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Theorien erweiterter Tonalität und vagierender Akkorde in den Harmonielehren von Hugo Riemann, Heinrich Schenker und Arnold Schönberg Magisterarbeit im Fach Musiktheorie an der Kunstuniversität Graz eingereicht bei VProf. Dr. Christian Utz vorgelegt von Elisabeth Egger Graz, September 2008

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Theorien erweiterter Tonalität

und vagierender Akkorde

in den Harmonielehren von

Hugo Riemann, Heinrich Schenker und Arnold Schönberg

Magisterarbeit im Fach Musiktheorie

an der

Kunstuniversität Graz

eingereicht bei VProf. Dr. Christian Utz

vorgelegt von

Elisabeth Egger

Graz, September 2008

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Theorien erweiterter Tonalität und vagierender Akkorde in den Harmonielehren von Hu-

go Riemann, Heinrich Schenker und Arnold Schönberg

Die Harmonielehren von Hugo Riemann (Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre, 1880

bzw. Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den tonalen Funktionen, 1893) – dem

Begründer der Funktionstheorie –, Heinrich Schenker (Harmonielehre, 1906) – dessen Schich-

tenlehre schon in diesem ersten Band der Neuen musikalischen Theorien und Phantasien ange-

deutet ist – und Arnold Schönberg (Harmonielehre, 1911) – einem Vertreter der Stufenlehre –

stellen epochale Werke der Musiktheorie um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert dar.

Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit der Behandlung vagierender Akkorde bei Rie-

mann, Schenker und Schönberg auseinander und bespricht jene Theorien, die Riemann, Schen-

ker und Schönberg in ihren Harmonielehren zur Erweiterung der Tonalität heranziehen. Doch

wie geeignet sind diese Theorien für die Anwendung in der Praxis? Und inwiefern unterschei-

den sich die Theorien Riemanns und Schenkers, die kompositorisch kaum tätig waren, von de-

nen des Komponisten Schönberg? Eine Gegenüberstellung anhand ausgewählter Abschnitte von

Brahms’ Intermezzo op. 117/2 und Schönbergs Verklärter Nacht op. 4 soll dies verdeutlichen.

Es soll gezeigt werden, dass keine der Theorien für sich allein stehend eine vollwertige Lösung

bietet, sondern nur eine Kombination von Elementen aus allen drei theoretischen Entwürfen ein

adäquates Ergebnis liefern kann.

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Inhalt

Einleitung ...................................................................................................................................... 1 

I Theorien erweiterter Tonalität .................................................................................................... 3 

Hugo Riemann – Systematik der Harmonieschritte ................................................................ 3 

Heinrich Schenker – Dur-Moll-Mischung und Tonikalisierung ............................................. 9 

Arnold Schönberg – Imitationsprinzip, Ganzton- und Quartenakkorde ............................... 18 

II Vagierende Akkorde ................................................................................................................ 32 

Verminderter Dreiklang ........................................................................................................ 32 

Riemann .......................................................................................................................... 33 

Schenker .......................................................................................................................... 36 

Schönberg ........................................................................................................................ 38 

Halbverminderter Septakkord ............................................................................................... 44 

Riemann .......................................................................................................................... 45 

Schenker .......................................................................................................................... 48 

Schönberg ........................................................................................................................ 49 

Verminderter Septakkord ...................................................................................................... 53 

Riemann .......................................................................................................................... 56 

Schenker .......................................................................................................................... 59 

Schönberg ........................................................................................................................ 60 

Übermäßiger Dreiklang ......................................................................................................... 66 

Riemann .......................................................................................................................... 68 

Schenker .......................................................................................................................... 70 

Schönberg ........................................................................................................................ 71 

Tristanakkord ........................................................................................................................ 76 

Riemann .......................................................................................................................... 78 

Schenker .......................................................................................................................... 79 

Schönberg ........................................................................................................................ 80 

Neapolitanischer Sextakkord ................................................................................................ 82 

Riemann .......................................................................................................................... 83 

Schenker .......................................................................................................................... 85 

Schönberg ........................................................................................................................ 86 

Übermäßige Sextakkorde ...................................................................................................... 89 

Riemann .......................................................................................................................... 91 

Schenker .......................................................................................................................... 97 

Schönberg ...................................................................................................................... 100 

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III Anwendung der Theorien ..................................................................................................... 110 

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2 (ca. 1892) ............................................................ 111 

Verminderter Dreiklang ................................................................................................ 111 

Halbverminderter Septakkord ....................................................................................... 113 

Neapolitanischer Sextakkord ......................................................................................... 114 

Übermäßige Sextakkorde .............................................................................................. 116 

Sequenzen...................................................................................................................... 118 

Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4 (1899) ............................................................... 123 

Literatur ..................................................................................................................................... 126 

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Theorien erweiterter Tonalität

1

Einleitung

Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit den Harmonielehren von Hugo Riemann, Heinrich

Schenker und Arnold Schönberg auseinander. Dabei werden besonders jene Teilabschnitte der

Lehrwerke behandelt, die sich mit der Erweiterung von Tonalität und mit vagierenden Akkor-

den beschäftigen. Erweiterte Harmonik und vagierende Akkorde – verminderter Septakkord,

übermäßige Sextakkorde etc. – sind wichtige Bestandteile der romantischen Harmonik. Im

Zentrum des Interesses steht, wie drei so unterschiedlichen Autoren wie Riemann, Schenker und

Schönberg mit diesem Thema umgehen und wie sie die vagierenden Akkorde behandeln. Es soll

auch herausgefunden werden, inwiefern sich ihre Theorien auf die Musik in den Jahrzehnten vor

1900 anwenden lassen. Ziel ist daneben auch, eine möglichst gute Übersicht über die harmoni-

schen Systeme von Riemann, Schenker und Schönberg zu erhalten.

Im ersten Kapitel werden jene Theorien beleuchtet, mit deren Hilfe Riemann, Schenker und

Schönberg leiterfremde Akkorde in die Tonart einbeziehen. Riemann nutzt dazu seine Systema-

tik der Harmonieschritte, Schenker erfindet das Prinzip der „Dur-Moll-Mischung“ und Schön-

berg verknüpft die Dur- und Molltonleiter unter anderem mit den Kirchentonarten und Neben-

dominanten.

Die Untersuchung stützt sich bezüglich Hugo Riemann auf sein Handbuch der Harmonieleh-

re (in der ersten Auflage 1880 als Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre erschienen,

10. Auflage 1929), zur Ergänzung wurden aber auch seine Schriften Vereinfachte Harmonieleh-

re oder die Lehre von den tonalen Funktionen der Akkorde (1893, 2. Auflage ca. 1899) und

Elementar-Schulbuch der Harmonielehre (1905, 4. Auflage 1923) herangezogen. Heinrich

Schenker und Arnold Schönberg haben je nur ein Werk zur Harmonielehre veröffentlicht: In

Bezug auf Schenker dient der erste Band seiner Musikalischen Theorien und Phantasien als

Grundlage dieser Untersuchung, die Harmonielehre (1906, Nachdruck 1978); Ausgangspunkt

bei Schönberg ist dessen Harmonielehre (1911, Nachdruck 2001 der 7. Auflage von 1966), die

ursprünglich ebenfalls als erster Band eines mehrteiligen Werks geplant war. Riemann und

Schenker gehen stilistisch von der Harmonik der Wiener Klassik aus, während für Schönberg

die Harmonik Richard Wagners Grundlage ist. Die Harmonielehren Riemanns und Schönbergs

sind als „Handwerkslehren“ gedacht. Die didaktischen Ansätze der beiden Autoren unterschei-

den sich darin, dass Riemann Beispiele zum Aussetzen gibt (vorgegebene Stimme mit Akkord-

bezeichnung oder gegebene Funktionsbezeichnung), Schönberg jedoch anhand unrhythmisierter

Tonsätze möglichst alle Verbindungen von Akkorden zeigen will. Riemanns Harmonielehren

enthalten überhaupt keine Literaturbeispiele – um die Schüler nicht zum Imitieren anzuregen –,

die sehr wenigen Literaturbeispiele in Schönbergs Harmonielehre finden sich vor allem in den

hinteren Kapiteln, die in erster Linie der Diskussion Schönbergs eigener Kompositionstechnik

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Theorien erweiterter Tonalität

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dienen (Ganzton- und Quartenakkorde, Umkehrungen von Nonenakkorden). Schenkers Heran-

gehensweise ist eine gänzlich andere: Seine Harmonielehre enthält fast nur Literaturbeispiele,

da für ihn die Analyse den größten Stellenwert besitzt.

Das zweite Kapitel der Studie widmet sich denjenigen Akkorden, die Schönberg in seiner

Harmonielehre als „vagierende“ bezeichnet: verminderter Dreiklang, halbverminderter und

verminderter Septakkord, übermäßiger Dreiklang, Tristanakkord, neapolitanischer Sextakkord

und übermäßige Sextakkorde. Innerhalb der Kapitel findet sich auch ein Vergleich mit neueren

Theorien.

Im dritten Kapitel werden ausgewählte Stellen aus Johannes Brahms’ Intermezzo b-Moll op.

117/2 (ca. 1892) von Schönbergs Verklärter Nacht op. 4 (1899) im Sinn von Riemann, Schen-

ker und Schönberg harmonisch analysiert. Anhand eines Vergleiches dieser drei Theoriemodelle

soll gezeigt werden, dass keine der Theorien für sich allein stehend eine vollwertige Lösung

bietet, sondern nur eine Kombination von Elementen aus allen drei theoretischen Entwürfen ein

adäquates Ergebnis liefern kann.

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Theorien erweiterter Tonalität – Hugo Riemann

3

I Theorien erweiterter Tonalität

Hugo Riemann – Systematik der Harmonieschritte

Systematik der Harmonieschritte

Riemann arbeitet zur Erweiterung des Tonsystems systematisch alle möglichen Harmoniever-

bindungen mit den „Hauptklängen einer Tonart“1 und den von ihnen abgeleiteten Klängen

nacheinander durch. Unter „Hauptklängen“ versteht Riemann in Dur die Durtonika (T), die

Durdominante (D) und die Dur- (S) und Mollsubdominante (oS); in Moll meint er damit die

Molltonika (oT), die Mollsubdominante (oS) und die Moll- (oD) und Durdominante (D+) (Abb.

1).2

Abbildung 1: Hauptklänge in Dur und Moll

Schon unter diesen Hauptklängen befinden sich leiterfremde Akkorde: die Mollsubdominante in

Dur und die Durdominante in Moll.3 Für die Verwendung dieser Akkorde innerhalb der Dur-

und Molltonleiter benutzt Riemann eine eigene Bezeichnung: „Molldur“ für die Durskala mit

kleiner Sext, „Durmoll“ für die Mollskala mit großer Sept (Abb. 2).4

1 Synonyme Begriffe Riemanns für „Hauptklänge“ sind auch „Hauptharmonien“ oder „Hauptfunktionen“. 2 Zu diesen Hauptklängen gelangt Riemann, indem er von der Dur- und Molltonika aus den „schlichten Quint-

klang“, den „Gegenquintklang“ und den „Gegenklang“ bildet. Der „schlichte Quintklang“ befindet sich in Dur eine Quint über (D), in Moll unter (oS) der jeweiligen Tonika. Der „Gegenquintklang“ ist in Dur eine Quint unter (S), in Moll eine Quint über (oD) der Tonika. Den „Gegenklang“ erreicht Riemann über den „Seitenwech-sel“ der Tonika: vom gleichen „Hauptton“ (Prim in Dur, Quint in Moll) aus wird der gegensätzliche Klang – Unter- bzw. Oberklang – gebildet: der Gegenklang von c-e-g ist f-as-c (oS), der Gegenklang von a-c-e ist e-gis-h (D+). (Vgl. Riemann, Hugo: Handbuch der Harmonielehre. Leipzig: Breitkopf & Härtel 101929, S. 32, 38, 49 f.).

„o“ steht für „Unterklang“, „+“ (kann wegen des häufigeren Auftretens von Durdreiklängen weggelassen wer-den) für „Oberklang“. „Oberklang“ ist gleichgesetzt mit „Durakkord“ (c oder c+ bedeutet c-e-g); „Unterklang“ ergibt einen Mollakkord, entsteht aber durch Symmetrie zum Durakkord: oe („unter e“) steht für große Terz und Quint unter e, also a-c-e.

3 „Die Terz des Gegenklangs [steht] im Widerspruch zur Tonartvorzeichnung“ (Riemann, Handbuch der Har-monielehre, S. 54 (im Original gesperrt); vgl. auch ebd. S. 113). Der zweite leiterfremde Zusammenklang ergibt sich durch den „Leittonwechselklang des schlichten Quintklanges“ – in Dur ein Molldreiklang auf der VII. Stu-fe, in Moll ein Durdreiklang auf der erniedrigten II. Stufe (der neapolitanische Sextakkord) (vgl. ebd. S. 113 f.).

4 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 169. Riemanns „Molldur“ entspricht Schenkers zweiter Mi-schungsreihe, „Durmoll“ stimmt mit der harmonischen Mollskala (bzw. Schenkers vierter Mischungsreihe) überein (vgl. Schenker, Heinrich: Neue musikalische Theorien und Phantasien von einem Künstler. Erster Band: Harmonielehre. Wien, Leipzig: Universal-Edition 1906, Nachdruck 1978, S. 110 f.).

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Theorien erweiterter Tonalität – Hugo Riemann

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Abbildung 2: „Molldur“ und „Durmoll“

Riemann möchte im Handbuch der Harmonielehre für möglichst viele Harmonien eine Ver-

wandtschaft mit den Hauptklängen nachweisen.5 Das zeigt sich einerseits in der Ableitung z.B.

des verminderten Dreiklangs als Dominantseptakkord ohne Grundton, andererseits in der Be-

zeichnung von Nebenstufen in Dur oder Moll – die jeweils zwei Töne mit den Hauptharmonien

gemeinsam haben – als Parallelklänge (Tp, Sp und Dp in Dur, oTp, oSp und oDp in Moll) bzw.

Leittonwechselklänge (T<, S< und D< in Dur, T>, S> und D> in Moll) der Hauptharmonien

(Abb. 3).6

Abbildung 3: Funktionsbezeichnungen bei Hugo Riemann

Parallel- und Leittonwechselklänge sind Dur- und Molldreiklänge – die beiden leitereigenen

verminderten Dreiklänge der VII. Stufe in Dur (h-d-f in C-Dur) und der II. Stufe in Moll (d-f-as

in c-Moll) können mit diesen nicht dargestellt werden7, auch nicht die leitereigenen Septakkor-

de. Die leitereigenen Septakkorde denkt sich Riemann als Hauptklänge mit hinzugefügter Sept

(bzw. „Untersept“ bei den Molldreiklängen) oder Sext (bzw. Untersext bei den Molldreiklän-

5 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 213. 6 Parallelklänge und Leittonwechselklänge sind „Nebenformen“ der Hauptharmonien, die durch „Einstellung

eines melodischen Nachbartones statt eines Akkordtones [entstanden]“ sind (Riemann, Hugo: Elementar-Schulbuch der Harmonielehre. Berlin: Max Hesses 41923, S. 137.). Diese sind „scheinkonsonant“, „dissonante Akkorde im Gewande der Konsonanz“ (Riemann, Hugo: Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den tonalen Funktionen der Akkorde. London: Augener & Co. 2[ca. 1899], S. 23, 62, 77), da sie nicht eigentlich Akkorde mit Prim, Terz und Quint sind (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 16), sondern Haupt-klänge mit Sext statt Quint. Die Bezeichnung Riemanns für die Leittonwechselklänge – hier vereinfacht dargestellt als nebeneinanderge-stellte Zeichen T< etc. – sind Abkürzungen für +TII< (Tonika mit kleiner Molluntersekunde statt Durprim, also h-e-g statt c-e-g in C-Dur), +SII< und +DII< in Dur und für oT2> (Molltonika mit kleiner Obersekunde statt Moll-prim, also c-es-as statt c-es-g in c-Moll), oS2> und oD2> in Moll (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 95).

7 Riemann gelingt die Darstellung der verminderten Dreiklänge erst mithilfe der „natürlichen Septakkorde“ D7 und SVII (vgl. Abb. 4 und Kapitel „Verminderter Dreiklang“).

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Theorien erweiterter Tonalität – Hugo Riemann

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gen) (Abb. 4).8 Die Darstellungsweise als Hauptharmonie (T, S oder D) mit hochgestellter Zif-

fer (7, VII, 6 oder VI) erschwert jedoch das Erkennen von auf gleichen Tonleiterstufen aufgebauten

Dreiklängen und Septakkorden.9

Abbildung 4: Funktionsbezeichnungen der Septakkorde10

Riemann bezeichnet die Dursubdominante mit großer Sext (S6), die Durdominante mit kleiner

Septim (D7) und ihre Spiegelungen in Moll, die Molldominante mit großer Untersext (DVI) und

die Mollsubdominante mit kleiner Untersept (SVII) als „charakteristische Dissonanzen“.11

Nach Riemann gehören alle Akkorde, die sich in direkten Zusammenhang mit den Haupt-

harmonien einer Tonart bringen lassen (d.h. die mithilfe von Funktionszeichen darstellbar sind)

derselben Tonart an.12 Die „Zwischendominanten und Ellipsen“ ermöglichen Riemann noch

weitere Harmonien innerhalb einer Tonart darzustellen13; „Zwischendominanten“ – in runder

Klammer – sind „zwanglos eingeschobene[…] Accorde, welche Dominanten der Hauptharmo-

nien oder ihrer leitertreuen Stellvertreter sind“.14 Als Zwischendominanten setzt Riemann alle

„Dominanten“ ein, also nicht nur die Durdominante, sondern auch die Molldominante, die Dur-

8 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 141 ff. Diese Sexten und Septen müssen weder vorbereitet noch

schrittweise erreicht werden (ebd., S. 150). Die Septakkorde mit hinzugefügter (Unter-Sext) sind außerdem „Zusammenklänge der drei Hauptklänge der reinen Systeme mit ihren Parallelklängen“ (ebd., S. 148).

