Über die zukunft der deutschen sozialversicherung

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I. JANUAR x925 KLINISCtlE WOCHENSCHRIFT. 4. JAHRGANG. Nr. I 27 ( FFENTLICHES GES OBER DIE ZUKUNFT DER DEUTSCHEN SOZIAL- VERSICHERUNG. Von Dr. jur. et med. PAUL KAUFMANN, President des Reichsversicherungsamts a. D. Die aul3enpolitische Entwicklung der letzten Zeit hat leider die 6ffentliche Aufmerksamkeit yon der Sozialver- sicherung stark abgelenkt. Das ist umso bedauerlicher, well die zur Umstellung der deutschen Wirtschaft auf ein ganz Ileues System und zu noch empfindlicheren Einschr~nkungen auf allen Gebieten zwingende Durchffihrung des Dawesschen Planes uns auch in der Sozialversicherung zu tiefgreifenden Entschliegungen n6tigeil kann. Was zu einer Zeit, in der das Fiirsorgebedfirfnis gr6Ber ist denn je, eine rfickl~ufige Bewegung in der Sozialversicherung bedeuteil wfirde, ist nicht auszudenken. Es k~me auf eine nationale Katastrophe hinaus. Alle, die sich, wie ich, mit der SoziMversicherung lange innerlich verbunden ffihlen, werden ihr Letztes daftir einsetzen, die edelste Sch6pfung deutschen Geistes vor der Gefahr zu bewahren, dutch nnvor- bereitete Mal3nahmen, zu welchen eine fiberraschende Ent- wicklung der Dinge ffihren kann, ganz oder teilweise ,,ab- gebaut" zu werden. Das unselige ,,Zu sp~t" hat sich zu oft ver- h~ngnisvoll bei uns ausgewirkt. Ich begrtige es, dab mir schon bald, nachdem ich wegen meiner Verabschiedung die Leitung des Reichsversicherungsamts abgeben muBte, die Verwaltungsabbaukommissioil Gelegenheit gab, durch Jahr- zehnte gesammelte Erfahrungen in einem Gutachten fiber eine zeitgem~Be Umgestaltung der Sozialversicherung nieder- zulegen (Zur Umgestaltung der deutschen Sozialversicherung. Druck und Verlag der Reichsdruckerei. Berlin 1924). Wollen wit uns in der Sozialversicherung vor iibereilten Zugriffen schiitzen, so miissen wir uils bald fiber eine Reihe grundlegender Gesichtspunkte klar zu werden suchen. Sie laufen darauf hinaus, eiile Umgestaltung der Sozialversiche- rung zu erm6glichen, die ohne ,,Abbau'" der Ffirsorgeleistungen oder Schlechterstellung der Versicherten im ganzen der bei- spiellosen Verarmung Deutschlands ebenso Rechnung tr~gt wie dem Umstand, dab das soziale Ffirsorgebedfirfnis heute viel gr6Ber, zum Teil sogar anders gerichtet ist wie in den Tagen, als Deutschland noch ein innerlich gefestigtes, wirt- schaftlieh blfihendes Land war. Nach amtlichen Berech- nungen bedarf die Sozialversicherung zur Zeit an j~hrlichem Aufkommen etwa 11/2 Milliarde Goldmark. Ich lasse den durch eine amtliche Pressenotiz wieder aufgelebten Streit fiber die Spannung zwischen der gegenw~rtigen Sozial- belastung und derjenigen vor dem Weltkrieg, berechnet nach Hunderts~tzen vom Lohn, auf sich beruhen. Ob man gegen- fiber einer Irfiheren Belastung voil 7--7,5 v.H. der L6hne die derzeitige auf 14--17 v.H., nach Ermittlungen aus Krankenkassenkreisen unter AusschhB der Erwerbslosen- ftirsorge auI 9,52 oder in sch6nf~rberischem Zahlenspiel auf noch weniger vom Hundertsatze der L6hne berechnet, ist yon geringerer Bedeutung, als die Tatsache, dab an dem Volkseinkommen gemessen die soziale Belastung im Vergleich zur Vorkriegszeit jedenfalls erheblich gestiegen ist. Das macht h6chste Wirtschaftlichkeit und sorgsamste Verwendung der eingehenden Mittel zur dringenden Pflicht und zeigt als Ziel der Reform, nnter Beseitigung alles irgend en~behrlicheil Beiwerks auf dem kfirzesten und einfachsten Weg, mit dem ge- ringsten Aufwand den h6chsten Leistungsgrad zu erreichen. In meinem rheinischen Elternhause babe ich voil unserem Hausarzte, einem trefflichen Vertreter dieser guten, alten Art, oft sagen h6ren, dab es besser und auch wirtschaftlicher sei, Tausende vor Erkrankung zu schiitzen, als einen Er- krankten ~rztlich zu betreuen. Dies Wort habe ich nicht vergessen. Es trifft auch ftir die Sozialversicherung zu. Auch hier wird am erfolgreichsten und zugleich sparsamsten gearbeitet, wenil an den Quellen der Sch~digungen eingesetzt, die f3bel nicht erst in ihren Wirkungen, sondern schoil in ihreil Ursachen bek~mpft werden, wenn wir unls m6glichst UNDHEITSWESEN. auf