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Working-Paper Das atomare Erbe der Ukraine Unter welchen Bedingungen die nukleare Totalabrüstung der Ukraine erfolgen konnte Marcel Röthig Der Autor ist Diplom-Politologe und arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Der Ukraine-Experte kennt das Land durch mehrere längere Forschungs- und Arbeitsaufenthalte. Zuletzt nahm er als Wahlbeobachter an den Parlamentswahlen im Oktober 2012 teil. Der Artikel gibt ausschließlich die Meinung des Autors wieder. Foto: Eine demobilisierte SS-27 (Topol-M) in Kiew, aufgenommen durch den Autor.

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Working-Paper

Das atomare Erbe der Ukraine

Unter welchen Bedingungen die nukleare Totalabrüstung der Ukraine erfolgen konnte Marcel Röthig Der Autor ist Diplom-Politologe und arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Der Ukraine-Experte kennt das Land durch mehrere längere Forschungs- und Arbeitsaufenthalte. Zuletzt nahm er als Wahlbeobachter an den Parlamentswahlen im Oktober 2012 teil. Der Artikel gibt ausschließlich die Meinung des Autors wieder.

Foto: Eine demobilisierte SS-27 (Topol-M) in Kiew, aufgenommen durch den Autor.

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„Den Kanarienvogel im Käfig braucht man nicht zu fragen, ob er frei sein will oder nicht:

Ist die Tür auf, fliegt er davon. Der Vogel hat aber keine Garantien, im Käfig war er sicher.“1

Leonid Krawtschuk im SPIEGEL-Interview 1993.

1 DER SPIEGEL 9/1993, Seite 152.

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Gliederung

1. Einleitung 4

2. Übergang und Übernahme: die Entwicklung von eigenständigen Streitkräften nach der

Unabhängigkeit der Ukraine

2.1 Probleme auf dem Weg zur militärischen Souveränität 5

2.2 Die Frage der Nuklearwaffen 7

3. „Administrative“ vs. „operative“ Kontrolle: zu den divergierenden Positionen

Russlands und der Ukraine

3.1 Unterschiedliche Definitionen 8

3.2 Die ukrainische Haltung und Forderungen an Russland 9

3.3 Fähigkeitsanalyse einer einseitigen Nutzung des Arsenals 11

4. Interne Debatten in der Ukraine 13

5. Die Bedeutung der internationalen Gemeinschaft 14

6. Der vertragliche Weg zur Abrüstung

6.1 START-I-Vertrag und Lissabonner Zusatzprotokoll 15

6.2 Die trilaterale Vereinbarung vom 14. Januar 1994 16

6.3 Der Beitritt der Ukraine zum Nichtverbreitungsvertrag 17

7. Fazit & Ausblick 18

8. Quellenverzeichnis und weiterführende Literatur 20

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1. Einleitung

Mit der formalen Desintegration der Sowjetunion erfolgte der Beginn eines bis heute

konfliktreichen Transformationsprozesses. Die Umwandlung in demokratisch und

marktwirtschaftlich orientierte Systeme erwies sich vor dem Hintergrund des „sowjetischen

Erbes“ und der Komplexitäten der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ethnischen

Problemfelder als ausgesprochen schwierig. So sah sich die internationale Gemeinschaft mit der

Auflösung der Sowjetunion und der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)

erstmals mit dem Problem des Auseinanderbrechens einer Nuklearmacht in unabhängige

Einzelstaaten konfrontiert.

Besonders die Frage zum nuklearen Status der Ukraine drohte in den Jahren unmittelbar seit

Unabhängigkeit des Landes anno 1991 zum Schauplatz einer stellvertretend geführten

Auseinandersetzung zu werden, die vorrangig nicht militärisch, sondern politisch-wirtschaftlich

motiviert war. Die Ukraine war zu diesem Zeitpunkt die quantitativ drittgrößte Nuklearmacht der

Welt und besaß -zumindest numerisch- ein beeindruckendes Abschreckungsarsenal. Dies drohte

das regionale und internationale Machtgefüge entscheidend zu beeinflussen und die noch junge

Ukraine in einer Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs frühzeitig zu isolieren. Bereits in ihrer

Souveränitätserklärung vom 16. Juli 1990 hatte die Ukraine sich deshalb dazu bekannt,

Nuklearwaffen künftig weder erhalten noch produzieren oder erwerben zu wollen und hielt auch

in ihrer Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991 an diesem Prinzip fest. Doch dauerte es

noch mehr als zehn Jahre, bis der letzte Sprengkopf demontiert wurde.2

Schnell wurde aus dem avancierten Abrüstungsziel ein zentraler Streitpunkt. Dies traf sowohl auf

die innenpolitische Ebene der Ukraine zu, da die Frage der nuklearen Abrüstung wiederholt zum

Zankapfel zwischen den einzelnen politischen Strömungen wurde, als auch auf die internationale

Ebene, in der es um die außenpolitische Ausrichtung des neuen Staates gegenüber Russland ging.

Die Abrüstungsdebatte spiegelte insgesamt die Probleme der ukrainischen Staatsbildung wider,

da die entstehende Außen- und Sicherheitspolitik eng verbunden mit den Schlüsselelementen der

ukrainischen Innenpolitik war.

Die Kernfrage dieser Arbeit lautet daher, welche innen- und außenpolitischen, technischen,

wirtschaftlichen, kulturellen und soziologischen Elemente der entstehenden Außen- und

Sicherheitspolitik zur Denuklearisierung der Ukraine führten.

Im weiteren Verlauf soll zu diesem Zweck die Entwicklung einer eigenständigen Außen- und

Sicherheitspolitik analysiert werden. Sowohl die strategische Ausrichtung gegenüber Russland, als

2 Strategic Arms Reduction Treaty (START I) Chronology: http://www.fas.org/nuke/control/start1/chron.htm vom 30.07.2010, 23:04 Uhr.

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auch die Rolle der internationalen Gemeinschaft sind zur Beantwortung der Frage zu klären.

Weiterhin bildet die Frage der technischen und organisatorischen Nutzungsfähigkeit des

vorhandenen Arsenals wie auch die innenpolitischen Konfliktlinien den Rahmen für eine

möglichst präzise Beantwortung. Darauf aufbauend soll der vertragliche Weg hin zur nuklearen

Totalabrüstung erläutert werden. Die Methodik beschräkt sich aufgrund des vorgegebenen

Umfanges und des Forschungsgegenstandes auf eine Analyse von Sekundär- und Primärquellen.

