Über die bedeutung der erbkonstitution für die entstehung, den aufbau und die systermatik der...

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Uber die Bedeutung der Erbkonstitution fiir die Entstehung, den Aufbau und die Systematik der Erscheinungsformen des Irreseins. Von Eugen Kahn (Mtinchen). (Aus der Deutschen Forschungsanstalt fiir Psychiatrie.) (Eingegangen am 13. September 1921.) Der menschliche Organismus, wie die lebenden Organismen fiber- haupt, ist im wesentlichen durch seine Erbanlage bestimmt, aus der heraus gem~l~ seiner konstitutionellen Reaktionsnorm [Johannsenl4)] unter den Einflfissen der Umwelt die ffir ihn grundlegenden, charak- teristischen Eigenschaften (morphologische, funktio~elle, evolutive) entwickelt werden. Zu diesen gehSren sowohl die individuellen Eigen- schaften, soweit sie durch Vererbung bestimmt sind, als auch die all- gemein menschlichen, d.h. die Art- und Rasseeigenschaften. Es liegt auf der Hand, dab diese allgemein menschlichen Eigenschaften nicht anders als durch Vererbung durch die Generationen weitergegeben werden kSnnen. Es ist ebensowenig mSglich, sie yon den erb- konstitutionell bedingten Eigenschaften abzutrennen, als irgendwelche besondere Milieuwirkungen aus der Gesamtheit des Milieus loszulSsen. Wie besondere individuelle Erbeigenschaften in und aus der gesamten Erbkonstitution, so wirken auch uns jeweils in die Augen stechende besonderen Milieufaktoren nur aus dem Zusammenhang mit der ganzen Umwelt heraus. Die ,,individuellen" erblichen Eigenschaften sind nichts anderes als durch Erbvorg~nge quantitativ oder qualitativ abge~nderte ,,allgemeine" .erbliche Eigenschaften. Wenn wir sagten, dab die Erbanlagen sich unter den Einflfissen der Umwelt, des Milieus entfalten, so ist damit schon die vielfach erSrterte Tatsache herausgestetlt, dab wir bei der Betrachtung des Organismus nicht die Erbanlagen selber erkennen, sondern ihre Auswirkung ins Milieu, die Erscheinungsform, den Phiinotypus, dessen erbkonstitutio- nelle [genotypische Joha n nse n, idiotypische Sie me ns 31)], korrekt gesagt, erbkonstitutionell bedingt.e Bestandteile wir aus der Ver- folgung des Erbganges erschlieBen.

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Page 1: Über die Bedeutung der Erbkonstitution für die Entstehung, den Aufbau und die Systermatik der Erscheinungsformen des Irreseins

Uber die Bedeutung der Erbkonstitution fiir die Entstehung, den Aufbau und die Systematik der Erscheinungsformen des

Irreseins.

Von Eugen Kahn (Mtinchen).

(Aus der Deutschen Forschungsanstalt fiir Psychiatrie.)

(Eingegangen am 13. September 1921.)

Der menschliche Organismus, wie die lebenden Organismen fiber- haupt, ist im wesentlichen durch seine Erbanlage bestimmt, aus der heraus gem~l~ seiner konstitutionellen Reaktionsnorm [Johannsenl4)] unter den Einflfissen der Umwelt die ffir ihn grundlegenden, charak- teristischen Eigenschaften (morphologische, funktio~elle, evolutive) entwickelt werden. Zu diesen gehSren sowohl die individuellen Eigen- schaften, soweit sie durch Vererbung bestimmt sind, als auch die all- gemein menschlichen, d.h. die Art- und Rasseeigenschaften. Es liegt auf der Hand, dab diese allgemein menschlichen Eigenschaften nicht anders als durch Vererbung durch die Generationen weitergegeben werden kSnnen. Es ist ebensowenig mSglich, sie yon den erb- konstitutionell bedingten Eigenschaften abzutrennen, als irgendwelche besondere Milieuwirkungen aus der Gesamtheit des Milieus loszulSsen. Wie besondere individuelle Erbeigenschaften in und aus der gesamten Erbkonstitution, so wirken auch uns jeweils in die Augen stechende besonderen Milieufaktoren nur aus dem Zusammenhang mit der ganzen Umwelt heraus. Die ,,individuellen" erblichen Eigenschaften sind nichts anderes als durch Erbvorg~nge quantitativ oder qualitativ abge~nderte ,,allgemeine" .erbliche Eigenschaften.

Wenn wir sagten, dab die Erbanlagen sich unter den Einflfissen der Umwelt, des Milieus entfalten, so ist damit schon die vielfach erSrterte Tatsache herausgestetlt, dab wir bei der Betrachtung des Organismus nicht die Erbanlagen selber erkennen, sondern ihre Auswirkung ins Milieu, die Erscheinungsform, den Phiinotypus, dessen erbkonstitutio- nelle [genotypische J o h a n nse n, idiotypische Sie me ns 31)], korrekt gesagt, erbkonstitutionell bedingt.e Bestandteile wir aus der Ver- folgung des Erbganges erschlieBen.

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70 E. Kahn: Uber die Bedeutung der Erbkonstitution flit die Entstehung~

Neben seinen erbkonstitutionellen enth~lt der Organismus, wir k6nnen auch sagen der Phi~notypus, Eigenschaften, die ihm zuwaehsen, ohne in der Anlage gegeben zu sein. Das sind -- allgemein ausgedrfickt

- - erworbene Eigenschaften, die wir als konstellative [paratypische Sie m e n s ~1)] bezeichnen ;sie werden vom Organismus im Laufe seines individuellen Lebens (yon der Amphimixis bis zum Tod) erworben und auf dem Erbwege nicht weitergegeben. Hier wi~ren zu nennen: Folgen yon Verletzungen, nicht erblichen Erkrankungen, Anpassungs- vorg~nge an die Umwelt -- kurz Eigenschaften, die dem Organis- nms aus Milieuei~fliissen zukommen. Wie weit solche konstellative Eigenschaften Pri~gung yon seiten der Erbkonstitution erfahren bzw. erfahren kSnnen, soll hier nicht er6rtert, doch soll immerhin der Selbstversti~ndlichkeit gedacht werden, dab die konstellativen Eigen- schaften bei der Erwerbung dureh den Organismus zu der diesen be- herrschenden ,,konstitutionellen Reaktionsnorm" irgendwie in Bezie- hung treten miissen.

Der Org~nismus lebt in seiner erbkonstitutionell-konstellativen Gesamtverfassung (phi~notypische Konstitution Sie me ns) dauernd unter den Einfliissen des Milieus, der Milieufaktoren. Zur scharfen Kennzeichnung des Unterschiedes zwischen konstellativer Eigenschaft und Milieufaktor dienen einige Beispiele:

Sonnenbestrahlung, Infektionserreger, Verletzungen sind Milieu- faktoren; sonnengebraunte Haut, Infektionskrankheiten, Wunden und Narben sind konstellative Eigenschaften. Zwischen den erbkonstitutio- nellen Eigenschaften und den Milieufaktoren nehmen die konstellativen Eigenschaften gewissermal~en eine Mittelstellung ein; sie sind den Milieufaktoren in hSherem Mal]e zug~nglieh, als die in ihrer Ent- wieklung yon innen heraus mehr festgelegten erbkonstitutionellen Eigenschaften. Diese verdanken zwar ihre jeweilige M a n i f e s t a t i o n auch den Einfliissen des Milieus; ihre Genese geht aber nur in- soweit auf das Milieu zurfiek, als wir ihre erstmalige Entstehung im Erbgang auf Vorgi~nge im Idioplasma [Idiokinese Lenz23)] zu- riickftihren, die infolge von dureh Umwelteinfliisse ausgelSsten Ver- hnderungen (Verlust oder Gewinn) der Erbkonstitution zustande kommen. Im Gegensatz zu dem dauernden Flul~ der konstellativen Eigenschaften unter den Einwirkungen der Umwelt bleibt die nach der Idiokinese erreichte Umi~nderung der Erbkonstitution im hSchsten Mal~e milieubesti~ndig.

Die bisherigen Ausfiihrungen sollten klarstellen, da[t alle im Organis- mus sich abspielenden Vorgi~nge, auch die krankhaften Vorgi~nge, die uns besonders besehi~ftigen, zu erbkonstitutionellen wie zu konstellativen Eigenschaften, aber auch direkt zu Milieufaktoren in Beziehung treten mfissen. Der Zweck dieser Ausffihrungen ist, einzuleiten in die Dar-

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den Aufbau und die Systematik der Erscheinungsformen des Irreseins. 71

legungen fiber einen Versuch, einige Erscheinungen des Irreseins in der dreifachen Beziehung zu Erbkonstitution, Konstellation und Umwelt zu betrachten, wobei wir allerdings den Hauptnachdruck auf die Erb- konstitution legen wollen, weil wir, wie an anderer Stelle auseinander- gesetzt wurde, die Anschauung vertreten, dab mit dem ganzen Rfistzeug der Klinik ausgeffihrte erbbiologische Untersuchungen einen sicheren Weg in die J~tiologie, in den Aufbau und in die Systematik der geistigen StSrungen darbieten.

Durch K r a e p eli n aus der rein symptomatologischen Betrachtungs- weise herausgeffihrt, haben wir in der Psychiatrie gelernt, eine Reihe yon Krankheitsformen abzugrenzen und zu ordnen, wobei Atiologie, Symptomatik, Verlauf und zum Teil anatomischer Befund zu Hilfe genommen wurden. Es ist mfiBig, zu straiten, ob der Verlauf nicht etwa auch nur ein Symptom sei; selbst wenn dies der Fall wi~re, hat doch die Unterscheidung nach dem Verlauf ein Wesentliches dazu beigetragen, dab die beiden feststehenden Kerngruppen des manisch- depressiven Irreseins und der Dementia praecox aufgestellt werden konnten. Wir haben den nicht wieder aufgegebenen und nicht wieder aufzugebenden Fortschritt gemacht, dab dis i~tiologischen oder patho- genetischen Faktoren bzw. Hauptfaktoren als die klinisch hSchst- wertigen zum Orientierungsprinzip jeder klinisehen Systematik erhoben wurden.

Wir haben nicht die Absicht, hier die Geschichte der klinischen Weiterentwicklung, die mit K r a e p e l i n s Namen unl5slich verknfipft ist, zu schreiben. Wir wenden uns gleieh der vor Jahresfrist nunmehr auch von K r a e p e l i n selbst auseinandergesetzten Notwendigkeit zu, dab die Klinik, um weiter zu kommen, neuer Methoden bedarf; dab trotz der prinzipiellen Wichtigkeit der klinischen Sammel- und Ordnungs- arbeit die weitere rein beschreibende Darstellung der i~uBeren Krank- heitserscheinungen nicht weiter helfen werde; dab mit Recht eine Vertiefung unserer Kenntnisse aus dem Einbliek in die inhere Struktur der geistigen StSrungen gefordert werde.

K r a e p e l i n 2~ hat mitgeteilt, wie er sich die Bedingtheit der rela- riven Unspezifitht der psyehopathologischen Syndrome -- er sagt: Erscheinungs- oder J~uBerungsformen des Irreseins -- vorstellt. Diese AuBerungsformen seien im Organismus als allgemeine menschliche Eigenschaften oder als Erbanlagen vorgebildet, um wie die Register einer Orgel durch die Wirkung des eigentliehen Krankheitsvorganges in Betrieb gesetzt zu werden. Den ~uBeren Ursachen komme wohl ,,nur ein ganz allgemeiner richtunggebender EinfluB auf die Gestaltung des Krankheitsbildes zu, w~hrend die Einzelzfige der Eigenart des Er- krankten entstammen". K r a e p e l i n hhlt daran fest, dab gewisse J~uBerungsformen doch in erheblichem Make Einblicke in das Wesen

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der gegebenen Krankheitsvorg~nge gestatten; er nimmt an, ,,dab die emotionelle und die schizophrene Aui~erungsform des Irreseins an sich nicht den Ausdruck bestimmter KrankheitsvorgSnge darstellt, sondern lediglich die Gebiete unserer Pers5nlichkeit anzeigen, in denen sie sich abspielen. Ihre kennzeichnende Bedeutung wiirde dann nur darin liegen, daft eben ffir gewShnlich die schizophrenen Erkrankungen andere Teile unseres inneren Getriebes ergreifen a]s das manisch-depressive Irresein". Die Aufstellung bzw. Anerkennung yon J~uf~erungsformen, die an sich im wesentlichen unspezifisch sind, die H o c h e s 1~ pra- formierten Symptomenverkuppelungen und H a r t m a n ns 9) Sympto menkomplexen zum Tell entsprechen, zum Tell verwandt sind, ist ffir K r a e p e li n keineswegs gleichbedeutend mit dem Aufgeben der klini- schen Gruppierung in Krankheitsformen, deren klinischesVersti~ndnis von ihm mit Nachdruck als ,,unsere so unendlich schwierige Hauptaufgabe" bezeichnet wird.

Die yon K r a e p e l i n herausgestellten )~ul~erungsformen sind der klinischen Erfahrung entnommen. Man kSnnte den Einwand machen, daft sie infolgedessen yon vornherein nicht stichhaltig seien; denn -- kSnnte man sagen -- die bisherige klinische Betrachtungsweise fiihrt zugestandenermal3en nicht ans Ende der Dinge; deshalb ist keine Ge- wi~hr dafiir gegeben, dab in den yon ihr bestimmten, als Bausteine der Formen des Irreseins anzusehenden Symptomkomplexen wirklich ein- deutige und geniigend gesichertc Wesenheiten yon gesetzmi~Biger Zu- sammensetzung vorliegen. Unseres Erachtens daft man der Klinik wohl zutrauen, daft sie unter den yon ihr herausgearbeiteten Auf~erungs- formen zumindest einige aufzeigt, deren Kern richtig getroffen ist; wissen wir doch, mit welcher Treffsicherheit die Klinik trotz aller Unzul~nglichkeit ihrer Methoden auch dem Kern des schizophrenen und des manisch-depressiven Irreseins nahegekommen ist. In dieser Erwagung wird man mit den Xul~erungsformen arbeiten kSnnen und bei Fortschreiten unserer Erkenntnis in die Lage kommen, dort Ab- striche oder Erweiterungen zu machen, wo es sich als notwendig und begriindet erweist.

Unter dem Gesichtswinkel unserer einleitenden Ausffihrungen wollen wir einige der J~ufterungsformen des Irreseins darauf ansehen, ob sie erbkonstitutionell gegeben sein mfissen und wie welt etwa konstellative und Milieufaktoren in sie hineinspielen kSnnen. Dabei stellen wir uns auf den Boden der klinischen Erfahrung, yon der wir ausgehen und deren Bereicherung uns mit K r a e p eli n wichtigstes Ziel ist. Wir gehen an die Aul~erungsformcn nicht direkt heran, sondern yon klinischen Krankheitsgruppen her in der Absicht, der biologischen Fundierung einiger dieser Gruppen nigher zu kommen und auBerdem vielleicht f~r die Systematik etwas zu gewinnen.

