to treat or not to treat?

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32 MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2012 (154. Jg.) AKTUELLE MEDIZIN KONGRESSBERICHTE 32 Hypertonie bei einem 80-jährigen Patienten To treat or not to treat? Ein erhöhter systolischer Blutdruck ist bei betagten Patienten sicher- lich einer der häufigsten Befunde. Sollten Sie in diesen Fällen immer therapeutisch eingreifen, und wenn ja, mit welchen Medikamenten? Die offiziellen Leitlinien geben auf diese Fragen eindeutige Antworten. _ Die Hypertonie des alten Menschen ist ein Thema, das immer wieder kont- roverse Diskussionen provoziert, zumal es bis vor einigen Jahren kaum verwert- bare Daten zu diesem Thema gab. „In den meisten Fällen handelt es sich um eine isolierte systolische Hypertonie als Folge der nachlassenden Elastizität der Gefäße, besonders der Windkesselfunk- tion der Aorta“, so Prof. Joachim Hoyer von der Nephrologischen Universitäts- klinik Marburg. Problematisch ist nach seinen Worten besonders, dass bei alten Patienten die Blutdruckwerte oft stark schwanken und dass die Gabe eines An- tihypertensivums zu einem zu starken Abfall des diastolischen Blut- drucks führen kann. Argumente für eine Blutdrucksenkung Die Frage, ob eine Blutdruck- senkung bei über 80-jährigen Patienten vorteilhaft ist, muss im Einzelfall diskutiert wer- den. Für eine Blutdrucksen- kung spricht, dass mit zuneh- mendem Alter sowohl das Risiko für einen zerebralen Insult als auch für ein Aorten- aneurysma und für eine Herzinsuffizienz zunimmt. Andererseits ist die Nieren- funktion vulnerabler, und es besteht ein höheres Hypoto- nierisiko mit Sturzgefahr. Dass eine Blutdrucksen- kung bei diesen betagten Pati- enten jedoch nicht nur sinn- voll, sondern auch ungefährlich ist, konnte in der HYVET-Studie gezeigt werden. Dabei handelt es sich um eine placebokontrollierte Studie, die ethisch vertretbar war, weil zu diesem Zeitpunkt noch keine offizielle Empfehlung für ei- ne Behandlung in diesem Alter vorlag. „Mit dieser Studie konnte erstmals über- zeugend dokumentiert werden, dass auch über 80-Jährige von einer Blut- drucksenkung bezüglich zerebraler und kardiovaskulärer Komplikationen und somit auch im Hinblick auf die Lebens- zeit profitieren“, betonte Hoyer. Welcher Zielblutdruck? Nach den Ergebnissen dieser Studie wurden auch die Leitlinien dahingehend geändert, dass jetzt nicht nur die Fort- führung einer bereits eingeleiteten anti- hypertensiven Therapie, sondern auch die Einleitung einer solchen bei betagten Patienten indiziert ist. Als Zielblutdruck wurde ein Wert < 140/90 mm Hg vorge- geben, soweit dies vertragen wird. „Für die meisten Patienten dürfte ein Ziel- wert unter 150 mm Hg systolisch realis- tisch sein“, so Hoyer. Dieser Wert sollte jedoch keinesfalls zu rasch angestrebt werden, um mögliche therapieassoziier- te Komplikationen zu verhindern. „Sie haben viel Zeit, es reicht, wenn Sie den Blutdruck innerhalb eines Jahres in die- sen Bereich bringen“, so die Empfehlung von Hoyer. Wichtig ist, dass der diasto- lische Blutdruck nicht unter 60 mmHg absinkt, um nicht die Koronarperfusion zu beeinträchtigen. Welche Substanz wann? Für die antihypertensive Therapie ste- hen auch bei älteren Patienten die be- währten fünf Substanzgruppen zur Ver- fügung, nämlich ACE-Hemmer, AT 1 - Blocker, Kalziumantagonisten, Betablo- cker und Diuretika. „Entscheidend ist nicht, womit Sie den Blutdruck senken, sondern dass Sie ihn senken“, so Hoyer. Man könne davon ausgehen, dass gerade bei betagten Patienten alle Substanzen- gruppen gleichwertig sind. Die Notwen- digkeit für eine Differenzialtherapie er- gibt sich aus den Begleiterkrankungen bzw. der Verträglichkeit. So sind ACE- Hemmer bzw. AT 1 -Blocker Medika- mente der ersten Wahl bei Vorliegen ei- ner Herzinsuffizienz oder eines Diabetes mellitus. Betablocker empfehlen sich bei Patienten mit tachykarden Herzrhyth- musstörungen, insbesondere Vorhof- flimmern und bei KHK, Kalziumanta- gonisten bei COPD. Ob die metabolisch ungünstigen Begleitwirkungen der Beta- blocker und Diuretika in dieser Alters- gruppe noch relevant sind, muss be- zweifelt werden. DR. MED. PETER STIEFELHAGEN Quelle: 118. Kongress der Deutschen Gesell- schaft für Innere Medizin e.V., 14. April 2012 in Wiesbaden. © photos. com plus In aller Ruhe den Zielwert anstreben!