Zur Beantwortung der Frage ist es angemessen, einen inhaltlichen Fokus verstärkt auf die

Abrüstungsdebatte um die strategischen Nuklearwaffen zu setzen. Gleichwohl verfügte die

Ukraine auch über taktische Nuklearwaffen, jedoch wurden diese bereits im Frühjahr 1992

vollständig zwecks ihrer Demontage aus der Ukraine abgezogen.3 Die strategischen

Nuklearwaffen hingegen waren über Jahre hinweg Gegenstand innen- und außenpolitischer

Auseinandersetzungen, was auf die Frage des Verbleibes der taktischen Nuklearwaffen nur in

wesentlich geringerem Maße zutrifft.4

Die These dieses Artikels lautet, dass die lange Abwägung von Vor- und Nachteilen eines eigenen

Nuklearwaffenarsenals aus sicherheits-, status- und verhandlungspolitischen Gründen letztlich

zur nuklearen Demobilisierung der Ukraine führte.

2. Übergang und Übernahme: die Entwicklung von eigenständigen Streitkräften nach

der Unabhängigkeit der Ukraine

2.1 Probleme auf dem Weg zur militärischen Souveränität

Nach der Unabhängigkeit fußte die ukrainische Sicherheitspolitik auf zwei Grundprinzipien:

Neutralität und nuklearwaffenfreier Status.5 Angesichts der Tatsache, dass sich neben einem

enormen konventionellen Arsenal und der herausragenden Rolle der Rüstungsindustrie auch ein

nukleares Waffenpotential auf dem Territorium der Ukraine befand, hat sich die Realisierung des

zweiten Grundprinzips als besonders schwierig erwiesen.

Die Rolle der Streitkräfte im politischen System war von Anfang an zentral. Diese Politik lässt

sich vor dem Hintergrund der ukrainisch-russischen Geschichte verstehen. Während des letzten

und zugleich gescheiterten Unabgängigkeitsversuches nach der Oktober-Revolution 1917/18

hatte die Ukraine bewusst auf eigene Streitkräfte verzichtet. Diese folgenschwere Politik sollte

sich nicht wiederholen. Deshalb konnten aus ukrainischer Sicht Souveränität und Unabhängigkeit

nur durch ein von Russland unabhängiges Militär garantiert werden. Diese militärische Absicht

3 Slenko, Anatoli (1993): Die Sicherheit der Ukraine und das nukleare Dilemma. In: NATO-Brief 41 (1993), 4, S. 14. 4 Vgl.: Shevtsov, A. (2000): Tactical nuclear weapons. A perspective from Ukraine. United Nations Institute for Disarmament Research, Geneva. 5 Babst, Stefanie/Schaller, Heribert (1993): Die Ukraine- ein nukleares Sicherheitsrisiko? In: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 42 (1993), 9, S. 448.

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wurde bereits in der Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben.6 Trotz diplomatischer

Schwierigkeiten mit Russland, wie etwa die Frage der Stationierung russischer Truppen und dem

Status der Schwarzmeerflotte, verlief der Weg in die Unabhängigkeit sehr geordnet. So legten

neben den ukrainischen Staatsangehörigen auch zahlreiche Angehörige der russischen Streitkräfte

ihren Eid auf die Verfassung der Ukraine ab und auch der bis zum Herbst 1993 amtierende

Verteidigungsminister Morosow war wie zahlreiche andere Verantwortungsträger (ürbigens bis

heute) ein gebürtiger Russe.7

Mit den Standorten Dnjepropetrowsk (Interkontinentalraketen) und Pawlograd

(Feststoffraketenantriebe) hatte die Ukraine zudem eine zentrale Rolle in der Produktion von

Trägersystemen für die Sowjetunion.8 Hier wurden Interkontinentalraketen des Typs SS-24,

sowie Blockierungssysteme produziert.9 Insgesamt „erbte“ die Ukraine ca. 30 Prozent der

sowjetischen Rüstungsindustrie. Zugleich waren Anfang der 1990er Jahre 60 Prozent aller

ukrainischen Unternehmen im Rüstungsgeschäft aktiv und gut 40 Prozent aller Beschäftigten in

diesem Bereich angestellt.10 Noch im Jahr 1993 wurden etwa 40 Prozent der öffentlichen

Haushalte für die Unterstützung der Rüstungsindustrie aufgebracht (bei gleichzeitig etwa 20

Prozent für soziale Leistungen).11 Obwohl der Anteil am militärisch-industriellen Komplex

vergleichsweise hoch war, war die Mehrheit dieser Betriebe hingegen nicht in der Herstellung der

Produkte involviert. Vielmehr hatte die Ukraine eine zentrale Bedeutung in der Forschung und

Entwicklung neuer militärisch relevanter Technologien. So war die Ukraine führend in der

Raketentechnik, bei Navigationssystemen, der Elektronik und der Radartechnik.12

Die Streitkräfte waren mit Auflösung der Sowjetunion in einem schlechten Zustand. So gab es

unmittelbar nach der Unabhängigkeit mehr als zehntausend polizeilicher Beschlagnahmungen

von Waffen infolge von Disziplinlosigkeit und unzureichender Bewachung von Waffenlagern.13

Aufgrund finanzieller Engpässe war zudem eine Truppenreduzierung von mehr als 700.000 auf

zwischenzeitlich 500.000 bis schließlich ca. 220.000 Mann vonnöten, was für ein enormes

Absinken der Truppenmoral und einen starken sozialpolitischen Druck sorgte.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass mit Beginn der Unabhängigkeit den Streitkräften eine

tragende Rolle zukam. Gleichzeitig mussten diese jedoch den neuen sicherheitspolitischen und

6 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 23. 7 Ebenda, S. 23. 8 Babst, Stefanie/Schaller, Heribert (1993): Die Ukraine- ein nukleares Sicherheitsrisiko? In: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 42 (1993), 9, S. 448. 9 Jung, Monika (2000): Die nukleare Abrüstung der Ukraine 1991-1996. Ein Lehrstück der ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik. Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung, Bonn, S. 20. 10 Fiebig, Wolfgang (1995): Ukrainische Liebeserklärung an die Bombe. In: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 44 (1995), 4, S. 26. 11 Ebenda, S. 26. 12 Ebenda, S. 26. 13 Ebenda, S. 27.

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finanziellen Rahmenvorstellungen angepasst werden. Zudem forderten die Entmilitarisierung der

Rüstungsindustrie und die Umstellung der Produktion auf zivile Güter einen hohen Tribut von

der jungen und reformbedürftigen ukrainischen Volkswirtschaft.

2.2 Die Frage der Nuklearwaffen

Zu dieser schwierigen Transformationsphase für Militär und Rüstungswirtschaft kam die

Tatsache, dass die Ukraine mit dem Erreichen der Souveränität über ca. 1.700 strategische

Atomsprengköpfe verfügte. Im Land befanden sich zudem Interkontinental-Raketen des Typs

SS-19 und SS-24. Die SS-19 ist eine silo-gestützte Festtreibstoff-Rakete (Heptyl) und war mit

sechs Atomsprengköpfen versehen. Die Reichweite beträgt eine Distanz von bis zu 10.000 km.