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den Aufbau und die Systematik der Erscheinungsformen des Irreseins. 73

Wir beginnen mit dem manisch-depressiven Irresein*), yon dem wir folgendes wissen:

1. Es ist klinisch charakterisiert einmal durch seine Symptomato- logie (manische, melancholische und Mischzusti~nde) und durch seinen Verlauf (periodisch, restituierend).

2. Es ist psychopathologisch gekennzeichnet durch die ,,emotio- nellen ~uiterungsformen" im Sinne K r a e p e l i n s , d .h . durch die Eigenart sich in Stimmungsanomalien verschiedener Zusammensetzung (und versehiedenen Grades) zu manifestieren.

3. Wir nehmen mit gutem Grund an, dab die biologische Grund- stSrung eine endokrine ist**).

4. Erbbiologiseh steht lest, dab das maniseh-depressive Irresein eine erbliche StSrung ist.

Was k6nnen wir aus diesen Tatsachen schliel]en ? Bei der zugestan- denen pathognostischen Unsicherheit der Augerungsformen und im Hinblick darauf, dab die biologische GrundstSrung des manisch- depressiven Irreseins zwar in hohem Ma!~e wahrscheinlich, uns aber nicht greifbar ist, gehen wir v o n d e r sicher gestellten Erblichkeit aus. Was wissen wir aber damit, dag wir sagen, das manisch-depressive Irresein sei erblich ? Was ist erblich am maniseh-depressiven Irresein ? Wir glauben, daft wir die innersekretorische St6rung als einen Erb- faktor bzw. als durch einen Erbfaktor bestimmt betrachten dfirfen. Daraus wfirde sich wohl die Periodizit~t und die Restitutionabiliti~t ableiten lassen im Hinblick darauf, dab sehr viele, wenn auch keines- wegs alle inkretorischen Vorgimge periodisch und restitutionabel sind. Wie steht es mit den _~uBerungsformen ? Wir stehen nicht an, in d e r Grundlage zu den emotionellen J~uBerungsfor .men eine allgemein mensch- liche Eigenschaft in K r a e p e l i n s Sinn zu sehen; das Genus homo ist ,,emotionabel", d. h. es hat Affekte, soweit die Affektiviti~t nicht durch in diesem Zusammenhang gleiehgfiltige Einflfisse zerstSrt ist. Nicht jeder Mensch ist aber im gleichen Sinn und irn gleichen MaBe emotionabel ; hier schon spielen gewaltige Individualdifferenzen herein, die auf spe- zielle Erbgange zu beziehen wir uns fiir berechtigt halten; ihr Resultat sind recht verschiedene Affektivit~ten, denen selbstverst~ndlich ein biologisehes Substrat -- vielleicht endokrine VorgSnge, deren Erfolgs- organ das Gehirn ist [ K r e t s e h mer ~1)] _ unterlegt werden muG. Wir machen uns die Vorstellung, daI3 auf die Wirkung der endokrin-zirkuli~ren GrundstSrung nicht jede, sondern in der Regel nut eine solche Affektivi- tht (mSglicherweise sind es aueh mehrere miteinander verwandte) an-

*) Soweit nicht ausdrficklich andcrs bemerkt wird, haben wir die klinisch reinen F~lle im Auge.

**) Vgl. Ewald, Das manisch-melancholische Irresein und die Frage der ,,Krtmkheitseinheit". Diese Zeitschr. 64. 1921.

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spricht, die eine gewisse Spannkraft und Labilit~tt besitzt; wir denken an K l e i s t s 16) autochthone Affektlabilit~t und an K r e t s c h m e r s ~1) diathetische Proportion. Die elastische, labile Affektivitgt bezeichnen wir als die der endokrin-zirkulgren GrundstSrung affine. Zur Realisierung des manisch-depressiven Irreseins mfiftten wir das Zusammentreten der endokrin-zirkulhren GrundstSrung, des erbbedingten pathogenen Agens, mit der (oder einer)dieser affinen, erbbedingten Affektivit~tt*) postulie- ren. Das wtirde heil]en: kein manisch-depressives Irresein ohne Ko- inzidenz dieser beiden erbkonstitutionellen Faktoren. Es ist mSglich, daft beim Zusammentreten dieser beiden Faktoren gesetzmgftig das manisch-depressive Irresein auftr i t t ; denkbar ist aber auch, daft noch Hemmungsfaktoren wirksam sind, die den Ausbruch der StSrung ver- hindern, bis sie aus in der Erbkonsti tut ion liegenden Grfinden oder durch konstellative oder auch durch Milieufaktoren aufter Aktion ge- setzt werden.

Die erbkonstitutionelle StSrung, die wir hier als endokrin-zirkulgre GrundstSrung bezeichnen, kSnnte nun aber auch -- etwa in einem Organismus ohne affine Affektivitgt -- mit anderen erbkonstitutionellen Faktoren in Verbindung treten und dann vielleicht eine rein kSrperliche StSrung oder, um auf psychiatrischem Gebiet zu bleiben, unter be- sonderen Verhgltnissen in Zusammenhang mit einer ,,schizophrenen )[ulterungsform" eine periodische Psychose yon kata tonem Geprage zustande bringen. Auch die M5glichkeit des Eingreifens der endokrin zirkulgren GrundstSrung in konstellative Apparate oder umgekehrt, sowie ihre Aktivierung durch Milieueinfliisse zur Verbindung mit den verschiedensten Faktoren mag erwghnt werden. Mancherlei Ab- weichungen kSnnten durc.h die stgrkere und schwgchere Auspr~gung der affinen Affektivitat und deren im letzteren Fall ermSglichte Ersetz- barkeit oder Verdrhngbarkeit durch einen anderen Faktor in Erschei- nung treten. Auf der anderen Seite haben wir zu bedenken, daft die Steigerung einer der endokrin-zirkulgren GrundstSrung affinen Affek- t ivi tgt zu hSheren Leistungen keineswegs das Monopol der endokrin- zirkul~,ren GrundstSrung sein wird, sondern daft eine Reihe yon Fak- toren -- der Erbkonstitution, der Konstellation (Paralyse) und des Milieus (Alkohol) - - eine solehe Steigerung gleichfalls bewirken k5nnen;

*) So frei wir im folgenden mit der Affektivitgt schalten, so eindeutig muB doch angemerkt werden, dab die endokrin-zirkul~re GrundstSrung einer affinen Af- fektivit~it in ihren AuBeIungen wahrscheinlich eine besondere Pr~gung zu geben vermag, dab uns aber, was Kraepe l in wiederholt erwahnt hat, zur Erfassung dieser und analoger Besonderheiten die Methoden fehlen. Trotz der sehr weiten Fassung der Affektivit~t, die wir als affine zur endokrin-zirkularen GrundstSrung aufgefal~ habeI~ wollen, sind ~dr der Anschauung, dal3 zwar jeder Mensch ver gniigt oder traurig, dab abet keineswegs jeder manisch oder depressiv werden kSnne.

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den Aufbau und die Systematik der Erscheinungsformen des Irreseins. 75

da~ aber auch andere Affektivi t~ten von diesen Faktoren angeschlagen und so wieder neue Reihen von Bildern hervorgebracht werden k6nnen.

Wir k6nnen und wollen die Denkm6glichkeiten der Auswirkung der endokrin-zirkul~ren Grundst6rung nicht ersch6pfen, sondcrn be- sehr~nken uns darauf, die fruchtbare, j etzt von K r a e p el i n aufgegriffene Hypothese des Bestehens vorgebildeter Mechanismen an diesem Bei- spiel besonders ausfiihrlich zu erlautern, um zu zeigen, wie wohl e i n e erbliche Grundst6rung nach verschiedenen Seiten dfirfte wirken k6nnen, und wie wir uns vorzustellen haben, dal~ die einer geistigen St6rung, hier einer erbkonstitutionellen, zugrunde liegende biologische Grund- st6rung ihre Symptoma t ik nicht selbst m a e h t , sondern aus Funkt ions- bereitschaften des Organismus h e r a u s h o l t * ) . So wird fiir uns das Irresein wieder zum , ,Symptom", allerdings nicht lediglich von Krank- heiten des Gehirns [ G r i e s i n g e r S ) ] , das uns meistens nur ~ls Erfolgs- organ gilt, sondern oft genug yon k6rperlichen Krankhei ten fiberhaupt. Tro tzdem 16st sich uns die Krankhei tsform, die der Kliniker als manisch- depressives Irresein aufgestellt hat , keineswegs zu Symptomkomplexen im alten Stil auf, sondern wir gewinnen in ihr dureh unsere Betrachtungs- weise, durch die Annahme der Verknfipfung zweier erbkonsti tut ioneller Faktoren, eine in ihrer biologisehen Genese wohlbegrfindete Gruppe, die wir lest geffigt ins System einstellen k6nnen. Die vielfachen Be- ziehungen, die die endokrin-zirkulhre Grundst6rung haben kann, lassen daran denken, da{3 man yon ihr ausgehend zur Aufstellung einer Ge-

*) Man kSnnte sich auf den Standpunkt stellen, dal3 die endokrin-zirkul:.~re GrundstSrung unumg~nglich notwendig fiirs manisch-depressive Irresein sei; dab abet die Tatsache, dal3 der Mensch iiberhaupt affektive l~eaktionen habe, die Annahme einer besonderen affinen Affektivit~tt unnStig mache und auch insofern nicht ganz togisch sei, als die Aul~erungsformen eben keinen irgendwie speziali- sierten Charakter haben diirften, wenn anders mit ihnen sollte gearbeitet werden kSnnen. Man k6nnte sagen: die endokrin-zirkul~re Grundst5rung steuert gesetz- m~i~ig auf die affektiven Apparate los, zu denen sie ganz allgemein eine Affinitat hat, und holt aus diesen Apparaten, wie immer sie yon Hause aus beschaffen sein m6gen, affektive ~ul~erungen beraus, denen sie gleichzeitig das Gepr~ige gibt, das wir als charakteristiscb ffirs manisch depressive Irresein ansehen. Also: die Grund- st6rung bildet .,us einer allgemein menschliehen Anlage (Affektivit~t) heraus die charakteristischen Aul3erungen n e u. Wir sehen abet aus der klinischen Erfahi ung, dal~ die PeIs6nlichkeiten, die rein manisch-depres~iv erkranken, auch zu Zeiten (z. B. in der Jugend), in denen vonder Wirksamkeit der Grundst5rung auch im Sinne einer Abortivform ohne Zwang nicht gesprochen werden kann, die Affekti- vit~tsart haben, die wir als elastisch und labil kurz zu kennzeichnen versuchten; wir sehen weite~hin, dal~ Affektivit~iten yon wes,ntlich anderer EigenaIt n i ch t der Boden sind, auf dem echt m~nisch-depressive StSrungen sich ansiedeln. Diese Anschauung steht nieht im WidmspIueh mit der oben ausgesprechenen Vermutung, dab die endokrin-zirkul~re Giundst6rung vielleicht den aprierisehen AuBerungen ihrer affinen Affektivit~t eine besondere Pr~gung zu geben verm6ge, etwa dmch Steigerung der affektiven AusschlSge oder durch Erh6hung der Zi~nigkeit gewisse~ Affekte.

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samtkonsti tution bzw. eines Konstitutionstypus gelangen kSnnte, wenn man die ihr affinen kSrperlichen Eigensehaften in die Hand bekommen k5nnte. Wir haben an dieser Stelle der grundsi~tzliehen Bedeutung von K r e t s c h m e r s 21) Bueh fiber KSrperbau und Charakter zu gedenken, in dem in Verfolgung dieses Weges grol~e KSrperlichkeit und Psychik umfassende Konstitutionskreise aufgestellt werden. Unsere Erw~gungen werden in dieselbe Richtung gedri~ngt, da wir in dem , ,Symptom" des Irreseins selbst bei einer so bedeutsamen und, wie wiederholt sei, bio- logiseh begrfindeten Gruppe wie dem manisch-depressiven Irresein nur den kleinen Teil in einem grof3en Ganzen zu erblicken glauben.

Wit mfissen noch die mSglichen Beziehungen der im manisch- depressiven Irresein verbundenen endokrin-zirkul~ren Grundst6rung und ihrer affinen Affektivit~t zu Konstellation und Milieu erw~hnen. Im Zusammenhang mit den etwa vorhandenen Hemmungsfaktoren war yon der M5glichkeit ihrer Beseitigung durch konstellative und Milieu- faktoren schon die Rede. Bei streng erbbedingten Eigenschaften -- und als eine solche dfirfen wir das manisch-depressive Irresein be- t rachten -- spielt das Milieu insofern eine nachgeordnete Rolle, als es der Anlage zwar die allgemeine EntfaltungsmSglichkeit gibt, ohne aber im allgemeinen in die Entfaltung der Anlage in spezieller Weise aktiv einzugreifen; d .h . bei den reinen Formen des maniseh-depressiven Irreseins sind es im wesentliehen die allgemeinen Milieueinflfisse, ,,die gewShnlichen Lebensreize", unter denen der Anlagekomplex sich ent- faltet und abrollt. Es ist aber nicht zu bestreiten, dab besondere Milieu- faktoren -- z. B. toxische, infekti6se und wohl auch psychische Reize -- direkt oder fiber konstellative Eigenschaften (z. B. Folgen k6rperlieher Erkrankungen und Vergiftungen) die Manifestation des maniseh- depressiven Irreseins begfinstigen, auslSsend wirken k6nnen. M6gen diese Faktoren im einzelnen Fall ffir die genetische Aufbaubetrachtung wichtig werden k5nnen, so sind sie doch f fir die Pathogenese der manisch- depressiven Gruppe nieht von wesentlieher Bedeutung, weft sie nieht zu deren innerer -- in der Verkniipfung der Erbkomponenten gegebenen -- Gesetzm~gigkeit gehSren. Anders verhMt es sich mit der patho- plastischen Ausgestaltung manisch-depressiver Bilder durch Milieu- und .konstellative Faktoren; sie beschi~ftigt uns aber hier nicht.