Schadenverhtitung anstatt auf Schadenvergfitung ver- legen. Diese Erkenntnis habe ich yon jeher zu f6rdern mich bemtiht. Ganz leicht ist es nicht gewesen. Denn die Sozial- versicherung war urspriinglich yon ganz anderen Gedanken beherrscht. In ihrem Aufbau, ihren Grundbegriffen und rechnerischen Grundlagen der privaten Versicherung stark angen~hert, hatte sie sich Schadenvergtitung, fiberwiegend in Gestalt yon geldlichen Leistungen (Krankengeld, Rente usw.), als vordringlichste Aufgabe gestellt. Angesichts der umfassenden T~tigkeit der deutschen Landesversicherungs- anstalten bei der Bek~mpfung der Volksseuchen und auf anderen Gebieten der Gesundheitspflege erscheint es heute unbegreiflich, dab in dem Entwuri des Invalidit~ts- und Altersversicherungsgesetzes yon 1889 eine dem Eintritt der Invalidit~t vorbeugende Heilbehandlung yon Versicherten fiberhaupt nicht vorgesehen war, und dab der w 12 des Ge- setzes, welcher sie in recht beschr~nktem Umfang zulieB, erst dutch die Reichstagskommission in den Entwnrf eingefiigt wurde. In einem nicht lange vor Ausbruch des Weltkriegs ver6ffentlichten Werke (Schadenverhtitendes Wirken in der deutschen Arbeiterversicherung. 2. vermehrte Aufl. Verlag VOlt Franz Vahlen, Berlin 1914) babe ich zusammenfassend dargestellt, wie dank ihrer vom Reiehsversicherungsamt stets weitherzig unterstiitzten Initiative die Versicherungs- tr~ger sich immer mehr zu einem Eck- und Grundstein der 6ffentlichen Gesundheitspflege herausbildeten. In der Nach- kriegszeit ist diese segensreiche Umbildung ins Stocken gekommen. War es nut zwangsl~ufige Folge unserer wirt- schaftlichen Not oder auch, wie oft behauptet wird, Mangel an zielsicherer EntschluBfreudigkeit des Gesetzgebers, im Ergebnis hat sich das Ileue Recht der Nachkriegszeit fast ausschlieglich mit der auI Schadensersatz gerichteten T~tig- keit der Versicherungstr~ger, der Abwehr der unheilvollen Auswirkungen einer beispiellosen Geldentwertung und mit der Umstellung der Geldleistungen und der Beitr~ge auf Goldmark befal3t. In der entschlossenen Fortbildung der friiheren Ent- wicklung sehe ich den Weg, auf dem wir zu einer den An- sprfichen der Zeit entsprechenden neuen Sozialversieherung kommen k6nnen. Auf ihn weisen auch die Vorschl~ge in meinem ffir die Verwaltungsabbaukommission erstatteten Gutaehten hin. Sie empfehlen einen organischen Umbau der LeistungeI1 der Versicherungstr~ger, der unvermeidlich ist, wenn, auch analog dem btirgerlichen Recht, das beim Ein- tritt eines Schadens die Pflicht zur Wiederherstellung in die erste Reihe stellt und erst, fails eine Wiederherstellung unm6glich oder nicht genfigend ist, eine Pflicht zur Ent- sch~digung vorsieht, in Zukunft Schadenverhfitung das Kern- stiick der Sozialversicherung werden soll. Die derzeitigen zahl- reichen Ffirsorgeleistungen haben ffir eine Sozialversicherung, die starker in dell Dienst einer die menschlichen Kraft- quellen schonenden und mehrenden Politik gestellt werden soil, recht verschiedenen Weft. Neben bev61kerungspolitisch h6chst bedeutsamen linden sich andere, die wertlos oder gar sch~dlich" sind. Sie sorgf~ltig gegeneinander abw~gend mfissen mehr oder weniger entbehrliche Leistungen eingeschr~nkt oder ganz beseitigt werden, um ftir dringlichere AufgabeI1 Mittel freizumachen. Die Geldleistungen, besonders dle tRentenzahlungen, haben zuriickzutreteil gegenfiber Zweigen der Ffirsorge, welche die sozialen ~bel an der Wurzel fassen, ge- sundheitliche und wirtschaftliche Gegenwerte schaffen. In diesem Sinne ist auch imArtikel 161 der Reichsverfassung die ,,Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsf~higkeit der Versicher- ten" als Endzweck der Sozialversicherung hingestellt worden. Zu welchem Ergebnis diese Umstellung der Leistungen fiihrt, kann ich hier im einzelnen nicht darlegen, will es aber an einigen Beispielen anschaulich machen: Hat sich ein Betriebsunfall ereignet, der v611igen oder teilweisen Verhst der Erwerbsf~higkeit eines Versicherten nach sich zieht, so tritt zun~chst die zust~ndige Krankenkasse helfend ein. Erst mit Beginn der 14. Woche nach dem Unfall beginnt, falls bis dahin die Folgen des Unfalls noch nicht behoben