Im Herbst 1991 verfügte die Ukraine an den Standorten Chmelnitzki und Perwomaisk über 130

solcher Raketen. Die SS-24 ist ebenfalls eine silo-gestützte Rakete mit 10 Atomsprengköpfen. Die

Reichweite liegt in einer Spannweite von minimal 3.500 km bis circa 11.000 km. Die 46 Raketen

dieses Typs waren ebenfalls in Perwomaisk stationiert.14

Hinzu kommt ein bedeutendes Arsenal an strategischen Bombern. Diese umfassten laut des

amerikanischen Verteidigungsministeriums 14 Maschinen des Typs TU-95 mit einer Anzahl von

bis zu 16 Marschflugkörpern großer Reichweite im Luftwaffenstützpunkt Usin und 16

einsatzbereite Bomber des Typs TU-160 mit einer Tragfähigkeit von bis zu 12

Marschflugkörpern in Priluki.15

Über den weiteren Verbleib des ehemals sowjetischen Arsenals sind zwei Vertragswerke relevant:

Am 30. Dezember 1991 erkannten die GUS-Staaten in der „Minsker Vereinbarung der Mitglieder

der Gemeinschaft unabhängiger Staaten über strategische Streitkräfte“ zunächst eine koordinierte

Kontrolle und ein einheitliches Kommando über die Nuklearwaffen an.16 Außerdem schrieb das

Abkommen von Alma-Ata vom 21. Dezember 1991 fest, dass der russische Präsident die

Entscheidung über einen Nuklearwaffeneinsatz nur in Absprache mit den Staatsoberhäuptern

von Belarus, der Ukraine und Kasachstan fällen durfte.17 Kontrolle und

Entscheidungsabstimmung waren also bereits frühzeitig festgeschrieben.

14 Kincade, William H. (1993): Nuclear weapons in Ukraine: hollow threat, wasting asset. In: Arms control today. A Publication of the Arms Control Association 23 (1993), 6, S. 14. 15 Jung, Monika (2000): Die nukleare Abrüstung der Ukraine 1991-1996. Ein Lehrstück der ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik. Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung, Bonn, S. 20. 16 Petersen, Mike (1993): Die Zukunft der Atomwaffen in der GUS: Ansprüche Russlands, der Ukraine, Belarus` und Kasachstans auf die ehemals sowjetischen Kernwaffenarsenale. In: Osteuropa: interdisziplinäre Monatszeitschrift zur Analyse von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeschichte in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa 43 (1993), 11, S. 1073. 17 Alexandrova, Olga (1994): Russland als Faktor ukrainischer Sicherheitsvorstellungen. In: Außenpolitik: German foreign affairs review 45 (1994), 1, S. 74.

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Das qualitative nukleare Potenzial der Ukraine war also zu jener Zeit ein sehr hohes. Gleichwohl

muss jedoch auch die technische und organisatorische Fähigkeit des Aufrechterhaltens einer

unabhängigen Abschreckungsfähigkeit näher betrachtet werden, was im Laufe dieses Artikels

noch in Punkt 3.3 geschehen wird. Die Vertragswerke von Minsk und Alma Ata lassen jedoch

bereits vorab darauf schließen, dass die Kontrolle bereits von Anfang an verschränkt war und es

nur wenig Spielraum einer eigenen Nutzung gab.

3. „Administrative“ vs. „operative“ Kontrolle der ukrainischen Nuklearwaffen: zu den

divergierenden Positionen Russlands und der Ukraine

3.1 Unterschiedliche Definitionen

Der formale Status der strategischen Nukleartruppen als dem GUS-Oberkommando unterstellte

Teilstreitkraft verhinderte seinerzeit eine vollständige Loslösung der Ukraine von den

militärischen Strukturen der GUS und somit von einer unabhängigen Verfügungsgewalt.

Am 2. April 1992 sagte sich die Ukraine jedoch formal von diesen Abmachungen los und

unterstellte sämtliche Militäreinheiten auf dem eigenen Territorium seiner Kontrolle. Dies betraf

auch die bisher dem GUS-Oberkommando unterstehenden strategischen Truppen. Wichtig ist

jedoch, dass die Ukraine in der Atomfrage zwischen „administrativer“ und „operativer“

Kontrolle unterschied. Die „administrative Kontrolle“ sollte von nun an von der Ukraine

ausgeübt werden, wohingegen das Kommando- und Kontrollsystem - also die eigentliche

Einsatzkontrolle - beim Oberkommando der GUS verblieb.18 Die deklarierte ukrainische

Zuständigkeit für Personal, Versorgung und Finanzierung dieser Kräfte stieß jedoch auf

Widerstand aus Russland. Der Oberkommandierende der strategischen Streitkräfte der GUS,

Jurij Maksimow, warf der Ukraine vor, sie würde unter Missachtung des

Nichtverbreitungsvertrages die alleinige Verfügungsgewalt über die Nuklearwaffen anstreben.

Der damalige ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk und Ministerpräsident Leonid Kutschma

konterten, dass die Ukraine nur die „negative“ Kontrolle bei sich wissen möchte und damit ein

Blockadesystem gegen einen von ihr nicht autorisierten Einsatz errichten will.19

Das gemeinsame GUS-Oberkommando wurde in der Folgezeit aufgelöst. Russland nahm im

Zuge dessen die Haltung an, dass mit seiner Auflösung die Atomcodes offiziell an das russische

18 Petersen, Mike (1993): Die Zukunft der Atomwaffen in der GUS: Ansprüche Russlands, der Ukraine, Belarus` und Kasachstans auf die ehemals sowjetischen Kernwaffenarsenale. In: Osteuropa: interdisziplinäre Monatszeitschrift zur Analyse von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeschichte in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa 43 (1993), 11, S. 1076. 19 Ebenda, S. 1076.

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Verteidigungsministerium abzugeben seien, was für zusätzliche Spannungen sorgte.20 Die

Position Russland beruhe laut dem ehemaligen ukrainischen Außenminister Anatoli Slenko auf

der Annahme, dass Russland bezogen auf die ehemals sowjetischen Kernwaffen sich als einzigen

Rechtsnachfolger der Sowjetunion sah und somit allein über die Eigentumsrechte an diesen

Waffen verfügen würde. Die Nuklearwaffen in der Ukraine stünden also aus russischer Sicht

unter russischer Hoheitsgewalt und uneingeschränkter Kontrolle.21

Ein eigentlicher Grund für dieses Misstrauen lässt sich jedoch auch in der Frage der staatlichen

Souveränität der Ukraine sehen. So hatten zahlreiche russische Politiker und Militärs

Schwierigkeiten in der Anerkennung einer unabhängigen Ukraine. Die Ukrainer galten in der

sowjetischen Propaganda als sogenannte „Kleinrussen“ und somit als Teil eines unzertrennlichen

slawischen Brudervolkes.22 Diese Souveränitätsangst sorgte für ein Erstarken der Kräfte in der

Ukraine, die ein Beibehalten der nuklearen Abschreckung befürworteten. Unterstützt wurde diese

Stimmung zusätzlich durch die ökonomische Abhängigkeit der Ukraine von russischen

Energielieferungen, die oft mit sicherheitspolitischen Forderungen verbunden wurde. Davon sah

sich die Ukraine unter Druck gesetzt.23

Die Ukraine widersetzte sich aus Sicherheitsüberlegungen und aus ökonomischem Kalkül dem

russischen Alleinanspruch und differenzierte in der Atomfrage zwischen Eigentum und Besitz.