Die vom Kliniker schon lange gehegte Vernmtung, dal~ gewisse psychopathisehe Pers6nlichkeiten -- Cyeloide nach K r e t s c h m e r s 2 ~ ) Bezeiehnung -- mit den ausgepr~gten Formen des maniseh-depressiven Irreseins zusammengehSren, konnte durch erbbiologisehe Unter- suchungen sichergestellt werden [ H o f f m a n n l l ) ] . Wir nehmen im Rahmen der hier vertretenen Betrachtungsweise an, dalt die Affektivit~t der Cycloiden derjenigen der manisch-depressiven entspricht, also der endokrin-zirkulSren GrundstSrung affin ist. Wir akzeptieren H o f f -

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m a n n s 12) Hypothese yon der Bedeutung der Homomerie ffir die Ver- erbung des manisch-depressiven Irreseins und legen sie so aus, daB bei den Cycloiden die endokrin-zirkul~re GrundstSrung in geringerem Grade vorhanden ist als bei den Manisch-depressiven. Wir kSnnen diese Annahme durch die ~berlegung plausibel machen, da[t bei Individuen bei denen das Vorhandensein der endokrin-zirkul~ren GrundstSrung durch das Auftreten psychotischer zirkuli~rer Anfi~lle gesichert ist, intervalli~r bald mehr, bald weniger die psychischen Verfassungen vor- handen sind, welehe cycloide Dauerzusthnde kennzeichnen. Wir glauben, damit durchaus den biologischen Tatbestiinden in der cycloid-zirkularen Gesamtgruppe gerecht zu werden, in der die flieBenden l~bergi~nge yon Fall zu Fall, yon einem zum anderen Zustand an der Tagesordnung sind. Wir verstehen so auch den flieBenden ~bergang der schweren zu den leichten zirkul~ren StSrungen; das Verebben dieser letzteren, der Cycloiden, in die , ,normalen" Affektivit~ten (oder Temperamente) er- kli~rt sich uns aus der yon versehiedenen Autoren ausgesprochenen Vermutung, dab die endokrine GrundstSrung des manisch-depressiven Irreseins auf quanti tat iver Veri~nderung [Hyper- und Hypofunkt ion R i t t e r s h a u s 2 9 ) ] von Funktionen des endokrinen Systems beruhe.

Wir versuehen nunmehr unsere Betrachtungsweise ffir die Schizophrenie*) durchzufiihren. Ich habe vor einiger Zeit die Vcr- mutung ausgesprochen, dab zum Zustandekommen des schizophrenen Irreseins zwei Erbanlagen**), die ich vorli~ufig als Anlage zur schizo- phrenen ProzeBpsychose und als Anlage zu Schizoid bezeiehnete, not- wendig seien. Die schizoiden PersSnlichkeiten, die erbbiologisch als die auf dem Genotypus Schizoid beruhenden Phi~notypen aufzufassen sind, diese Abartigen in schizophreniebelasteten Sippen, sind den Klinikern [Berze l ) , M e d o w ~5) u. a.] seit lhngerer Zeit aufgefallen. In jfingster Zeit hat K r e t s c h m e r 21) sie in ihren konstitutionellen Zu- sammenhi~ngen beschrieben ; H o f f m a n n 10) hat an genealogischem Material eine Reihe yon Typen herausgearbeitet und ihren erbbiologi- schen Zusammenhang mit der Sehizophrenie, wie ich meine: fiber-

*) Wir stellen uns hier auf den Standpunkt, dal3 die Schizophrenie eine bio- logisch zusammengehSrende Gruppe sei. B1 e ule r u. a. haben darauf [ingewiesen, dai3 es vielleicht verschiedene Schizophrenien gebe. Wir bemerken dazu ganz allge- mein, dal~ wir die endgfiltige Kl~rung dieser Frage yon der erbbiologiscben For- schung erwarten, die aufzudecken haben wird, ob die genotypische Zusammen- setzung der Schizophrenie unseren jetz'gen Vermutungen entspricht oder diese an Kompliziertheit iibeltlifft, und die auch die Bedeutung der ,,exogenen" F~ktoren wird herau~arbeiten miissen. Uns ist ohne Schwierigkeiten vorstellbar, dal~ die vielen Spielarten der Schizophrenie im wesentlichen von quantitativen Differenzen der erbkonstitutionellen Hauptfaktoren herriihren.

**) Diese Vermutung wiirde mit dem Forschungsvrgebnis yon Riidin3~ das jetzt you H off m a n n best~tigt wu~de, iibereinstimmen, dal~ die Dementia pmeeox sich wahrscheinlich nach einem .dibybriden Modus vererbt.

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zeugend dargetan. Trotz dieser Ergebnisse ist fiir die hier versuehte Betraehtungsweise die Situation schwieriger als bei der cyeloid-zirkul~tren Gesamtgruppe. Medow, der 1)berg~nge zwischen den maniseh- depressiven und den jetzt als Cyeloide bezeiehneten psyehopathischen Formen zugegeben hat, suehte zwischen sehizophrenen Psyehosen und den verwandten (schizoiden) Psychopathien einen seharfen Schnitt zu machen. H o f f m a n n 11) weist darauf hin, ,,dab die Unter- scheidung zwischen schizophren und schizoid in den meisten Fi~llen m6glich ist, genau so wie wir aueh zwischen pri~psychotischer Pers6n- lichkeit und schizophrener Psychose naeh charakteristischen Merkmalen trennen k6nnen" ; fiir sehwieriger hi~lt er die Abgrenzung der schizoiden yon den nichtschizoiden PersSnliehkeiten: ,,einwandfrei litBt sie sich wohl nur bei solchen nichtschizoiden Pers6nlichkeiten durehfiihren, die in ihrer Temperamentsveranlagung dem zirkul~ren Erbkreis zuzugeh6ren seheinen".

Wir miissen es gelten lassen, dab zwischen den schizophren-psycho- tischen Formen und den sehizoid-psyehopathischen und zwischen diesen und der Gesundheitsbreite F~lle stehen, die wir mit unseren klinischen Untersuchungsmethoden nicht sicher auf die eine oder andere Seite stellen k6nnen. Wir k6nnen aber doch sagen, dab die schizophrene v o n d e r schizoiden Gruppe im Prinzip durch ein Merkmal getrennt ist: dureh die Proze[thaftigkeit, durch die ,,destruktive Tendenz" (B i rn - b a um), in deren Effekt K r a e p eli n 19) die Grundst6rung der Dementia praecox, ,,die Zertrtimmerung der seelisehen Pers6nliehkeit, dieses inneren Zusammenspicles aller Teile des seelisehen Mechanismus" sieht. Diese Destruktion, diese Zertriimmerung der seelisehen Pers6nliehkeit, ist der sehizoiden Sondergruppe ebenso fremd wie der cycloid-zirkulhren Gesamtgruppe. Man wagt nicht, yon geheilter Dementia praecox zu reden, sondern salviert sich immer noch mit der Wendung, da[t es auch Defektheilungen geben m6ge, deren Ausf~lle nieht oder kaum wahr- nehmbar seien; das deutet darauf hin, wie tief der sicher berechtigte Eindruck wurzelt, dab der Sehizophrenie grundsiitzlich eine destruktive Tendenz innewohne.

Man geht kaum fehl, wenn man in der biologisehen Grundst6rung der Schizophrenic eine erbbedingte, allgemein formuliert: endotoxische St6rung mit destruktiver Tendenz vermutet. DaB eine St6rung mit destruktiver Tendenz erbbedingt sein kann, beweist u. a. die H u n t i n g - tonsehe Chorea, bei der sich gesetzm~Big unter den ,,gew6hnlichen Lebensreizen" der zerst6rende Prozeg abspielt*). Alle Erfahrungen und

*) Es gibt Huntingtonf/ille, die dauernd nur leichte Zuckungen haben und nieht den typiseh delet/iren Verlauf nehmen. Sie bilden eine Parallele zu den .,gutartigen" Sehizophrenien. Hier wie dort wird man dalan denken, dab be- sondere Faktoren die volle Entwieklung der Dest.ruktion bremsen. Vgl. E ntres4).

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Einsichten der genealogischen Psychiatrie sprechen dagegen, daft diese Anlage, wir nennen sic die Anlage zur endotoxisch-schizophrenen Grund- stSrung (oder Anlage zur schizophrenen Prozeftpsychose oder in diesem Zusammenhang kurz Prozeftanlage) nun etwa in den Schizoiden auch grundsgtzlich enthalten sei, ohne zur Wirkung zu kommen. Die Eigen- art des recessiven Erbganges macht es zwar im hSchsten Maft wahr- scheinlich, da[~ die Prozeftanlage im Genotypus mancher schizoider wie nichtschizoider Ascendenten und Descendenten von Schizophrenen vor- handen ist, ohne bei ihnen manifest (phhnotypisch) zu werden. Anderer- seits zwingt die mendelistische Betrachtungsweise, anzunehmen, daft die Prozeftanlage in zahlreichen Fgllen yon schizoiden wie nichtschizoiden Gliedern aus Dementia-praeeox-Sippen fehlt. Daraus mfissen wir den Schluft ziehen, daft die Proze~anlage mit der Anlage zu Schizoid und deren Manifestation a priori nicht genetisch zu tun hat, daft die ProzeBanlage nicht in dem Genotypus schizoid enthalten ist. Diese l~berlegungen ffihren uns eben dahin, in der Schizophrenic zwei ge- trennte genotypische Faktoren zu suchen. Wenn wir nun aber den sehizophrenen ErbgSngen nachgehen, so vermissen wir -- yon mende- listischen Gesichtspunkten aus -- in keinem Fall von Schizophrenie eine Erbanlage, aus dcr nicht abgeleitet werden kSnnte, da~ in der An- lage zur Schizophrenic auch (lie Anlage zu Schizoid enthalten sei. Um ganz klar zu sein, fassen wir zusammen:

1. Im Genotypus der Schizophrenic stecken Prozeftanlage und Genotypus Schizoid; beide sind Conditiones sine quibus non fiir das Zustandekommen der Schizophrenic.

2. Der Genotypus Schizoid, der bei seiner Realisation unter dem Phgnotypus der schizoiden PersSnlichkeit erscheint, kommt fiir sich ohne genotypische Vertretung der Proze~anlage vor.

3. Der Genotypus Schizoid kommt auch in Idioplasmen vor, die gleichzeitig die Prozeftanlage bergen, ohne da[3 es zur Realisation einer Schizophrenic kommt; man wird dabei an das gleiehzeitige Vorhanden- sein yon Hemmungsfaktoren zu denken haben.

Von dem isolierten Vorkommen der Prozeftanlage ohne Schizoid werden wir im folgenden gleich zu sprechen haben.

Ganz allgemein ist zu sagen, daft der Genotypus jedes recessiven Merkmals im Idioplasma vorhanden sein kann, ohne phgnotypisch realisiert zu werden, wenn das zugehSrige dominante Merkmal das guftere Bild, den Phgnotypus, bestimmt. Wir besprechen jetzt noch den Fall, daft die Proze~anlage nicht nur im Genotypus gegeben sein, sondern auch ph~tnotypisch realisiert werden kann, ohne daft der Geno- typus Schizoid anwesend ist. Wir miissen mit dieser MSglichkeit rech- nen, ohne uns darfiber mehr als ganz vage Vor,stcllungen machen zu k6nnen. Wir verweisen auf die analogen Ausfiihrungen fiber die Anlage

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zur endokrin-zirkulhren GrundstSrung und sprechen wie dort mit groBer Vorsicht die Vermutung aus, daft die endotoxisch-schizophrene GrundstSrung sich unter im einzelnen nicht zu erSrternden Bedingungen mit anderen Faktoren zur Hervorbringung von kSrperlichen Erkran- kungen und von Formen des Irreseins zusammenschlieften kSnnte ; diese letzteren wfirden nicht in die Schizophrenic gehSren; jene kSrperlichen Erkrankungen kSnnten uns vielleicht einmal, wenn sie uns in schizo- phrenen Sippen zughnglich werden, Handhaben fiir die Beziehungen der GrundstSrung zur KSrperlichkeit und zur Aufstellung einer Gesamt- konstitution abgeben. Wir erinnern auch hier an die einschlKgigen Untersuehungen K r e t s c h mers21), der schon daran gegangen ist, eine ,,schizotyme Konst i tut ion" aufzustellen.

Wir haben in der Schizophrenie cinen Prozeft vor uns, der auf einer erbkonstitutionellen endotoxisehen GrundstSrung mit destruktiver Ten- denz beruht, die in genetischen Zusammenhang mit der Anlage Schizoid t r i t t und aus dieser nach unserer Vorstellung den Haupttei l ihrer (pri- m~ren) Symptomatologie holt. Diese (prim~re) Symptomatologie kann unter der Wirkung der endotoxisehen StSrung gesteigert und vergrSbert werden. Mit dem Fortgang des destruktiven Prozesses treten - - unter Umst~nden endgiiltige - - Defektsymptome ein: Lockerung des see- lisehen Gefiiges, Zertri immerung der seelischen Pers5nlichkeit, die jc nach dem erreichten Grad nicht mehr oder nur mehr unvollst~ndig ausgeglichen werden kSnnen. Diese (sekund~ren) Symptome entstehen zwar auch unter Mitwirkung der schizoiden Anlage, sind aber dieser nicht an sich eigen, sondern Erzeugnisse der vergiftenden, destruierenden GrundstSrung. Sic sind aber doeh nicht im eigentliehen Sinn ,,neu- gebildet", weft sie in potentia in der Anlage liegen wie die Defekt- symptome der H u n t i n g t o n s c h e n Chorea*).

Der wesentliche Teil der Symptome der Dementia praecox, ihre ,,schizoiden" Symptome gehSren, wie ausgefiihrt wurde, dem Schizoid an; wir kSnnen uns leicht vorstellen, daft diese Symptome bei Anwesen- heit der schizoiden Anlage auch durch andere Faktoren als durch die endotoxisch-sehizophrene GrundstSrung mobil gemacht werden kSnnen; dabei kann es sich um toxische, traumatische und andere, besonders aber auch um psychische Faktoren handeln. Die Bilder, die so aus dem

*) Hier ist anzumerken, da6 die ,,F/ihigkeit" der Destruktion anheimzufallen jedem Organismus zugesprochen werden mu6, da das Leben sich aus nicht~ an- derem als aus Auf- und Abbau zusammensetzt. So wird es oft nur yon der Inten- sit/s der Noxe abh~ngen, dab an einem Organismus Defektsymptome auftreten. Die Noxe und ihre Intensit/~t kSnnen erbkonstitutionell gegeben sein; es kann die Noxe ein konstellativer oder ein Mflieufaktor sein mit erbkonstitutionell oder konstellativ bzw. milieum/iBig bestimmter Intensititt. Es kann dann unter Um- stSnden geradezu ins terminologisehe Belieben gestellt sein, ob man yon ,,vorge- bildeten" oder ,,neugebildeten" Symptomen sprechen will.

