der Vernunft ge-
biert Ungeheuer“ den Künstler selbst, der erschöpft
an seinem Arbeitstisch eingeschlafen ist. Um ihn
her wimmelt es von dämonischen Nachttieren, die
als dunkle Schatten aus seinen Alpträumen aufstei-
gen. Die inneren Gedankenspiele manifestieren sich
ganz real und werden zu ihn bedrohlich umgeben-
den Dämonen.
Erläutern und erzählen lässt sich viel zu diesen
phantastischen Bildwelten. Öffentliche Führungen
fi nden jeden Mittwochabend um 18 Uhr und jeden
Sonntag um 14 Uhr statt. Ein besonderes Angebot
gibt es außerdem jeden Mittwoch um 19.15 Uhr:
Die „Nachtgedanken“ richten sich an Besucher, die
sich gerne mit in die Führung einbringen möchten.
In kleinen Gruppen wird in gemeinsamem Gespräch
ein Exponat betrachtet und diskutiert. Persönliche
Sichtweisen und Ideen sind willkommen, statt eines
Monologs soll ein fruchtbarer Dialog entstehen.
„Die Meistersinger von Nürnberg“ ist Richard
Wagners (1813–1883) längste, heiterste und meist
rezipierte Oper, die er selbst mehrfach als sein bes-
tes Werk bezeichnete. Anlässlich des 200. Geburts-
tags des großen Komponisten holt das Germani-
sche Nationalmuseum die Originalpartitur aus dem
Tresor und zeigt sie ab dem 21. Februar im Rahmen
einer Studioausstellung.
In den 1868 in München uraufge-
führten Meistersingern stellt
Wagner die ideale deutsche
Stadt einer großen deut-
schen Vergangenheit dar.
Überraschenderweise
wurde dem Verhält-
nis Wagners zum
realen Nürnberg des
19. Jahrhunderts
bislang nur wenig
Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Dabei kam
Wagner mehrfach
in die Frankenmetro-
pole, in der zeitweise
seine Schwester Clara
mit ihrem Mann Hein-
rich Wolfram lebte. Hier
besuchte er das neue Stadt-
theater und hörte in der Oper „Die
Schweizerfamilie“ von Joseph Weigel
die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient.
Als 16-Jähriger hatte er sie zum ersten Mal in Beet-
hovens „Fidelio“ in Leipzig erlebt und (angeblich)
daraufhin beschlossen, Musiker zu werden. Das
Wiederhören in Nürnberg hinterließ einen weite-
ren prägenden Eindruck.
Teils lapidar, teils amüsiert, aber auch mit einem
gewissen Unwillen schildert der Musiker Anekdo-
ten und Erlebnisse während seiner Aufenthalte. In
epischer Breite beschreibt er zum Beispiel mit einer
Wirtshausrauferei ein eher banales Ereignis, das
ihn jedoch später zur „Prügelszene“ in den „Meis-
tersingern“ inspirieren wird. In der Ausstellung
hinterfragen zeitgenössische Nürnberger
Stadtansichten das romantisieren-
de Bild, das Wagner zeichnete,
denn schon damals gab es
sowohl winklige Gassen
als auch weite, offene
Plätze. Die Ausstel-
lung verdeutlicht
die verschiedenen
Selbstbilder Nürn-
bergs zwischen
mittelalterlichem
Mythos und mo-
dernem Handels-
zentrum.
Auch das damals
noch junge „Germa-
nische Museum“ sah
Wagner. Am 10. August
1861 stand es neben aller-
lei Nürnberger „Merkwürdig-
keiten“ auf dem Programm, das
er gemeinsam mit einem befreunde-
ten Journalisten und Politiker Emile Ollivier
und dessen Frau Blandine, der älteren Tochter von
Franz Liszt, absolvierte. Als sechzehnter von rund
50 Besuchern trug sich Wagner in das Besucher-
buch des Hauses ein, das das befreundete Ehepaar
ein wenig pikiert als „armselig“ bezeichnete.
Umso interessanter ist deshalb die Tatsache,
dass, bei allem anfänglichen Desinteresse, die Ori-
ginalpartitur der Meistersinger im Jahr 1902, kaum
20 Jahre nach Wagners Tod, ihre endgültige Heimat
ausgerechnet in Nürnberg, im Germanischen Natio-
nalmuseum fand.
Die Studioausstellung zeigt die mehr als 400
Seiten umfassende Wagner-Handschrift der Meis-
tersinger. Zudem erzählt sie mittels Autographen,
zeitgenössischen Graphiken und Objekten die Ge-
schichte des Werks und der Partitur in ihrem Ver-
hältnis zu Nürnberg.
Anhand des individuellen Zeugnisses des „Welt-
reisenden“ in Sachen Musik wird außerdem exem-
plarisch sichtbar, welchen Bedeutungswandel das
Germanische Nationalmuseum zwischen Wagners
Besuch 1861 und der Übergabe der Partitur im Jahr
1902 erfuhr.
Links: Michael Wolge-
mut: Tanz der Skelette,
1493
Unten: Wendel Diet-
terlin: Phantastische
Ornamentfi guren, 1615,
Germanisches National-
museum
Francisco de Goya: Der Schlaf/Traum der Ver-
nunft gebiert Ungeheuer, 1799, Privatbesitz
Wagner – Nürnberg – Meistersinger: Das Nürnberg seiner ZeitLinks: Johann Lindner:
Brustbild des Dirigen-
ten und Komponisten
Richard Wagner, 1871
Germanisches National-
museum
Paul Ritter: Refectorium im ehemaligen Kartäuserkloster, 1857, Germanisches Nationalmuseum
Hannah Höch: Der Strauß, 1929/65,
Germanisches Nationalmuseum © VG Bild-Kunst, Bonn 2012