9 Beispielsweise ist d-f-a in C-Dur „Sp“ mit Grundton d, d-f-a-c ist SVII mit Grundton f. 10 Die Funktionszeichen der beiden VII. Stufen muss man sich als durchgestrichen vorstellen, da sie unvollständi-

ge Akkorde darstellen: das durchgestrichene „D“ der Durdominante bedeutet, dass ihr Grundton g fehlt; das durchgestrichene „S“ der Mollsubdominante steht hier für ein fehlendes c, Hauptton der Mollsubdominante. Die Ziffer „9“ bzw. „IX“ inkludiert automatisch auch die Sept bzw. „Untersept“ (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 16).

11 Vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 141 ff. Arabische Ziffern (1, 2, 3 etc.) kennzeichnen „Ober-klänge“, römische Ziffern“ (I, II, III etc.) stehen für „Untertöne“. „7“ bzw. „VII“ ohne Zusatzzeichen bedeutet „kleine Sept“ („natürliche Septime“), „7<“ steht für eine große Obersept, „VII>“ für eine große Untersept. Wenn Ziffern auftreten, ist das Klangzeichen (+ für Durdreiklänge, o für Molldreiklänge) nicht mehr nötig (vgl. ebd., S. 11 ff.).

12 Ebd., S. 135. Harmoniefolgen „sind nicht ganz undenkbar“, wenn „sie sich noch chiffrieren lassen“ (ebd., S. 134).

13 Ebd., S. 121. Zwischendominanten dienen auch zur Vereinfachung von komplizierter dargestellten Funktions-folgen (Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 148). Beispielsweise kann die Funktionsfolge oSp – S> (As-Dur – Des-Dur in c-Moll) durch die Folge (D)S> ersetzt und damit auch anschaulicher dargestellt werden.

14 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 120. In der Vereinfachten Harmonielehre und im Elementar-Schulbuch der Harmonielehre erweitert Riemann den Begriff „Zwischendominante“ zu „Zwischenkadenz“, wo ein subdominantischer und ein dominantischer Akkord auf den nächstfolgenden Akkord bezogen sind (vgl. Vereinfachte Harmonielehre, S. 140 f. bzw. Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 148 f.).

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Theorien erweiterter Tonalität – Hugo Riemann

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und die Mollsubdominante.15 Eine „Ellipse“ ist die Auslassung des durch die Zwischendomi-

nante vorbereiteten Akkords; sie wird durch eine eckige Klammer kenntlich gemacht.16

Durch seine „Systematik der Harmonieschritte“ gewinnt Riemann etliche leiterfremde Har-

monien – alle können durch Riemanns Funktionszeichen auf den C-Dur- bzw. den c-Moll-

Dreiklang bezogen werden (Abb. 5).17

Abbildung 5: „Systematik der Harmonieschritte“ – mögliche Harmonieschritte vom C-Dur- und c-Moll-Dreiklang aus

Harmoniefolge18 Riemanns Bezeichnung19 Riemanns Darstellung20 und Reihenfolge21

Dur Moll Dur / Moll Dur Moll

1 C-c c-C Quintwechsel c+ – og T – T3> T – (oS)D

og – c+ oT – TIII<

oT – (D)oS 4

2 C-G c-f schlichter Quintschritt c+ – g+ T – D og – oc oT – oS 2

3 C-g c-F Ganztonwechsel c+ – od D – Sp og – f+ oS – oDp 16

4 C-F c-g Gegenquintschritt c+ – f+ T – S og – od oT – oD 3

5 C-f c-G Seitenwechsel c+ – oc T – oS og – g+ oT – D+ 1

6 C-eis (c-Asas) verminderter Gegensekundwechsel22 c+ – ohis S> – (D<)D og – asas+ 31

7 C-E c-as schlichter Terzschritt c+ – e+ T – (D)Tp oTp – D+

og – oes oT – (oS)oTp Tp – oS 6

15 Vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 121. So steht etwa die Funktionsfolge T – (oS)D in C-Dur für

die Harmoniefolge C-Dur – c-Moll: Die Dominante in C-Dur ist G-Dur, die Mollsubdominante von G-Dur lau-tet c-Moll. Um den „verminderten Gegensekundwechsel“ (z.B. die Harmoniefolge C-Dur – eis-Moll) erklären zu können, setzt Riemann sogar den Leittonwechselklang der Durdominante (D<) als Zwischendominante ein (vgl. Abb. 4 bzw. ebd., S. 135). In H-Dur steht die Funktionsfolge S> – (D<)D für die Harmoniefolge C-Dur – eis-Moll: Der Leittonwechselklang der Mollsubdominante (S>) bzw. der Durdreiklang auf der erniedrigten II. Stufe in H-Dur ist C-Dur; die Dominante in H-Dur ist Fis-Dur, der Leittonwechselklang der Durdominante (D<) bzw. die VII. Stufe mit erhöhter Quint bezogen auf Fis-Dur ist eis-Moll.

16 Ebd., S. 121. 17 In seiner Darstellung der Harmonieschritte geht Riemann selbst nicht immer von der Tonika (bzw. dem C-Dur-

Dreiklang) aus. Die Darstellungsweise vom C-Dur- bzw. c-Moll-Dreiklang aus wurde hier gewählt, um eine möglichst gute Übersicht über die möglichen Harmoniefolgen zu erhalten.

18 Der Übersichtlichkeit halber werden Durdreiklänge als Großbuchstaben, Molldreiklänge als Kleinbuchstaben dargestellt. Die hier gewählte Reihenfolge der Harmoniefolgen richtet sich nach den (klingenden) Abständen der Akkorde voneinander: Prim (Nr. 1), Quint (2-6), große Terz (7-12), kleine Terz (13-17), Ganzton (18-22), Halbton (23-28) und Tritonus (29-32).

19 -schritt bedeutet Gleichbleiben des Klanggeschlechts, -wechsel zeigt die Veränderung des Klanggeschlechts von Dur zu Moll bzw. umgekehrt an. Schlicht (kann auch weggelassen werden) heißt normalerweise, dass das Intervall des Klangbuchstabens vom Ausgangsklang nach oben gerechnet ist, Gegen- steht für das komplemen-täre Intervall (z.B. „Gegenquintschritt“: vom Ausgangsklang eine Quint nach unten, gleiches Klanggeschlecht). Im Fall der kleinen Terz geht Riemann eigentlich von der großen Sext aus, deshalb ist hier die Richtung umge-kehrt: Kleinterz- bedeutet kleine Terz des Klangbuchstabens nach unten, Gegenkleinterz- kleine Terz nach oben (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 127). Wieso Riemann dieses System mit der Bezeichnung „schlichter oder Gegen-Doppelterzschritt“ unterbricht, ist nicht verständlich.

20 Die Darstellung durch „Klangbuchstaben“ (Haupttöne der Dur- und Molldreiklänge) und „Klangzeichen“ (sie zeigen das Klanggeschlecht – Dur oder Moll – an) soll verdeutlichen, wie Riemann zu seiner Benennung der Harmonieschritte gelangt ist.

21 Diese Nummerierung in der ganz rechten Spalte richtet sich nach jener in Riemanns Handbuch der Harmonie-lehre (S. 124ff.).

22 Der „verminderte Gegensekundwechsel“ heißt auch „enharmonischer Seitenwechsel“ (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 135). Für den „verminderten Gegensekundwechsel“ gibt Riemann kein Moll-Beispiel.

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Theorien erweiterter Tonalität – Hugo Riemann

7

8 C-e c-As Leittonwechsel23 c+ – oh T – Dp og – as+ oT – oSp 20

9 C-As c-e Gegenterzschritt c+ – as+ T – oSp S – S>

og – oh oT – Dp+ 7

10 C-as c-E Gegenkleinterzwechsel c+ – oes T – oSp3> oS – (D)Sp

og – e+ oT – DpIII< D – (oS)oDp 13

11 C-Gis c-gis schlichter oder Gegen-Doppelterzschritt c+ – gis+ S> – (D)Sp oSp – (D)Tp

og – odis (oS)Tp – Dp+

S> – (D)oF 28

12 C-gis c-Fes übermäßiger Sekundwechsel c+ – odis S> – Tp oSp – Dp/T<

og – fes+ D< – oTp +Dp – oSp/T> 29

13 C-Es c-a Gegen-Kleinterzschritt c+ – es+ T – (D)oSp S – oSp

og – oe oT – (oS)Dp oD – Dp+ 11

14 C-es c-A Gegenganztonwechsel c+ – ob (D)D – oS og – a+ (oS)oS – D 17

15 C-Dis c-heses übermäßiger Sekundschritt c+ – dis+ S> – (D)Tp oSp – (D)Dp

og – ofes D< – (oS)oTpDp – (oS)oSp 29

16 C-dis c-Heses verminderter Kleinterzwechsel24 c+ – oais oSp – D< og – heses+

+Dp – S> 32

17 C-A c-es schlichter Kleinterzschritt c+ – a+ T – (D)Sp oSp – S+

og – ob oT – (oS)oDp Sp – oS 10

18 C-a c-Es Terzwechsel25 c+ – oe T – S< og – es+ oT – D> 8

19 C-D c-b schlichter Ganztonschritt c+ – d+ T – SpIII< S – D

og – of oT – oDp3> oD – oS 14

20 C-d c-B Kleinterzwechsel c+ – oa T – Sp D – Tp

og – b+ oT – oDp oS – oTp 12

21 C-B c-d Gegenganztonschritt c+ – b+ D – S SpIII< – T

og – oa oS – oD oDp3> – oT 15

22 C-b c-D Gegenquintwechsel c+ – of D – oS og – d+ oS – D+ 5

23 C-ais c-Eses übermäßiger Terzwechsel c+ – oeis S> – D< og – eses+ D< – S> 30

24 C-Des c-des Steigender Halbtonschritt c+ – des+ T – S> D – oSp

og – oas oT – oT2>II>IV>

D< – oT 18

25 C-des c-H Gegenterzwechsel c+ – oas T – S>3> T – (oS)oSp

og – h+ oT – D<III< 9

26 C-cis c-Ces Doppelterzwechsel c+ – ogis Tp – oSp og – ces+ oTp – Dp+ 27

27 C-H c-h fallender Halbtonschritt c+ – h+ T – TII<2<4< S> – T

og – ofis oT – D< oS – Dp+ 19

28 C-h c-Des Tritonuswechsel c+ – ofis T – D< S – T<

og – des+ oT – S> oD – T> 24

29 C-ces c-Cis Gegentritonuswechsel c+ – oges (D)D – S>3> og – cis+ S>3> – (D)D 25

30 C-Fis c-fis schlichter Tritonusschritt c+ – fis+ S> – D+ oSp – (D)D

og – odes D< – oS D+ – oS(oS) 22

31 C-fis c-Ges chromatischer Halbtonwechsel c+ – ocis S – D< og – ges+ oD – S> 26

32 C-Ges c-ges Gegentritonusschritt c+ – ges+ D – S> og – ocis oS – D< 23

33 C-ges c-Fis Gegenleittonwechsel c+ – odes oS – (D)Dp og – fis+ D – (oS)oSp 21

23 Der „Leittonwechsel“ ist der Ursprung der Leittonwechselklänge (z.B. D – D< in Dur, oS – S> in Moll) (vgl.

Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 138). 24 Der „verminderte Kleinterzwechsel“ ist der enharmonisch verwechselte „Gegenganztonwechsel“ (Riemann,

Handbuch der Harmonielehre, S. 135); Riemann nennt ihn auch „übermässiger Sextenwechsel“ (vgl. ebd., S. 116).

25 Der „Terzwechsel“ führt an und für sich zu den Parallelklängen (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 88 f.); Funktionsbezeichnungen dieser Harmoniefolge könnten also auch sein: T – Tp, S – Sp und D – Dp in Dur bzw. oT – oTp, oS – oSp und oD – oDp in Moll. In diesem Fall findet jedoch kein Funktionswechsel statt, deshalb führt Riemann diese Bezeichnungen nicht an.

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Theorien erweiterter Tonalität – Hugo Riemann

8

Wie die Tabelle in Abb. 5 zeigt, versucht Riemann, tatsächlich alle Harmoniefolgen als Schritte

innerhalb einer Tonart zu erklären. Häufig gelingt ihm das jedoch nur durch äußerst komplexe

Funktionsbezeichnungen – mithilfe von Zwischen-(Sub-)Dominanten und Alterierungen –, die

oft äußerst schwer nachvollziehbar sind.

Für Riemann dienen diese Harmonieschritte auch zur Modulation, so kann z.B. der Harmo-

nieschritt Sp – Dp in C-Dur (d-Moll – e-Moll) in a-Moll als oS – oD angesehen werden.26 Diese

Idee Riemanns, Harmonieschritte als „mehrdeutig“ zu betrachten, ist jener Schenkers sehr ähn-

lich, der Intervalle als ein- oder mehrdeutig bezeichnet27 – „die modulatorische Kraft des Schrit-

tes“28 Riemanns ist analog der „modulatorischen Bedeutung der Intervalle“ Schenkers.

Alterierte Stufen – Bezeichnung durch Kirchentonarten

Die Kirchentonarten bezieht Riemann nur am Rande in seine Harmonielehre mit ein: Er ver-

wendet die Bezeichnungen der Kirchentonarten lediglich, um alterierte Stufen zu bezeichnen.29

In „Molldur“ und „Durmoll“ befindet sich eine übermäßige Sekund zwischen VI. und VII. Stu-

fe; das Resultat der Erhöhung der VI. (in „Durmoll“) bzw. Erniedrigung der VII. Stufe (in

„Molldur“) zur Vermeidung dieses Intervalls bezeichnet Riemann als „dorische Sexte“ (erhöhte

VI. Stufe in Moll) bzw. „mixolydische Septime“ (erniedrigte VII. Stufe in Dur). Die „dorische

Sexte“ und die „mixolydische Septime“ baut Riemann als alterierte Terzen der Mollsubdomi-

nante und der Durdominante in sein System ein (SIII< in Moll und D3> in Dur), da eine Dursub-

dominante in Moll und eine Molldominante in Dur nicht möglich seien.30 Außerdem zählt Rie-

mann als melodische Besonderheiten noch die „lydische Quarte“ (erhöhte IV. Stufe) und die

„phrygische Sekunde“ (erniedrigte II. Stufe) auf.31

Nonenakkorde

Als Nonenakkorde lässt Riemann nur dominantische und (seltenere) subdominantische Bildun-

gen gelten.32 Für ihn gibt es große und kleine Nonenakkorde in Dur (der dominantische „Dur-

nonenaccord“) und in Moll (der von der Subdominante abgeleitete „Unternonenaccord“) (Abb.

6).33 Der subdominantische „Unternonenakkord“ ist eine symmetrische Bildung zum Durnonen-

akkord: Der Mollsubdominante – d-f-a in a-Moll – werden „Unterseptime“ (h) und „Unternone“

(g bzw. gis) angefügt. 26 Vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 160 f. 27 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 162 ff. 28 Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 161. 29 Vgl. Schönberg, Arnold: Harmonielehre. Wien: Universal Edition 71966, Nachdruck 2001, S. 207. 30 Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 140 f.; vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S.

115. 31 Vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 99; Elementar-Schulbuch Harmonielehre, S. 136 und S. 161 f. 32 Nonenakkorde, die auf anderen Stufen stehen, bezeichnet Riemann als „zufällige[…], durch Durchgänge oder

Vorhalte entstehende[…] Bildungen“ (Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 164). 33 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164 f. bzw. S. 166 f. Große Nonenakkorde sind Septakkorde mit

großer (Unter-)Non, sie kommen ohne Zusatzzeichen aus. Der kleine Nonenakkord wird in Dur durch das Funktionszeichen D9> (erniedrigte Non) ausgedrückt, in Moll durch SIX< (erhöhte „Unternon“).

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Theorien erweiterter Tonalität – Hugo Riemann

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Abbildung 6: großer und kleiner Dur- und Unternonenakkord

Riemann braucht die Nonenakkorde, um den halbverminderten und den verminderten Septak-

kord zu erklären, die er als Nonenakkorde ohne Hauptton versteht: der große Durnonenakkord

ohne Hauptton bzw. Grundton ist der halbverminderte Septakkord; der kleine Nonenakkord

ohne Hauptton (Grundton des G-Durdreiklangs bzw. Quint des d-Molldreiklangs) ergibt einen

verminderten Septakkord. Über Bildungen aus mehr als fünf Tönen spricht Riemann nicht.

Zusammenfassung

Riemann nimmt alle Harmonieschritte in das Dur- und Mollsystem auf, die sich in irgendeiner

Weise auf die Hauptharmonien Tonika, Subdominante und Dominante beziehen lassen. Rie-

mann leitet die Dur- und Molldreiklänge auf der II., III., VI. und VII. Stufe (die Parallel- und

Leittonwechselklänge) bzw. den verminderten Dreiklang auf der II. und VII. Stufe (als verkürz-

ten Septakkord) direkt von den Hauptharmonien ab, dadurch sind auch alle Verbindungen dieser

Harmonien untereinander (Harmonien aus Dur mit Harmonien aus Moll und umgekehrt) für

Riemann innerhalb einer Tonart erklärbar. Zusätzliche Erweiterungsmöglichkeit bietet Rie-

manns weitgefasstes Prinzip der Zwischendominanten (bzw. Ellipsen), da auf diese Weise auch

die Verbindung mit Dominanten und Subdominanten von nachfolgenden Akkorden möglich ist.

Für Riemann gibt es also kaum eine Harmonieverbindung, die sich nicht innerhalb einer Tonart

deuten lässt.