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Schizoid produziert werden, haben wir als Au[3erungen des ,,schizoiden Reaktionstypus"*) aufgefal3t, soweit sie sich wieder restlos zurfickbilden. Bei ~,uBerlicher Ahnlichkeit oder sogar Gleichheit mit der Dementia praecox sind sie von dieser durch das Fehlen der Defektsymptome in tier Gesamtsymptomatologie zu unterscheiden. Da~ diese Unterschei- dung vielfach praktisch nicht bzw. noch nicht mSglich ist, wurde an anderer Stelle auseinandergesetzt. Erg~nzend soll hier bemerkt werden, da~ die Unterscheidung unendlich schwierig wird, wenn eine defektive StSrung (z. B. Arteriosklerose) den schizoiden Mechanismus in Be- wegung bringt, weft dann die Rfickbildung der reaktiv manifest gewor- denen schizoiden Symptome unterbleiben und dutch Defektsymptome seitens der defektiven StSrung (Arteriosklerose) das Bild verwaschen und ffir uns nicht mehr sicher analysierbar werden kann. Vielleicht liegen gewissen ,,Spi~tkatatonien" solche Vorg~nge zugrunde.

Der schizoide Reaktionstypus ist in diesem Zusammenhang als eine :~u~erungsform des Irreseins aufzufassen, die in erbbiologischer Be- ziehung zur Schizophrenie steht, aber auch bei nichtschizophrenen Formen des Irreseins die Symptomatologie ganz oder zum Tell bestreiten kann. (Die Fassung des Schizoids als Rcaktionstypus geht bier etwas fiber die urspriingliche hinaus.)

Das Verhi~ltnis zwischen Schizoid und Schizophrenie ist ein erheblich anderes als das Verhhltnis zwischen Cycloid und Zirkuli~r : hier handelt es sich um quantitative, dort uln qualitative Unterschiede. Auch hin- sichtlich des.erbkonstitutionellen Komplexes, der (lie charakteristischen Symptome bestimmt, bestehen zwischen den beiden ,,antipolaren" Gruppen [Hof f m a n n l l ) ] Untersehiede. In der sehizoid-schizophrenen Gesamtgruppe stellen wir das Schizoid, das in speziellem Erbzusammen- hang der Gruppe steht, in der cycloid-zirkul~ren .Gesamtgruppe die dieser lediglich affine erbkonstitutione]le Affektivit~tt als das sympto- matologische Arsenal hin. Im Zirkul~ren schleicht sich die Noxe aus der ,,Normalit~t" her, nut gradweise yon physiologisch-endokrinen Vorg~ngen unterschieden, ein; im Schizophrenen greift die Noxe wie ein FremdkSrper in das Geffige des Organismus. Sind unsere Auf- stellungen richtig, so mu~ es einmal mSglich werden, zwischen Schizoid und Schizophrenie in jedem Fall eine sichere Scheidung zu treffen, obwohl die verschiedene Intensiti~t der endotoxisch-schizophrenen Noxe, die besondere Auspr~gung des Schizoids im Phi~notypus und manches andere in dieser Richtung grol~e Schwierigkeiten bereiten kann. Wir kSnnen uns aber nicht vorstellen, da~ -- wir erinnern an H o f f m a n n s einschl5gige Anschauung, die wir teilen -- jemals mit absoluter Sicherheit an einer bestimmten Stelle die ununterbrochene

*) Popper , Der schizophrenc Reaktionstyp. Diese Zeitschr. G2, 1920. - - K ahn, Zur Frage des schizophrcnen Reaktionstypus. Diese Zeitschr. G6, 1921.

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. LXXIV. 6

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Reihe, die vom Schizoid zum Nichtschizoid fiihrt, werde durchsehnittcn werden kSnnen, weft wir bei Durchmusterung unserer schizoiden Typen alle Abschattierungen in fortlaufender Reihe in die Gesundheitsbreite hinein verfolgen kSnnen; K r e t s c h m e r 21) hat aus dieser Erfahrung heraus seine ,,Schizothymen" aufgestellt. Er hat den einigenden Kern der so verschiedenen Erschcinungsformen des Schizoids, diese eigen- artige AffektivitSt, auf die gltickliche Formel der ,,psychhsthetischen Proportion" gebraeht. Die Temperamente mit psych~sthetischer Pro- portion, die fiber die schizoid-schizophrene Gesamtgruppe hinausgreifen -- eben K r e t s c h m e r s Schizothyme --, bilden das Gegenstfick zu den Tragern der elastischen labilen Affektivit~t*), die wir als die der endokrin- zirkul~ren GrundstSrung affine betrachten: die psychhsthetische Pro- portion ist in jedem Schizoiden und damit in jedem Schizophrenen enthalten; in ihr liegt sozusagen die schizoide Symptomatologie in ovo. So kann man wohl daran denken, daft manches schizoid oder sehizo- phren aussehende Symptom bei nichtschizophrenen Erkrankungen der seinem Tr~ger eigenen psych~sthetischen Proportion Gestaltung oder F~rbung verdanken mag, ohne daft die Anlage Schizoid vorhanden ist.

Wir sind nicht der Meinung, daft die Menschheit nur in manisch- depressive und schizQid-schizophrene Sippen bzw. in cycloide und schizoide PersSnlichkeiten mit all ihren Ausl~ufern in die Gesundheits- breite zerf~llt. Wir sind aber yon der groften Bedeutung der leichten (cycloiden) Formen des manisch-depressiven Irreseins und der schizoiden Typen durehdrungen, die in so auffallender Weise auf der einen Seite in speziell pathologische Erbghnge verflochten sind, auf der anderen in der Normali't~t wurzeln, was selbstverst~ndlich ihre Erblichkeit nicht beeintrSchtigt. Uns dfinkt, daft die Entstehung der echten cycloid- zirkul~ren und der echten schizoid-schizophrenen Formen gar nicht anders als auf dem Erbweg vorstellbar ist. Deshalb kann sich unseres Erachtens auch die schizoide Symptomatologie, die ,,schizophrene, ~_ufterungsform", in ihrer Totalitht nur auf dem Erbweg bilden. Wit sind geneigt anzunehmen, daI3 wohl die einen oder anderen Symptome - , ,pseudokatatone" durch konstellative und Milicufaktoren, durch Hirn- abbau aus Milieugriinden**) -- ohne spezifische Anlagebedingtheit gebil- det werden mSgen***), daft aber Symptomkomplexe yon echt schizoider Pr~gung nur bei Anwescnheit der schizoiden Anlage, die bis dahin nicht manifest geworden zu sein braucht, in Erscheinung treten kSnnen. Daft die Differenzierung zwischen ,,echt schizoid" und ,,pseudoschizoid"

*) Diese sind Kre tschmers Zyklothymen eng verwandt; vielleicht ent- sprechen sic ihnen fast vSllig.

**) Auch Milieufaktoren kSnnen abet, wie ausgefiihrt worden ist, schizoide Symptome aus der Anlagc mobilisielen.

***) Bei BCfallensein gewisscr Him-, vielleicht auch cndokriner oder andecer App~rate.

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am Einzelfall*) unmSglich sein kann, wenn wir nicht Einblick in die Erblage nehmen kSnnen, liegt auf der Hand.

Wir sind uns bewul]t, daft wir den Rahmen fiir die ,,schizophrene J~ul3erungsform" wesentlich enger stecken als fiir die ,,emotionelle". Doch diirfen wir wohl sagen, dab hierin nicht etwa eine besondere Kfihnheit oder Willkiir unserer Hypothesen, sondern die grundlegende Verschiedenheit der beiden groften Formkreise zum Ausdruck kommt.

Wi~hrend die Bedeutung der Erblichkeit in den beiden besproehenen Gruploen keinem Zweifel mehr unterliegt und trotz der Unvollkommen- heit unserer Kenntnisse die Festlegung gewisser Riehtpunkte erlaubt, stehen wir vom erbbiologischen Standpunkte aus bei eincr dritten grol3en Gruploe noch im ersten Anfang: bei der Epilepsie. Aus der bunten F/ille aller friiher als Epilepsie diagnostizierten StSrungen hat der Kliniker eine stattliche Anzahl yon symptomatischen ausgesehieden und den Rest, die genuine Epilepsie, nach den Krampfanf~llen, ihren Aquivalenten und der besonderen epileptischen PersSnliehkeitsverhnde- rung eharakterisiert zu einer tibersehbaren Gruppe zusammengeschlossen. Wir kSnnen immerhin sagen, dal] mindestens ein groBer Teil dieser genuinen Epilepsien erbbedingt ist, und dal3 sieh dieser Gruploe wohl noch Formen anschliel3en, die die strengen symptomatologischen For- derungen des Klinikers nicht befriedigen. In erbbiologischem Zu- sammenhang mit dieser Gruppe stehen Typen, die man als epileptoide Psychopathie oder aueh als epileptisch-psychopathische Konstitution bezeiehnet hat. H e i n r i c h F i s c h e r ~) bczieht den epileptisehen Cha- rakter, ,,eine psyehopathologisehe Reaktionsform von ganz bestimmter F:,irbung", in die Epilepsiekonstitution ein und sieht in der Epilepsie keine den Charakter zerstSrende Psyehose, sondern einen ,,krank- maehenden EinfluB, der den Charakter festigt, wenn aueh vergrSbert und im einzelnen zu psychotischen Merkmalen steigert". B l e u l e r 2) sagt: ,,Manche bloBe Psychopathen haben den n~mlichen Affekthabitus wie ausgesprochene Epileptiker ; man spricht auch da yon ,epileptisehem Charakter', besonders, wenn die Patienten aus Familien mit deutlieh epileptisehen Gliedern stammen"; B l e u l e r vermutet, dab derartige epileptisehe Charaktere ,,oft leichtere Formen der gleichen Erkrankung (genuine Epilepsie) darstellen".

K r a e p eli n19) nimmt als GrundstSrung bei der genuinen Epilepsie ,,krankhafte Abweiehungen im KSrperhaushalt" an; Ble u le r fagt sie als ,,Folge einer Intoxikation" auf. Wir nehmen in analoger Weise fiir die erbkonstitutionelle Epilepsie**) eine erbkonstitutionell bedingte endotoxisehe Grundst6rung an, die destruktive Tendenz zeigt.

*) In manchen Fi~l]en wird immerhin die eingehende Analyse yon Zustandsbild und Vorgeschichte eine Kl/trung geben k6nnen.

**) Idiotypische Epilepsie Siemens1). 6*

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Was das Epileptoid, d .h . die psychopathischen Formen in epilep- tischen Erbzusammenh~,ngen, anlangt, haben wir zwei M6glichkeiten zu erwi~gen. Erstens k6nnte das Epileptoid einc erbbedingte, auf eigenen biologischen Ffiften stehende psychopathische Erscheinungsform sein, die im Zusammentreten mit der epileptisch-endotoxischen Grund- st6rung die erbkonstitutionellc Epilepsie ergibt*).

Zweitens k6nnte das Epileptoid im Sinne B l e u l e r s eine leichterc Form der ausgepr~igten erbkonstitutionellen Epilepsie sein, vonde r es sich dann durch die Intensitht der Vergiftung unterscheiden wfirde**). Wir entscheiden uns fiir die erste M6glichkeit. Wir subsummieren dem Epileptoid nur die psychopathischen Formen, die frei sind yon Kri~mp- fen, Prozeftcharakter und destruktivcr Tendenz.

Wir k6nnen ffir die Wahl unserer Stellungnahme geltend machen, daft die klarcn Typen des Epileptoids diese drei Zeichen nicht zeigen, und daft das Epileptoid in flieftendcm l~bergang in die Normalit~t aufgeht, aus der die epileptische Erkrankung, unsere erbkonstitutionelle Epilepsie, in ihren reinen F~tllen durch die Anwcsenheit dieser Zeichen herausgehoben wird. Fiir unsere Stellungnahme spricht ferner, daft die Epilepsie in ihrem Wesen der Schizophrenie nigher steht als dem manisch- depressiven Irresein, worauf auch K r a e p e l i n 19) gelegentlich hinweist, und daft hinsichtlich des Erbganges die Wahrscheinlichkeit der Re- zessiviti~t besteht***).

Der epileptisehe Krampfanfall, der ursprfinglich der Krankheit den Namen gab, ist lhngst als Symptom erkannt worden. K r a e p e l i n stellt lest, daft es sieh ,,gerade bei der ,spasmodischen' Aufterungsform deut- lich zeigt, daft die klinische Erscheinung yon dem Wesen des Krank- heitsvorganges in hohem Grade unabh~tngig ist".

H e i n r i c h Fischer1), dem die Krampfforschung wesentliche, dutch ergebnisreiche Expcrimente bcgriindete Fortschritte verdankt, fiihrt aus, ,,da[~ die schon bei Gbsunden in gewissen Breiten schwankende Krampffi~higkeit auf vcrschiedenen pathogenetischen B6den sich zur Krampfbereitschaft steigert". Auf die allgemeine Krampffi~higkeit trifft die epileptisch-endotoxische Grundst6rung und steigert sie zur Krampf- bereitschaft, aus der heraus unter paroxysmalen St6ften der Grund- st6rung der epileptische -- F i s c h e r sagt: der elementare -- Krampf abgerollt wird. Es erscheint uns wichtig, daft hier, in einwandfreier Weise eine Aufterungsform, die als solche vollkommen unspezifisch ist, gesetzmSgig, wohl infolge einer Affinitht zur Grundst6rung, in das Bild

*) Das wi~re eine Parallele zu unsercn Ausfiihrungen iibcr Schizoid und Schizo- phrenic und diirfte Fischers Ann~hmcn nahekommcn.

**) Die Verh~tltnisse wiirden dann /ihnlich liegen, wie wires bcim manisch- dcpressiven Irresein darstellen.

***) Vgl. die cntsprcchendcn Ausfiihrungen bei der Schizophrenie.

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einer erbkonsti tutionellen Erkrankung trit t , ohne eine besondere (patho- logische) Repri~sentation in deren genotypischer Zusammensetzung zu l inden; es sei denn, da~ man so welt gehen will, die Steigerung der Krampffi~higkeit zur Krampfberei tschaf t irgendwie im pathologischen genotypischen Komplex der erbkonstitutionellen Epilcpsie*) ver t reten zu suchen.