Mit dem Eigentum wurde klargestellt, dass somit im Falle der Zerstörung der Kernwaffen ein

ökonomischer Profit sichergestellt werden konnte. Hier lässt sich einfügen, dass Borys Tarasjuk,

ehemaliger Außenminister der Ukraine, die Nuklearwaffen in einem Interview als

„Vermögenswert“ bezeichnete.24 Die Kontrolle hingegen wurde formal nicht angestrebt.

Rückwirkend auf die Frage, unter welchen Bedingungen die Abrüstung erfolgte, lässt sich somit

feststellen, dass erst nach Sicherstellung eines ökonomischen Ausgleichsanspruchs und einer

sicherheitspolitischen Absicherung die Abrüstung erfolgen konnte.

3.2 Die ukrainische Haltung und Forderungen an Russland

Für die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen einer vollständigen nuklearen Abrüstung

lassen sich bezogen auf die ukrainische Haltung drei Motive unterscheiden: sicherheits- status-

und verhandlungspolitische Motive.

20 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 28. 21 Slenko, Anatoli (1993): Die Sicherheit der Ukraine und das nukleare Dilemma. In: NATO-Brief 41 (1993), 4, S. 14. 22 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 24. 23 Ebenda, S. 26. 24 Jung, Monika (2000): Die nukleare Abrüstung der Ukraine 1991-1996. Ein Lehrstück der ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik. Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung, Bonn, S. 109.

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Die sich seit der ukrainischen Staatsgründung kontinuierlich verschlechternden Beziehungen zu

Russland erzeugten eine konkrete Bedrohungswahrnehmung auf ukrainischer Seite, zumal

russische Politiker die Unabhängigkeit der Ukraine zu jener Zeit häufig als nur „zeitliches

Phänomen“ betrachteten.25 Daraus entstand ein Gefühl der nationalen Verwundbarkeit und

militärischer Schwäche. Dieses sicherheitspolitische Motiv wurde durch die Territorialkonflikte,

etwa auf der Krim, zusätzlich angeheizt. Eine nukleare Abrüstung konnte also nur erfolgen,

nachdem das sicherheitspolitische Motiv ausgeschaltet wurde, etwa durch Sicherheitsgarantien,

Wirtschaftswachstum oder verbesserte bilaterale Beziehungen zu den Nachbarstaaten.

Der Besitz von Nuklearwaffen bedeutet stets einen Prestigegewinn. Die Schwächung dieses

statuspolitischen Motivs musste folglich vor einer eventuellen Abrüstung erfolgen. Bei einem

Weiterbesitz der strategischen Arsenale hätte der Ukraine eine internationale Isolierung gedroht,

was dieses Motiv entkräftete.

Zuletzt gilt das verhandlungspolitische Motiv. Die destabilisierende Wirkung eines

Abschreckungspotenzials in einem Nachfolgestaat einer zerbrochenen Atommacht bescherte der

Ukraine einen sogenannten „bargaining chip“.26 Für die Herausgabe dieser „geerbten“ Arsenale

konnte die Ukraine somit Sicherheitsgarantien, finanzielle Kompensation und Wirtschaftshilfen

verlangen.

Aus diesen Motiven resultierte auch die Verhandlungsposition der ukrainischen Seite. Laut

Anatoli Slenko war man bereit, einer Demontage auf russischem Territorium zuzustimmen. Dies

konnte jedoch nur im Tausch gegen finanzielle oder wirtschaftliche Entschädigungen (etwa in

Form von Brennelementen für ukrainische Kernkraftwerke) erfolgen.27 Die Ukraine verfügte

über keine eigenen Anlagen zur Demobilisierung nuklearer Sprengköpfe und war von daher in

dieser Frage auf russische Kooperation angewiesen. Da diese jedoch aufgrund der diplomatischen

Spannungen nur in geringem Maße funktionierte, ersuchte die Ukraine bald die internationale

Gemeinschaft um Hilfe.28

Bis zur Demobilisierung bestand die Ukraine strikt auf eine gemeinsame operative Kontrolle.

Dies beinhalte nach Krawtschuks Position nicht nur eine „positive“ (also einsatzbezogene),

25 Umbach, Frank (1994): Die nukleare Rüstungskontrollproblematik und die Rolle der USA im postsowjetischen Raum. In: Zwischen Krise und Konsolidierung: gefährdeter Systemwechsel im Osten Europas. Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, München. S. 364. 26 Petersen, Mike (1993): Die Zukunft der Atomwaffen in der GUS: Ansprüche Russlands, der Ukraine, Belarus` und Kasachstans auf die ehemals sowjetischen Kernwaffenarsenale. In: Osteuropa: interdisziplinäre Monatszeitschrift zur Analyse von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeschichte in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa 43 (1993), 11, S. 1070. 27 Slenko, Anatoli (1993): Die Sicherheit der Ukraine und das nukleare Dilemma. In: NATO-Brief 41 (1993), 4, S. 14. 28 Mehr zu dieser Rolle unter Punkt 5 dieser Arbeit.

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sondern auch eine „negative“ Kontrolle zur Blockierung eines Einsatzes. Genau dazu war aber

das russische Verteidigungsministerium in Krawtschuks Wahrnehmung niemals bereit.29

Die wirtschaftliche Krise in der Ukraine verschärfte sich Anfang der 1990er Jahre zusehends.

Durch die hohe Importabhängigkeit von russischen Energieträgern (zu jener Zeit mehr als 90

Prozent)30 rückte die Frage der wirtschaftlichen Sicherheit verstärkt in die Wahrnehmung der

ukrainischen Politik. Im Jahr 1993 äußerte sich Leonid Krawtschuk mit den Worten: „Die

Ukraine durchläuft derzeit eine schwere wirtschaftliche Krise. Setzen wir jetzt unseren ganzen

Haushalt für die Raketenverschrottung ein, würde das unser Volk nicht verstehen. Man muss uns

also helfen.“31 Zudem wurde der Wert des zur Abrüstung bestimmten Kernmaterials auf 20. Mrd.