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Page 1: Über die Zukunft der Deutschen Sozialversicherung

I. JANUAR x925 K L I N I S C t l E W O C H E N S C H R I F T . 4. J A H R G A N G . Nr. I 27

( FFENTLICHES GES OBER DIE ZUKUNFT DER DEUTSCHEN SOZIAL-

VERSICHERUNG. V o n

Dr. jur. et med. PAUL KAUFMANN, President des Reichsversicherungsamts a. D.

Die aul3enpolitische Entwicklung der letzten Zeit hat leider die 6ffentliche Aufmerksamkeit yon der Sozialver- sicherung stark abgelenkt. Das ist umso bedauerlicher, well die zur Umstellung der deutschen Wirtschaft auf ein ganz Ileues System und zu noch empfindlicheren Einschr~nkungen auf allen Gebieten zwingende Durchffihrung des Dawesschen Planes uns auch in der Sozialversicherung zu tiefgreifenden Entschliegungen n6tigeil kann.

Was zu einer Zeit, in der das Fiirsorgebedfirfnis gr6Ber ist denn je, eine rfickl~ufige Bewegung in der Sozialversicherung bedeuteil wfirde, ist nicht auszudenken. Es k~me auf eine nationale Katastrophe hinaus. Alle, die sich, wie ich, mit der SoziMversicherung lange innerlich verbunden ffihlen, werden ihr Letztes daftir einsetzen, die edelste Sch6pfung deutschen Geistes vor der Gefahr zu bewahren, dutch nnvor- bereitete Mal3nahmen, zu welchen eine fiberraschende Ent- wicklung der Dinge ffihren kann, ganz oder teilweise ,,ab- gebaut" zu werden. Das unselige ,,Zu sp~t" hat sich zu oft ver- h~ngnisvoll bei uns ausgewirkt. Ich begrtige es, dab mir schon bald, nachdem ich wegen meiner Verabschiedung die Leitung des Reichsversicherungsamts abgeben muBte, die Verwaltungsabbaukommissioil Gelegenheit gab, durch Jahr- zehnte gesammelte Erfahrungen in einem Gutachten fiber eine zeitgem~Be Umgestaltung der Sozialversicherung nieder- zulegen (Zur Umgestaltung der deutschen Sozialversicherung. Druck und Verlag der Reichsdruckerei. Berlin 1924).