Der Aufbau der erbkonsti tutionellen Epilepsie stellt sich uns nun in seinen Grundzfigen folgendermalten dar : sic ents teht aus dem Zu- sammentre ten yon zwei Faktoren, der Anlagc zu Epileptoid und der Anlage zu epileptisch-endotoxischer GrundstSrung. Der epileptische Charakter wird in der E rk rankung einmal im Sinne yon F i s c h c r welter entwickelt ; dann t re ten aber auch Defekt ivsymptome auf, die die GrundstSrung mit ihrcr destrukt iven Tendenz zum Toil aus dem Epi- leptoid herausholt und vergrSbert, zum Teil durch direkten Abbau herbeifiihrt; allm~thlich ents teht das Bild der epileptischen VerblSdung. Die KrampfanfD,11e t re ten aus der allgemeinen Krampffi~higkeit fiber die unter der Wirkung der epilcptisch-endotoxischen GrundstSrung zustande gekommene Krampfbere i tschaf t auf; ebenso wird das Auf- t reten der BewuBtseinsstSrungen**) al s Folge der Giftwirkung zu deuten sein, ohne da~ daffir eine spezielle im epileptischen genotypischen Kom- plex verankerte erbkonsti tutionellc Bereitschaft anzunehmen wire. Auch die Vers t immungen sind durch besondere Ausschlige der inncren Vergiftung bedingt ; dabei wirkt das Epileptoid gleichsam als Resonanz-

*) Es liegt der Einwand nahe, dab wit in Analogie zu unseren Ausftihrungen fiber das manisch-depressive i[rresein und die seiner GrundstSrung affine erb- bedingte Affektivit~t die erbkonstitutionelle Bedingtheit einer Krampfbereitschaft, bei der wit yon einer Affinitit zur epileptisch-endotoxischen GrundstSrung sprechen, fordern miiBten. Abgesehen davon, dab wir nicht danach trachten, unsere An- schauungen lediglich auf Analogien aufzubauen, weisen wit darauf hin, dab unseres Erachtens ~icht jeder Me~)sch manisch oder depressiv, wenn auch vergnfigt oder traurig, werden kann, wg, hrend die F~higkeit zum epileptischen Krampf ubiquit~ir ist. Die endokrin-zirkulire GrundstrSung kann manisch-depressive Syndrome nur aus ihrer affinen Affektivit~t herausholen; die epileptisch-endotoxische Grund- stSrung - - und auBer ihr noch viele andere StSrungen - - macht jeden Organismus krampfbereit. Immerhin ist der Gedanke, da~q bei der erbkonstitutionellen Epi- lepsie die physiologischen Schwankungen der Krampffg~higkeit besondere erb- konstitutionelle Unterlegung erfahren - - wir betonen: besondere, weft die ubi- quit~re KIampffiihigkeit wie jede ,,allgemeine Eigenschaft" in jeder Erbkonstitu- tion verankert sein mul~ -- , nicht ganz yon der Hand zu weisen: kSnnten wir etwa nachwcisen, dal~ bei ,,psychischen Epilepsien", die in den Erbkreis der erbkonsti- tutionellen Epilepsie gehSren, die Intoxikation gleich intensiv ist wie bei den zugehSrigen Krampfepilepsien, so wg~re das Auftreten der Kr~mpfe bei diesen letzteren mSglicherweise doch auf besondere erbkonstitutionelle Bedingtheit oder Mitbedingtheit der Krampfbereitschaft zu beziehen.

**) Die Fghigkeit zu Bewul~t.seinstrtibung ist offenbar eine allgemeine. Viel- leicht darf man sich auch hier die Bildung einer Bereitschaft durch Wirkung der velschiedensten Agenzien vorstellen.

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boden. Hi~ufigkeit und Schwere aller anfallsartigen Erscheinungen, Grad und Tempo des Auftretens der Defektsymptome sind auf die Schwere der Vergiftung und ihrer Exacerbationen, der paroxysmalen St613e, wie wir oben sagten, zu beziehen*).

Wir haben auch bei der erbkonstitutionell-epileptischen Erkrankung daran zu denken, dal~ die epileptisch-endotoxische GrundstSrung unter UmstSnden ohne das Epileptoid in einem Organismus vorhanden sein kann. Ob dann Epilepsien yon besonderer Art oder ganz andere StS- rungen auftreten, lassen wir dahingestellt. Vielleicht winkt auch hier in der Ferne die M6glichkeit, einen bestimmten Konstitutionskreis herauszuarbeiten.

Dal~ Hemmungsfaktoren aus der Erbkonstitution her den Verlauf der Epilepsie beeinflussen und da[3 auch konstellative Faktoren starke Wirkung haben kSnnen, darf nicht unerw~hnt bleiben. Milieureize kSnnen ohne Zweifel akute Steigerungen der Vergiftung" und damit paroxysmale Erscheinungen verursachen, werden aber den Gesamtver- lauf in der Regel kaum wesentlich veri~ndern. Auch hier liegt es in der erbkonstitutionellen Natur der Erkrankung, dab besondere konstellative und Milieufaktoren yon sekundi~rer Bedeutung sind; die reinen Fi~lle laufen unter der Einwirkung der ,,gew6hnlichen Lebensreize", d .h . also im Sinne unserer einleitenden Ausfiihrungen, nach ihren erbkonsti- tionell bestimmten Gesetzmal3igkeiten ab.

Wir verlassen damit, da wir nicht vollsti~ndig sein, sondern nur Beispiele geben wotlen, das Gebiet der psychischen St6rungen, bei denen das pathogenetische Schwergewicht auf speziellen (pathologi- schen) Erbfaktoren beruht, zu deren Manifestation in der Regel das Milieu nur in Gestalt der ,,gew6hnlichen Lebensreize" beitr~gt. Die ,,exogenen"**) psychischen StSrungen, denen wir uns nunmehr zu- wenden, sind dadurch charakterisiert, dal3 ,,besondere Lebensreize", d. h. Milieufaktoren, die sich aus der Gesamtumwelt pri~gnant heraus- heben (z. B. Gifte), und konstellative Eigenschaften des befallenen Organismus (z. B. Hirnnarben), die im wesentlichen ,,besonderen Lebensreizen" ihre Entstehung verdanken, der Pathogenese ihren Stempel aufdriicken.

Die Erbkonstitution hat fiir die Symptome dieser Irreseinsformen insofern keine apriorisehe pathogenetische Bedeutung, als in ihr keiner-

*) Manche atypischen Bilder werden sieh (lurch Nachweis betmogener erb- konstitutioneller Momente aufkl~ren lassen. Auf diese besonderen Probleme gehen wir in diesem Zusammenhang, in dem wit nut Typisch~s behandeln wollen, nicht ein. Wir werden sparer kurz darauf zu sprechen kommen. Fiir wie bedeutungsvoll wir die Anlagemischungen halten, haben wir frtiher dargelegt. (Kahn. Erbbio- logische Betrachtungen und Versuche. Diese ZeitschI. 61, 1920.)

**) Wir haben im folgenden nur die dutch mechanische, infekti6se und che- mische Sch~digungen verursachtcn Formen des Irrcseins im Auge.

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lei pathologische spezielle Erbfaktoren vorgebildet zu sein brauchen. Die biologischen GrundstSrungen, die dutch die ,,exogenen" Noxen gesetzt werden, kSnnen aus jeder Erbkonst i tut ion ohne Rficksicht auf besondere in die Psychik sich auswirkende erbkonstitutionelle Faktorcn und Bereitsehaften psychopathologische Symptome herausholen. In der quali tat iven Eigenart dieser Reize, zum Teil wohl aueh in ihrer Intensiti~t, scheint es zu liegen, sich auf best immte psychisehe Apparate oder Kom- plexe zu werfen, wobei aber fiir die Realisation der psychischen StSrung die besondere Beschaffenheit dieser Apparate oder Komplexe pathogene- tisch bedeutungslos ist. Der Alkohol erzeugt z. B. auf den affektiven Ap- parat wirkend die Euphorie des Rausehes, ohne dal3 es ffir diese Form des Irreseins, soweit sie pathogenetisch best immt ist, von Belang wSre, ob der Vergiftete eine gesunde oder eine pathologische Affektiviti~t*) hat. Bei den erbkonstitutionellen Irreseinsformen helfen wir uns aus wohlerwogenen Griinden mit der Annahme yon GrundstSrungen, deren Wirken auf den KSrper wir im allgemeinen mehr vermuten, als kennen. Das in der Erbkonsti tut ion begriindete Zusammenwirken yon Grund- stSrung und best immten psychischen Apparaten soll uns dort die Grundlagen des Aufbaues des Irreseins erklhren. Bei den konstellativen psychischen St5rungen ist uns der pathogenetische Haupt faktor und die ihm entspringende GrundstSrung in ihrem Wesen und in ihre[ Wirkung oft genau bekannt**) (Trauma, Infektionskrankheit , Gift) ; wir kennen insbesondere auch v o n d c r Noxe gesetzte kSrperliche StSrungen. WShrend uns nun die Einsicht in die kSrperlichen Auswirkungen der erbkonstitutionellen Grundst5rungen und damit vielleicht in besondere Beziehungen derselben zu konstellativen und Milieufaktoren fehlt, haben wir Einbliek in die Manifestationen, zu denen die ,,exogenen" Noxen gewisse Erbkonsti tut ionen -- wir wiederholen: ohne Riicksicht

*) Dal3 die besondere erbkonstitutionelle Pr~gung der Affektivit~t der ICausch- euphorie eine eigenartig( F~h'bung geben kann, gehSrt nicht mehr zur Pathogenese, sondern zur speziellen Pathoplastik, die wir bisher nur gelegentlich erw~hnten. Es ist nicht zu iibersehen, dab die Trennung zwischen pathogenetisch und patho- plastiseh nicht absolut scharf ist. Jede pathoplastische Komponente im Rahmen eines Krankheitsbildes tritt in, wenn auch noch so entfernte Beziehung zur Patho- genese. Andererseits gehSren manehe Symptome und Syndrome, die wir in festem pathogonetisc.hen Zusammenhang sehen - - ,,dem spezifischen pathogenen Agens zugeordnet", sagt Bir nb a u m -- , in hervorragender Weise zur Pathoplastik. Bei- spiele: Die schizoide Anlage bestimmt mit der endotoxiseh-sehizophrenen Grund- stSrung die Pathogenese der Schizophrenie; sie ist aber auch die Hauptquelle der Pathoplastik des schizophrenen Irreseins. Eine Arteriosklerose kann an der Patho- genese einer Melancholie beteiligt sein und gloAchzeitig decen Bild pathoplastisch stark beeinflussen. Man kSnnte geradezu yon der pathogenetischen Wertigkeit tier einzelnen pathoplastisehen Komponenten sprechen.

**) Dieser Tatbestand hat zur Bezeiehnung ,,symptomatisehe Psychosen" gefiihrt. Aus unseren Ausfiihrungen geht wohl zur Gentige hervor, da~ wir alle ,Psychosen" fiir ,,symptomatisch" halten.

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88 E. Kahn: Ober die Bedeutung der Erbkonstitution far die Entstehung,

auf eine besondere individuelle pathologische oder nicht pathologische Auspr~gung -- veranlassen. Daher kommt es, dai3 man in den Aufbau der , ,symptomatischen Psychosen" leichter hineinzusehen glaubt; aller- dings bereiten dabei die Einflfisse pathologischer erbkonstitutioneller Einschl~ge auf die Pathoplast ik erhebliche Schwiergkeiten*). Ihnen k6nnen wir nur mit erbbiologischen Methoden zu Leibe gehen und auch mit diesen erst dann, wenn wir aus den erbkonstitutionellen St6r~mgen die Bausteine genau kennen und sicher beherrschen gelernt haben.

Wir fassen die letzten Ausffihrungen kurz zusammen: 1. Die reinen Typen der durch spezielle [pathologische**)] Erb-

faktoren pathogenetisch best immten Formen yon Irresein (erbkonstitu- tionelle Formen) bediirfen zu ihrer Manifestation nut der Einwirkung der allgemeinen Umwelteinflfisse, der ,,gew6hnlichen Lebensreize", auf den Organismus (spezielle pathogene Erbkomplexe -- allgemeine Milieuwirkung).

2. Die reinen Typen der durch konstellative und Milieufaktoren pathogenetisch best immten Formen yon Irresein [konstellative For- men***)] haben keine Beziehungen zu spezifischen (pathologischen) Erb- komplexen ; sie k6nnen auf dem Boden jeder beliebigen Erbkonsti tut ion entstehen (spezielle pathogene Milieu- und konstellative Faktoren - - allgemeine Erbkonstitutionswirkung).

Zum zweiten Punkt ist ausdriicklich zu betonen, da[3 wir bier nut yon erbkonstitutionellen Grundlagen der psychischen Symptome, die die betreffende Grundst6rung aus der Erbkonsti tution herausholt, sprechen. Es gibt fiir dic exogenen Noxen der uns gerade besch~ftigenden Erkrankungen offenbar sehr wohl Beziehungen zur Erbkonstitution, von denen wir als Beispiele anfiihren : erbkonstitutionelle Disposition ffir und Immuni t~t gegen gewisse Infektionskrankheiten (Tuberkulose; iiber Paralyse welter unten) und erbkonstitutionelle l~ber- und Unter- empfindlichkeit gegen gewisse Gifte (Alkoholintoleranz). AuBerdem mtissen wir zum zweiten Punkt die Einschrhnkung machen, da[3 bei erbkonstitutionell minderwertigen Nervensystemen, vielleicht auch anderen Systemen, die, wenn man so sagen kann: allgemeine F~higkeit

*) Von der Bedeutung der Pers6nlichkeit wird sp~ter noch kurz zu sprechen sein.

**) Nicht alle hier spielenden Erbfaktoren sind an sich pathologisch, z. B. ist die elastisch-labile Affektivit'~t nicht pathologisch.

***) Wir fassen damit die konstellativen Formen im engsten ~inn - - Vorliegen und Wirkung bestimmter konstellativer Eigenschaften (z. B. erworbene Birn- defekte, luetische AHgemeinerkrankung) und die Formen zusammen, die umnittelbar auf die Wirkung yon Milieureizen (Rausch) entstehen, well auch diese letzteren in der Regel sehr schnell konstellative Ver~nderungen (in unserem Beispiel die akute alkoholische Vergiftung) im Organismus setzen; dabei ist es gleichgiiltig, ob diese Ver~nderungen dauern oder voriibergehen.

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den Aufbau und die Systematik der Erscheinungsformen des Irreseins. 89

zur Entwicklung konstellativer Irreseinsformen zu einer Bereitschaft gesteigert sein kann [symptomatisehe Labilit~tt*) Kleist~0)].

Wir wollen nun exemplifizieren und wiihlen dazu je eine konstellative Form mit destruktiver und mit regressiver Tendenz ( B i r n b a u m): die Paralyse und das Delirium tremens.