Heinrich Schenker – Dur-Moll-Mischung und Tonikalisierung

Dur-Moll-Mischung

Um leiterfremde Akkorde innerhalb einer Tonart erklären zu können, kombiniert Schenker die

Durtonleiter mit der (gleichnamigen) natürlichen Molltonleiter (z.B. C-Dur mit c-Moll, Abb. 7);

er erhält auf diese Weise sechs unterschiedliche Skalen (Abb. 8). Schenker nennt diesen Vor-

gang „Mischung“ und bezeichnet das Resultat – die sechs sich ergebenden Reihen – als „C-Dur-

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Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker

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Moll“.34 Schenker sieht seine Vorgehensweise darin motiviert, dass kaum „ein C-dur ohne C-

mollingredienzien und umgekehrt ein C-moll ohne C-duringredienzien auftritt“.35

Abbildung 7: C-Dur und c-Moll als Grundlage für die Mischung (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 110)

Abbildung 8: die sechs verschiedenen C-Dur-Moll-Mischungsreihen (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 110)

Die erste Skala aus der Mischung entspricht der melodischen Molltonleiter. Die dritte und fünf-

te Mischungsreihe stimmen mit Kirchentonarten überein: Dur mit kleiner Sept ist Mixolydisch,

Moll mit großer Sext ist Dorisch. Auch Riemanns „Molldur“ (Dur mit tiefalterierter VI. Stufe,

also mit Mollsubdominante) und „Durmoll“ (Moll mit Durdominante, entspricht harmonischem

Moll) sind als zweite und vierte Mischungsreihe vertreten.36

Das Prinzip der Mischung ermöglicht Schenker, leiterfremde Akkordbildungen zu erklären.

Diese ergeben sich, indem Schenker Dreiklänge und Septakkorde auf den Mischungsreihen

errichtet (Abb. 9).

34 Die Mischung sieht Schenker „als Ersatz der alten Systeme“ (der Kirchentonarten) an (Schenker, Harmonieleh-

re, S. 108). Wie in Abbildung 8 zu sehen, sind zwei der vier Kirchentonarten – Dorisch und mixolydisch – in Schenkers Mischungsprinzip enthalten.

35 Schenker, Harmonielehre, S. 109. 36 Vgl. ebd., S. 106-116. Die erste, zweite, vierte und sechste Mischungsreihe dürfen „nur als Mischungsresultat

gelten“ (ebd., S. 110), da die Vorzeichen dieser Reihen nicht in der natürlichen Reihenfolge auftauchen. Die Vorzeichen der dritten und fünften Skala aus der Mischung (mixolydisch und Dorisch) folgen jedoch richtig aufeinander (vgl. ebd., S. 105).

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Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker

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Abbildung 9: leiterfremde Dreiklänge und Septakkorde durch die C-Dur-Moll-Mischung37

So erhält Schenker durch die Mischung von Dur und Moll zwei übermäßige Dreiklänge auf

der III. und der VI. Mollstufe (Abb. 10).38 Der übermäßige Dreiklang auf der III. Stufe stammt

von der ersten (Mollterz) oder der vierten Mischungsreihe (kleine Terz und kleine Sext) ab,

jener auf der VI. Stufe entsteht aus der zweiten (kleine Sext) oder sechsten Mischungsreihe

(kleine Sext und kleine Sept).

Abbildung 10: übermäßige Dreiklänge durch die C-Dur-Moll-Mischung (Schenker, Harmonielehre, S. 238)

37 Es sind nur jene Dreiklänge und Septakkorde abgebildet, die nicht schon in Dur oder Moll leitereigen vorkom-

men. 38 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 238. Schönberg erklärt den übermäßigen Dreiklang auf der III. Stufe in Moll

durch die erhöhte siebente Skalenstufe in Moll – dies ist Schenker nicht möglich, da er das melodische, harmo-nische und gemischte Mollsystem aufgrund der „Ordnungszahlen“ ihrer Vorzeichen als „abstrus“ bezeichnet (vgl. ebd., S. 116). Außerdem hält Schenker es für unsinnig, „bald zwei[,] bald drei verschiedene[n] Fassungen“ des Mollsystems „zur Auswahl vor[zuschlagen]“ (ebd., S. 111).

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Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker

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Durch die Dur-Moll-Mischung ergeben sich auch der verminderte Septakkord und zwei weitere

Septakkorde (Abb. 11), ein Mollseptakkord mit großer Sept und ein Septakkord aus übermäßi-

gem Dreiklang mit großer Sept.39

Abbildung 11: drei weitere Septakkorde durch die C-Dur-Moll-Mischung (Schenker, Harmonielehre, S. 245)

Schenker spricht in seiner Harmonielehre nur Zusammenklänge an, die durch die Mischung neu

entstehen, die also als Akkordbildungen nicht leitereigen in Dur oder Moll vorhanden sind. Un-

erwähnt bleibt, dass auch der verminderte Dreiklang und der halbverminderte Septakkord

mithilfe der Mischung auf zwei weiteren Stufen gebildet werden können (Abb. 12): auf der III.

Stufe der dritten und der sechsten Mischungsreihe (beide Skalen enthalten Durterz und kleine

Sept) und auf der VI. Stufe der ersten und fünften Reihe (mit kleiner Terz, aber großer Sext).

Abbildung 12: zwei weitere verminderte Dreiklänge und halbverminderte Septakkorde durch die C-Dur-Moll-Mischung

Tonikalisierung

Nach Schenker strebt jede Stufe danach, als Tonika wahrgenommen zu werden.40 Um dies (vo-

rübergehend) zu erreichen, sind chromatische Veränderungen41 an Stufen notwendig – diesen

Vorgang nennt Schenker „Tonikalisierung“.

Schenker spricht von „unmittelbarer Tonikalisierung“, wenn eine Stufe „auskomponiert“

wird42: Beispielsweise wird nach Schenkers Meinung eine Stufe als Tonika empfunden, wenn

die Melodie einen Ton enthält, der in der herrschenden Tonart leiterfremd, aber in der Tonart

39 Vgl. ebd., S. 245. Der verminderte Septakkord steht nur auf der VII. Stufe, in der zweiten und vierten Mi-

schungsreihe (mit kleiner Sext bzw. mit kleiner Terz und kleiner Sext). Der Mollseptakkord mit großer Sept findet sich auf der I. Stufe der ersten (Mollterz) und vierten Mischungsreihe (Mollterz und kleine Sext) und auf der IV. Stufe der zweiten und sechsten Mischungsreihe (Mollsext bzw. Mollsext und kleine Sept). Der Septak-kord mit übermäßiger Quint ist leitereigen auf der III. Stufe der ersten und vierten Reihe und auf der VI. Stu-fe der zweiten und sechsten Mischungsreihe. Diesen Septakkord mit übermäßiger Quint bilden also dieselben Mischungsreihen, die auch den Mollseptakkord mit großer Sept hervorgebracht haben, denn beide Septakkorde enthalten den übermäßigen Dreiklang.

40 Ebd., S. 333 f., 337 f. 41 Schenker nennt beinahe alle Alterationen „chromatische Veränderungen“, denn „Alteration“ von Akkordtönen

ist für Schenker nur bei Akkorden vorhanden, die eine verminderte Terz zwischen Terz und Quint enthalten (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 374 und Kapitel „Übermäßige Sextakkorde“).

42 Schenker, Harmonielehre, S. 338.

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Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker

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der Stufe leitereigen ist.43 Ein Beispiel für „unmittelbare Tonikalisierung“ findet sich z.B. in

Takt 27 von Brahms’ Intermezzo b-Moll op. 117/2 (Abb. 13): Das ces am Taktbeginn ist nicht

Teil von Des-Dur, aber leitereigen in es-Moll und lässt den es-Moll-Dreiklang im Moment als

Tonika erscheinen.44

Abbildung 13: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 23 bis 2745

Auch d und a in Takt 27 sind nicht leitereigen in Des-Dur und unterstützen als Leittöne das

vorübergehende Erscheinen des es-Moll-Akkords als Tonika: Schenker sieht diese Töne als

„Miniaturtonikalisierung“ an – als „Nebennoten, die sich zu der Rolle […] einer siebenten Stufe

hergeben“.46

„Mittelbare Tonikalisierung“ bedeutet, dass an einer oder zwei Stufen vor dem betreffenden

Akkord chromatische Änderungen vorgenommen werden, damit dieser als Tonika erscheint.47

Diese Methode der Tonikalisierung erfordert eine fallende Quint (Abb. 14) oder eine steigende

Sekunde (Abb. 15) als zugrundeliegenden Harmonieschritt, denn die vorausgehende Harmonie

soll durch Chromatik auf solche Weise verändert werden, dass als Endprodukt eine Harmonie-

folge nach dem Schema V-I oder VII-I resultiert.48

43 Schenker gibt in diesem Zusammenhang folgendes Beispiel: Die IV. Stufe von F-Dur wird scheinbar zur Toni-

ka, indem im Durchgang ein – in F-Dur nicht leitereigenes – es erscheint (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 338).

44 Dieses Phänomen ist heute unter dem Begriff „Ausweichung“ geläufig. 45 Der Notenausschnitt stammt aus: Brahms, Johannes: Klavierstücke. Nach Eigenschriften, Abschriften und den

Handexemplaren des Komponisten, hrsg. von Monica Steegmann, Fingersatz von Walter Georgii. München: Henle 1976.

46 Schenker, Harmonielehre, S. 363. 47 Schenker, Harmonielehre, S. 343 f. Schönberg kritisiert Schenkers Ausdrucksweise, denn „innerhalb einer

Tonart gibt es nur eine Tonika“ und „die Herstellung eines Leittons [muss] gar nichts mit einer Tonika zu tun haben […], sondern [kann] auch zu anderen Stufen führen“ (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 208). Außer-dem kann bei Schönberg „eine solche Nebendominante rein um ihrer selbst willen entstehen […], ohne die Ab-sicht, in eine Nebentonika zu gehen“ (ebd., S. 462).

48 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 344 f. und 356 f. Schenker erwähnt auch die Möglichkeit der „Tonikalisie-rung bei fallenden Terzen“ nach dem Modell III-I. Er kommt aber zu dem Schluss, dass fallende Terzen zur Tonikalisierung nicht so geeignet sind wie fallende Quinten oder steigende Sekunden, da der Effekt aufgrund mehrerer entsprechender Harmoniefolgen (VI-IV und VII-V) nicht eindeutig ist (vgl. ebd., S. 352 f.).

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Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker

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Abbildung 14: Tonikalisierung bei fallenden Quinten

Abbildung 15: Tonikalisierung bei steigenden Sekunden

Bei einer fallenden Quint – Grundlage ist die Harmoniefolge V-I – wird der erste Akkord chro-

matisch zum Durakkord verändert; eine noch bessere Wirkung erzielt der Dominantseptak-

kord.49 Auch möglich ist das Einsetzen der „alterierten Erscheinungen“ (also der übermäßigen

Sextakkorde) statt eines Dominantsept- oder Durakkords (Abb. 14).50 Wenn eine weitere Stufe

zur Tonikalisierung von fallenden Quinten benutzt wird, dann im Sinn einer II. (Dur-)Stufe, also

als Molldreiklang, so dass eine Harmoniefolge nach dem Modell II-V-I entsteht.

Zur Tonikalisierung bei einem Sekundschritt nach dem Schema VII-I wird der erste Akkord

zum verminderten Dreiklang; entweder durch Erniedrigen der Quint (bei zugrundeliegendem

Halbtonschritt, Abb. 15) oder durch Erhöhen des Grundtons (wenn der erste Akkord einen

Ganzton unter dem zweiten Akkord liegt). Auch hier empfiehlt Schenker die Verwendung des

Septakkords – mit kleiner oder verminderter Sept.51 Auch „Trugschlusschromatisierung“ – das

Modell ist in diesem Fall der Harmonieschritt V-VI – ist bei einem steigenden Sekundschritt

möglich (Abb. 15).52

Schenkers „mittelbare Tonikalisierung“ ist also nichts anderes als die Bildung von Zwi-

schendominanten53 – als Dominantseptakkord, als verkürzter Dominantsept(non)akkord oder als

alterierter Akkord. Die durch Tonikalisierung entstehende Chromatik soll zur Bestätigung einer

Tonart eingesetzt werden: „man [kann] schon um der Diatonie selbst willen nicht genug chro-

matisch schreiben“54, vorausgesetzt, man rückt dadurch „die Verhältnisse der Diatonie ins rech-

te Licht“.55

49 Ebd., S. 347. 50 Ebd., S. 378. Diese weitere Möglichkeit zur Tonikalisierung – die „kombinierte Wirkung zweier Stufen und

zweier Tonarten“ der alterierten Akkorde, ihre Verbindung aus II. und V. Stufe (vgl. Kapitel „Übermäßige Sex-takkorde“) – sieht Schenker als Kombination der beiden Tonikalisierungsmodelle V – I und II – V – I. Durch den alterierten Akkord anstelle der unveränderten V. Stufe wird „der allzu eindeutige Charakter des V7-Akkordes durch das g l e i c h z e i t i g hinzutretende Element einer zweiten Stufe in Moll gemildert“ (Schenker, Harmonielehre, S. 372, Sperrung im Original).

51 Schenker, Harmonielehre, S. 356. 52 Ebd., S. 360. 53 bzw. „Zwischenkadenzen“, wenn vor die V. Stufe noch eine II. Stufe gesetzt wird. 54 Schenker, Harmonielehre, S. 380 (im Original gesperrt). 55 Ebd., S. 396.

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Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker

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Scheintonarten – chromatisch ausgestaltete Stufen

Als Folge des Tonikalisierungsgedankens – Chromatisierungen einer vorangehenden zur Ge-

wichtung einer nachfolgenden Stufe – wendet Schenker auch die Dur-Moll-Mischung zur Be-

kräftigung von Stufen an. Dazu überprüft Schenker, „welche Tonartmöglichkeiten sich […]

innerhalb einer bestimmten Diatonie […] ergeben können“.56 Er zeigt zunächst die möglichen

Stufen, die aufgrund der Mischung (kleine und große Terz, Sext und Sept) und durch Einbezie-

hen der II. phrygischen Stufe in C-Dur stehen können (Abb. 16).

Abbildung 16: mögliche Stufen in C-Dur durch Mischung und II. phrygische Stufe

Jede dieser elf verschiedenen Stufen kann laut Schenker innerhalb der herrschenden Tonart zu

einer vermeintlichen neuen Tonart, „zur Scheintonart“ werden. Infolgedessen errichtet Schenker

auf all diesen Stufen Dur-Moll-Mischungen: Des-Dur-Moll, D-Dur-Moll57, Es-Dur-Moll etc.

Insgesamt können innerhalb einer Tonart nach Schenker also eine große Anzahl leiterfremder

Dreiklänge oder Septakkorde vorkommen, die „die Wirkung der Diatonie fördern können“58,

wenn sie zur „chromatischen Ausgestaltung“59 einer Stufe herangezogen werden (Abb. 17).

56 Ebd., S. 394 f. 57 Aus von Schenker nicht erläuterten Gründen fehlt D-Dur-Moll in der Aufzählung durch Schenker (vgl. Schen-

ker, Harmonielehre, S. 395). 58 Schenker, Harmonielehre, S. 396; vgl. ebd., S. 380. 59 Ebd., S. 392; vgl. ebd., S. 381 f.

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Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker

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Abbildung 17: insgesamt in C-Dur mögliche Dreiklänge und Septakkorde60

Auf den in Abb. 16 genannten möglichen elf Stufen in C-Dur – und zusätzlich auf der zwölften,

bislang fehlenden Stufe ges bzw. fis – können also alle vier möglichen Dreiklangsformen zu

stehen kommen (Dur, Moll, vermindert, übermäßig). Auf der Tonika und den beiden Dominant-

Tonarten (g und d) sind alle sieben möglichen Vierklänge denkbar (Dur und Moll mit großer

und kleiner Sept, vermindert mit kleiner oder verminderter Sept und übermäßiger Dreiklang mit

großer Sept). Auf den enharmonisch verwechselten Stufen ces, cis, dis, gis, fes, ais und heses

sind maximal zwei verschiedene Dreiklänge denkbar; auf diesen Stufen fehlt zumindest entwe-

der der Dur- oder der Molldreiklang.

Nonenakkorde etc.

Für Schenker gibt es keine Nonenakkorde oder „noch mehr gesteigerte Akkordbildungen“61; sie

stellen für ihn entweder Vorhalte oder „Zusammensetzungen von zwei Stufen über einem Or-

gelpunkt“62 dar. Der Dominantseptnonakkord – der einzige in den Lehrbüchern behandelte No-

nenakkord – ist nach Schenker keine „selbständige Akkordbildung“63, sondern ein Zusammen-

60 Die Septimen erscheinen im Gegensatz zu den Dreiklängen als Viertelnoten, da sie optional sind. 61 Schenker, Harmonielehre, S. 268. 62 Ebd., S. 266. 63 Ebd., S. 251.

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Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker

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wirken der „eindeutigen Erscheinungen“ Dominantseptakkord und halbverminderter bzw. ver-

minderter Septakkord (Abb. 18).64

Abbildung 18: der „angebliche Dominantnonenakkord“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 250-251)

Zusammenfassung

Zur Erweiterung einer Tonart ist es für Schenker zunächst nur möglich, die Dur- mit der gleich-

namigen Molltonart zu vermischen, also z.B. in C-Dur Töne und Akkorde zu verwenden, die in

c-Moll leitereigen sind bzw. die sich mithilfe von einzelnen Tönen aus der c-Mollskala ergeben.

Weiters sind bei Schenker chromatische Veränderungen an Stufen innerhalb einer Tonart er-

klärbar, wenn sie sich im Sinn von Zwischendominanten auf den nächsten Akkord beziehen

lassen. Durch Ausdehnung dieses „Tonikalisierungsprinzips“ auf „scheinbare“ neue Tonarten

(im Sinn von Zwischenkadenzen) lassen sich auch bei Schenker sehr viele Harmonien auf ein

und dieselbe Tonart beziehen, allerdings mit der Einschränkung, dass diese auch wirklich in

Verbindung mit der tonikalisierten Stufe stehen.

64 Ebd., S. 249 f.

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Theorien erweiterter Tonalität – Arnold Schönberg

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Arnold Schönberg – Imitationsprinzip, Ganzton- und Quartenakkorde

Modifizierte Kirchentonarten – Nebendominanten

Schönberg bezieht in die Molltonart – welche er als „reines Kunstprodukt“65 betrachtet – die

erhöhte sechste und siebente Mollstufe mit ein (Abb. 19).66 Dadurch ergeben sich leitereigen auf

jeder außer der I. Stufe zwei verschiedene Dreiklänge (Abb. 20) und auf allen Stufen zwei – auf

der VII. Stufe vier67 – unterschiedliche Septakkorde (Abb. 21).