Wollen wit uns in der Sozialversicherung vor iibereilten Zugriffen schiitzen, so miissen wir uils bald fiber eine Reihe grundlegender Gesichtspunkte klar zu werden suchen. Sie laufen darauf hinaus, eiile Umgestaltung der Sozialversiche- rung zu erm6glichen, die ohne ,,Abbau'" der Ffirsorgeleistungen oder Schlechterstellung der Versicherten im ganzen der bei- spiellosen Verarmung Deutschlands ebenso Rechnung tr~gt wie dem Umstand, dab das soziale Ffirsorgebedfirfnis heute viel gr6Ber, zum Teil sogar anders gerichtet ist wie in den Tagen, als Deutschland noch ein innerlich gefestigtes, wirt- schaftlieh blfihendes Land war. Nach amtlichen Berech- nungen bedarf die Sozialversicherung zur Zeit an j~hrlichem Aufkommen etwa 11/2 Milliarde Goldmark. Ich lasse den durch eine amtliche Pressenotiz wieder aufgelebten Streit fiber die Spannung zwischen der gegenw~rtigen Sozial- belastung und derjenigen vor dem Weltkrieg, berechnet nach Hunderts~tzen vom Lohn, auf sich beruhen. Ob man gegen- fiber einer Irfiheren Belastung voil 7--7,5 v . H . der L6hne die derzeitige auf 14--17 v .H. , nach Ermit t lungen aus Krankenkassenkreisen unter AusschhB der Erwerbslosen- ftirsorge auI 9,52 oder in sch6nf~rberischem Zahlenspiel auf noch weniger vom Hundertsatze der L6hne berechnet, ist yon geringerer Bedeutung, als die Tatsache, dab an dem Volkseinkommen gemessen die soziale Belastung im Vergleich zur Vorkriegszeit jedenfalls erheblich gestiegen ist. Das macht h6chste Wirtschaftlichkeit und sorgsamste Verwendung der eingehenden Mittel zur dringenden Pflicht und zeigt als Ziel der Reform, nnter Beseitigung alles irgend en~behrlicheil Beiwerks auf dem kfirzesten und einfachsten Weg, mit dem ge- ringsten Aufwand den h6chsten Leistungsgrad zu erreichen.

In meinem rheinischen Elternhause babe ich voil unserem Hausarzte, einem trefflichen Vertreter dieser guten, alten Art, oft sagen h6ren, dab es besser und auch wirtschaftlicher sei, Tausende vor Erkrankung zu schiitzen, als einen Er- krankten ~rztlich zu betreuen. Dies Wort habe ich nicht vergessen. Es trifft auch ftir die Sozialversicherung zu. Auch hier wird am erfolgreichsten und zugleich sparsamsten gearbeitet, wenil an den Quellen der Sch~digungen eingesetzt, die f3bel nicht erst in ihren Wirkungen, sondern schoil in ihreil Ursachen bek~mpft werden, wenn wir unls m6glichst