US-Dollar kalkuliert.32 Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass man auf

wirtschaftliche und finanzielle Kompensation hoffte.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zur Beantwortung der Frage vor allem das

verhandlungspolitische Motiv überwiegt. Die damalige ukrainische Regierung zögerte die

angekündigte Abrüstung heraus, um für die Herausgabe des Arsenals Sicherheitsgarantien und

finanzielle und wirtschaftliche Kompensationen zu erhalten.

3.3 Fähigkeitsanalyse einer einseitigen Nutzung des Arsenals

Wie bereits erläutert, wurden die strategischen Truppenteile dem ukrainischen

Verteidigungsministerium unterstellt und Soldaten und Offiziere legten ihren Eid auf die

ukrainische Verfassung ab. Zwar wurde im ukrainischen Generalstab auch ein Zentrum für

strategische Planungen geschaffen, doch war die Ukraine zu keinem Zeitpunkt in der Lage, selbst

bei verändertem politischem Willen eine operative Kontrolle zu erlangen. Zwar verfügte Kiew

über die politische Kontrolle, jedoch konnte man nie die technische Alleinkontrolle erreichen.

Anders als im Fall der Raketentechnik befanden sich sämtliche relevanten Forschungsinstitute

und Produktionsstätten für brauchbares nukleares Material in Russland. Die Ukraine verfügte

zudem über keine Frühwarnsysteme oder Zielzuweisungssatelliten.33 Neben den Entwicklungs-

und Aufrechterhaltungskapazitäten ist zudem der Besitz eines umfangreichen Kommando- und

Kontrollsystems vonnöten, um eine eigene Abschreckung zu installieren. Eine solche Struktur

29 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 24. 30 Alexandrova, Olga (1994): Russland als Faktor ukrainischer Sicherheitsvorstellungen. In: Außenpolitik: German foreign affairs review 45 (1994), 1, S. 72. 31 DER SPIEGEL 9/1993, Seite 152. 32 Strekal, Oleg (1993): Atomare Versuchungen der Ukraine. In: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 42 (1993), 3, S. 128. 33 Ebenda, S. 128.

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befand sich in der Ukraine jedoch nicht.34 Eine „Nationalisierung“ des „nuklearen Erbes“ hätte

die Ukraine an den Rand der finanziellen und organisatorischen Leistungsfähigkeit gebracht.

Auch wäre eine langfristige Nutzung nur schwer möglich gewesen, da Sprengköpfe in

regelmäßigen Abständen erneuert werden müssen. Auch hierfür fehlte es an Infrastruktur.35

Finanziell wurde der Aufbau eines eigenen Nuklearprogramms auf 40 Mrd. US-Dollar beziffert,

was zur damaligen Zeit 6-8 Prozent des Staatshaushaltes ausgemacht hätte.36

Erschwert wurde die ohnehin schon komplizierte Instandhaltung durch die ukrainisch-russischen

politischen Differenzen, die Anfang 1994 dazu führten, dass keine Wartungsarbeiten der

ukrainischen Raketen durch russische Ingenieure mehr durchgeführt wurden.37 Zuvor wurden

Ersatzteile und Wartungsexperten ausschließlich durch Russland gestellt und 40 % der

Wartungsbetriebe befanden sich in Russland.38 Die Personalsituation in der Entwicklung und

Wartung des nuklearen Arsenals war durch die Wirtschaftskrise in sehr schlechtem Zustand.

Damit nahm auch das Problem der „brain proliferation“ zu, die sich aus den schlechten Arbeits-

und Lebensbedingungen der Wissenschaftler und Ingenieure ergab.39

Weiterhin verfügte nur der russische Generalstab über die Zugangs- und Autorisierungscodes der

Nuklearwaffen.40 Das ukrainische Militär hätte die Codes zuvor brechen und vollständig erneuern

müssen. Es ist fraglich, ob Moskau eine solche Anstrengung ohne Reaktion hingenommen hätte.

Die Ukraine besaß also zu keinem Zeitpunkt weder die technische, noch die organisatorische

Möglichkeit der Einrichtung und Aufrechterhaltung einer eigenen, unabhängigen nuklearen

Abschreckung. Dieser Fakt ist eine Hauptbegründung für die vollständige Abrüstung des

Arsenals. Bei der ukrainischen Abrüstung handelte es sich um eine Zwangsläufigkeit, die sich aus

den technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ergab. Die Ukraine besaß nicht das

Potenzial für eine Atommacht.

34 Petersen, Mike (1993): Die Zukunft der Atomwaffen in der GUS: Ansprüche Russlands, der Ukraine, Belarus` und Kasachstans auf die ehemals sowjetischen Kernwaffenarsenale. In: Osteuropa: interdisziplinäre Monatszeitschrift zur Analyse von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeschichte in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa 43 (1993), 11, S. 1073. 35 Strekal, Oleg (1993): Atomare Versuchungen der Ukraine. In: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 42 (1993), 3, S. 129. 36 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 27. 37 Meiers, Franz-Josef (1995): Perspektiven strategischer Rüstungskontrolle. In: Sicherheitspolitik für Europa zwischen Konsens und Konflikt: Analysen und Optionen. Hrsg.: Erhard Forndran/Hans Dieter Lemke, S. 185. 38 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 26. 39 Babst, Stefanie/Schaller, Heribert (1993): Die Ukraine- ein nukleares Sicherheitsrisiko? In: Europäische Sicherheit: Politik, Wirtschaft, Technik, Streitkräfte 42 (1993), 9, S. 449. 40 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 26.

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4. Interne Debatten in der Ukraine

Die letztlich erfolgte Abrüstung hatte auch innenpolitische Hintergründe. Präsident Krawtschuk

geriet in der Abrüstungsdebatte zunehmend unter innenpolitischen Druck der oppositionellen

Nationalisten und Nationaldemokraten. Ihm wurde vorgeworfen, er würde zu inkonsequent die

Interessen des neuen, unabhängigen, souveränen Staates gegen Russland verteidigen.41 Der

Eigentumsanspruch und die Forderung nach Kompensationen und Sicherheitsgarantien wurden

zum Mittel des Präsidenten, seinen innenpolitisch geschwächten Einfluss zurückzuerobern. Diese

innenpolitischen Auseinandersetzungen hatten zur Folge, dass die parlamentarischen

Verhandlungen über die Ratifizierung des START-1-Abkommens über Jahre hinweg verzögert

wurden.42 Aufgrund der sich verschlechternden Beziehungen mit Russland gab es zunehmend

mehr Abgeordnete, die das Nuklearwaffenarsenal nicht nur als „bargaining chip“ sahen, sondern

auch als mögliche künftige Abschreckung gegenüber Russland. Die Zukunft der Krim und der

weitere Verbleib der Schwarzmeerflotte lieferten den Nuklearwaffenbefürwortern weitere