Abbildung 19: erhöhter bzw. erniedrigter sechster und siebenter Skalenton beim An- bzw. Abstieg der Moll-tonleiter

Abbildung 20: die leitereigenen Dreiklänge in a-Moll (Schönberg, Harmonielehre, S. 114)

Abbildung 21: die leitereigenen Septakkorde in a-Moll (Schönberg, Harmonielehre, S. 114)

Schönberg überträgt nun das Prinzip des Erhöhens und Erniedrigens des sechsten und siebenten

Tons beim Ansteigen bzw. Abwärtsgehen der Mollskala auf die Kirchentonarten – jedoch nicht

auf die lydische Skala: hier nennt Schönberg nur die zusätzliche Verwendung der reinen Quarte

(Abb. 22). Mit den erhöhten Tönen in Äolisch (fis – auch aus Mixolydisch – und gis), Phrygisch

(cis – auch aus Dorisch – und dis) und der erniedrigten Sext in Dorisch (b – auch aus Lydisch)

steht Schönberg nun die gesamte chromatische Skala zur Verfügung.

65 Schönberg, Harmonielehre, S. 111. 66 Ebd., S. 112 f. Die siebente Stufe ist zu „Leittonzwecken“ erhöht, die sechste „aus melodischen Gründen, dem

siebenten zuliebe“ (ebd., S. 114). 67 Unlogisch ist, wie Schönberg auf vier verschiedene Septakkorde auf der VII. Stufe in Moll kommt, da die

sechste Stufe alleine nicht erhöht werden kann – der Septakkord g-h-d-fis müsste also wegfallen.

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Theorien erweiterter Tonalität – Arnold Schönberg

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Abbildung 22: Modifikation der Kirchentonarten nach dem Prinzip der auf- und absteigenden Molltonleiter

Schönberg bildet auf diesen abgewandelten Kirchenleitern Dreiklänge und Septakkorde68 (Abb.

23). Jedoch transponiert er diese nicht, so dass Dorisch, Phrygisch, Lydisch, Mixolydisch und

Äolisch auf c stehen69, sondern verwendet z.B. den verminderten Dreiklang der II. Stufe von

Dorisch (e-g-b) als III. Stufe in C-Dur. Auf diese Weise erhält Schönberg leiterfremde Akkorde,

die er als „harmonischen Reichtum der Kirchentonarten“70 in die Durtonart einbezieht.

Abbildung 23: leiterfremde Dreiklänge und Septakkorde durch die modifizierten Kirchentonarten71

68 Schönberg erwähnt zwar in diesem Zusammenhang auch die Bildung von Septakkorden (Schönberg, Harmo-

nielehre, S. 210); der einzige Septakkord, den er später nennt, ist aber nur der Dominantseptakkord über c (aus lydisch, vgl. ebd., S. 211).

Zur Errichtung der Septakkorde in den beiden Kirchentonarten, die zwei Vorzeichen enthalten (Dorisch und Phrygisch) wurde dasselbe Prinzip herangezogen, welches Schönberg bei den Septakkorden in Moll verwendet hat: es wurden alle Vorzeichen miteinander kombiniert (die Septakkorde ohne Vorzeichen – leitereigen in C-Dur – wurden jedoch weggelassen).

69 Schenker hingegen vermischt die gleichnamigen Dur- und Molltonarten und erhält auf diese Weise u.a. Transpositionen von Kirchentonarten auf derselben Tonhöhe wie die Ausgangstonart.

70 Schönberg, Harmonielehre, S. 209; vgl. S. 207 (Anm.). 71 Jene Dreiklänge bzw. Septakkorde, die leitereigen in C-Dur stehen, wurden nicht gebildet.

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Theorien erweiterter Tonalität – Arnold Schönberg

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Folgende Dreiklänge sind durch die modifizierten Kirchentonarten neu in C-Dur verwendbar

(Abb. 24): auf der I. Stufe ein übermäßiger Dreiklang (aus Äolisch), auf der erhöhten I. Stufe

ein verminderter Dreiklang (aus Dorisch und Phrygisch); auf der II. Stufe ein Durdreiklang (aus

Mixolydisch und Äolisch), auf der erhöhten II. Stufe eine verminderte Terz und Quint (aus

Phrygisch); auf der IV. Stufe ein übermäßiger Dreiklang (aus Dorisch und Phrygisch), auf der

erhöhten IV. Stufe ein verminderter Dreiklang (aus Mixolydisch und Äolisch); auf der V. Stufe

ein Molldreiklang (aus Dorisch und Lydisch) und ein übermäßiger Dreiklang (aus Phrygisch),

auf der erhöhten V. Stufe ein verminderter Dreiklang (aus Äolisch); auf der VI. Stufe ein

Durdreiklang (aus Dorisch und Phrygisch); auf der VII. Stufe ein Molldreiklang (aus Mixoly-

disch und Äolisch) und eine große Terz und verminderte Quint (aus Phrygisch), auf der ernied-

rigten VII. Stufe ein Durdreiklang (aus Dorisch und Lydisch).72

Abbildung 24: leiterfremde Dreiklänge durch die modifizierten Kirchentonarten nach Stufen

Die leiterfremden Töne (im Beispiel jene mit Vorzeichen) werden verwendet wie die sechste

oder siebente Stufe einer auf- oder absteigenden melodischen Molltonleiter, wodurch sich die

Weiterführung des leiterfremden Tons um einen Halbton oder Ganzton auf- oder abwärts er-

gibt.73

Schönberg kommt durch die Kirchentonarten also zu zusätzlichen Durdreiklängen in Dur –

inklusive des „gefälschten“ Durdreiklangs auf der VII. Stufe74 (Abb. 25), sodass nun auf allen

Stufen Durdreiklänge stehen können.75 Schönberg nennt diese Durdreiklänge auf den Nebenstu-

fen (II., III., VI. und VII. Stufe) „Nebendominanten“.76 Die Nebendominanten – mit „künstli-

chem Leitton“ – dienen dazu, „für jede Stufe einen ihr vorauszuschickenden Dominantakkord

72 Schönberg nennt andere aus der phrygischen Tonart gewonnene Akkorde: Statt den mit cis gewonnenen Drei-

klängen cis-e-g, f-a-cis und a-cis-e zählt Schönberg die beiden Dreiklänge h-dis-fis und dis-fis-a auf. Jedoch ist fis nicht in Schönbergs phrygischer Tonart vorhanden; vermutlich verwendet er fis, um die verminderte Terz dis-f zu meiden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 209).

73 Schönberg, Harmonielehre, S. 212, 112. 74 Wie schon erwähnt, stammt h-dis-fis nicht direkt aus Phrygisch, sondern ist eine Alterierung des Dreiklangs h-

dis-f. 75 Für Schönberg sind „leiterfremde Durdreiklänge auf den Nebenstufen“ allein schon aufgrund des „Bestreben[s]

eines Baßtons, seine Obertöne durchzusetzen, Grundton eines Dur-Akkords zu werden“ legitim; eine zweite Begründung für Schönberg wäre das „Prinzip der Nachbildung, Nachahmung“ (Schönberg, Harmonielehre, S. 210; vgl. S. 462).

76 Schönberg, Harmonielehre, S. 211. Schönberg erwähnt hier auch die Möglichkeit der Nebendominanten, als „Nebendominantseptakkorde“ aufzutreten und nimmt in diesem Zusammenhang auch den „lydischen“ Domi-nantseptakkord c-e-g-b (auf der I. Stufe von C-Dur) als Nebendominante auf. Die übrigen durch die abgeänder-ten Kirchentonarten möglichen Septakkorde bleiben unerwähnt.

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(Quartensprung aufwärts des Fundaments) zu gewinnen“, können aber auch zu einem Trug-

schluss führen.77 Diese Nebendominanten entsprechen also Zwischendominanten.

Abbildung 25: „Nebendominanten“ aus den modifizierten Kirchentonarten (Schönberg, Harmonielehre, S. 211)

Außerdem liefern die abgeänderten Kirchentonarten Schönberg drei übermäßige und vier zu-

sätzliche verminderte Dreiklänge (Abb. 26).

Abbildung 26: übermäßige und verminderte Dreiklänge aus den modifizierten Kirchentonarten (Schönberg, Harmonielehre, S. 212)

Imitationsprinzip

Bei den Kirchentonarten bzw. den „Nebendominanten“ wandte Schönberg das „Prinzip der

Nachbildung“78 an – einerseits durch die Übertragung des erhöhten VI. und VII. Skalentons in

Moll auf die Kirchentonarten, andererseits durch die Erstellung von Durdreiklängen auf den

Nebenstufen. Diese Methode der Imitation eines bestimmten Zusammenklangs auf anderen

Stufen wendet Schönberg auch bei den „vagierenden“79 Akkorden an, beispielsweise beim nea-

politanischen Sextakkord, beim übermäßigen Quintsextakkord oder beim halbverminderten

Septakkord.80

Mollsubdominantbereich

Um die Tonart noch mehr zu „bereichern“, bezieht Schönberg auch die leitereigenen Akkorde

der Mollsubdominanttonart ein (in C-Dur die leitereigenen Akkorde von f-Moll, Abb. 27).81

77 Ebd., S. 216 f.; vgl. ebd. S. 227 f. Schönbergs „Nebendominanten“ sind jedoch nicht „nur wegen dieser Auflö-

sung da“ (ebd., S. 462). Im Unterschied dazu steht Schenkers „Tonikalisierungsgedanke“, wo der dominanti-sche Akkord deshalb gesetzt wird, um den nachfolgenden Akkord als dessen Auflösung ansehen zu können.

78 Ebd., S. 210. 79 „Vagierend“ nennt Schönberg im weitesten Sinn die leiterfremden Akkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S.

157; vgl. ebd., S. 234). „Vagierende Akkorde […] gehören keiner Tonart ausschließlich an, sondern […] kön-nen […] vielen, meist fast allen Tonarten angehören“ (ebd., S. 233 f.). Im Speziellen meint Schönberg damit den neapolitanischen Sextakkord, die übermäßigen Sextakkorde, den Tristanakkord und die „eigentlichen va-gierenden“ verminderter Septakkord und übermäßiger Dreiklang (vgl. ebd., S. 296 ff., S. 312). Schönberg zählt aber auch die alterierten Nonenakkorde (vgl. ebd., S. 420) und die Ganztonakkorde (vgl. ebd., S. 475) zu den vagierenden Akkorden.

80 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 284 f., 304 f. und 308 f. 81 Ebd., S. 267 f.

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Diese Erweiterung der Tonart durch die „Unterdominante“ ist als Gegenpol zu den Nebendomi-

nanten gedacht, die vorwiegend „der Oberdominantregion angehören“.82

Abbildung 27: leitereigene Akkorde in f-Moll zur Erweiterung von C-Dur83 (Schönberg, Harmonielehre, S. 267)

Weiters nennt Schönberg noch drei Akkorde aus c-Moll, die noch nicht durch die Kirchentonar-

ten und die Mollsubdominanttonart f-Moll eingeführt wurden (Abb. 28).84

Abbildung 28: Dreiklänge aus c-Moll85 (Schönberg, Harmonielehre, S. 267)

Schönberg verbindet alle Dreiklänge von C-Dur mit allen neu hinzugetretenen Akkorden aus f-

und c-Moll und stellt fest, dass „keine dieser Verbindungen […], obwohl ungebräuchlich,

schlecht oder unbrauchbar [ist]“.86

Unter Einbeziehung der modifizierten Kirchentonarten, der Tonart der Mollsubdominante (f-

Moll) und der gleichnamigen Molltonart (c-Moll), sind nun auf jeder Stufe in C-Dur mindestens

vier unterschiedliche Dreiklänge möglich (Abb. 29).

82 Ebd., S. 269. 83 Im Vergleich zu den in Abb. 20 aufgezählten möglichen Akkorden in a-Moll durch Einbeziehung der erhöhten

sechsten und siebenten Tonleiterstufe gibt Schönberg hier den Moll-Akkord auf der II. Stufe (g-b-d) und den Durakkord auf der V. Stufe (c-e-g) nicht an. Beide fehlenden Akkorde sind schon auf andere Art in C-Dur in-tegriert: c-e-g ist leitereigene I. Stufe in C-Dur, g-b-d ist aus Dorisch und lydisch bekannt (als Dreiklang auf der IV. bzw. II. Stufe). Jedoch zählt Schönberg hier zwei andere Dreiklänge auf, die ebenfalls schon aus Dorisch bzw. lydisch bekannt sind: den Durdreiklang auf der IV. und den verminderten Dreiklang auf der erhöhten VII. Stufe. Dies lässt sich mit der besseren Herleitung dieser Akkorde aus der Mollsubdominanttonart f-Moll erklä-ren.

84 Die unveränderten Akkorde der I., II., III., IV., VI. und VII. Stufe in c-Moll (ohne Hinzuziehung der erhöhten sechsten und siebenten Skalenstufe) entsprechen der V., der erhöhten VI., der VII., der I., der III. und der IV. Stufe mit erhöhter Terz in f-Moll. Die II. Stufe mit erhöhter Quint, die IV. und V. Stufe mit erhöhter Terz und die erhöhte VII. Stufe sind leitereigen in C-Dur.

85 Schönberg nennt den Molldreiklang g-b-d, obwohl dieser schon aus Dorisch (als IV. Stufe) und lydisch (als II. Stufe) bekannt ist. Es ist anzunehmen, dass die Ableitung dieses Dreiklangs von der Molldominante für Schön-berg die naheliegendere ist. Dasselbe gilt für den Durdreiklang auf der IV. Stufe und den verminderten Drei-klang auf der erhöhten VII. Stufe in f-Moll (b-d-f und e-g-b), die ebenfalls schon in Dorisch und lydisch einge-führt wurden.

86 Schönberg, Harmonielehre, S. 271. Mit „ungebräuchlich“ meint Schönberg z.B. Akkordverbindungen, bei denen sich leicht parallele Quinten ergeben oder die nur mit verminderten oder übermäßigen Stimmschritten möglich sind (vgl. ebd., S. 271 f.).

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Abbildung 29: mögliche Dreiklänge in C-Dur durch die Kirchentonarten, f-Moll und c-Moll

Die chromatische Skala als Grundlage der Tonalität

Als Folge seines Versuches, für die Akkorde des-, es-, fis- bzw. ges- und h-Moll in C-Dur eine

„verwandtschaftliche Beziehung [zu zeigen]“87, stellt Schönberg im Schlussteil seiner Harmo-

nielehre eine Theorie vor, die von den zwölf Tönen der chromatischen Skala ausgeht, nicht wie

bisher von den sieben Tönen einer Durtonleiter. Er bildet zunächst unzählige Skalen auf diesen

zwölf Tönen88, kommt dann aber zu dem Schluss, dass man für die Analyse zeitgenössischer

Musik nicht „durch die Methoden der Rückführung auf Stufen […] zur Klarheit über ihre Funk-

tion“ gelangt, da die „Zusammenklänge [wie in den früheren Epochen] Ergebnis der Stimmfüh-

rung [sind]“ – die Melodie ist „Rechtfertigung“ genug.89

Nonenakkorde etc.

Für Schönberg ist der Nonenakkord „mindestens ebenso legitim“ wie der Septakkord.90 Er gibt

zwar die „Künstlichkeit“ des Nonenakkords zu – diese beginnt laut Schönberg aber bereits mit

der Bildung des Mollakkords. Wenn also (Moll- und) Septakkorde erlaubt sind, „dann sind auch

9-Akkorde, 11-Akkorde usw. möglich“.91 Schönberg will auch Umkehrungen von Nonenakkor-

den „verwendungsfähig“ wissen, die er etwa in seinem Streichsextett Verklärte Nacht op. 4

verwendet.92

Die Auflösung eines Nonenakkords für „Vorsichtige“93 ist auf allen Stufen der um eine

Quint tiefere Akkord; die Dissonanzen Sept und Non werden dabei schrittweise abwärts weiter-

geführt (Abb. 30).

87 Ebd., S. 463. 88 Z.B. bildet Schönberg auf diesen zwölf Tönen zwölfmal sieben Kirchentonarten, zwölf Dur- und Molltonarten

etc. (ebd., S. 464 f.). 89 Ebd., S. 466. Interessanterweise widerspricht sich Schönberg mit dieser Aussage selbst; denn nur kurz vorher

sagt er, wenn er über die Selbständigkeit von (alterierten) Nonakkorden spricht: „[…] man wird dazu neigen, sie als chromatische Durchgangsnoten einzuschätzen; aber das soll man nicht, denn die Beziehung auf Funda-mente ist für die harmonische Analyse noch immer das zweckentsprechendere Hilfsmittel als die Rechtferti-gung durchs Melodische. Diese sagt nur etwas über die Entstehung des Akkords. Jene aber gibt einheitliche Aufschlüsse über seine Verwendung und über seine Triebe“ (ebd., S. 429).

90 Ebd., S. 416. 91 Ebd. 92 Vgl. ebd., S. 416 f. und Abb. 199 im 3. Kapitel. 93 Schönberg, Harmonielehre, S. 418.

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Abbildung 30: Auflösung des Nonenakkords (Schönberg, Harmonielehre, S. 418)

Aber auch der Trugschluss ist eine optionale Weiterführung des Nonenakkords – hier können

Sept und Non auch liegen bleiben (Abb. 31). Der Nonenakkord mit trugschlüssiger Auflösung

ist laut Schönberg „deshalb schon berechtigt“, weil er „als Stimmführungsereignis

vor[kommt]“94 (Abb. 32).

Abbildung 31: Auflösung des Nonenakkords – Trugschluss (Schönberg, Harmonielehre, S. 418)

Abbildung 32: Der Nonenakkord als „Stimmführungsereignis“ im Trugschluss (Schönberg, Harmonielehre, S. 419)

Der Dominantseptnonakkord wird „von niemandem bestritten“95, daher fordert Schönberg zu-

mindest die Legitimierung der ihm nachgebildeten Nebendominant-Nonakkorde (Abb. 33).

94 Ebd., S. 419. Für Schönberg sind wohl auch noch andere Weiterführungen von Nonenakkorden möglich –

indem „man noch das Wegspringen aus der Dissonanz versuch[t]“ (ebd.) –, er gibt dafür aber keine Beispiele. 95 Ebd.