Der ursprfingliche i~tiologische Faktor (Milieufaktor!) der Paralyse ist die Spirochaeta pallida. K r a e p e l i n 19) h~tlt die Paralyse fiir eine Erkrankung, ,,die, in noch ausgepritgterer Form als die sonstigen syphilitischen Erkrankungen, eine schwere allgemeine Erni~hrungs- st6rung darstellt, bei der die Hirnerkrankung zwar die wichtigste und auffallendste, aber doeh nur eine Teilerseheinung bildet"**). ,,Eine schwere allgemeine Erni~hrungsst6rung" ist die biologische Grund- st6rung der Paralyse. Sie entsteht auf dem Boden der konstellativen syphilitischen Allgemeinerkrankung [syphilitiseher Konstitutionalis- mus Mart ius24)] . Damit scheint uns ihre Zugeh6rigkeit zu den kon- stellativen Formen bestimmt. Die destruktive Tendenz der para- lytischen Erkrankung diirfen wir der konstellativen Grundst6rung zu- sehieben, da wir ja night so weit gehen wollen, hier mit der allgemeinen Fi%higkeit des Organismus abzubauen, die natii'rlich letzten Endes in jeder Erbkonsti tut ion (als evolutiver Faktor) verankert liegt, zu ope- rieren und etwa anzunehmen, dab diese allgemeine FShigkeit bei der paralytischen GrundstSrung aus in der Erbkonsti tut ion des Erkrankten liegenden Griinden zur Abbaubereitsehaft gesteigert werde. Die psy- chischen Reiz- und Defektsymptome der blanden Paralyse beziehen wir auf die Wirkung der konstellativen paralytischen Grundst6rung, deren Erfolgsorgan in diesem Zusammenhang das Gehirn ist***).

*) Diese Bereitschaft oder Labilit/it kann aber aueh konstellativ erworben sein.

**) Deutlicher l~il~t sich kaum sagen, daB, ganz im Sinne unserer Ansehauuug, das Irresein bei der Paralyse ein ,,Symptom" ist.

***) Wenn wir unseren Gedankengang zu Ende gehen, so miissen wir sagen, dag auch die F/ihigkeit des Gehirns, auf ,,exogene" bezw. konstellative Einfliisse mit Reiz- und Defektsymptomen zu reagieren, letzten Endes in jeder Erbkonstitu- tion, das hieBe als allgemeine mensehliche FShigkeit, gegeben sein mul~. In allen organismischen Erscheinungsformen mtissen, wenn auch nur sozusagen als Radikale, AuBerungen der Erbkonstitution stecken, die aus dieser durch allgemeine oder besondere Milieufaktoren entwickelt werden. Jeder Organismus hat eine Riesen- zahl erbkonstitutioneller Reaktionsf/ihigkeiten in verschiedener Auspriigung und versehiedener Zusammenkoppelung~ Primitive ReaktionsfS.higkeiten kSnnen auf die Einwirkung von Milieufaktoren ansprecben, wenn diese nur intensiv genug sind. Komplizie~te besondere Reaktionsbereitschaften - - darunter auch patho- logische - - setzen sieh in erbbedingter Verkoppelung aus erbbedingten Griinden sehon unter leisester Milieuwirkung in den Ph/inotypus urn. So kommen wir von allen Sziten auf die beiden groiten Partner Erbkonstitution und Milieu, aus dcnen wir bei sinngem/ilter Analyse die pathogenetischen VerhSl~nisse aueh in unserem Gebiet verstehen milssep.

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90 E. Kahn: Uber die Bedeutung der Erbkonstitution far die Entstehung+

Wir haben also bei der Paralyse konstellative Pathogenese und (ffir die blande Form) im wesentlichen konstellative Pathoplastik. Es ist sehr bemerkenswert, dab man auch, ohne yon einer erbbiologischen Betrachtungsweise auszugehen, bei einer in ihrem pathogenetischen Hauptfaktor so eindeutig konstellativ bestimmten Krankheit wie der Paralyse an der Konstitution nicht vorbeikommt. ,,Die Tatsache, dab fast konstant die Syphilis bei sparer an Paralyse Erkrankenden auf- fallend milde verlauft, legt den Gedanken nahe, dab eine Vorbedingung zur Erkrankung in einem bereits in der Anlage begrfindeten, abnormen Abwehrmechanismus gegenfiber dem Syphiliserreger gegeben sein k6nnte." Diesen Satz yon PlautUS), der sphter vielfach, zuletzt yon Meggendorfer26), aufgenommen wurde, mfissen wir uns zu eigen machen. Wir glauben, trotzdem die Paralyse zu den konstellativen Formen stellen zu mfissen. Nicht nur aus den eben erwahnten Grfinden, sondern auch in Anlehnung an P l a u t , der an derselben Stelle sagt: ,,Die Verschiedenheit, welche die syphilitischen Produkte in den ein- zelnen Stadien aufweisen, scheint nicht auf Qualitatsdifferenzen der Spirochaten, sondern auf eine sich allmahlich vollziehende Veranderung der Reaktionsweise des Infizierten, ,Umstimmung', zurfickzuffihren zu sein. Da diese Umstimmung bereits bei einem nur kleinen Prozent- satz zum Tertiarismus ffihrt, und da eine weitere Phase der Umstimmung ffir die Paralyse in Frage kommen kSnnte, ist es nicht verwunderlich, dab nur eine so geringe Zahl yon Syphilitikern paralytisch wird." Diese Umstimmung, die durch die Wirkung des Erregers herbeigeffihrt wird, scheint uns als durchaus konstellative Eigenschaft auch bei der Paralyse so im u zu stehen, dab die noch hinzukommende besondere Abwehrsehwache nicht genfigt, die paralytische Erkrankung aus dem Zusammenhang in allen fibrigen Infektionskrankheiten bzw. Folgekrankheiten von Infektionen, die uns als konstellativ gelten, zu reiBen. Dfirfen wir doch nicht fibersehen, dab die verschiedene EmpfSng- liehkeit ffir Infektionen fiberhaupt auf in der Anlage bestimmte Abwehr- differenzen zuriickgehen muB.

Nun sind dig blanden Formen der Paralyse nicht gerade die haufig- sten. Wir werfen deshalb fiber die pathogenetisch bestimmte kon- stellative Grundstruktur der Paralyse hinaus einen Blick auf ihre weitere Pathoplastik. Das Ende vom Lied ist bei jeder Paralyse die fiberwiegende Ausffillung der Pathoplastik dureh konstellative Reiz- und Defektsymptome; im Laufe vieler paralytiseher Erkrankungen tritt aber eine Ffille von agitierten, expansiven, depressiven, seltener kata- tonen Syndromen ein, ffir deren pathoplastische Bestimmtheit kon- stellative Faktoren nieht verantwortlich gemacht werden k6nnen. Nach Ka lb 15) und P e r n e t ~7) kommen in diesen Fallen Erbanlagen aus dem Kreis der zirkularen und schizophrenen Erkrankung zur Manifestation;

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wir wiirden sagen: die Anlagen schizoid bzw. elastisch-labile Affektiviti~t geben unter dem Einflu2 der paralytischen GrundstSrung besondere Symptome ins Gesamtbild. Damit wollen wir aber keineswegs behaup- ten, dai~ jede paralytische Euphoric der elastisch-labilen Affektiviti~t, jede Stereotypie oder jedes andere katatonisch aussehende Einzel- symptom d e m Schizoid entstamme. Wir sind, wie wiederholt erwi~hnt wurde, der Meinung, dab nicht allein Manisch-depressive vergnfigt oder traurig sein kSnnen, und wfirden bei der Paralyse ffir die Euphoric vielfach die Wirkung der GrundstSrung bzw. des dementiven Prozesses

- - euphorisierende Giftwirkung, Wirkung yon Defektsymptomen, kon- stellative ZerstSrung der Regulation des affektiven Apparates -- als ursi~chliches Moment heranziehen; ~hnlich wird es fiir manche gereizte oder depressive Verstimnmng der Paralytiker anzunehmen sein, wobei die Selbstwahrnehmung des Defektes noch eine Rolle spielen mag*). Die ZerstSrungen im Gehirn und die dauernde Einwirkung der Ver- giftung kSnnen auch durch Ausfall von Verbindungen oder Abbau hSherer Zentren in die Psychomotorik hineinwirken und als katatonisch imponierende Zeichen produzieren, die genetisch mit dem Schizoid nichts zu tun haben; auch die fortschreitende Demenz wird dazu das ihrige beitragen -- man denke an die Monotonien, Stereotypien u. dgl. bei manchen nicht schizophrenen angeboren Sehwachsinnigen und an Parallelerscheinungen bci Kindern, bei denen jene Zentren oder Ver- bindungen offenbar fehlen bzw. nicht oder noch nicht zur vollen Aus- bildung gelangt sind.

Wir wollen hier der pathoplastischen Mitwirkung der Gesamt- persSnliehkeit, auf deren Bedeutung G a u p p 6) immer wieder mit be- sonderem Nachdruck hingewiesen hat, gedenken, der GesamtpersSnlich- keit in ihrer erbkonstitutionell-konstellativen Zusammensetzung (Phi~no- typus). Gcrade bei der Bildausgestaltung der Paralyse bedeutet es mindestens in sehr vielen F~llen und in diesen fiber recht betrhchtliche Zeitspannen einen wohlbekannten Unterschied, ob der Erkrankte von Hause aus eine intellektuell und affektiv primitive oder komplizierte PersSnlichkeit ist. Wir sehen -- und dabei mSchten wir nicht allein an die Paralyse, sondern an die grol~e Mehrzahl der Irreseinsformen iiber- haupt denken -- einen Primitiven ohne viel Aufheben einem destruk- tiven Prozci~ verfallen und erliegen oder einen heilbaren Anfall yon Irresein fiberstehen. Wir sehen aber viele gcistig hochstehende und affektiv Differenzierte**) sich verzweifelt gegen die Veriinderung ihres geistigen Geffiges zur Wehr setzen und kSnnen aus dieser Gegcnwehr

*) Wir verwcisen auf die Auffassung yon Ster tz iiber die Wirkung der Selbst- wahrnehmung des sich entwickelnden Defekts bei der A1 z h e i m e r schen Krankheit.

**) Gaupp hat auf den groBen Bilderreichtum der Irreseinsformen in den gebildeter~ St~nden aufmerksam gcmacht.

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92 E. Kahn: ~'ber die Bedeutung der Erbkonstitution fiir die Entstehung~

manches im psychischen Gesamtbild auftretende Zeichen verstehen: die noch gesunden Teile der psychischen PersSnliehkeit sind es, die wir hier an der Arbeit sehen und die nicht selten noch erstaunliche Symptome produzieren kSnnen, z. B. bei alten Schizophrenen, die lhngst fiir ,,er- ledigt" gehalten worden waren. Da~ hier ftir dieses oder jenes Symptom die Entscheidung dariiber, ob es noch gesund oder sehon krankhaft ist, kaum mSglich ist, verschweigen wir nicht; es wird auch ffir manehes Einzelsymptom nicht sicherzustellen sein, ob es im wesentlichen erb- konstitutionell, das hie~e bei der Paralyse noch aus dem Gesunden stammend, oder im wesentlichen konstellativ, das hieBe hier durch die Wirkung der konstel|ativen GrundstSrung zustande gekommen ist. Das kiimmert uns nicht im Zusammenhang unserer Betrachtungen, die dem Typischen an den Erscheinungsformen und den Grundlagen des erbkonstitutionell-konstellativen Aufbaues des Irreseins gelten.

Ftir die typisehen FMle und f/Jr das Typische an allen F~llen der Paralyse stellen wir nochmals die konstellative Pathogenese und die weitgehende konstellative Pathoplastik im engen Zusammenhang mit der Pathogenese (Abbau-, Reiz- und Defektsymptome) heraus. Wir wiederholen, da[t das paralytische Irresein ftir uns , ,Symptom" der biologischen (konstellativen) GrundstSrung ist.

Wir haben uns noch mit der Frage auseinanderzusetzen, ob und wie weit die konstellativen paralytisehen Reiz- und Defektsymptome*) spezifisches Erzeugnis der paralytischen Erkrankung oder nur ,,Au[3e- rungsformen" im Sinne von K r a e p e l i n s 2~ encephalopathisehem Register sind. J a s p e r s 1~) hat mit berechtigtem Bedauern darauf hin- gewiesen, wie sehr die Psychopathologic der Paralyse an Interesse ver- loren babe, seitdem wir die Erkrankung neurologisch und serologisch. diagnostizieren k6nnen und ihre anatomischen Veranderungen kennen. Wenn es gelingt, psychische Einzelsymptome der blanden Paralyse allen heterogenen pathoplastischen Beiwerks zu entkleiden und yon der Beeinflussung durch solches zu abstrahieren, bleiben fiir diese Symptome spezifisehe Kennzeichen nicht iibrig. Es ist nur der Zusammenhang dieser Symptome unter sieh und mit neurologisehen und k6rperliehen Krankheitszeichen, aus denen wir bei der Paralyse unsere Diagnose stellen. Deshalb treten wir K r a e p e l i n s Anschauung bei, wenn er die hier gemeinten Symptome in die unspezifisehen encephalopathischen :~u/.~erungsformen einbezieht**). ])amit ist keineswegs ausgesprochen,

*) ]Ja~ die heterogenen, erbkonstitutionell bedingten Symptome von dem betreffenden erbkonstitutionell bestimmten Apparate kommen und wie welt sie fiir diese spezifisch sind, geht wohl aus dem ganzen Zusammenhang dieser Er- 5rterungen hervor.

**) Wir lassen uns nicht davon beirren, dab wir bei der Paralyse konstellativ entstandene Symptome sehen, die unspezifisch sind ftir die zugeh6rige konstellative GrundstSrung, und dab wir, wenn wir bei der Huntingtonschen Chorea ebenso

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dal3 nun alle Formen des Schwachsinns identisch seien; wohl aber seheinen bei allen Schwachsinnsformen primitive Symptome, die auf direkten Abbau (evtl. auch unterbliebenen Aufbau!) zuriickgehen -- sei er durch erbkonsti tutionelle oder durch konstellative GrundstSrungen gesetzt - - , gegeben zu sein, die wir mindestens vorli~ufig nicht welter differenzieren kSnnen.

Es ist nach dem Gesagten des der GrundstSrung zugehSrige para- ]ytische Irresein, die blande Paralyse, in seinem pathoplast ischen Aufbau unspezifisch fiir die Erkrankung. Die Erscheinungen des Irre- seins der blanden Paralyse bilden aber mit den kSrperlich-neurologischen Symptomen zusammen eine klinisch wohl gekennzeiehnete Gruppe, deren ZusammengehSrigkeit pathogenet isch konstellat iv bedingt ist und durch die anatomische Veriinderung best~tigt wird.