UNDHEITSWESEN. auf Schadenverhtitung anstat t auf Schadenvergfitung ver- legen. Diese Erkenntnis habe ich yon jeher zu f6rdern mich bemtiht. Ganz leicht ist es nicht gewesen. Denn die Sozial- versicherung war urspriinglich yon ganz anderen Gedanken beherrscht. In ihrem Aufbau, ihren Grundbegriffen und rechnerischen Grundlagen der privaten Versicherung stark angen~hert, hatte sie sich Schadenvergtitung, fiberwiegend in Gestalt yon geldlichen Leistungen (Krankengeld, Rente usw.), als vordringlichste Aufgabe gestellt. Angesichts der umfassenden T~tigkeit der deutschen Landesversicherungs- anstalten bei der Bek~mpfung der Volksseuchen und auf anderen Gebieten der Gesundheitspflege erscheint es heute unbegreiflich, dab in dem Entwur i des Invalidit~ts- und Altersversicherungsgesetzes yon 1889 eine dem Eint r i t t der Invalidit~t vorbeugende Heilbehandlung yon Versicherten fiberhaupt nicht vorgesehen war, und dab der w 12 des Ge- setzes, welcher sie in recht beschr~nktem Umfang zulieB, erst dutch die Reichstagskommission in den Entwnrf eingefiigt wurde. In einem nicht lange vor Ausbruch des Weltkriegs ver6ffentlichten Werke (Schadenverhtitendes Wirken in der deutschen Arbeiterversicherung. 2. vermehrte Aufl. Verlag VOlt Franz Vahlen, Berlin 1914) babe ich zusammenfassend dargestellt, wie dank ihrer vom Reiehsversicherungsamt stets weitherzig untersti i tzten Init iat ive die Versicherungs- tr~ger sich immer mehr zu einem Eck- und Grundstein der 6ffentlichen Gesundheitspflege herausbildeten. In der Nach- kriegszeit ist diese segensreiche Umbildung ins Stocken gekommen. War es nu t zwangsl~ufige Folge unserer wirt- schaftlichen Not oder auch, wie oft behauptet wird, Mangel an zielsicherer EntschluBfreudigkeit des Gesetzgebers, im Ergebnis hat sich das Ileue Recht der Nachkriegszeit fast ausschlieglich mit der auI Schadensersatz gerichteten T~tig- keit der Versicherungstr~ger, der Abwehr der unheilvollen Auswirkungen einer beispiellosen Geldentwertung und mit der Umstellung der Geldleistungen und der Beitr~ge auf Goldmark befal3t.

In der entschlossenen Fortbildung der friiheren Ent- wicklung sehe ich den Weg, auf dem wir zu einer den An- sprfichen der Zeit entsprechenden neuen Sozialversieherung kommen k6nnen. Auf ihn weisen auch die Vorschl~ge in meinem ffir die Verwaltungsabbaukommission erstatteten Gutaehten hin. Sie empfehlen einen organischen Umbau der LeistungeI1 der Versicherungstr~ger, der unvermeidlich ist, wenn, auch analog dem btirgerlichen Recht, das beim Ein- t r i t t eines Schadens die Pflicht zur Wiederherstellung in die erste Reihe stellt und erst, fails eine Wiederherstellung unm6glich oder nicht genfigend ist, eine Pflicht zur Ent- sch~digung vorsieht, in Zukunft Schadenverhfitung das Kern- stiick der Sozialversicherung werden soll. Die derzeitigen zahl- reichen Ffirsorgeleistungen haben ffir eine Sozialversicherung, die starker in dell Dienst einer die menschlichen Kraft- quellen schonenden und mehrenden Politik gestellt werden soil, recht verschiedenen Weft. Neben bev61kerungspolitisch h6chst bedeutsamen l inden sich andere, die wertlos oder gar sch~dlich" sind. Sie sorgf~ltig gegeneinander abw~gend mfissen mehr oder weniger entbehrliche Leistungen eingeschr~nkt oder ganz beseitigt werden, um ftir dringlichere AufgabeI1 Mittel freizumachen. Die Geldleistungen, besonders dle tRentenzahlungen, haben zuriickzutreteil gegenfiber Zweigen der Ffirsorge, welche die sozialen ~bel an der Wurzel fassen, ge- sundheitliche und wirtschaftliche Gegenwerte schaffen. In diesem Sinne ist auch imArtikel 161 der Reichsverfassung die ,,Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsf~higkeit der Versicher- ten" als Endzweck der Sozialversicherung hingestellt worden.