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Abbildung 33: Nebendominant-Nonakkorde in C-Dur (Schönberg, Harmonielehre, S. 419)

Auch Nonenakkorde werden – meist aus Wunsch nach einem zusätzlichen Leitton96 – bei

Schönberg auf unterschiedliche Art alteriert (Abb. 34), ähnlich wie die Septakkorde (Abb. 35).97

Grundtonalterierung98 wie bei den Dreiklängen (Abb. 36) schließt Schönberg für die Sept- und

Nonenakkorde allerdings aus. Schönberg möchte auch nicht alle Alterationsmöglichkeiten auf-

zeigen, „ohne Rücksicht darauf, ob es in der Literatur schon vorkommt“.99

Abbildung 34: Alterierungen an Nonenakkorden (Schönberg, Harmonielehre, S. 430)

Abbildung 35: Alterierungen an Septakkorden100 (Schönberg, Harmonielehre, S. 427)

Abbildung 36: Alterierungen an Dreiklängen (Schönberg, Harmonielehre, S. 422-423)

Schönberg betrachtet diese alterierten Akkorde als autonome Zusammenklänge, aber „wer Lust

hat, mag sie als durchgehende Erscheinungen ansehen“.101 Schönberg bevorzugt die Auflösung

96 Ebd., S. 427. 97 Schönberg geht nicht so weit, für die Nonenakkorde mit kleiner Terz, verminderter Quint und verminderter

Sept einen ausgelassenen Grundton anzunehmen, obwohl er ansonsten verminderte Septakkorde für Nonen-akkorde ohne Grundton hält (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 230 f.).

98 Schönberg akzeptiert die Alterierung des Grundtons „nicht gerne“, denn er befürwortet die Annahme eines neuen Grundtons – entweder ist dieser alterierte Grundton dann als zusätzlicher Skalenton neuer Grundton (wie beim neapolitanischen Sextakkord), oder ein nicht erklingender Ton ist Grundton (wie etwa beim verminderten Septakkord) (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 422 f.).

99 Schönberg, Harmonielehre, S. 421. Auch an dieser Stelle führt Schönberg keine Literaturbeispiele an – in der gesamten Harmonielehre sind kaum Literaturbeispiele zu finden –, gibt aber Anwendungsbeispiele.

100 Schönberg „[deutet] die Alterierungsmöglichkeiten der 7-Akkorde“ hier nur an – die Notenzeile mit den alte-rierten Septakkorden ist mit einem „etc.“ versehen (vgl. ebd., S. 427).

101 Schönberg, Harmonielehre, S. 424. Schönberg unterstützt diese Ansicht, weil er selbst alles außer der I. Stufe als „sozusagen durchgehend oder doch mindestens gehend“ ansieht (vgl. ebd.). In Schönbergs Beispielen zu diesen alterierten Akkorden (Schönberg, Harmonielehre, S. 424-431, Bsp. 285-290) sind diese aber oft nicht „selbständige Akkorde“ (ebd., S. 424), sondern stehen in Folge ihrer unalterierten Form (wie fast in allen Beispielen der alterierten Dominantseptakkorde) oder werden im Durchgang erreicht.

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eines hochalterierten Tons nach oben und die eines tiefalterierten Tons nach unten, schließt aber

andere Weiterführungsmöglichkeiten des alterierten Tons (Liegenbleiben oder Auflösung in die

entgegengesetzte Richtung) nicht aus.102 Schönberg erlaubt die chromatische Aufwärtsführung

der Non, da auch die Sept nach oben aufgelöst werden kann.103

Ganztonakkorde

Schönberg sieht die Ganztonleiter als „eigentümliche Beeinflussung der Melodie“ und die sich

durch sie ergebenden Zusammenklänge als „Verbindungsmöglichkeit mit anderen Akkor-

den“.104 Seine Verwendung der Ganztonleiter ist nicht durch „internationale Seelenverwandt-

schaft“105, sondern in der Kompositionstechnik begründet. Die Ganztonleiter ergibt sich nämlich

auf „harmonisch-melodische“106 Weise, wenn man die Akkordtöne des übermäßigen Dreiklangs

mit Durchgangsnoten verbindet (Abb. 37).

Abbildung 37: Entstehung der Ganztonleiter durch den übermäßigen Dreiklang (vgl. Schönberg, Harmonie-lehre, S. 468)

Auf ähnliche Weise leitet Schönberg die Ganztonreihe auch vom Dominantsept(non)akkord mit

hochalterierter Quint her (Abb. 38), der nur eine Erweiterung des übermäßigen Dreiklangs um

eine kleine Sept (und große Non) ist.

Abbildung 38: Entstehung der Ganztonleiter durch den alterierten Dominantsept(non)akkord (vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 469)

102 Vgl. ebd., S. 427. Diese Auffassung Schönbergs ergibt sich, da er – im Gegensatz zu Riemann und Schenker –

stilistisch von der Harmonik Richard Wagners ausgeht. 103 Ebd., S. 431. Schönberg begründet dies folgendermaßen: „Und da beim 7-Akkord sogar sehr gemäßigte Theo-

retiker annehmen, daß die Sept steigen kann, […] so wird man wohl zugeben müssen, dass auch beim 9-Akkord die Non mindestens chromatisch steigen kann“ (ebd.). Schönberg beruft sich hier auf ein Beispiel, „das fast in jedem Lehrbuch vorkommt“: die Harmoniefolge G-Dur-Dominantseptakkord – D-Dur-Dominantseptakkord, in dem die Sept von G7 (f) chromatisch in die Terz von D7 (fis) geführt wird (g-d1-h1-f2 – a-d1-c2-fis2) (ebd.).

104 Ebd., S. 471. 105 Ebd., S. 468. 106 Ebd., S. 471.

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Als Ergebnis des Zusammenklangs der Akkord- und Durchgangstöne107 bzw. durch Disalterati-

on (d.h. gleichzeitige Hoch- und Tiefalteration) der Quint des Dominantseptnonakkords endlich

erhält Schönberg einen sechstönigen Akkord, der alle Töne der Ganztonleiter umfasst (Abb.

39). Er wird bei Schönberg zunächst wie ein gewöhnlicher Dominantseptnonakkord behandelt:

Auflösung in die Tonika; Sept und Non werden schrittweise abwärts geführt, die Quinten ent-

sprechend ihrer Alteration auf- bzw. abwärts aufgelöst.

Abbildung 39: Ganztonakkord – Entstehung und Auflösung (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 469-470)

Auch in Schönbergs erster Kammersymphonie op. 9 ist der Ganztonakkord als disalterierte Do-

minante gedacht (zu einem F-Dur-Akkord), entsteht jedoch beide Male aus einem Quartenak-

kord (Abb. 40). Der hier von Schönberg verwendete Ganztonakkord (c-e-ges/fis-as/gis-b/ais) ist

nicht „vollständig“ – die „Non“ d fehlt in beiden Fällen, dafür ist die Terz e zweifach vorhan-

den.

Abbildung 40: der Ganztonakkord in Schönbergs Kammersymphonie op. 9 (1906)108

Wenn man alle Akkordtöne des Ganztonakkords entweder chromatisch weiterführt oder liegen

lässt – „im Sinn einer strengen Dissonanzbehandlung“109 –, sind noch eine Menge weiterer Auf-

lösungen möglich: z.B. übermäßiger Dreiklang, Dominantseptakkord, verminderter Septakkord

107 Vgl. ebd., S. 470. 108 Die Ligaturen wurden in der Abbildung weggelassen und die Takte 374 und 375 sind eine Oktave tiefer darge-

stellt als im Original. 109 Schönberg, Harmonielehre, S. 476. Für Schönberg ist aber auch eine freiere Behandlung der Dissonanzen

möglich (vgl. ebd.).

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oder Dominantseptnonakkord mit tiefalterierter Quint (Abb. 41). Denn die „melodische Kraft

[der Chromatik] hilft verbinden, was entfernter verwandt ist“.110

Abbildung 41: chromatische Weiterführung des Ganztonakkords (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 475)

Als Akkord, der die Oktave in mehrere gleiche Teile teilt, kann der Ganztonakkord – ebenso

wie der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang – enharmonisch verwechselt

werden. Die fünf möglichen enharmonischen Verwechslungen eines Ganztonakkords ergeben

dann noch zusätzlich fünf Transpositionen aller möglichen Auflösungsakkorde eines Ganzton-

akkords (von insgesamt zwei verschiedenen) – in Summe sind bei dieser strengen Dissonanzbe-

handlung also mehr als 60 verschiedene Auflösungen eines Ganztonakkords möglich.

Quartenakkorde

Schönberg behandelt in seiner Harmonielehre auch Zusammenklänge, die nicht aus übereinan-

der geschichteten Terzen zusammengesetzt sind: Quartenakkorde. Mit den Quartenakkorden

spricht Schönberg einen weiteren Aspekt seiner eigenen Kompositionstechnik an: So kommen

etwa in seiner Kammersymphonie op. 9 Quartenakkorde vor (vgl. Abb. 40, T. 3 und 374). Für

Schönberg sind Zusammenklänge aus drei bis sechs Quarten möglich (Abb. 42-45).111 Schön-

berg verbindet diese drei- bis sechsstimmigen Quartenakkorde in seiner Harmonielehre mit

„gebräuchlichen Akkorden“; dabei schreiten die Akkordtöne entweder sekundweise fort (chro-

matisch oder diatonisch) oder bleiben liegen.112

Abbildung 42: Auflösung dreistimmiger Quartenakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 483)

110 Ebd., S. 276. 111 Ebd., S. 483. Die mehr als sechsstimmigen Quartenakkorde „[kennt Schönberg nicht] als Quartenakkorde“

(ebd., S. 485). 112 Ebd., S. 483-485 (Beispiele 330-337).

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Abbildung 43: Auflösung vierstimmiger Quartenakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 482-483)

Abbildung 44: Auflösung fünfstimmiger Quartenakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 484)

Abbildung 45: Auflösung sechsstimmiger Quartenakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 485)

Quartenakkorde aus vier oder fünf Quarten können – in dominantischer Funktion – auch aus

übereinandergeschichteten Terzen hergeleitet werden, der Vierklang als Alteration des Domi-

nantseptakkordes, der Fünfklang als Alteration einer Dominante (Abb. 46).

Abbildung 46: Ableitung des vierstimmigen und des fünfstimmigen Quartenakkords von der Dominante (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 484)

Schönberg schätzt an den Quarten besonders, dass durch das Übereinandersetzen von zwölf

Quarten alle zwölf verschiedenen Töne resultieren (Abb. 47), während dieses Resultat bei über-

einandergeschichteten Terzen nur mithilfe der „Kunstprodukte des Systems“113, dem übermäßi-

gen Dreiklang und dem verminderten Septakkord zustande kommt (Abb. 48, T. 6 und 7).

113 Ebd., S. 488.

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Abbildung 47: zwölftöniger Quartenakkord (Schönberg, Harmonielehre, S. 486)

Abbildung 48: Terzen-Schichtungen zur Bildung von Zwölftonakkorden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 487)

Das Übereinanderstellen von Durdreiklängen (C-Dur – G-Dur – D-Dur – A-Dur) bzw. großen

und kleinen Terzen (4-3-4-3114 etc.) ergibt acht verschiedene Töne (Abb. 48, T. 1), jenes von

Molldreiklängen (c-Moll – g-Moll – d-Moll – a-Moll) bzw. kleinen und großen Terzen (3-4-3-4

etc.) sieben unterschiedliche Töne (Abb. 48, T. 2). Bei lauter kleinen Terzen (c-es-ges-heses/a-c

bzw. 3-3-3-3, Abb. 48, T. 3) ist der vierte, bei lauter großen Terzen (c-e-gis-his/c bzw. 4-4-4,

Abb. 48, T. 4) der fünfte Ton Wiederholung eines schon dagewesenen Tons. Die Schichtung

von verminderten Dreiklängen mit einer großen Terz dazwischen (c-es-ges – b-des-fes etc. bzw.

3-3-4-3-3-4 etc.) liefert zehn verschiedene Töne (Abb. 48, T. 5). Erst das Übereinandersetzen

von übermäßigen Dreiklängen im Abstand einer kleinen Terz (c-e-gis – h-dis/es-fisis/g etc. bzw.

4-4-3-4-4-3 etc., Abb. 48, T. 6) und von verminderten Septakkorden mit dazwischenliegender

großer Terz (c-es-ges-heses/a – cis-e-g-b etc. bzw. 3-3-3-4-3-3-3-4 etc., Abb. 48, T. 7) produ-

ziert alle zwölf verschiedenen Töne.115

Zusammenfassung

Schönberg erweitert das Tonsystem zum einen durch das Prinzip der Nachbildung: Zuerst

kommt er durch die Übertragung des erhöhten VI. und VII. Skalentons bei der Molltonleiter

(melodisches Moll) auf die Kirchentonarten zu leiterfremden Akkorden, dann bildet er diese

Akkorde und auch die vagierenden Akkorde auf anderen Stufen nach. Mithilfe dieser modifi-

zierten Kirchentonarten – Schönberg transponiert sie nicht, sondern verwendet z.B. den ersten 114 Hier sind zur besseren Veranschaulichung die Intervalle große und kleine Terz in Halbtönen angegeben: „4“

steht für eine große, „3“ für eine kleine Terz. 115 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 485 f.

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Theorien erweiterter Tonalität – Arnold Schönberg

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Ton von Dorisch als zweiten Ton von Dur – ergibt sich die gesamte chromatische Skala; somit

kann bei Schönberg innerhalb einer Tonart jeder Akkord auf jeder der zwölf möglichen Töne

stehen. Zusätzlich verwendet Schönberg auch die Tonart der Mollsubdominante, um die Tonali-

tät zu erweitern. Damit nicht genug, nimmt Schönberg auch nicht durch Terzenschichtung ent-

standene Akkorde in sein System auf: den Ganzton- (den Schönberg jedoch auch aus einem –

allerdings doppelt alterierten – Nonenakkord ableitet) und den Quartenakkord. Schönberg zeigt

für alle Akkorde zunächst die „herkömmliche“ Auflösung, „erlaubt“ aber im Endeffekt alle

Fortschreitungen. In Bezug auf die Nonen-, Ganzton- und Quartenakkorde wird besonders deut-

lich, dass Schönberg seine Harmonielehre zur Rechtfertigung der eigenen Kompositionstechnik

benutzt, da er in diesen Kapiteln Beispiele aus eigenen Kompositionen bringt.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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II Vagierende Akkorde

Verminderter Dreiklang

Der verminderte Dreiklang – h-d-f in C-Dur bzw. a-Moll – steht in Dur auf der VII., in Moll auf

der II. Tonleiterstufe. Außerdem findet er sich leitereigen auf der VII. Stufe in harmonischem

Moll (erhöhte VII. Skalenstufe).

Auf der VII. Stufe hat der verminderte Dreiklang hauptsächlich Dominantfunktion: er ist

Dominantseptakkord ohne Grundton. Prim und Quint des verminderten Dreiklangs haben als

Terz und Sept des Dominantseptakkords Leittonfunktion und können deshalb nicht verdoppelt

werden. Jedoch wird die Sept durch den nicht vorhandenen Grundton nicht als solche wahrge-

nommen, daher ist eine freiere Weiterführung der Sept möglich (Abb. 49).116

Abbildung 49: verminderter Dreiklang der VII. Stufe in Dur und Moll117 (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 61)

Als II. Stufe in Moll ist der verminderte Dreiklang entweder Zwischendominante zur parallelen

Durtonart oder – mit Terz im Bass – Subdominante mit großer Sext statt Quint118 (Abb. 50).

Aber auch der verminderte Dreiklang auf der VII. Stufe kann – in passendem harmonischem

Kontext – eine Mollsubdominante mit Sext statt Quint für die parallele Molltonart darstellen.119

116 Amon, Reinhard: Lexikon der Harmonielehre. Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik mit Analyse-

chiffren für Funktionen, Stufen und Jazz-Akkorde. Wien-München: Doblinger 2005, S. 55, 61. Bei regulärer Auflösung der kleinen Sept – schrittweise nach unten – fehlt die Quint der Tonika. Amon lässt im Fall des ver-minderten Dreiklangs sogar die Verdopplung der (Dominant-)Sept zu (vgl. ebd., S. 55).

117 Im 15. und 16. Jahrhundert war der verminderte Dreiklang ein konsonanter Klang (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 55, 61, 131; de la Motte, Diether: Harmonielehre. Kassel: Bärenreiter 122001, S. 56 f.) und wurde mit seiner Terz im Bass geschrieben, damit die verminderte Quint nicht auffällt (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 55, 61, 115).

118 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 131. 119 Ebd., S. 61, 80, 207.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

33

Abbildung 50: der verminderte Dreiklang der II. Stufe in Moll als Zwischendominante oder Subdominante (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 61)

Sehr häufig kommen die verminderten Dreiklänge in zwischendominantischer Form vor; dazu

wird einfach der Grundton eines Durdreiklangs hochalteriert. Der hochalterierte Ton ist Leitton

zum Zielakkord (Abb. 51).

Abbildung 51: verminderte Dreiklänge als Zwischendominanten (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 61)

Riemann

Riemann leitet den verminderten Dreiklang h-d-f zunächst von der Subdominante in Moll ab.

Da Riemann den Mollakkord als Gegenstück des Durakkords ansieht, denkt er Akkorde in Moll

immer „von oben nach unten“: Im Molldreiklang d-f-a z.B. ist a die Prim (I), f die Unterterz

(III) und d die Unterquint (V).120 Riemann bildet als nächstes den „Septakkord der Mollsubdo-

minante“ (SVII), fügt also der Subdominante eine „Untersept“ an: a-f-d-h. Um den verminderten

Dreiklang in Moll zu erhalten, lässt Riemann den höchsten Ton des Septakkords, a – für Rie-

mann die Prim der Mollsubdominante – weg (Abb. 52).121 In C-Dur erhält Riemann den ver-

minderten Dreiklang ebenfalls durch Wegkürzen der Prim des Dominantseptakkords g-h-d-f (in

Dur ist die Prim für Riemann der tiefste Ton des Zusammenklangs, Abb. 52).