Argumente. Entsprechend wurde die ukrainische Regierung aus Parlamentskreisen und der

Öffentlichkeit zunehmend unter Druck gesetzt.43

Wirtschaftlich jedoch war die Ukraine auf internationale Hilfen und ein gutes Verhältnis zu

Russland angewiesen. Das Risiko einer Isolation konnte die Regierung zu keinem Zeitpunkt

eingehen. Im Jahr 1993 betrug die Inflationsrate monatlich ungefähr 90 Prozent und der

Produktionsrückgang betrug infolge des Zusammenbruchs des sowjetischen Wirtschaftsraumes

etwa 85 Prozent.44 Trotz des politischen Drucks unterstützte die Mehrheit der Bevölkerung die

Abrüstungsbestrebungen. Im Jahr 1994 sprachen sich in einer Umfrage nur 36 Prozent für den

Nuklearstatus der Ukraine aus.45 Ein Nuklearprogramm ließ sich somit kaum aufrechterhalten.

Die Abrüstung wurde mit der Wahl des ehemaligen Premierministers Leonid Kutschma zum

neuen Präsidenten erleichtert. Ihm gelang es, den Widerstand im Parlament zu überwinden und

die entscheidenden Abrüstungsvereinbarungen (siehe Punkt 6 dieser Arbeit) umzusetzen. Die

Abrüstung erfolgte also auch unter innenpolitischen Bedingungen, da mit dem Wechsel hin zum

autoritärer regierenden Kutschma auch eine Annährung an Russland erfolgte, die die

Durchführung der Totalabrüstung beschleunigte.

41 Jung, Monika (2000): Die nukleare Abrüstung der Ukraine 1991-1996. Ein Lehrstück der ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik. Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung, Bonn, S. 86. 42 Ebenda, S. 157. 43 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 24. 44 Meiers, Franz-Josef (1995): Perspektiven strategischer Rüstungskontrolle. In: Sicherheitspolitik für Europa zwischen Konsens und Konflikt: Analysen und Optionen. Hrsg.: Erhard Forndran/Hans Dieter Lemke, S. 179-180. 45 Alexandrova, Olga (1994): Russland als Faktor ukrainischer Sicherheitsvorstellungen. In: Außenpolitik: German foreign affairs review 45 (1994), 1, S. 76.

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5. Die Bedeutung der internationalen Gemeinschaft

Zur Überwindung der Wirtschaftskrise war die Ukraine auf internationale Hilfe angewiesen. Laut

Anatoli Slemko waren „sowohl die äußere Sicherheit als auch die innenpolitische Stabilität der

Ukraine davon abhängig, dass sich die internationale Staatengemeinschaft und vor allem die

NATO-Staaten aktiv an der Lösung dieser […] Probleme beteiligen.“46 Die Ukraine war

angesichts der Haushaltslage kaum in der Lage, die Demontage ihrer Nuklearwaffen zu

gewährleisten. Krawtschuk schlug deshalb im Jahr 1993 einen internationalen Fonds vor, der die

nukleare Abrüstung der Ukraine regulieren sollte.47 Da die USA im Jahr 1992 eine Summe von 5

Mrd. US-Dollar für den Ankauf von bei der Demontage freigewordenem Uran an Russland

überwiesen, wurde die Hoffnung auf einen Verkauf des eigenen Urans verstärkt.48 Die USA

hatten zunächst Anfang der 1990er Jahre eine sogenannte „Russia-First-Politik“ betrieben. Dabei

fühlte sich die ukrainische Regierung übergangen.49 Das Interesse der USA lag darin, Russland als

„atomaren“ Nachfolger der Sowjetunion zu etablieren. Anfang Mai 1993 kündigte die US-

Regierung an, dass ihr Ansatz, sich vorrangig auf die Interessen Russlands zu konzentrieren, nicht

das gewünschte Ergebnis gehabt habe.50 Die USA gaben ihre Fixierung auf Russland auf und

setzten in der Folgezeit auf einen breiteren Dialog mit der Ukraine, um den

Abrüstungsbemühungen Nachdruck zu verleihen und stockten im Oktober 1993 ihre relevanten

Haushaltsmittel auf 330 Mio. US-Dollar auf.51

Neben den Forderungen nach finanziellen Kompensationen verlangte die Ukraine - mit dem

Verweis auf die sowjetische Intervention in Afghanistan - von der internationalen

Staatengemeinschaft auch Sicherheitsgarantien. Diese umfassten Garantien der territorialen

Integrität, der Nichtanwendung von oder Drohung mit Gewalt und die Verwerfung jedweder

Form von politisch motiviertem wirtschaftlichen Druck.52 Der Westen war jedoch vorerst nur zu

„negativen“ (allenfalls politisch verbindlichen) und nicht zu „positiven“ (auch völkerrechtlich

bindenden) Sicherheitsgarantien bereit.53

46 Slenko, Anatoli (1993): Die Sicherheit der Ukraine und das nukleare Dilemma. In: NATO-Brief 41 (1993), 4, S. 11. 47 Ebenda, S. 13. 48 Petersen, Mike (1993): Die Zukunft der Atomwaffen in der GUS: Ansprüche Russlands, der Ukraine, Belarus` und Kasachstans auf die ehemals sowjetischen Kernwaffenarsenale. In: Osteuropa: interdisziplinäre Monatszeitschrift zur Analyse von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeschichte in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa 43 (1993), 11, S. 1078. 49 Jung, Monika (2000): Die nukleare Abrüstung der Ukraine 1991-1996. Ein Lehrstück der ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik. Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung, Bonn, S. 84. 50 Ebenda, S. 161. 51 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 32. 52 Ebenda, S. 30. 53 Ebenda, S. 30.

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Von zentraler Bedeutung für die Beantwortung der Frage ist folglich das Umdenken in der US-

Außenpolitik hin zur Einsicht, dass die Sicherheit des neuen Staates eng mit der Atomfrage

verbunden war. Die USA übten zunächst im Schulterschluss mit Russland Druck auf die nukleare

Abrüstung der Ukraine aus, was dort für eine Verhärtung der Positionen und zur Formulierung

immer neuer Bedingungen beitrug.54 Mit dem unter der Regierung Clinton entwickelten neuen

Verständnis konnte der Prozess der Abrüstung erleichtert werden, da finanzielle Mittel und

(„negative“) Sicherheitsgarantien den ukrainischen Widerstand abbauen konnten.