Zu welchem Ergebnis diese Umstellung der Leistungen fiihrt, kann ich hier im einzelnen nicht darlegen, will es aber an einigen Beispielen anschaulich machen: Hat sich ein Betriebsunfall ereignet, der v611igen oder teilweisen Verhs t der Erwerbsf~higkeit eines Versicherten nach sich zieht, so t r i t t zun~chst die zust~ndige Krankenkasse helfend ein. Erst mit Beginn der 14. Woche nach dem Unfall beginnt, falls bis dahin die Folgen des Unfalls noch nicht behoben

Page 2: Über die Zukunft der Deutschen Sozialversicherung

28 K L I N I S C H E WOCHENSCHRIFT. 4. J A H R G A N G . Nr. I z. ]ANUAR I925

sind, die Ffirsorge derBerufsgenossenschaft. Ihre Heilbehand- lung schlieBt ab, sobald der Fall Xrztlich erledigt ist. Zur Ent- sch~digulig Itir eine dann lloch verbliebene t3eschr~Lnkung der Erwerbsf~higkeit, auch ftir eille solche yon kleinstem Aus- mal3, setzt die Berufsgenossenschaft eine laufende Geldrente fest. In welcher Art der Verletzte seine Arbeitskraft noch weiter verwertet, wie er sieh wieder in das Wirtschaftsleben einstellt, bleibt ihm allein tiberlasseli. Diese Regelung ist nach verschiedener Richtung unwirtschaftlich und bevSlke- rungspolitisch unerwfillscht. Zun~Lehst fallell die Nachteile der zwischen I<rankenkassen und Berufsgellossenschaftell geteilten Heilftirsorge ins Gewicht. Am ehesten verbfirgt ein einheitlich durchgeffihrtes Heilverfahrell einen schnellen und vollkommelien Erfolg. Dem frisch Erkrankten ist der Arzt ein Retter in der Not, der ihn zur Mithilfe am Heilver- fahren bewegen und einer sich entwickelliden psyehischen Kompollente begegliell kalln. Dutch Eilltrit t eines zweiten VersicherliIlgstr~tgers, Wechsel des Arztes, oft auch der Be- handlungsart und durch H~ufung der ~rztlichen Ullter- suchungen wird der WiIle des Kranken zur Genesung ge- schw~Lcht, seine Neigung zur l~lbertreibling oder Simulation erh6ht. Weiter werden dutch die yon den Berufsgenossen- schaften llach AbschluB des Heilverfahrens zu gew~hrenden, zum Tell ldeinsten Renten oft uliwirtschaftlich Mittel ge- bundeli, mit welchen in anderer Weise vim erfolgreicher ge- wirkt werden kSnnte. Bei geringftigiger Erwerbsbeschr~n- kung, die es dem Rentellempf~nger ermSglicht, das gleiche' wie seine ullverletzten Arbeitsgenossen zu verdienen, ist die Rentenzahlullg i iberhaupt elltbehrlieh. In aliderell F~llen erweist sie sich infolge der suggestiven Verbindung yon U n f a l l - u n d Geldreute sogar sis sch~dlich. Der unzu- friedelie Rentller denkt oft nu t darall, im , ,Rentenkampf" seine Lage zu verbesserli und geht fiir das Wirtschaftsleben verloren. DaB infolge der Grenze, welehe bisher der T~tig- keit der Berufsgellossenschaften gezogen ist, auch wertvolle Kr~fte arbeitswilliger Teilinvaliden brach liegen, ist ebenfalls wirtschaftlich llicht zu verantworten. Deshalb habe ich vor- geschlageli, den Berufsgenosselischaften die voile Heilfiirsorge bei solchell Unf~llen zu tibertragen, bei welchen yon Haus aus mit eiliem bis in die 14. Woehe nach dem Unfall, dem bis- herigen Anfang der bernfsgenossenschaftlichen Ftirsorgezeit, reichenden l~tngeren Verlauf gerechllet werden kanli, was bei allen ~ erllsterell Verletzungen, zu welchen die Mehrzahl der Knochenbrtiche geh6rt, zlltrifft. Dagegen sollell alle kurz- fristigen Unfallsch~den der Fiirsorge der mit den 6rtlichell Verh~ltnissen vertrauten, schnell arbeitenden Krallkellkassell fiberlassell bleiben. Weiter wtilische ich, dab Meine wirt- schaftlich bedeutungslose Reliteli, etwa bis zu 2o v. H. der Voll- rente, in Zukunft fiberhaupt llicht mehr bewilligt werden und noch laufende Renteli dieser Art dutch Abfindung abzu- 16sell sind. Letztere M6glichkeit ist in gewissem Umfange, auch ftir die sparer noch zu gew~hreliden, mehr als 2o v. H. der Vollrente betragendeli Renten zlizulasseli. Was die Bernfs- genossenschaften hierdurch sparen, sollen sie dazu verwenden, um ihre T~tigkeit fiber die bisherige ~rztliche auf die wirt- schaftliche Wiederherstellung der Unfallverletztell, auf ihre seelisch und wirtschaftliche bedeutsame Wiedereinstellung in geregelte Arbeit auszudehllen. Es handelt sieh um eine Berufsftirsorge ~hnlicher Art, wie sie das Reichsversorgungs- gesetz ftir die Kriegsbesch~digten geregelt hat. Es versteht sich aber, dab der Gesetzgeber, da die Verh~ltnisse vom Standpunkt der Berufsftirsorge bei den Unfallverletzten vielfach anders liegell wie bei den Kriegsbesch~digten, mit der /3bertragung der f/Jr letztere geltenden V0rschriften a.uf die Unfallverletzten vorsichtig verf~hrt. DaB durch diese Vorschl~ge die Uiifallversicherung eillen bev61kerungspolitisch weft h6heren Wert erhalten wfirde, liegt auf der Hand. Um so bedauerlicher war es, dab der Gesetzgeber diese Gedanken bisher llicht tiberllommen hatte. Erst in einem unl~llgst auf der Jahresversammlung der gewerblichen Berufsgellossen- schaften erfrterten Gesetzentwurf zur Ab~.nderung der Reichs- versicherung~ordnllng habeli sie Aufllahme gefunden, was ihr langj~hriger Vork~mpfer als einen, wenn auch sp~ten, Erfolg befriedigt bucht.