~ b e r die Pathogenese des Delirium tremens, das wir jetzt bet rachten wollen, entwickelt K r a e p e l i n 19) folgende Anschauung: Die chronisehe Alkoholvergiftung*) ha t tiefgreifende Verimderungen im Organismus gesetzt und besonders eine gewaltige Umwi~lzung der gesamten Stoff- wechselvorgitnge herbeigefiihrt. I rgendwelche besonderen Umst~tnde bewirken eine Gleichgewichtsschwankung im Ablauf der ver~nderten Stoffwechselvorgiinge, ,,die sich uns klinisch als Delirium tremens dar- stellt" **). Wir stehen auf dem Boden dieser Anschauung, die wirfolgen-

aufsplittern, dieselben unspezifischen Symptome aus einer erbkonsfitutionellen GrundstSrung entstehen sehen. Es handelt sicb in beiden F~llen einmal um die jedem Menschen eigene AbbaufShigkeit und dann um Symptome, die auf in jeder Individualkonstitution vertretene Erbeigenschaften (auf das quantum und quale kommt es in diesem speziellen Zusammenhang nicht an) zuriickgehen. Beim Huntington ist es eine crbkonstitutionelle Grundst6rung, die im Gesamtaufbau und Ablauf erbbestimmt auch diese Defektsymptome setzt; bei der ]?aralyse ist es der tiefgehende konstellative Destruktionsprozel~, der schliei~lich auch die seelische ]?ers6nlichkeit zerst6rt. Beide Male Destruktionsvorg~,nge, die letzten Endes auf dieselben primitiven l~eoktionen des Individuums bzw. seiner Art und Rasse stol~en miissen. Different ist hier die konstellative, dort die erbkonstitutio- helle Bestimmtheit der destruktiven Tendenz.

*) Wir sehen devon ab, dal3 man den chronischen Alkoholismus an sich sehr wohl als ,,Symptom", sei es einer psychopathischen Minderwertigkeit, sei es einer transitorischen oder destruierenden, mit Irresein verbundenen Erkrankung, auf- fassen kann. Wir gehen auch nicht darauf ein, dal3 die K6rperbeschaffenheit dank gewissen erbkonstitutionellen Dispositionen dem Platzgreifen der zum Alkohol- sieehtum ftihrenden Sch~digung bald giinstige, bald ungiinstige Bedingungen bietet. Wir sehen bier den Alkoholisnms ~ls eine chronisehe Exointexikation an, (~ie bei jedem Individuum zu tiefer Sch~digung fiihren kann, wenn sie in aus- reichender lntensit~t wirkt. D. h., wir suchen auch hier unseren Ausftihrungen des zugrunde zu legen, was wir fiir typisch halten, um Atypisches sp~iter zu er- w~tl'nen.

**) K r a e p e l i n 1') denkt daran, ,,dal3 irgendein krankhaftes Stoffwechsel- gift entweder in grSl~eren Mengen erzeugt wird oder dal3 die bis dahin ausreichen- deu Schutzmechanismen versagen".

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derma2en in unsere Terminologie tibersetzen: Der Milieufaktor Alkohol setzt am Organismus konstellative Ver~tnderungen, die in ihrer Gesamt- heit als Alkoholsieehtum [Kraepe l in lg ) ] bezeichnet werden. Die als konstellative Eigensehaft aufzufassende GrundstSrung fiir die sieh ent- wiekelnden Symptome des Alkoholsiechtums ist eine Ver~nderung des Gesamtstoffwechsels, eine Stoffwechselvergiftung. Das Delirium tremens ist die Manifestation konstellativ (im Organismus zustande gekomme- ner), unter Umstitnden auch durch Mitieufaktoren erzeugter Exaeer- bationen dieser Stoffwechselvergiftung; damit hi~ngt seine regressive Tendenz zusammen. Also: die Grundst6rung des Delirium tremens ist eine konstellative; konstellativ -- eventuell durch Milieufaktoren be- reichert -- ist auch ihre Pathogenese. Der Pathogenese eng zugeordnet ist das Hauptsyndrom: das Delir, die delirante J~ulterungsform des h'reseins. Der nie fehlende Hauptbestandteil der deliranten XuSerungs- form ist die BewuBtseinstriibung, die die psychischen Beziehungen zur Umwelt stSrt, die Wahrnehmung verandert, fSlscht und bis zu traum- haften Wahnerlebnissen fiihrt. Die F~higkeit zur Bewul3tseinstriibung und den mit diescr zusammenh~ngenden Erscheinungen ist jedem mensehlichen Organismus gegeben*); sie kann durch mechanische und dureh toxischc Einwirkungen jeder Art aktiviert werden. Aucli beim Delirium tremens sehen wir die delirante Jml3erungsform als unspezifisch an. Wenn trotzdem das Trinkerdelir eine so fiberaus typische Krank- heitsform ist, so liegt das offenbar daran, dag hier die ,,blande" delirante AuBerungsform in der Regel durch Komponenten, die vom Alkohol- siechtum herkommen, bereichert wird (humoristisch-itngstliehe Unruhe, Zittern). Wir diirfen aul~erdem nieht iibersehen, dab auch die Begleit- umsthnde, die wir zum Teil der Anamnesc und dem Status corporis entnehmen, sehr bei der Diagnose Delirium tremens, die wir keineswegs ausschliel31ieh aus dcr Betrachtung des deliranten Zustandes stellen, in Rechnung gezogen werden. Wir erinnern an gewisse Morphium- und Paraldehyddelirien, die symptomatologisch vom Alkoholdelir nieht zu unterscheiden sind. Wir erw/~hnen, dal~ die Pathoplastik des Delirium tremens aus der Eigenart der GesamtpersSnlichkeit und eventuell aus pathologischen Anlagen kompliziert werden kann.

, Was uns hier am wesentlichsten erscheint, ist die Aktivierung einer unspezifischen AuBerungsform durch ein spezifisches in seinen Wir- kungen wohl bekanntes Gift bzw. durch auf dieses Gift zurtickgehende konstellative VerSnderungen. Aus einer so markanten ,Psychose", wie dem Delirium tremens, mfissen wir einmal die pathognostische

*) Daran wird durch die Tatsache nichts ge~ndert, dab viele Menschen sehr leicht, schon auf geringe Schiidigungen hin, delirieren und dag diese gesteigerte Detirfiihigkeit, diese ,,Delirbereitschaft", anscheinend erbkonstitutionell bedingt sein kann [symptomatiscbe Labilitiit, Kleist2~

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Belanglosigkeit des Hauptsyndroms und dann die vielfaeh erw~hnte Tatsache ableiten, da~ diese ,,Psyehose" aueh nichts weiter ist als ein , ,Symptom", das wir in seiner pathogenetischen Bedingtheit als kon- stellativ betrachten.

Wir maehen von der Voraussetzung der grunds~tzliehen Bedeutung der Erbkonstitution ffir die Entstehung der Erscheinungen des Irre- seins ausgehend den Versuch, zwei gegens~tzliche Reihen aufzustellen: die in ihrer Pathogenese erbkonstitutionell bedingten und die in ihrer Pathogenese letzten Endes aufs Milieu zurfiekgehenden (konstellativen) Formen. Wir haben versueht, an pr~gnanten Beispielen aus beiden Reihen durch Heraushebung der hervorsteehenden erbkonstitutionellen und konstellativen Faktoren Einblick in die Grundstruktur*) dieser Formen zu bekommen. Unsere erbkonstitutionellen und konstellativen St6rungen fiberdecken sich vielfach mit den bisher als ,,endogen" und ,,exogen" bezeichneten, ohne mit diesen aber identisch zu sein. Wir halten die Bezeichnungen ,,endogen" und ,,exogen", die heute in so verschiedener Weise gebraueht werden, fiir unklar und unseharf; dabei sind wir uns wohl bewu[tt, da[t die aus der Klinik kommende Unter- seheidung zwischen exogen und endogen die Vorbedingung darstellt, aus der heraus wir weiterzuarbeiten trachten. Wir wollen nicht wieder einmal die ganze Diskussion fiber die Frage, ob es spezifische exogene Psychosenbilder gibt, aufrollen, die ffir die sogenannten symptomatischen Psychosen dutch B o n h o e f f e r s a) Aufstellung der exogenen Pr~- dilektionstypen zur H6he geffihrt und neuerdings yon K l e i s t is) -- homonome und heteronome Syndrome -- auf eine neue Formel gebracht worden ist. Wir haben aber von unserem Standpunkt aus doch zu ffagen: Gibt es fiberhaupt Symptome oder Syndrome, die ffir bestimmte Formen oder doch ffir groBe Gruppen von Irresein spezifisch sind ? Und fiir den Fall, daft wir diese Frage verneinen mfissen, haben wit die zweite Frage zu stellen: K6nnen wir fiberhaupt und auf welehe Weise zur Aufstellung klinischer Gruppen kommen ?

Was in der Pathologie -- ebenso fibrigens in der gesamten Biologie - - aus Milieuwirkung heraus zu einer komplexen Erscheinung am Organismus entsteht, setzt sich aus vielen einzelnen Komponenten zusammen, deren Entstehung wir verfolgen k6nnen; sie ffihrt fiberall zurfick auf allgemeine, nieht komplizierte Eigenschaften oder F~hig- keiten der Organismen auf primitive Reaktionsm6glichkeiten, die in jedem Idioplasma gegeben.sind. Umgekehrt sehen wir erbbedingt und in besonderen Erbg~ngen veffolgbare komplexe Erscheinungen, die in ihrer Komplexit~t anlagegegeben sind und zur Manifestation nur d e

*) Wir betonen: Grundstruktur, weft zur Analyse der Gesamtstruktur nat~r- lich genaues Eingehen in bezug auf seine Herkunft und Bedeutung notwendig ist, worauf wir bier nicht eingehen kSnnen.

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allgemeinen Wirkung des Milieus bediirfen. So entsteht z. B. die Grund- stSrung der Paralyse aus der langsamen und zi~hen Arbeit der Spirochaeta pallida, zu der nach und nach immer neue konstellative Faktoren treten, his die fortschreitende Destruktion dem Vorgang ein Ende setzt. Alle Erscheinungen der blanden Paralyse setzen sich aus konstellativen Einzelfaktoren zusammen, bei denen die Erbkonstitution nur den all- gemeinen Hintergrund darstellt. Auf der anderen Seite ist die Grund- stSrung des manisch-depressiven Irreseins in ihrer Komplexitht erb- konstitutionell gegeben und finder bemerkenswerterweise an einen anderen speziell erbgegebenen Komplex, die elastisch-labile Affektivit~t, Anschlul]*). Nicht mindcr deutlich ist die erbkonstitutionell gegebene GrundstSrung und der ganze erbkonstitutionell gegcbene Ablauf bei der in ihrer destruktiven Tendenz der ParaIyse verwandt erscheinenden H u n t i n g t o n s c h e n Chorea.

Es spricht nicht gegen unsere Auffassung, da~ wir die psychischen Symptome erbkonstitutioneller Irreseinsformen, z .B. des manisch- depressiven Irreseins, psychopathologisch welter analysieren kSnnen. Wesentlich ist, da~ sie in ihrer Totalit~it nicht vom Milieu aufgebaut, sondern erbgegeben sind.

Hiermit haben wir unseres Erachtens den Punkt vor uns, der die Trennung unserer beiden Reihen und innerhalb der erbkonstitutionellen Reihen die Zusammenfassung wohl charakterisierter Gruppen als l~esul- tanten des Zusammentretens von Erbfaktoren m5glich macht, aus denen sich bestimmte, aber komplizierte phSnotypische Manifestationen**) ergeben.

Wir erwarten den Einwand: eine StSrung St beruhe auf dem Vor- handensein des Erbkomplexes E, aus dem die Erseheinungen w, x, y, z resultieren. Nach unseren Ausfiihrungen k5nnte jede der Erschei- nungen w, x, y, z ffir sich auch konstellativ entstehen, indem sic durch besondere Milieureize aus den Anlagen zu ,,allgemein menschlichen Eigenschaften" herausgezogen wfirden. Wenn nun auch die konstellativ erzeugten Erseheinungen***) w, x, y, z im allgemeinen nicht zusammen auftreten, so kSnnten sie doch einmal durch besondere Umst~nde an e i n e m Individuum gemeinsam vorkommen; es wiirde dann ein Bild

*) Wiirde angenommen oder sogar bewiesen, dab nieht die affektiven ii_ul3e- rungen, sondern die Erscheinungen der Hemmung und FSrderung ira zirku�91 Irresein die Kardinalsymptome seien, so wiirde unsere Anschauung fiber diese StSrung nur einen ,,inneren Frontwechsel" vornehmen mtissen, ohne im ganzen erschiittert zu werden.

**) Die Kompliziertheit einzelner ph/~notypischer Erseheinungen trotz fester, eindeutiger genotypischer Bedingtheit 15Bt sich an vielen Beispielen der Erb- bio!ogie dartun; sie ist nicht etwa eine yon uns ad hoe vorgenommene Konstruktion.

***) Wir erinnern an das, was wir fiber das Vorkommen ei nzel ner katatonisch aussehender Zeichen, die wir nicbt ins Schizoid einbeziehen, gesagt haben.

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entstehen, das der Auswirkung des Erbkomplexes E der St6rung St vollkommen entspri~che: eine konstellative St6rung wiirde dann zum gleichen Bilde fiihren wie eine erbkonstitutionelle. Wir geben diese M6glichkeit zu, deren Realisation immerhin nicht gerade h~ufig sein diirfte; aber auch bei ihrer Realisation wiirde es gelingen, die Ver- schiedenheit der Genese -- dort erbkonstitutionell, hier konstellativ -- aufzudecken und aus der genetischen Verschiedenheit vielleicht auch Anhaltspunkte fiir Differenzen der Erscheinungsformen -- mSglicher- weise nieht in ihren letzten Einzelkomponenten, wohl aber in der Art ihrer Zusammensetzung und ihres Zusammenwirkens -- ausfindig zu machen.

Gerade dieser Einwand scheint uns mit besonderem Nachdruck auf die nicht oft genug zu betonende Wichtigkeit der primiiren Erfassung der erbkonstitutionellen Etemente hinzuweisen, die fiir unsere patho- logischen Belange aus den eben aufgefiihrten Griinden eine geringere Fluktuation haben als die primitiveren konstellativen Gebilde.

Ftir die reinen Typen der erbkonstitutionellen und konstellativen Reihe wird aus dem Naehweis bzw. aus dem Fehlen der pathogenetisch wesentliehen Mitwirkung yon Erbfaktoren, die sich in komplexen Er- scheinungen manifestieren, die von uns geforderte Trennung m6glich sein. Innerhalb der erbkonstitutionellen Reihe werden die reinen Typen durch den Naehweis*) des gesetzmhl~igen Zusammenarbeitens verschiedener Erbfaktoren**) herausgearbeitet und a]s eigene Gruppen***) ins System gestellt werden k6nncn. Bei den konstellativen Formen ist eine analoge Ordnung wegen der Vieldeutigkeit ihrer primitiven Komponenten nicht durchfiihrbar ; ihre Aufnahme ins System hat nach den Grundst6rungen, die in grol3en Gruppen (mechanische, toxische, infekti6se) zusammen- gefa[]t werden, zu erfolgen. Damit haben wir fiir die reinen Typen die vorhin gestellten Fragen beantwortet.

In unseren Ausfiihrungen ist da und dort des Mitspielens heterogener Elemente (beim manisch-depressiven Irresein, bei der Schizophrenie, bei der Paralyse) Erw~hnung getan worden. Wir mtissen darauf noch kurz eingehen und beginnen wieder mit der Erbkonstitution.