120 Die Bestandteile des Mollakkords bezeichnet Riemann mit römischen Ziffern, im Gegensatz zu den Akkordtö-

nen eines Durdreiklangs, die er mit arabischen Ziffern kennzeichnet. 121 In Riemanns harmonischem Dualismus ist die Prim in Moll der höchste Ton des Akkords. Der Septakkord h-d-

f-a heißt in Moll „Unterseptimenaccord von a“; die erklingende Sept a ist in Riemanns Mollsystem Prim bzw. Hauptton des Akkords.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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Abbildung 52: Ableitung des verminderten Dreiklangs in Moll und Dur durch Septakkorde

Beide Akkorde nennt Riemann „elliptische Septimenaccorde“122, da ihnen der Hauptton (die

Prim) fehlt. Dieses Weglassen der Prim macht Riemann durch Durchstreichen des Klangbuch-

stabens bzw. des Funktionszeichens deutlich. Riemann merkt jedoch an, dass „der Wert des

Gebildes […] in Dur und Moll keineswegs ein gleicher [ist], da in Dur derjenige Ton fehlt, wel-

cher am wenigsten entbehrlich ist (die 1), in Moll dagegen der am ehesten entbehrliche (die

I)“.123

Riemann bezeichnet den verminderten Dreiklang als „Terzsept(imen)accord“124, da die den

Akkord kennzeichnende verminderte Quint aus Terz und Sept des jeweiligen Septakkords be-

steht.125 Für die Klangwirkung des verminderten Dreiklangs sind Terz und Sept also unerläss-

lich; jedoch dürfen beide Töne nicht verdoppelt werden, da die Terz Leitton und die Sept Dis-

sonanz ist.126 Folglich ist für Riemann nur die Verdopplung der Quint d zulässig (Abb. 53).

Abbildung 53: der verminderte Dreiklang als verkürzte Dominante bzw. Subdominante127 (Riemann, Hand-buch der Harmonielehre, S. 146)

Aufgrund der Ableitung des verminderten Dreiklangs in Moll als „Unterseptakkord“ sieht Rie-

mann im verminderten Dreiklang h-d-f in a-Moll h als (Unter-)Sept und somit als Dissonanz an.

Dissonanzen müssen laut Riemann schrittweise aufgelöst werden128 – jedoch erfüllt Riemann

122 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 145 (im Original gesperrt). 123 Ebd., S. 145-146 (im Original gesperrt). 124 Ebd., S. 146. In der Überschrift des Kapitels (und im Inhaltsverzeichnis) nennt Riemann den verminderten

Septakkord „Terzseptaccord“, im Kapitel selbst fällt der Name „Terzseptimenaccord“. 125 In C-Dur ist h die Terz und f die Sept des Dominantseptakkords g-h-d-f, in a-Moll ist f die Terz und h die Sept

des Mollsubdominant-Unterseptimenakkords a-f-d-h. 126 Das ist die einzige Stelle innerhalb des Kapitels, an der sich Riemann (indirekt) zur Stimmführung äußert. 127 In diesem Beispiel zum verminderten Dreiklang in Dur und Moll ist das Funktionszeichen nicht durchgestri-

chen. Das hat vermutlich damit zu tun, dass das Durchstreichen des Klangbuchstabens bzw. des Funktionszei-chens zur Kennzeichnung einer weggelassenen (Unter-)Prim erst nach diesem Notenbeispiel im Text vorgestellt wird.

128 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 144.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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seine Forderung im eigenen Notenbeispiel nicht: die Untersept h springt ins gis der Dominante

(Abb. 53), wohl um einen vollständigen Dominantakkord zu erhalten.

Der verminderte Dreiklang in der Funktion als verkürzter Dominantseptakkord unterstützt

eine „schlechte, rauhe Klangwirkung“129, deshalb soll er Riemanns Ansicht nach nur in Sequen-

zen und im dreistimmigen Satz gebraucht werden, oder wenn er durch Sekundfortschreitung

erreicht und verlassen wird (Abb. 54).

Abbildung 54: Verwendung des verminderten Dreiklangs in Sekundfortschreitung, in Sequenzen und im drei-stimmigen Satz (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 146)

Riemanns Aufgabenstellungen mit vermindertem Dreiklang zeigen, dass beide verminderten

Dreiklänge – verkürzte Dominante und „verkürzte Subdominante“ – in Dur und in Moll einge-

setzt werden können – gemäß Riemanns Grundsatz, dass die Mollsubdominante in Dur und die

Durdominante in Moll erscheinen kann.

Der verminderte Dreiklang der VII. Stufe – dargestellt durch das durchgestrichene Funkti-

onszeichen des Dominantseptakkords – kommt in Riemanns Beispielen immer als Dominante

zur Anwendung: hauptsächlich führt er zur Tonika; einmal folgt als Trugschluss die parallele

Molltonart130, zweimal wird der verminderte Dreiklang von Riemann – der Dominante voraus-

gehend – als verkürzte Doppeldominante gebraucht.131 Der verminderte Dreiklang der II. Stufe

hat bei Riemann immer subdominantische Funktion: er führt meist in die Dominante, nur ein-

mal folgt ihm die Tonika132; viermal dient er als Vorbereitung des doppeldominantischen ver-

minderten Septakkords133 – nie jedoch wird der verminderte Dreiklang auf der II. Stufe bei

Riemann als Zwischendominante eingesetzt.

Im Kapitel über „Modulation durch chromatische Alteration“ zählt Riemann den verminder-

ten Dreiklang zu den „charakteristischen Dissonanzen“134 und verwendet ihn zur Modulation:

129 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 146. Riemann kritisiert hier Ernst Friedrich Richters Lehrbuch der

Harmonie (1853), indem der verminderte Dreiklang seiner Meinung nach zu oft als Dominantseptakkord ohne Grundton gebraucht wird.

130 Ebd., S. 185 (Bsp. 455). 131 Ebd., S. 180 (Bsp. 133) und S. 224 (Bsp. 125). 132 Ebd., S. 181 (Bsp. 428). 133 Ebd., S. 224-227 (Bsp. 150, 166, 174, 181). In a-Moll: h-d-f – a-c-dis-fis. 134 Ebd., S. 218 f. Zu den „charakteristischen Dissonanzen“ zählen bei Riemann hauptsächlich die Sept des Domi-

nantseptakkords und die zum Durakkord hinzugefügte Sext (vgl. ebd., S. 141-151). Riemanns Auffassung des verminderten Dreiklangs (und des verminderten Septakkords) als „charakteristische Dissonanz“ lässt sich mit Schenkers „Eindeutigkeit“ von Akkorden vergleichen.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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Das Hochalterieren des Grundtons beim Durdreiklang und das Tiefalterieren der Quint135 beim

Molldreiklang führt von C-Dur bzw. a-Moll aus zu weiteren sechs verminderten Dreiklängen,

von denen jeder in zwei Tonarten als verkürzte Dominante bzw. als II. Stufe leitereigen sein

kann (Abb. 55). In der Analyse wird der verminderte Dreiklang dann wieder als verkürzter Do-

minantseptakkord bzw. als verkürzter Unterseptimenakkord dargestellt.

Abbildung 55: Modulation durch chromatische Alteration – das Alterieren der reinen zur verminderten Quint in Dur- und Molldreiklängen ergibt weitere verminderte Dreiklänge

Riemann führt nur diejenigen Tonarten als Modulationsziel der alterierten Hauptstufen an, die

sich durch einfache Funktionszeichen in der jeweiligen Tonart ausdrücken lassen.136 Von Rie-

mann unerwähnt bleibt die mögliche Funktion der verkürzten Dominante als Doppeldominante,

die er im Rahmen der Funktion eines verminderten Septakkords anspricht.137

Schenker

Schenker hebt die „Eindeutigkeit“ des verminderten Dreiklangs hervor138, der in Dur und Moll

je nur einmal vorkommt: in Dur auf der VII., in Moll auf der II. Stufe. Das bedeutet, dass z.B.

der verminderte Dreiklang fis-a-c ein Anzeichen für die Tonarten G-Dur (als VII. Stufe) oder e-

Moll (als II. Stufe) ist (Abb. 56).

Abbildung 56: der verminderte Dreiklang ist „eindeutig“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 239)

Später spricht Schenker nur noch über die Funktion des verminderten Dreiklangs als VII. Stufe

(in Dur und Moll) und stellt klar, dass die drei verschiedenen auf der VII. Stufe stehenden Ak-

korde durch die gemeinsame verminderte Quint (h-f) mit dem Dominantseptakkord „psycholo-

135 Riemann spricht an dieser Stelle natürlich wieder dualistisch von der „Mollprim“, womit er den höchsten Ton

des Mollakkords – die Akkordquint nach heutigem Verständnis – meint (Riemann, Handbuch der Harmonie-lehre, S. 219).

136 Ausnahmen sind hier nur fis-Moll in C-Dur als „Paralleltonart der Dur-Variante der Parallele“ und Es-Dur in a-Moll als „Paralleltonart der Mollvariante der Parallele“ (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 219).

137 Vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 219 f. 138 Schenker, Harmonielehre S. 238. Im Gegensatz dazu kann z.B. der Durdreiklang – dieser ist gleich wie der

Molldreiklang „dreideutig“ – in jeder Dur- und Molltonart auf drei verschiedenen Stufen stehen.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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gisch verwandt“ sind139: der verminderte Dreiklang, der diatonische und der verminderte Sep-

takkord (Abb. 57). Laut Schenker werden diese „eindeutigen Erscheinungen“ von den Kompo-

nisten „eine für die andre [ge]setzt, ohne aber dadurch den Sinn der Stufenfolge verändern zu

wollen“.140

Abbildung 57: Verwandtschaft des Dominantseptakkords mit dem verminderten Dreiklang, dem halbvermin-derten Septakkord und dem verminderten Septakkord (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 250-251)

Der verminderte Dreiklang141 dient bei Schenker zur „Tonikalisierung bei steigenden Sekun-

den“142, indem zwei im Sekundabstand aufeinanderfolgende Akkorde durch chromatische Ver-

änderungen des ersten Akkords der Stufenfolge VII – I angeglichen werden, also die Akkord-

folge verminderter Dreiklang – Dur- oder Molldreiklang nachahmen (Abb. 58). Dieser Vorgang

ermöglicht auch im Rahmen einer Modulation eine sehr schnelle Bestätigung der neuen Ton-

art.143

Abbildung 58: Tonikalisierung bei steigenden Sekundschritten – der verminderte Dreiklang als Zwischendo-minante

Diese veränderten Stufen werden in Schenkers Analysen als z.B. „erhöhte II. Stufe“ bezeichnet.

Obwohl sich Schenker also bewusst ist, dass der verminderte Dreiklang eine V. Stufe ohne

Grundton ist, geht es ihm nicht wie Riemann um die Darstellung des fallenden Quintschritts,

sondern um die des steigenden Halbtonschritts. Dies hat den Vorteil, dass der tatsächliche Stu-

139 Ebd., S. 250 f. Diese Auffassung Schenkers stimmt mit der Ansicht Riemanns überein, dass die drei verschie-

denen Akkorde auf der VII. Stufe Dominantsept(non)akkorde ohne Grundton sind. 140 Ebd., S. 250. 141 Dasselbe gilt für die ihm verwandten Akkorde diatonischer und verminderter Septakkord. Die zusätzliche

Verwendung der diatonischen (kleinen) oder verminderten Sept verstärkt die Wirkung der Tonikalisierung (Schenker, Harmonielehre S. 356).

142 Schenker, Harmonielehre, S. 356. Diese Tonikalisierung ist „mittelbar“, das heißt: „eine nach dem Tonikawert strebende Stufe nimmt eine oder mehrere vorhergehende Stufen zur Erreichung des genannten Zieles zu Hilfe“ (ebd., S. 343). Ein Akkord wird dann vorübergehend als Tonika empfunden, wenn der Akkord davor auf be-stimmte Weise chromatisch verändert wird (von „Alteration“ spricht Schenker nur dann, wenn sich eine ver-minderte Terz zwischen Terz und Quint eines Akkords befindet, vgl. ebd., S. 374) – also zur Zwischendomi-nante wird. Voraussetzung dafür ist eine fallende Quint (vgl. ebd., S. 344) oder ein steigender Sekundschritt (ebd., S. 356). Im Gegensatz dazu bedeutet „unmittelbare Tonikalisierung“, dass beim Akkord selbst etwas ver-ändert wird, damit er als Tonika wahrgenommen wird (vgl. ebd., S. 338).

143 Ebd., S. 427 f.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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fengang erkennbar bleibt: In Abb. 59 folgt der V. Stufe in F-Dur der verminderte Dreiklang h-d-

f – durch die Darstellung als IV. Stufe (die zur Tonikalisierung des nachfolgenden Dominant-

septakkords chromatisch erhöht wurde) ist der Trugschluss (V-IV) auf den ersten Blick sicht-

bar.144

Abbildung 59: Johann Sebastian Bach: Italienisches Konzert (BWV 971), Takt 26 bis 30145 (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 265)

Zur Stimmführung äußert sich Schenker in der Harmonielehre nicht – diese soll sich „nur mit

der Psychologie der abstrakten Stufen […] befassen“.146

Schönberg

Der verminderte Dreiklang – in Dur auf der VII. Stufe – benötigt laut Schönberg eine „besonde-

re Behandlung“147: Die als Dissonanz „empfundene“148 verminderte Quint muss vorbereitet und

aufgelöst werden; außerdem darf sie als Dissonanz und „auffallendster“ Ton nicht verdoppelt

werden.149 Verdoppelt wird laut Schönberg hauptsächlich der Grundton des verminderten Drei-

klangs (h in C-Dur), auch die Verdopplung der Terz ist möglich.150 Schönberg führt den ver-

minderten Dreiklang zunächst in den um eine Quint tiefer liegenden Molldreiklang auf der III.

Stufe (Abb. 60). Der Quintfall des Grundtons – Schönberg spricht jedoch von „Quartensprung

144 Vgl. ebd., S. 265 f. 145 Das Notenbeispiel aus Bachs Italienischem Konzert ist hier abgebildet wie in Schenkers Harmonielehre (S.

265). Die neue Bach-Gesamtausgabe gibt für den Takt 29 jedoch einen anderen Bassverlauf an: f-A-B-c. 146 Schenker, Harmonielehre, S. 226. 147 Schönberg, Harmonielehre, S. 45. 148 Ebd., S. 51. 149 Ebd., S. 57. Dessen ungeachtet lässt Schönberg in den Beispielen auf S. 172 und 173 die Verdopplung der

verminderten Quint ohne Weiteres zu. 150 Zwar erkennt Schönberg bald, dass der „Grundton“ h „steigender Leitton“ ist und nach c aufgelöst werden

möchte (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 84, 96); „er wird jedoch diesem melodischem Trieb […] nur dann folgen müssen, wenn er wirklich an einer melodischen Angelegenheit teilhat, und auch das nur, wenn er Terz der V. Stufe war und der darauffolgende Akkord die I. Stufe ist“ (ebd., S. 96). Also zieht Schönberg aus der Tatsache, dass der Grundton des verminderten Dreiklangs Leitton ist, nicht die logische Konsequenz, dass nur die Terz des verminderten Dreiklangs verdoppelt werden kann.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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aufwärts“ – ist nach Schönberg eine „Form der Auflösung“ bei Dissonanzen.151 Die verminderte

Quint f wird bei Schönberg vorläufig durch die Terz der II. oder den Grundton der IV. Stufe als

Konsonanz eingeführt und dann schrittweise nach unten in den Grundton der III. Stufe aufge-

löst.152

Abbildung 60: Vorbereitung und Auflösung des verminderten Dreiklangs der VII. Stufe in Dur (vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 55 und 58)

Der verminderte Dreiklang auf der II. Stufe in Moll wird bei Schönberg durch die IV. oder die

VI. Stufe vorbereitet und in die V. Stufe (mit Durterz) weitergeführt (Abb. 61).153 Auch hier

verdoppelt Schönberg den „Grundton“ des verminderten Dreiklangs, h.

Abbildung 61: Vorbereitung und Auflösung des verminderten Dreiklangs der II. Stufe in Moll (vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 116)

Durch Erhöhen der sechsten und siebenten Tonleiterstufe (fis und gis in a-Moll) erhält Schön-

berg zwei weitere verminderte Dreiklänge in Moll, einen auf der VI. (fis-a-c in a-Moll) und

einen auf der VII. Stufe (gis-h-d) (Abb. 62).

151 Schönberg, Harmonielehre, S. 54. Schönberg spricht von „Quartensprung aufwärts“, weil diese Bezeichnung

seiner Meinung nach eher der „steigenden Intensität“ dieses Harmonieschritts entspricht (vgl. ebd., S. 135 Anm.).

152 Bis zu diesem Zeitpunkt, wo Schönberg den verminderten Dreiklang in seiner Harmonielehre erwähnt, möchte er für alle Akkordverbindungen ein „harmonisches Band“, das heißt: gemeinsame Töne bleiben liegen (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 25). Würde in der Verbindung des verminderten Dreiklangs auf der VII. Stufe mit dem nachfolgenden Molldreiklang auf der III. Stufe das harmonische Band (hier h) bestehen bleiben, ließen sich Stimmkreuzungen und zu weite Stimmabstände nur schwer vermeiden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 55/12b und 12d).

153 Schönberg, Harmonielehre, S. 115.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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Abbildung 62: weitere verminderte Dreiklänge in Moll (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 114)

Der verminderte Dreiklang auf der VII. Mollstufe wird harmonisch ähnlich wie in Dur einge-

führt (durch den Dreiklang auf der II. oder IV. Stufe). Die Auflösung erfolgt zwar auch durch

Quintfall in die III. Stufe – hier aber um eine übermäßige Quint und in den übermäßigen Drei-

klang (Abb. 63). Der Grundton des verminderten Dreiklangs auf der VII. Stufe in Moll (gis)

bedarf einer anderen Behandlung als jener der VII. Stufe in Dur, da er nur „zu Leittonzwecken“

erhöht wurde154: Die „Wendepunktgesetze“155 erfordern, dass gis (nach dem Liegenbleiben) ins

a geführt wird – es darf also nicht verdoppelt werden. Insgesamt ist also nur die Verdopplung

der Terz möglich.156

Abbildung 63: Vorbereitung und Auflösung des verminderten Dreiklangs der VII. Stufe in Moll (vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 125)

Später in der Harmonielehre weist Schönberg auf eine „freiere Behandlung“ der VII. Stufe hin:

Der dissonante Ton muss nicht vorbereitet werden, man kann ihn auch schrittweise erreichen;

außerdem muss sich ein dissonanter Akkord nicht durch Quintfall des Grundtons auflösen.157 So

kann der verminderte Dreiklang etwa stufenweise erreicht und verlassen werden (Abb. 64).