. Aus dem Gebiet der Invalidenversickerullg erw/ihne ich zwei yon meinell zahlreichell Vorschl~gen. Der eine geht dahiu, die bisherige kostspielige IIIvalidenhauspflege ffir ilivalide Rellltellempf~hlger zu streichen und den w 1272 der Reichsversicherungsordnung zu beseitigell, nach dem ab- weichelld yon der Krankellversicherulig in heute wirtschaft- lich llicht mehr vertretbarer Art ffir die Invalidenversicherung eille Besch~ftigung, ftir die als Entgelt nnr freier Unterhalt gew~hrt wird, f~ir versicherungsfrei erkl~rt ist. Durch diese Anderlillgen will ich Mittel freimachen im Interesse einer umfassenderell, sp~tere Renten ersparenden Ftirsorge ffir tuberkul6se oder tuberkulosegef~hrdete jugelldliche Persolien. Der zweite Vorschlag geht davon aus, dab mit lloch mehr Recht wie fiir die Unfallversieherullg Ifir die Invalidenver- sicherung die Krankellversicherullg als Vorstufe gelten kann. Es lassen sich daher erhebliche I4osten ersparen und wird auch der Sache besser gedient, wenll ebenso wie zwischen Berufsgenossellschaftell ulld Krankenkassen auch zwischen letzteren und den Landesversicherungsanstaltell die Ffirsorge zutreffender verteilt und den Landesversicherullgs- alistalten schon frfihzeitig eille Auslese der Kralikheitsf~tlle ermSglicht wird, in welchen sie dureh ein umfasselides Heil- verfahren, geeiglletelifMls eine Heilst~ttellbehandlulig, ihre Relltelllast verminderll ulld dem Wirtschaftsleben Arbeits- kr~fte erhalten k61inen. Ill welcher Art dies Ziel erreicht werden 8o11, mag man in meinen Gutachten nachleseli.