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32 MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2012 (154. Jg.)

AKTUELLE MEDIZIN–KONGRESSBERICHTE

32

Hypertonie bei einem 80-jährigen Patienten

To treat or not to treat?Ein erhöhter systolischer Blutdruck ist bei betagten Patienten sicher-lich einer der häufigsten Befunde. Sollten Sie in diesen Fällen immer therapeutisch eingreifen, und wenn ja, mit welchen Medikamenten? Die offiziellen Leitlinien geben auf diese Fragen eindeutige Antworten.

_ Die Hypertonie des alten Menschen ist ein Thema, das immer wieder kont­roverse Diskussionen provoziert, zumal es bis vor einigen Jahren kaum verwert­bare Daten zu diesem Thema gab. „In den meisten Fällen handelt es sich um eine isolierte systolische Hypertonie als Folge der nachlassenden Elastizität der Gefäße, besonders der Windkesselfunk­tion der Aorta“, so Prof. Joachim Hoyer von der Nephrologischen Universitäts­klinik Mar burg. Problematisch ist nach seinen Worten besonders, dass bei alten Patienten die Blutdruckwerte oft stark schwanken und dass die Gabe eines An­tihypertensivums zu einem zu starken Abfall des diastolischen Blut­drucks führen kann.

Argumente für eine BlutdrucksenkungDie Frage, ob eine Blutdruck­senkung bei über 80­jährigen Patienten vorteilhaft ist, muss im Einzelfall diskutiert wer­den. Für eine Blutdrucksen­kung spricht, dass mit zuneh­mendem Alter sowohl das Risiko für einen zerebralen Insult als auch für ein Aorten­aneurysma und für eine Herzinsuffizienz zunimmt. Andererseits ist die Nieren­funktion vulnerabler, und es besteht ein höheres Hypoto­nierisiko mit Sturzgefahr.

Dass eine Blutdrucksen­kung bei diesen betagten Pati­enten jedoch nicht nur sinn­

voll, sondern auch ungefährlich ist, konnte in der HYVET­Studie gezeigt werden. Dabei handelt es sich um eine placebokontrollierte Studie, die ethisch vertretbar war, weil zu diesem Zeitpunkt noch keine offizielle Empfehlung für ei­ne Behandlung in diesem Alter vorlag. „Mit dieser Studie konnte erstmals über­zeugend dokumentiert werden, dass auch über 80­Jährige von einer Blut­drucksenkung bezüglich zerebraler und kardiovaskulärer Komplikationen und somit auch im Hinblick auf die Lebens­zeit profitieren“, betonte Hoyer.

Welcher Zielblutdruck?Nach den Ergebnissen dieser Studie wurden auch die Leitlinien dahingehend geändert, dass jetzt nicht nur die Fort­führung einer bereits eingeleiteten anti­hypertensiven Therapie, sondern auch die Einleitung einer solchen bei betagten Patienten indiziert ist. Als Zielblutdruck wurde ein Wert < 140/90 mm Hg vorge­geben, soweit dies vertragen wird. „Für die meisten Patienten dürfte ein Ziel­

wert unter 150 mm Hg systolisch realis­tisch sein“, so Hoyer. Dieser Wert sollte jedoch keinesfalls zu rasch angestrebt werden, um mögliche therapieassoziier­te Komplikationen zu verhindern. „Sie haben viel Zeit, es reicht, wenn Sie den Blutdruck innerhalb eines Jahres in die­sen Bereich bringen“, so die Empfehlung von Hoyer. Wichtig ist, dass der diasto­lische Blutdruck nicht unter 60 mmHg absinkt, um nicht die Koronarperfusion zu beeinträchtigen.

Welche Substanz wann?Für die antihypertensive Therapie ste­hen auch bei älteren Patienten die be­währten fünf Substanzgruppen zur Ver­fügung, nämlich ACE­Hemmer, AT1­ Blocker, Kalziumantagonisten, Betablo­cker und Diuretika. „Entscheidend ist nicht, womit Sie den Blutdruck senken, sondern dass Sie ihn senken“, so Hoyer. Man könne davon ausgehen, dass gerade bei betagten Patienten alle Substanzen­gruppen gleichwertig sind. Die Notwen­digkeit für eine Differenzialtherapie er­gibt sich aus den Begleiterkrankungen bzw. der Verträglichkeit. So sind ACE­ Hemmer bzw. AT1­Blocker Medika­mente der ersten Wahl bei Vorliegen ei­ner Herzinsuffizienz oder eines Diabetes mellitus. Betablocker empfehlen sich bei Patienten mit tachykarden Herzrhyth­musstörungen, insbesondere Vorhof­flimmern und bei KHK, Kalziumanta­gonisten bei COPD. Ob die metabolisch ungünstigen Begleitwirkungen der Beta­blocker und Diuretika in dieser Alters­gruppe noch relevant sind, muss be­zweifelt werden. Dr. meD. Peter Stiefelhagen ■

■ Quelle: 118. Kongress der Deutschen Gesell-schaft für Innere Medizin e.V., 14. April 2012 in Wiesbaden.

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