154 Vgl. ebd., S. 112 f. 155 Die „Wendepunktgesetze“ hat Schönberg zur Behandlung der „steigenden“ (melodische Molltonleiter – erhöh-

ter VI. und VII. Skalenton) und „fallenden“ Mollskala (äolisches Moll) entworfen. Diese befassen sich mit der Erhöhung (bzw. Nicht-Erhöhung) des VI. und VII. Skalentons der Mollskala: In a-Moll muss gis nach a und fis nach gis geführt werden, g muss f und f muss e folgen (Schönberg, Harmonielehre, S. 113). Schönbergs „Wen-depunktgesetze“ besagen also (unter anderem), dass die beiden erhöhten Töne ( fis und gis) schrittweise auf-wärts geführt werden müssen.

156 Schönberg, Harmonielehre, S. 125. Auch die dissonante verminderte Quint darf nicht verdoppelt werden. 157 Ebd., S. 171 f. Schönberg verweist auch darauf, dass auf diese Weise Harmoniefolgen mit verminderten Drei-

klängen „zugänglich werden, die in der Praxis häufiger vorkommen als die von uns zuerst behandelte[n]“ (ebd., S. 171).

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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Abbildung 64: stufenweise Einführung und Auflösung des verminderten Dreiklangs (vgl. Schönberg, Harmo-nielehre, S. 171)

In der Stufenfolge VII – I sieht Schönberg die VII. Stufe zwar als Vertreter der V. Stufe an158, er

erwähnt aber nicht, dass die Akkordtöne des verminderten Dreiklangs Bestandteile des Domi-

nantseptakkords darstellen.159 Als Folge dieser Feststellung überträgt Schönberg die „gebräuch-

lichen Schritte“ der V. Stufe – V-I, V-VI, V-IV und V-II – auf die VII. Stufe (Abb. 65).160

Abbildung 65: Übertragung der „gebräuchlichen Schritte“ der V. Stufe auf die VII. Stufe (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 172)

Die weiteren Notenbeispiele161 Schönbergs zeigen die „freiere Behandlung“ der verminderten

Dreiklänge der VII. Stufe in Dur und der II., VI. und VII. Stufe in Moll: Fast immer erscheint

der verminderte Dreiklang in seiner ersten Umkehrung, als Sextakkord.162 Die Dissonanzbe-

handlung der verminderten Quint scheint nicht bindend zu sein: In etwa der Hälfte der Beispiele

verdoppelt Schönberg die verminderte Quint, was er zuvor nicht gestattet hatte, weil die ver-

minderte Quint als Dissonanz einen „Zwangsweg“ habe.163 Sehr häufig wird die Terz des ver-

minderten Dreiklangs verdoppelt, und nur zweimal – beim verminderten Dreiklang auf der II.

158 Ebd., S. 172. 159 Zur Akkordfolge VII. Stufe – Dominantseptakkord (in C-Dur) bemerkt Schönberg nur folgendes: „das neu

hinzutretende g im Baß […] macht […] den Eindruck, als ob es vorher bloß ausgelassen worden wäre“ (Schön-berg, Harmonielehre, S. 98). Den verminderten Septakkord versteht Schönberg jedoch eindeutig als Bestandteil des Dominantseptnonakkords; dies macht sich bemerkbar in Schönbergs Bezeichnungsweise: den verminderten Septakkord h-d-f-as in C-Dur z.B. kennzeichnet Schönberg mit der Stufe I.

160 Schönberg, Harmonielehre, S. 172. 161 Ebd., S. 172/101 und 102. 162 Die erste Umkehrung ist laut Schönberg die normale Erscheinungsweise des verminderten Dreiklangs; Grund-

stellung und Quartsextakkord sind eher selten (Schönberg, Harmonielehre, S. 172). 163 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 57. Eine der beiden verminderten Quinten wird meistens stufenweise ab-

wärts aufgelöst, sie kann aber auch liegenbleiben (vgl. ebd., S. 172/102, T. 2 und letzter Takt) oder springen (vgl. ebd., T. 4). Die zweite verminderte Quint steigt entweder stufenweise aufwärts oder springt um eine Terz nach oben.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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Stufe in Moll – auch der Grundton.164 Einzige Bedingung des Auflösungsakkords scheint in

diesen Beispielen zu sein, dass der erhöhte VI. und VII. Skalenton nach den „Wendepunktgeset-

zen“ behandelt wird, dass also fis nach gis und gis nach a geführt wird. Für die II. Stufe in Moll

gibt es in diesen Beispielen keine bestimmte Behandlungsweise.

Durch seine modifizierten Kirchentonarten erhält Schönberg vier weitere verminderte Drei-

klänge (Abb. 66) – die sogenannten „künstlichen verminderten Dreiklänge“.165 Zu diesen ge-

langt er, indem er den erhöhten VI. und VII. Skalenton der melodischen Molltonleiter auf die

Kirchentonarten überträgt: z.B. h und cis in Dorisch auf d, fis in Mixolydisch auf g. Schönberg

fasst die Kirchentonarten als Stufen in Dur auf, aber so, dass etwa die II. Stufe in d-Dorisch (e-

g-b in der unveränderten dorischen Kirchentonleiter) die III. Stufe in C-Dur ist.166

Abbildung 66: künstliche verminderte Dreiklänge (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 212)

Diese künstlichen verminderten Dreiklänge „können so behandelt werden wie die VII in Dur

oder, was meist besser ist, wie die II in Moll (fast ausschließlich als 6-Akkorde)“.167 Die Ver-

wendung als II. Stufe ist ein Quintfall nach dem Muster II-V in Moll. Wird der verminderte

Dreiklang als VII. Stufe (also als Stellvertreter der V. Stufe) gebraucht, dient das Modell VII-I,

VII-VI oder VII-IV als Vorlage (Abb. 67).168

164 Schönberg schließt die Grundtonverdopplung nur beim (künstlichen) verminderten Dreiklang auf der VII. Stufe

in Moll aus, wegen des „zu Leittonzwecken“ erhöhten Grundtons – dies trifft nicht auf die II. Stufe in Moll und die VII. Stufe in Dur zu.

165 Schönberg, Harmonielehre, S. 211 f., 228. 166 Vgl. Kapitel „Theorien erweiterter Tonalität – Arnold Schönberg“. 167 Schönberg, Harmonielehre, S. 228. 168 Der verminderte Dreiklang auf der III. Stufe tanzt hier aus der Reihe: Als vierte Auflösungsmöglichkeit von e-

g-b wendet Schönberg das Muster VII-II an, in dem sich der Leitton e nach unten auflöst.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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Abbildung 67: Auflösungsmöglichkeiten künstlicher verminderter Dreiklänge der I., III., IV. und V. Stufe (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 226)

Zusammenfassung

Riemann erkennt, dass der verminderte Dreiklang der VII. Stufe ein Dominantseptakkord ohne

Grundton ist; den verminderten Dreiklang der II. Stufe fasst er – im Gegensatz zu Schenker und

Schönberg – subdominantisch auf: Er erhält ihn aus der Subdominante in Moll, als verkürzter

Unter-Septimenakkord. Der verminderte Dreiklang der VII. Stufe – er hat immer Dominant-

funktion – kann bei Riemann auch in Moll, der verminderte Dreiklang der II. Stufe – er vertritt

immer die Subdominante – auch in Dur eingesetzt werden. Riemanns Interpretation des vermin-

derten Dreiklangs in Dur und Moll unterscheidet sich in Bezug auf seine Verwendung also nicht

von der heutigen Auffassung. Jedoch deutet Riemann aufgrund seines dualistischen Systems die

Akkordtöne der beiden verminderten Dreiklänge unterschiedlich: Im verminderten Dreiklang

der VII. Stufe ist h Terz und f Sept, im verminderten Dreiklang der II. Stufe ist umgekehrt f

(Unter-)Terz und h (Unter-)Sept. Steht ein verminderter Dreiklang auf einer anderen Stufe als

der II. oder VII., ist er Zwischendominante oder Modulationsakkord; in der neuen Tonart kann

er die Funktion als VII. oder als II. Stufe einnehmen.

Für Schenker ist der verminderte Dreiklang offensichtlich mit dem Dominantseptakkord

verwandt; aus diesem Grund ist bei ihm der verminderte Dreiklang der VII. Stufe meist Vertre-

ter der V. Stufe und führt in die I. Stufe. Verminderte Dreiklänge, die durch chromatische Ver-

änderungen entstanden sind haben dieselbe Funktion – sie „tonikalisieren“, sind also Zwischen-

dominante zum folgenden Akkord. Die subdominantische Funktion des verminderten Drei-

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Vagierende Akkorde – Verminderter Dreiklang

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klangs erwähnt Schenker nicht – die Anerkennung einer anderen Funktion des verminderten

Dreiklangs als zur Tonikalisierung würde gegen seine Auffassung des verminderten Dreiklangs

als „eindeutiger“ Akkord sprechen.

Schönberg löst den verminderten Dreiklang grundsätzlich durch Quintfall auf (VII-III bzw.

II-V). Erst durch eine freiere Behandlung der VII. Stufe in Form von stufenweiser Einführung

durch sowie Auflösung zurück in die I. Stufe erkennt Schönberg eine Vertretungswirkung des

verminderten Dreiklangs der VII. Stufe für den Dominantseptakkord – dennoch sieht Schönberg

den verminderten Dreiklang nicht als unvollständigen Dominantseptakkord, obwohl er den

verminderten Septakkord als verkürzten Dominantseptnonakkord betrachtet. Schönberg spricht

ähnlich wie Schenker nur über die dominantische Funktion des verminderten Dreiklangs. Im

Gegensatz zu Riemann und Schenker, die zwischendominantische verminderte Dreiklänge

durch Alterationen erhalten, leitet Schönberg – der Grundtonalterierung nicht akzeptiert – diese

von den Kirchentonarten her.

Halbverminderter Septakkord

Der halbverminderte Septakkord ist der leitereigene Septakkord auf der VII. Stufe in Dur und

der II. Stufe in Moll (h-d-f-a in C-Dur bzw. a-Moll). Noch in der Klassik verstand man ihn als

Septakkord, seit der Romantik fasst man ihn als verkürzten Nonenakkord auf.169 Weil der halb-

verminderte Septakkord Töne der Dominante und der Subdominante enthält, kann er wie der

verminderte Dreiklang sowohl als (Zwischen-)Dominante (verkürzter Dominantseptnonakkord)

als auch als Subdominante (Mollsubdominante mit hinzugefügter Sext) verwendet werden.170

Ausschlaggebend für die Interpretation des halbverminderten Septakkords ist seine Stimmfüh-

rung.171

Als VII. Stufe wird der halbverminderte Septakkord fast immer als verkürzter Dominant-

septnonakkord eingesetzt; seine Akkordtöne stellen also Terz, Quint, Sept und Non eines Do-

minantseptnonakkords dar. Die Terz (h) muss als Leitton einen Halbton höher aufgelöst werden,

die Non (a) wird abwärtsgeführt (Abb. 68).172 Die Sept (f) wird jedoch meist nicht so streng

behandelt, da man sie in der Regel nicht als Sept wahrnimmt.173 Am häufigsten erfolgt die Auf-

lösung des dominantisch verwendeten halbverminderten Septakkords in die Tonika oder (als

Doppeldominante) in die Dominante.174

169 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 146. 170 Ebd., S. 145. 171 Ebd., S. 146. 172 Ebd., S. 75. Um parallele Quinten zu vermeiden, muss die Quint bei darüberstehender Non nach oben weiterge-

führt werden (ebd.). 173 Ebd., S. 146. 174 Ebd.

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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Abbildung 68: halbverminderter Septakkord der VII. Stufe – Dominantfunktion (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 145)

Als II. Stufe einer Tonart ist der halbverminderte Septakkord entweder Zwischendominante zur

parallelen Durtonart oder (in erster Umkehrung) Mollsubdominante mit hinzugefügter Sext

(„sixte ajoutée“) (Abb. 69).175

Abbildung 69: der halbverminderte Septakkord der II. Stufe als Zwischendominante oder Subdominante (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 145)

Auch der halbverminderte Septakkord der VII. Stufe kann unter Umständen als Mollsubdomi-

nante mit hinzugefügter Sext verstanden werden – innerhalb einer Zwischenkadenz zur Mollpa-

rallele (Abb. 70).

Abbildung 70: halbverminderter Septakkord der VII. Stufe in (Zwischen-)Subdominantfunktion (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 146)

Riemann

Riemann bespricht zunächst nur die subdominantische Funktion des halbverminderten Septak-

kords: Der halbverminderte Septakkord ist bei Riemann der „natürliche Septimenaccord“ in

Moll.176 Er setzt sich aus Mollsubdominante und hinzugefügter kleiner Unterseptime zusammen

175 Diese doppelte Verwendung des Septakkords auf der II. Stufe (in Moll wie auch in Dur) bezeichnete Rameau

als „double emploi“. 176 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 141. Dieser Akkord entspricht der Mollsubdominante mit hinzuge-

fügter Sext; die hinzugefügte Unterseptime (a-f-d-h) bzw. (Ober-)Sext (d-f-a-h) ist eine der „charakteristischen Dissonanzen“ (vgl. ebd., S. 191, 217 f.). Riemann nennt den halbverminderten Septakkord auch „Septimenac-cord der Mollsubdominante“ (ebd., S. 229) und „Moll-Septimenaccord“ (ebd., S. 161, 164, 232). Diese Be-zeichnungen sind für eine nicht-dualistische Auffassung irreführend, denn der Begriff „Mollseptakkord“ steht heute für einen Molldreiklang mit hinzugefügter kleiner (Ober-)Septime (d-f-a-c in a-Moll).

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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und ist symmetrisch zum Dominantseptakkord (Abb. 71). Grundton des halbverminderten Sep-

takkords ist laut Riemann seine Unterquint, also der Subdominant-Grundton (d im Beispiel).177

Abbildung 71: der halbverminderte Septakkord als Gegenstück zum Dominantseptakkord

Nach Riemann folgt dem halbverminderten Septakkord normalerweise die Tonika, Moll oder

Dur (Abb. 72). Analog zum Dominantseptakkord enthält der halbverminderte Septakkord neben

der Unterterz (f) – sie führt abwärts in die Tonikaquint e – einen zusätzlichen Leittonschritt178:

die für Riemann dissonante Unterseptime (h) löst sich aufwärts in die Tonikaterz (c bzw. cis)

auf.179 Hier unterscheidet sich Riemanns Sichtweise grundlegend von der heutigen Auffassung,

in der das h als Konsonanz und das a (weil Sept bzw. dissonante Untersekund) als – schrittweise

abwärts ins gis aufzulösende – Dissonanz betrachtet wird.

Abbildung 72: Auflösung des halbverminderten Septakkords in die Tonika (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 142)

Später relativiert Riemann die Auflösungsrichtung der Sept und legt die „Sekundfortschreitung

[dissonanter Töne]“180 fest. Liegt jedoch die dissonante Untersept des Moll-Unterseptimen-

akkords (h, der eigentliche Grundton des halbverminderten Septakkords) im Bass, darf diese in

den Grundton der Dominante springen (Abb. 73).

177 Ebd., S. 142 f. 178 Als „Leittonschritt“ bezeichnet Riemann jeden Schritt um eine kleine Sekunde (vgl. Riemann, Handbuch der

Harmonielehre, S. 26). 179 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 142. Die Auflösung des halbverminderten Septakkords bei Rie-

mann ergibt sich als spiegelverkehrte Auflösung des Dominantseptakkords: Die Terz des Dominantseptakkords löst sich schrittweise nach oben in den Grundton der Tonika auf, die Sept wird abwärts in die Terz der Tonika geführt (ebd.). Als Grund für die schrittweise nach unten (Dominantseptakkord) bzw. oben (Moll-Unter-septimenakkord) aufzulösende Sept nennt Riemann das „Auseinanderstreben der Sekunddissonanz“ zwischen Prim und Sept (ebd., S. 143).

180 Ebd., S. 144 (im Original gesperrt).

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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Abbildung 73: „irreguläre“ Auflösung des halbverminderten Septakkords in die Dominante (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 144)

Riemann begründet den Quintfall der Untersept (h-e im Beispiel) damit, dass die Untersept der

Mollsubdominante gleichzeitig Akkordton der Dominante ist. Außerdem löst sich bei der Wei-

terführung der Dominante in die Tonika das h im Nachhinein schrittweise in den Tonikagrund-

ton auf181: Wenn also dem halbvermindertem Septakkord Dominante und Tonika folgen, wird

die Untersept (h) – nach einem Quintfall – abwärts aufgelöst.182

In Riemanns zahlreichen Aufgaben183 kommt der halbverminderte Septakkord sehr häufig

vor. Diese Beispiele zeigen seine überwiegende Weiterführung in die Dominante. Nur gelegent-

lich folgt dem Akkord die von Riemann als „gewöhnlichste Art“ bezeichnete Weiterführung184

– jene in die (Moll-)Tonika. Vereinzelt wird der halbverminderte Septakkord auch als „Zwi-

schensubdominante“ angewandt.185

Der halbverminderte Septakkord kommt in diesen Beispielen mehrfach auch in einer bisher

von Riemann noch nicht angesprochenen Funktion zum Einsatz: als VII. Stufe. Entweder einen

Halbton unter (nach dem Modell VII-I) oder eine große Terz über dem anschließenden Akkord

(VII-V).186 Riemann deklariert den Akkord in den Beispielen eindeutig als subdominantisch187 –

181 Ebd., S. 144/145. 182 Riemann betrachtet in der Harmoniefolge SVII – D+ – oT das a zwar nicht als Sept, behandelt es aber so: a wird

schrittweise abwärts ins gis geführt. 183 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, vor allem S. 152-160, S. 177-186 und S. 205-212. 184 Ebd., S. 142. 185 Riemann bezieht mithilfe seiner Zwischendominanten Akkorde in eine Tonart ein, die er sonst nicht erklären

kann. Als Zwischendominanten kann bei ihm neben der Dominante auch die Subdominante eingesetzt werden. Riemann erklärt z.B. die Harmoniefolge a-halbvermindert – G-Dominantseptakkord in C-Dur mithilfe einer „Zwischensubdominante“, als (SVII)D7. Eine Funktion als „Zwischensubdominante“ hat der halbverminderte Septakkord in folgenden Beispielen: S. 155/392 (cVII-c7), S. 157/407 (aVII-a7) und S. 160/425 (cVII-c7). cVII bedeutet „Unterseptimenaccord von c“ (d-f-as-c), c7 heißt „CDur-Septimenaccord“, also c-e-g-b (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 229).