Auch in der Krankenversicherung strebe ich an, die wert- vollerell Sachleistuligen alif Kosten der Geldleistuligen, darunter auch des Krankeligeldbezugs, starker auszuge- stalten ulid die T~itigkeit der Nrallkellkassen im Ganzen mehr nach der vorbeugenden, Krali!dleitskeime ill ihrer Ents tehung verliichtenden Richtung zu orientieren. Durch Einsparung bei alidern Allsgabeposten lassen sich auch MitteI gewinllen, IIm die driligend erwfinschte Ein{iihrullg ~rzt- licher Behandlung der versicherungsfreiell Familiellangeh6- rigen als Pflichtleistling zu erm6glichen. Beil~tufig bemerkt empfehle ich auch Wiederherstellulig des 19I 8 beseitigten w t 78 der Reichsversicherungsordnung, um die Weiterversicherung yon Nrankenkassenmitgliedern sachgem~B einzuschr~nken.

So vim hier yon dem Umbau der Leistungen, fiber dessert Einzelheiten sich nattMich reden l~Bt, der aber im ganzen zu dem erwfinschten Ergebnis ftihrell dfirfte, ftir die Versicherten alid unsere Wirtschaft mehr wie bisher aus der Sozialver- sicherulig herauszuholen, mit einem niedrigeren Gesamtauf- wand eJnell bev61kernngspolitisch gr6Berell Gesamterfolg zu erreichell. Noch ein kurzes Wort fiber eine andere Oruppe meiner Vorschl~ge, die organisatorische Nllderuligen und ver- wandte Fragen betreffen. Hier habe ich reich einer gewissen Vorsicht befleiBigt und reich gegen 0berspannullgen gewendet, zu wetchell die ohlle gebiihrellde Rficksicht auf bewXhrtes Alte IIllgestfim nach Neuem strebellde Gegenwart neigt. Daher empfehle ich, die dell Beteiligten lieb gewordene bis- herige Organisation der Versicherungstr~ger, insbesondere die Spaltullg der Versieherung in eine besondere Krallken-, Unfall- ulld Invalidenversicherullg beizubehalten. Selbst die Angestellteliversicherullg, obgleich fiir sie tiberwiegend heute nicht mehr zutreffende politische Gr~inde entscheidend waren, m6chte ich aus praktischen Erw~gullgen bestehell lassen. Das Dr~Lllgen unserer Zeit nach btirokratischer Zelltralisierullg mug ill der Sozialversicherung besonders nachdrticklich be- k~tmpft werden. Trotz dieser Zurfickhaltung enthXlt meill Gutachten eille Reihe yon Vorschl~geli, die alif Fortfall often- barer l'3berorganisatiolien, auf Vereinfachung des umst~nd- lichen Gesch~ftsbetriebs bei dell Versicherungsbeh6rdell, den Fortfall eiller IIlln6tigen H~ufung yon Instanzell und auf Beseitigung ~hlllicher M~ngel im bestel~enden Recht gerichtet silld. Auf sie n~her einzugeheli, ist hier nicht der Oft.

Eine zeitgem~Be Reform unsrer Sozialversicherung geh6rt zu den wichtigsten, abet auch schwierigstell Problemen der Gegenwart. Die bisherige unbestrit tene Ftihrerrolle Deutseh- lallds auf diesem Gebiete steht dabei auf dem Spiel. Der Ge- setzgeber m6ge das bedenken. Ich bin fiberzeugt, dab ihm, falis er sie frei yon Sdbstiibersch~tzung sueht, wertvolle Untersttitzlillg auch in ~rztlichen Kreisen nickt fehlen wird..