Jeder Mensch ist ein ~ui~erst kompliziertes Anlagengemisch. Gewisse pathologische Erbfaktoren k6nnen bestimmte Formen des Irreseins bedingen. Wir sehen nun aueh Formen yon Irresein, bei denen wir annehmen miissen, da~ verschiedene pathologische Erbanlagen vor-

*) Sp~ter vielleicht einmal durch den Nachweis der spezifischen Grund- st6rungen !

**) Vergleiche die Ausftihrungen tiber das manisch-depressive Irresein, die Schizophrenie und die Epilepsie.

***) Essentiell ist die erbkonstitutionelle biologische GrundstSrung, deren Vor- handensein wit allerdings noch nicht nachweisen, sondern nut erschlieBen k5nnen.

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. LXXIV. 7

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handen sind. Aus solchen Misehanlagen -- K r e t s c h m er 31) gebraucht den Ausdruck Konstitutionslegierungen -- ergeben sich Formen yon Irresein, die wir mehr und mehr durch Erbanalyse zu deuten und zu erkli~ren vermSgen. Fiir ihre Einreihung ins System hat -- wenigstens jetzt noch -- der Grundsatz zu gelten: a potiori fit denominatio; es ist a]lerdings gelegentlich schwer, sich fiir ein ,,potius" zu entscheiden.

In erbkonstitutionelle Irreseinsformen -- einfaehe wie mischanlagige - - spielen nun aber aueh _~ul~erungsformen herein, die in ihren reinen Typen der konstellativen Reihe angehSren als AbkSmmlinge jener Anlagen zu primitiven Reaktionsf~higkeiten; wir nennen delirante Zusti~nde bei zirkuli~ren Manien als Beispiel. Wir haben solche hetero- genen Einschl~ge, sofern sie nicht Milieufaktoren ihre Entstehung ver- danken, auf die Wirkung besonders intensiver Giftwirkung*) yon seiten der vorliegenden erbkonstitutionellen Grundst6rung aufzufassen. Be- sonderer Art ist hier die ~tellung der erbkonstitutionellen Epilepsie, in der das Symptom des epileptischen Krampfes gewissermaBen als heterogenes Element -- wohl infolge einer ,~finiti~t (siehe oben) -- in die Patho- plastik einer erbkonstitutionellen StSrung gesetzm~l~ig eintritt.

Andererseits kSnnen konstellative GrundstSrungen beim Vorliegen komplexer pathologischer Anlagen durch deren Mobilisierung eine wesentliche Veri~nderung der ,,blanden" Pathoplastik und eine weit- gehende Anniiherung des i~ul~eren Brides an erbkonstitutionelle Irre- seinsformen zeigen (melancholische Paralyse).

Schliel~lich k6nnen verschiedene allgemeine Aul~erungsformen auf dem Boden derselben Grundst6rung nach- oder nebeneinander auf- treten; dazu k6nnen sieh noch Einschli~ge aus pathologischen Erb- faktoren gesellen, so dal] Bilder von kaum zu entwirrender Kompliziert- heir zustande kommen.

In einer nicht unerheblichen Zahl dieser F~tlle wird man zu einer einfachen Diagnose auch unter dem Gesichtswinkel a potiori fit de- nominatio nicht kommen kSnnen und die betreffende St6rung lediglich ihrer ausschliel~lichen oder ausschlaggebenden pathogenetischen Be- dingtheit nach entweder zur erbkonstitutionellen oder zur konstellativen Reihe stellen und in der Krankheitsbezeichnung -- nach Art yon K r e t s c h m e r s 2~) Vorschlag einer mehrdimensionalen Diagnostik - - die wesentlichsten Faktoren**) anfiihren.

*) Zu dieser Auffassung ist auch La nge durch eingehende Studien an Manisch- depressiven gekommen. Er land, dab delirante StSrungen bei Circul~ren gar nicht selten sind, und glaubt nachweisen zu k5nnen, dal] ein Teil derselben psychogener Natur ist.

**) Z. B. konstellative Psychose bei Kohlenoxydgasvergiftung. delirantes Syndrom, Korssakowsche Symptomkomplex, erbkonstitutionell-depressive Ein- schl~ge.

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den Aufbatt ua(1 die Systematik der Erscheinutlgsformen des Irreseins. 99

In allen Formcn, deren EntstehungsmSglichkeiten wir bisher be- sprochen haben, kSnnen nun auch noch psychogene Symptome auf- treten. Wir diirfen uns einer kurzen Darlegung unserer Auffassung der psychogenen Erscheinungen deshalb nicht entziehen. Psychogen heiftt (lurch psychische Reize, die yon aui3en kommen, verursacht. Jeder Mensch ist im weitestcn Sinne psychogen; d. h. jedcr Mensch hat die Fi~higkeit, auf psychischc Reize zu reagieren und iibt diese Fi~higkeit dauernd aus. Der ~bergang dcr psychogcnen Reaktionsfi~higkeit aus der physiologischen in die pathologische Breite ist ein vollkommen fliel]endcr; jedes, auch das quantitativ und ttualitativ ungewShnlichste pathologische psychogcne Symptom linden wir ,,vorgebildet" im ge- sunden Seelenleben. Die t3Tische pathologische psychogene Reaktions- fi~higkeit ist gekennzeichnet einmal durch ihr Ansprcchcn auf geringe psychische Reize und dann durch ihre Manifestation mit starken Aus- schl~gen. Entsprechend dem Herauswachsen der pathologischen aus der physiologischen psychogenen Reaktionsfi~higkeit ist das Verh~ltnis schwacher Reiz -- starker Ausschlag in der pathologischen Breite ein sehr schwankcndes.

Wahrend iiberstarke Reize auch den ,,Gesiindesten" einmal zu einer psychogenen Manifestation yon pathologischcm Ausschlag bringen kSnncn, ist die pathologische Reaktionsfi~higkeit, man kann hier auch sagen: Rcaktionsbereitschaft, vielfach in einem labilen Gleichgewicht, das schon durch die leisesten Anst6f~e gestSrt wird. Sehen wir in der physiologischen psychogenen Reaktionsfi~higkeit eine allgemein mensch- liche, auf ubiquit~ren Erbfaktoren beruhende Eigenschaft, so stellt die pathologische physiologischen Reaktionsbcreitschaft eine auf besondere Erbvorgi~nge zu beziehende Eigenschaft dar, die sich yon der phy- siologischen graducll abhebt. Wir kSnnen daran denken, daft hier ein homomerer Erbmodus*) vorliegt, oder dab durch besondcre Vor- gi~nge in der Erbmassc Hemmungen zum Fortfall gekommen sind, die beim Gesunden phylogenetisch ~iltere Mechanismen in K r a c p e l i n s Sinn an der allzu leichten Mobilisation verhindern. Daft es psychogene, insbesondere hysterische StSrungen gibt, die auf Erbanlagcn beruhcn, kann als gesichert gelten.

Wir greifen aus dem Psychogeniebercich die Hysterie als Beispiel heraus. Eine Krankheit Hysterie vermSgen wir nicht anzuerkennen. Wir stehen mit G a u p p 7) auf dem Standpunkt, dab das tlysterische einc besondere Reaktionsweise sei. Die hysterische Reaktionswcisc**)

*) Vgl. beim manisch-depressiven Irresein. **) Wit wollen darauf verzichten, unsere Hypothesen dutch eine solche fiber

die bioIogische Grundlage der hysterischen Reaktionsweise zu vermehren und nut darauf hinweisen, dal3 diese vielleicht in einer der manisch-depressiven (endo- krinen) Grundst6rung iihnlichen gesucht werden kSnnte.

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100 E. Kahn: l~ber die Bedctttung" der Erbkotlstitution fiLr die Entst(~hLmg,

oder Reaktionsbereitsehaft ist eine Unterform aus dem Gebiet der psychogenen Reaktionsfi~higkeiten bzw. -bereitschaften. Ihr eigen- ttimlich ist die Beantwortung huBerer Reize mit sensiblen, motorischen und einer Reihe yon paroxysmalen psyehisehen Symptomen. Die hysterische Reaktionsbereitschaft kann als Ganzes -- durch einen komplcxen Erbfaktor -- vererbt werden*); in diesen Fi~llen ist sic er- fahrungsgemi~I3 mit einer -- allgemein gesagt -- psychopathisehen Per- sSnlichkeitsartung**) von erbkonstitutioneller Bedingtheit verkniipft. Bei diescr Sachlage geh6rt die hysterische Reaktior/sbereitsehaft in unsere erbkonstitutionelle Reihe. Oft werden aber im Laufe yon erb- konstitutionellen und konstellativen physiologischen und pathologischen Vorg~ngen hysterische Einzelsymptome aus den primitiven Anlagen (allgemein mensehliehe Eigensehaften,' ubiquiti~re Reaktionsfahig- keiten) herausgeholt, die wir dann konsequenterweise unserer konstella- riven Reihe naherfieken miissen. Wir fiihren hier besonders die ,,Ent- wicklungshysterie" an, bei der die UmwMzungen der Pubert~t offenbar ]~remsungen zum Wegf~ll bringen k6nnen, die im allgemeinen die Manifestation primitiver hysterischer Meehanismen verhindern; es gibt aber auch in der Entwicklungshysterie Formen, deren Zugeh6rigkeit zur erbkonstitutionellen Reihe wir aus der Entladung des ganzen hysterischen Apparates vermuten kSnnen.

Die Zwitterstellung des Hysterischen zu unseren beiden Hauptreihen wird auch verstitndlich, wenn wir uns die Bedeutung der Milieufaktoren fiir seine laathogenese vor Augen halten. Manche Fi~lle manifestieren sich schon auf die ,gewShnlichen Lebensreize": das wSre die Kern- gruppe der erbkonstitutionellen hysterischen Reaktionsbereitsehaft. Andere Fi~lle zeigen bei iibermi~chtigem Milieureiz ein fliichtiges hyste- risches Symptom, bei dem wir gelegentlich sogar noch im unldaren bleiben kSnnen (Zittern!), ob w i r e s iiberhaupt dem Hysterischen zu- rechnen dtirfen: in dieser Richtung liegen dim FSlle, die unseren kon- stellativen Formen genetiseh verwandt sind.

So gewinnen fiir unsere Auffassung des Hysterischen in ganz be- sonderer Weise ~berlegungen Bedeutung, die uns auf allen yon uns beriihrten Gebieten besch~ftigt h~ben: 1)berlegungen fiber die e rb - k o n s t i t u t i o n e l l e u n d k o n s t e l l a t i v e B e d i n g t h e i t j e d e r K o m - p o n e n t e u n d i h r e A u s w e r t u n g in a l l e n F o r m e n des I r r e s e i n s .

*) Wit man sich das denken kann, wurde in den Bemerkungen fiber die psy- chogene Reaktionsf~higkeit schon gesagt.

**) Wir bemerken hier, dab die ,,hysterische PersSnlichkeit", der ,,hystcrische Charakter" klinisehe Typen sind, dieauf rein psychopathologischem Weg gewonnen wurden; in ihnen s~eeken sicher biologisch ganz verschiedene Grundlagen. Ffir die ZugehS~5gkeit mancher ,,hysteriseher Cnnaillen" hat Hof fmann 11) beweisende Fiille gebracht, bei denen dig hysterische Reaktionsbereitschaft mit schizoider Pers6nlichkeitsartung verkntipft ist.

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Wir haben uns im wesentlichen auf die Besprechung dieser Bedingt- heiten und ihrer Auswertung fiir die Pathogenese beschr~tnkt und sind nur gelegentlich auch auf die Pathoplastik eingegangen. Wir brauchen nicht auszuffihren, dal~ die Aufbaubetrachtung im einzelnen Fall bei der Pathogenese nicht stehenbleiben darf, sondern auch der Patho- plastik bis ins einzelne nachgehen mu•. Was unsere Betrachtungsweise . flit die Systematik beizutragen versucht," muir auf tier Pathogenese fu~en und kann zun~chst nur den reinen, den typischen F~llen gerecht werden. Gerade die e r b k o n s t i t u t i o n e l l - k o n s t e l l a t i v e A u s - w e r t u n g de r p a t h o g e n e t i s c h e n K o m p o n e n t e n * ) i n j e d e m e i n z e l n e n F a l l bietet Aussicht auf manche Kl~rung und auf die Be- seitigung yon Vorstellungen, die als alte Vorurteile sich in unserer Wissenscha~t erhalten haben:

Es kommt darauf an, das Irresein nicht mehr mit gebanntem Blick als Anfang und Ende unseres Strebens zu besehen, sondern es zu be- trachten im gesamten Flul~ der Erscheinungen, in seiner besonderen Stellung zur Erbkonstitution und zum Milieu -- bald als belanglose Episode einer kSrperlichen Erkrankung, bald als schweres Schicksal aus verh~ngnisvollen erbkonstitutionellen Verknfipfungen.

Dal~ wir keinen Grund haben, mit unserer Betrachtung des Irreseins als , ,Symptom" zu altvi~terischen Begriffen, etwa zur Einheitspsychose, zurfickzukehrcn, geht aus unseren Ausffihrungen zur Genfige hervor. Davor schfitzt uns au[~er den neuen Einsichten, die wir erhoffen, eii1 starker Damm, der uns yore Alten trennt: K r a e p e l i n s klinische Psychiatrie.

Unsere Betrachtungsweise, die der erbbiologischen Forschungs- richtung angeh5rt, glaubt keineswegs allein alle R~tsel lSsen zu kSnnen. Wir gehen immer wieder yon den Ergebnissen der Klinik aus; wir brauchen die Ergebnisse der psychologischen und anatomischen, der serologischen und der chemischen Forschung. Aber was wir an unserer Betrachtungsweise ffir wichtig halten: den Versuch, die beiden Orien- tierungslinien erbkonstitutionell und konstellativ klar herauszustellen, den Gewinn dieses Gesichtspunktes verdanken wir der erbbiologischen Forschung allein. Deshalb soll ihr auch bier unser letztes Wort gelten: sie allein ist gegenwi~rtig in unserer psychiatrischen Wissenschaft be- t~higt, biologische Betrachtungsweisen und Methoden in Anwendung zu bringen, die nicht auf diese oder jene grSl~ere oder kleinere Gruppe yon Erkrankungen allein anwendbar sind, sondern die zu den Grund- ]agen all der Formen ffihren, mit denen w i r e s zu tun haben.

*) Z. B. die Bedeutung yon konstellativen und Milieufaktoren bei der ~Ent- stehung eines Schubs oder einer Phase einer konstitutionellen Irreseinsform oder umgekehrt die Rolle einer bcsonderen Erbkonstitution im Rahmen einer konstella- tiven Form.,

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102 E. Kahn: (Jber die Bedeutung dcr Erbkonstitution fiir die EntstehuHg usw

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