6. Der vertragliche Weg zur Abrüstung

6.1 START-I-Vertrag und Lissabonner Zusatzprotokoll

Der START-I-Vertrag vom 31. Juli 1991 war noch vor der Auflösung der Sowjetunion

unterzeichnet worden. Entsprechend war er nicht für die Nachfolgestaaten vorgesehen. Erst mit

dem Lissabonner Protokoll vom 23. Mai 1992 wurde der START-1-Vertrag auch für die Ukraine

verpflichtend. Doch verfolgte die Ukraine bei der Implementierung des Vertrages zunächst eine

Politik des hinhaltenden Widerstandes. Dieses Verhalten entsprang den bereits erläuterten

Bedrohungsvorstellungen, innenpolitischen Schwierigkeiten und dem Bemühen um eine höhere

westliche Aufmerksamkeit. Erst am 18. Oktober 1993 erfolgte die Ratifizierung des

Vertragswerkes. Mehrfach konnte das Parlament die Ratifikation aufschieben.

Durch die späte Ratifizierungsentscheidung des Parlamentes wurde aber auch der Weg frei für

umfangreiche Wirtschaftshilfen aus dem knapp 1 Mrd. US-Dollar umfassenden Nunn-Lugar-

Programm für die Abrüstung und die Vernichtung der Trägersysteme. Zusätzlich konnte die

Ukraine jetzt mit Mitteln der Weltbank, der Europäischen Union und Japan rechnen.55

Eine vollständige Abrüstung erfolgte mit dem START-1-Vertrag jedoch noch nicht, da nach

Auffassung des ukrainischen Parlamentes das Vertragswerk nur zur Reduzierung des Arsenals um

42 Prozent verpflichten würde. Dies sollte primär die älteren 130 SS-19-Raketen betreffen, nicht

jedoch die moderneren SS-24-Raketen.56 Das Lissabonner Protokoll wurde an zahlreichen Stellen

nur sehr vage formuliert. Es löste nicht die Frage des Eigentums und der Kontrolle der

54 Ehrhart, Hans-Georg (1997): Der Westen und die Ukraine. In: Europäische Rundschau: Vierteljahresschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte 25 (1997), 2, S. 50. 55 Umbach, Frank (1994): Die nukleare Rüstungskontrollproblematik und die Rolle der USA im postsowjetischen Raum. In: Zwischen Krise und Konsolidierung: gefährdeter Systemwechsel im Osten Europas. Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, München. S. 367. 56 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 28.

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Nuklearwaffen und beinhaltete keinen Bezug zwischen dem START-1-Vertrag und dem Beitritt

zum Atomwaffensperrvertrag.57

Die Ratifizierung erfolgte also verspätet und nur unter den erläuterten Bedingungen. Dies musste

als Fortentwicklung der ukrainischen Position gewertet werden, denn das Verknüpfen mit

Bedingungen stellte die völkerrechtliche Gültigkeit des Vertragswerkes abschließend in Frage, da

die Substanz des Vertrages verändert wurde. Eine rasche Implementierung konnte durch diese

Bedingungen nicht erfolgen und die Aufgabe nur eines Teils der in der Ukraine befindlichen

Sprengköpfe und Trägersysteme wurde festgeschrieben. Diese Teilabrüstung widersprach jedoch

den konkreten Bestimmungen des START-1-Vertragswerkes, da der Vertrag überhaupt keine

prozentualen Festlegungen über Reduzierungen, sondern über Obergrenzen von Trägersystemen

und Gefechtsköpfen verfügte.58

6.2 Die trilaterale Vereinbarung vom 14. Januar 1994

Erst mit der trilateralen Vereinbarung konnte ein wirklicher Durchbruch in der nuklearen

Abrüstung der Ukraine erfolgen. Ermöglicht wurde dieser durch eine stärkere Berücksichtigung

der sicherheitspolitischen Befürchtungen der Ukraine gegenüber Russland und durch die Ende

1993 immer kritischer werdende wirtschaftliche Situation in der Ukraine, die eine Kooperation

mit Russland und den westlichen Staaten fast zwingend erforderlich machte.59 Russland

unterstützte in diesem Vertragswerk die westliche Politik, denn ein drohender wirtschaftlicher

Kollaps des Nachbarlandes konnte nicht im russischen Interesse liegen.

Das Abkommen sah vor, dass alle Nuklearwaffen einschließlich der Trägermittel binnen sieben

Jahren (entsprechend der START-1-Vorgabe) nach Russland überführt und dort zerlegt werden

sollten. Bis dahin sollten alle Nuklearwaffen deaktiviert werden. Gefechtsköpfe sollten von

Raketen getrennt und in ukrainischen Depots eingelagert werden. Die Wartung durch russische

Kräfte wurde nun bis zum Abtransport vertraglich festgelegt. Im Gegenzug erhielt die Ukraine

aus Russland binnen zehn Monaten atomare Brennstäbe für die zivile Nutzung und einen

Schuldenerlass in Höhe von 1,5 Mrd. US-Dollar für Energielieferungen. Die USA zahlten

ihrerseits 60 Mio. US-Dollar an Russland zur Abdeckung der Kosten für Transport und

Zerlegung und 155 Mio. US-Dollar an Wirtschaftshilfen an die Ukraine zusätzlich zum Nunn-

Lugar-Programm.60

57 Alexandrova, Olga (1994): Russland als Faktor ukrainischer Sicherheitsvorstellungen. In: Außenpolitik: German foreign affairs review 45 (1994), 1, S. 75. 58 Meier, Ernst-Christoph (1904): Licht am Ende des Tunnels. In: Truppenpraxis: Zeitschrift für Taktik, Technik und Ausbildung 38 (1994), 3, S. 192. 59 Ebenda, S. 194. 60 Ebenda, S. 193.

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Die Ukraine erhielt auch die erhofften Sicherheitsgarantien der USA, Großbritanniens und

Frankreichs. Entsprechend der KSZE-Schlussakte wurden Unabhängigkeit und Souveränität der

Ukraine garantiert. Auch wurde auf ökonomischen Druck verzichtet. „Positive“

Sicherheitsgarantien gab es hinsichtlich des Falls eines Angriffs oder einer Angriffsdrohung gegen

die Ukraine mit Nuklearwaffen. Eine „negative“ Sicherheitsgarantie bedeutete der Verzicht der

Nuklearmächte, gegen die Ukraine zu offensivem Zweck Nuklearwaffen einzusetzen. Die

Garantien erfolgten jedoch erst mit dem Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag.61 Diesen Schritt

sollte die Ukraine binnen kürzestmöglicher Zeit vollziehen. Bei der Ratifizierung der

Vereinbarungen durch das Parlament am 3. Februar 1994 gab es jedoch noch keine Mehrheit für

diese abschließende Maßnahme.62

Der Ukraine war es somit gelungen, die aus ihrem Eigentumsanspruch abgeleitete Forderung

nach einer angemessenen Kompensation geltend zu machen. Wirtschaftliche Entschädigungen

wie auch sicherheitspolitische Garantien waren der Erlös für einen politischen Kurs, der sich

vorwiegend aus verhandlungspolitischen Motiven ableitete.

6.3 Der Beitritt der Ukraine zum Nichtverbreitungsvertrag

Die letzte Hürde zur nuklearen Totalabrüstung konnte Ende des Jahres 1994 erfolgen. Der

Schlüssel zum Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag (NPT) lag nicht zuletzt in Russland. Das

Land hielt sich an die Bedingungen der trilateralen Vereinbarung und konnte somit für

verbesserte Beziehungen zur Ukraine sorgen. Der damalige russische Verteidigungsminister

Gratschow kündigte an, dass Russland künftig keine Atomwaffen gegen Signarstaaten des NPT

einsetzen wolle.63 Diese Sicherheitsgarantie stärkte das Vertragswesen und sorgte für

Vertrauensbildung unter den Nachbarstaaten. Gleichzeitig wurde damit der Druck auf die

Ukraine erhöht, dem Vertragswerk zum Wohle der eigenen Sicherheit beizutreten. Auch der

Einfluss der anderen Staaten der GUS war enorm, da Kasachstan am 13. Dezember 1993 als

vorletzter sowjetischer Nachfolgestaat dem NPT beitrat.64

Folglich war es fast nur noch ein rein formaler Weg, als Leonid Kutschma auf der KSZE-

Konferenz in Budapest am 5. Dezember 1994 den NPT-Vertrag unterzeichnete. Somit erhielt die

Ukraine auch die noch offenen Sicherheitsgarantien. Kutschma hatte in Abgrenzung zu seinem

Vorgänger erkannt, dass die Zukunft der Ukraine als unabhängiges Land nicht von nuklearen

Ansprüchen, sondern von wirtschaftlichem Wachstum und guten nachbarschaftlichen

61 Ebenda, S. 193. 62 Ebenda, S. 193. 63 Umbach, Frank (1994): Nuklearmacht sein oder nicht sein: Hintergründe zu nuklearen Ambitionen der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans. In: Österreichische militärische Zeitschrift 1/32 (1994), 1, S. 31. 64 Ebenda, S. 31.

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Beziehungen abhing. Der Schlüssel für den Beitritt waren die Sicherheitsgarantien und die

Aussicht auf wirtschaftliche Erholung. Unklar bleib jedoch noch immer der Zahlmodus für

künftige Energielieferungen Russlands an die Ukraine. Diese Offenlassung sollte auch künftig

wiederholt für Konflikte sorgen.

7. Fazit & Ausblick

Ziel dieses Artikels war es, herauszustellen, welche innen- und außenpolitischen, technischen,

wirtschaftlichen, kulturellen und soziologischen Elemente der entstehenden Außen- und

Sicherheitspolitik zur Denuklearisierung der Ukraine führten. Dabei hat sich die These bestätigt,

wonach die lange Abwägung von Vor- und Nachteilen eines eigenen Nuklearwaffenarsenals aus

sicherheits- status- und verhandlungspolitischen Gründen letztlich zur nuklearen

Demobilisierung der Ukraine führte.

Aus ukrainischer Sicht war der Verbleib der Nuklearwaffen mit Sicherheitsfragen verknüpft.

Diese resultierten aus einem historisch gewachsenen kulturellen Skeptizismus gegenüber einem

befürchteten neuerlichen russischen Imperialismus. Die Diskussion um Eigentum und Kontrolle

wurde zu einer Schlüsselfrage um die Souveränität des Landes. Erhoffte finanzielle Gewinne

haben dieser Frage noch eine wirtschaftliche Komponente gegeben. Befürchtungen, dass die

Ukraine den Status einer Nuklearmacht anstreben könnte, waren weitgehend unbegründet, da die

Ukraine zu keinem Zeitpunkt technisch in der Lage war, eine unabhängige und wirksame

Abschreckung betreiben zu können. Erleichtert wurde die Abrüstung durch den Machtwechsel

von Krawtschuk zu Kutschma, dem es effektiver gelang, die wirtschaftliche und außenpolitische

Relevanz einer Abrüstung gegenüber dem Parlament zu vermitteln.

Ziel der Ukraine war eine möglichst lange Anbindung an die auf ihrem Territorium befindlichen

Nuklearwaffen. Dies ist jedoch nicht auf ein Streben nach einem dauerhaften Nuklearmachtstatus

zurückzuführen, sondern vielmehr darauf, dass man möglichst lange in den Genuss von

sicherheits- status- und verhandlungspolitischen Vorteilen kommen wollte. Erst nach der

Kompensation dieser Motive konnte eine Abrüstung erfolgen. Aus dem „freiwilligen Abrüsten“

sollte also möglichst maximaler politischer und wirtschaftlicher Profit geschlagen werden.

Die Lehren für die internationale Gemeinschaft aus diesem Fall sind, dass man sich nicht nur auf

die Nonproliferation allein konzentrieren sollte, sondern stets auch die innenpolitischen

Kräfteverhältnisse und die lokale Bedrohungswahrnehmung im Blick haben sollte. Ohne einen

regionalen Ansatz können Staaten, die über Nuklearwaffen verfügen oder den Besitz anstreben,

kaum zum Verzicht animiert werden. In solchen Fällen ist eine Politik des ökonomisch-

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politischen Drucks wenig hilfreich und wie im ukrainischen Fall sogar kontraproduktiv. Es

müssen also stets Anreize gegeben werden, um eine Abrüstung zu erreichen.

Die Bedeutung des ukrainischen Falls ergab sich in der engen Verbindung zwischen START-1

und START-2. Erst mit dem ukrainischen Abrüsten konnte der START-2-Vertrag zwischen

Russland und Amerika beschlossen werden. Die Ukraine übernahm also mit ihrer Entscheidung

eine Schlüsselrolle in den Bestrebungen nach internationaler nuklearer Abrüstung.

Ende Oktober 2001 wurde planmäßig der letzte Gefechtskopf in Russland demontiert.65 Der

allerletzte Schritt hin zur nuklearen Totalabrüstung wurde dann im April 2010 vollzogen, als

Präsident Janukowitsch im Vorfeld des Washingtoner Gipfels ankündigte, dass auch sämtliches

waffenfähiges Material in der Ukraine bis 2012 unschädlich gemacht werden sollte.66 Damit

untermauerte die Ukraine ihren Führungsanspruch in den weltweiten Anti-

Proliferationsbemühungen unserer Zeit.

65 Strategic Arms Reduction Treaty (START I) Chronology: http://www.fas.org/nuke/control/start1/chron.htm vom 30.07.2010, 23:04 Uhr. 66 http://www.rp-online.de/politik/ausland/Frankreich-Kein-Verzicht-auf-Atomwaffen_aid_843661.html vom 26.02.2013, 23:08 Uhr.

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8. Quellenverzeichnis und weiterführende Literatur

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