186 In folgenden Aufgaben von Riemanns Handbuch der Harmonielehre steht der halbverminderte Septakkord auf einer um einen Halbton tieferen Stufe als der nächste Akkord (VII-I): S. 155/392 (fVII-as7), S. 157/404 (cVII-es+), S. 157/407 (dVII-f7), S. 158/411 (cisVII-e+), S. 160/423 (disVII-fis+) und S. 160/425 (fVII-as7). Die Folge cVII-es+ etwa steht für d-f-as-c – es-g-b. f und as wirken hier wie Terz und Sept eines Dominantseptakkords, der halbverminderte Septakkord ist hier also Dominantseptnonakkord ohne Grundton. Folgende Beispiele im Handbuch der Harmonielehre Riemanns enthalten einen halbverminderten Septakkord, dem ein Dominantseptakkord eine große Terz tiefer folgt (VII-V): S. 157/405 (cVII-b7), S. 158/412 (cisVII-h7) und S. 160/426 (cVII-b7). Beispielsweise bedeutet cVII-b7: d-f-as-c – b-d-f-as. Hier findet kein Funktionswechsel statt, das c (die „Prim“ der Mollsubdominante) wirkt wie ein Vorhalt zum Dominantgrundton b, also wie die große Non eines Dominantseptnonakkords.

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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obwohl eine Interpretation als verkürzter Zwischen-Dominantseptnonakkord hier angebracht

wäre.188

Den halbverminderten Septakkord auf der VII. Stufe in Dur bezeichnet Riemann der heuti-

gen Auffassung entsprechend als „grossen Durnonenaccord“ g-h-d-f-a ohne Grundton (Abb.

74).189

Abbildung 74: Auflösung des „grossen Durnonenaccordes“ (ohne Grundton)190 (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164)

Riemann merkt zwar an, dass der große Durnonenakkord aus dem Dominantseptakkord g-h-d-f

und dem „Mollseptimenaccord“ h-d-f-a zusammengesetzt ist191, ignoriert aber, dass der verkürz-

te Dominantseptnonakkord (halbverminderter Septakkord auf der VII. Stufe in Dur) klangiden-

tisch mit dem Mollsubdominant-Unterseptimenakkord (halbverminderter Septakkord der II.

Stufe in Moll) ist – bei ungleicher Fortführung: h-d-f-a als VII. Stufe führt in die Tonika von C-

Dur, h-d-f-a als II. Stufe folgt normalerweise die Dominante oder die Tonika von a-Moll.

Schenker

Der halbverminderte Septakkord – Schenker nennt ihn „Septakkord der siebenten Stufe in Dur,

beziehungsweise der zweiten Stufe in Moll“192 – ist für Schenker ebenso wie der verminderte

Dreiklang „eindeutig“, da er in Dur und in Moll leitereigen je nur einmal auftritt (Abb. 75).

187 Riemanns Interpretation des Akkords als Subdominante lässt sich daran feststellen, dass da er ihn mit römi-

schen Ziffern versieht. Die römischen Ziffern bedeuten „Unterklang“ und verweisen hier auf Riemanns Ver-wendung des halbverminderten Septakkords als SVII. Es ist aber ohne Weiteres möglich, dass Riemann den halbverminderten Septakkord an den oben genannten Stellen ebenfalls als dominantisch interpretiert, ihn aber als Unterseptimenakkord anschreibt, weil der verkürzte Dominantseptnonakkord an dieser Stelle noch nicht be-handelt wurde (er ihn aber trotzdem in seinen Beispielen schon verwenden möchte).

188 Die Funktion des halbverminderten Septakkords als Dominante kommt erst in einem späteren Abschnitt von Riemanns Harmonielehre zur Sprache (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164 f.). Nach Abhandlung des verkürzten Dominantseptnonakkords tritt kein Mollsubdominant-Unterseptimenakkord mehr in der Funkti-on als verkürzte Dominante auf.

189 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164. Laut Riemann ist die Grundtonauslassung zur Reduktion dieses fünfstimmigen Akkords auf einen vierstimmigen beim großen Durnonenakkord „am häufigsten“ (Rie-mann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164). Jedoch kommt der verkürzte Dominantseptnonakkord (mit großer Non) nur dreimal in den zahlreichen Aufgaben von Riemanns Handbuch der Harmonielehre zur Anwendung: S. 206/474, S. 211/496 und S. 212/501.

190 Die Notenköpfe in Klammer sollen anzeigen, dass die Quinte d entweder in den Grundton c oder in die Terz e der Tonika geführt werden kann.

191 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164. 192 Schenker, Harmonielehre, S. 247.

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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Abbildung 75: der halbverminderte Septakkord ist „eindeutig“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 247)

Diese Eindeutigkeit, die der halbverminderte Septakkord (auf der VII. Stufe) mit dem Domi-

nantseptakkord, dem verminderten Dreiklang und dem verminderten Septakkord gemeinsam

hat, ist für Schenker der Beweis einer „psychologischen Verwandtschaft“193 dieser Akkorde, die

sich darin ausdrückt, dass sie „einander mit derselben Wirkung der Eindeutigkeit [vertreten]“194

können. Schenker meint damit, dass man beim Auftreten des halbverminderten Septakkords auf

der VII. Stufe (und des verminderten Dreiklangs und Septakkords) – im Sinn von verkürzten

Dominantsept(non)akkorden – auf die V. Stufe rückschließen kann.

Schenker erwähnt im weiteren Verlauf seiner Harmonielehre den halbverminderten Septak-

kord nicht mehr als mögliche II. Stufe (in Moll), sondern immer gemeinsam mit den anderen

eindeutigen Akkorden als Vertreter der V. Stufe (in Dur und Moll). Der bei Schenker typische

zwischendominantische Gebrauch des verminderten Dreiklangs (Tonikalisierung eines steigen-

den Sekundschrittes) lässt sich auch auf den halbverminderten Septakkord anwenden (Abb. 76);

die zusätzliche Sept zum verminderten Dreiklang dient zur noch stärkeren Tonikalisierung des

nachfolgenden Akkords.195

Abbildung 76: Tonikalisierung bei steigenden Sekundschritten – der halbverminderte Septakkord als Zwi-schendominante

Schönberg

Der halbverminderte Septakkord auf der VII. Stufe in Dur wird bei Schönberg – der Behand-

lung des verminderten Dreiklangs auf der VII. Stufe entsprechend – zunächst durch den Moll-

193 Ebd., S. 250. 194 Ebd., S. 251. 195 Ebd., S. 356 f. Wie auch der verminderten Dreiklang wird der zur Tonikalisierung eingesetzte halbverminderte

Septakkord in der Analyse Schenkers als z.B. chromatisch veränderte III. Stufe mit Sept dargestellt, da es Schenker nicht um die Verdeutlichung der fallenden Quint, sondern um die der steigenden kleinen Sekund geht.

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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dreiklang auf der II. oder IV. Stufe ein- und in die III. Stufe weitergeführt (Abb. 77), da „Quint

und Sept des halbverminderten Septakkords vorbereitet und aufgelöst werden [müssen]“.196

Abbildung 77: Einführung und Auflösung des halbverminderten Septakkords (VII. Stufe in Dur) (vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 95 und 98)

In Moll gibt es bei Schönberg durch das zusätzliche Einbeziehen der erhöhten VI. und VII. Stu-

fe der melodischen Mollskala insgesamt drei verschiedene halbverminderte Septakkorde, einen

auf der II., einen weiteren auf der erhöhten VI. und einen dritten auf der erhöhten VII. Tonlei-

terstufe (Abb. 78). Vorbereitung und Weiterführung entsprechen derjenigen der VII. Stufe in

Dur: verminderte Quint und kleine Sept werden schon früher eingeführt und schrittweise ab-

wärts aufgelöst, der Grundton steigt um eine Quart bzw. fällt um eine Quint (Abb. 79).197

Abbildung 78: halbverminderte Septakkorde in Moll (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 125)

196 Schönberg, Harmonielehre, S. 96; vgl. ebd., S. 106. Schönberg bringt hier verschiedenste Beispiele (vgl. ebd.,

S. 95-107). Aus ihnen ist ersichtlich, dass der halbverminderte Septakkord und seine beiden Vorbereitungsak-korde (die II. oder die IV. Stufe) in fast allen Umkehrungen erscheinen können. Wichtig ist Schönberg hier nur, dass verminderte Quint und Sept des halbverminderten Septakkords vorbereitet sind.

Auflösungsakkord des halbverminderten Septakkords auf der VII. Stufe in Dur ist hier immer die III. Stufe – verminderte Quint f und kleine Sept a werden in allen Beispielen schrittweise abwärts weitergeführt (in Grund-ton e und Terz g der III. Stufe); Prim und Terz des halbverminderten Septakkords springen entweder beide (h-e und d-h wie im Beispiel) oder die Prim h bleibt liegen und d verdoppelt Grundton (d-e) oder Terz (d-g) der III. Stufe.

197 Für die Auflösung des halbverminderten Septakkords auf der erhöhten VII. Stufe in Moll ergibt sich – wie beim verminderten Dreiklang – die „reguläre“ Auflösung in den übermäßigen Dreiklang auf der III. Stufe, erreicht durch einen übermäßigen Quint- bzw. verminderten Quartschritt.

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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Abbildung 79: Einführung und Auflösung des halbverminderten Septakkords (II. Stufe in Moll) (vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 125)

Genaue Richtlinien für die Verwendung der halbverminderten Septakkorde gibt Schönberg

nicht; den Beispielen kann man jedoch entnehmen, dass verschiedene Weiterführungen möglich

sind. Generell kann man sagen, dass Schönberg für den Auflösungsakkord des halbverminder-

ten Septakkords die verminderte Quint und die Sept schrittweise nach unten führt oder liegen

lässt (Abb. 80).

Abbildung 80: Auflösungsmöglichkeiten beim verminderten Septakkord auf der VII. Stufe und bei den künst-lich verminderten Septakkorden auf der III. und IV. Stufe (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 226)

Im Kapitel über „vagierende Akkorde“ kommt Schönberg noch einmal ausführlicher auf den

halbverminderten Septakkord zu sprechen, da er „in Wagners Harmonik eine große Rolle

spielt“.198 Schönberg bringt hier den halbverminderten Septakkord der II. Stufe in Zusammen-

hang mit der erniedrigten II. Stufe (Abb. 81).199

198 Schönberg, Harmonielehre, S. 310 f. Der halbverminderte Septakkord f-as-ces-es ist die enharmonische Ver-

wechslung des Tristanakkords f-gis-h-dis. 199 „Die einzige Verbindung, deren Erklärung Schwierigkeiten machen könnte, ist die mit dem Des- (oder des-)Ak-

kord. Denn die müßten wir als II mit II bezeichnen. Hier geschähe also kein Fundamentschritt“ (Schönberg, Harmonielehre, S. 309).

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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Abbildung 81: halbverminderter Septakkord der II. Stufe in Verbindung mit der erniedrigten II. Stufe (Schönberg, Harmonielehre, S. 308)

Um diese Harmoniefolge erklären zu können, leitet Schönberg den halbverminderten Septak-

kord zuerst von einer Umkehrung des übermäßigen Quintsextakkordes200 ab und vermutet

schließlich die Entstehung aus dem Dominantseptakkord über der VI. Stufe, der enharmoni-

schen Verwechslung dieses übermäßigen Quintsextakkords (Abb. 82).

Abbildung 82: Ableitung des halbverminderten Septakkords vom übermäßigen Quintsextakkord bzw. Domi-nantseptakkord (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 308)

Dagegen sprechen für Schönberg aber die gängigen Weiterführungen des halbverminderten

Septakkords der II. Stufe in die V., III. oder I. Stufe (Abb. 83), denn in diesem Fall würde der

Grundton d – als enharmonisch verwechselte Schreibweise von eses, der verminderten Quint

von as – ein leiterfremder Ton sein.201

Abbildung 83: „gebräuchlichste Auflösungen“ des halbverminderten Septakkords der II. Stufe (vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 308)

Für Schönberg ist die Abstammung des halbverminderten Septakkords (und auch anderer vagie-

render Akkorde) aber im Prinzip nebensächlich, weil es so viele mögliche Verbindungen mit

ihnen gibt. Als Beispiel dafür führt Schönberg unterschiedliche Arten der Weiterführung des

halbverminderten Septakkords bei Wagner an (Abb. 84).202

200 Vgl. Kapitel „Übermäßige Sextakkorde“. 201 Schönberg, Harmonielehre, S. 309. 202 Diese vagierenden Akkorde werden häufig durch Chromatik miteinander verbunden – aus diesem Grund sind

Schönbergs Meinung nach solche komplizierten Ableitungen nicht erforderlich, um diese Bildungen zu erklä-ren (vgl. ebd., S. 312).

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Vagierende Akkorde – Halbverminderter Septakkord

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Abbildung 84: Auflösungen des halbverminderten Septakkords bei Wagner (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 308 und 311)

Zusammenfassung

Wie der verminderte Dreiklang hat auch der halbverminderte Septakkord bei Riemann zwei

unterschiedliche Funktionen: Einerseits ist er Vertreter der Subdominante (als Molluntersepti-

menakkord), andererseits hat er Dominantfunktion (als verkürzter Dominantseptnonakkord). In

Bezug auf den halbverminderten Septakkord auf der II. Stufe (als Subdominantvertreter) muss

Riemann aufgrund des Systemzwangs zwei Einschränkungen hinnehmen: Er gibt die Verbin-

dung zur Tonika (SVII–(o)T) wegen ihrer Symmetrie zur Harmoniefolge D7–T als herkömmliche

an (obwohl dem halbverminderten Septakkord hauptsächlich die Dominante folgt) und er be-

trachtet den Grundton als Sept und damit als Dissonanz – das muss Riemann, denn in seinem

System ist der Grundton des halbverminderten Septakkords auf der II. Stufe in Moll Untersept.

Der halbverminderte Septakkord wird bei Schenker – ebenso wie der verminderte Dreiklang

– nur als VII. Stufe und in seiner Funktion als Vertreter der Dominante angesprochen, er sieht

ihn jedoch nicht als Dominantseptnonakkord ohne Grundton an. Dieser diatonische Septakkord

auf der VII. Stufe wird bei ihm zur Verdeutlichung der Tonikalisierung bei einem Harmonie-

schritt nach dem Modell VII-I herangezogen. Diese Auffassung Schenkers stimmt nicht mit der

Praxis überein, denn der halbverminderte Septakkord wird hauptsächlich als II. Stufe und in

subdominantischer Funktion verwendet.

Bei Schönberg wird der halbverminderte Septakkord zunächst ähnlich behandelt wie der

verminderte Dreiklang: mit Auflösung durch Quintfall des Fundaments, also VII-III oder II-V.

Schönberg spricht aber nicht über eine dominantische oder subdominantische Funktion des

halbverminderten Septakkords, denn er betrachtet ihn – nach dem Vorbild Wagners – als Ak-

kord, der überall hinführen kann.

Verminderter Septakkord

Der verminderte Septakkord h-d-f-as – in harmonischem (c-)Moll auf der VII. Stufe leitereigen

– wurde im Barock als Vorhaltsbildung erklärt203, inzwischen wird er jedoch in der Regel als

Dominantseptnonakkord (mit kleiner Non) ohne Grundton angesehen.204

203 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 317 (Anm.).

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Drei Akkordtöne des verminderten Septakkords haben Leittonfunktion: der Grundton des

verminderten Septakkords (die Terz der Dominante) strebt in den Grundton der Tonika, die

verminderte Quint (bzw. kleine Sept) in die Terz und die verminderte Sept (bzw. kleine None)

möchte in die Quint der Tonika aufgelöst werden. Die Weiterführung der Terz (bzw. Quint) ist

frei, meist löst sie sich jedoch ebenfalls in die Terz der Tonika auf (Abb. 85).

Abbildung 85: Leittonfunktion der Akkordtöne eines verminderten Septakkords (Amon, Lexikon der Harmo-nielehre, S. 317)

Der verminderte Septakkord wird hauptsächlich als Zwischendominante verwendet205, dazu

werden Akkordtöne leitereigener Klänge hoch- oder tiefalteriert206 (Abb. 86).

Abbildung 86: der verminderte Septakkord als Zwischendominante durch Hoch- oder Tiefalteration leiterei-gener Akkordtöne (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 319)

Bei der doppeldominantischen Verwendung des verminderten Septakkords können Schwierig-

keiten in der Stimmführung auftreten: Wenn die verminderte Sept des verminderten Septak-

kords (bzw. die kleine None des verkürzten Dominantseptnonakkords) in der Melodie steht,

sind in einer Stimme Sprünge unerlässlich, um die Aufeinanderfolge von verminderter (a-es)

und reiner Quint (g-d) zu vermeiden (Abb. 87, T. 1 und 2).207 Aus diesem Grund löst sich der

doppeldominantische verminderte Septakkord häufig in den kadenzierenden Quartsextakkord

der Dominante auf und wird dann über den Dominantseptakkord in die Tonika geführt (Abb.

87, T. 3 und 4).208

204 Ebd., S. 35, 146; de la Motte: S. 282 ff. 205 Ebd., S. 319. 206 Ebd., S. 35. 207 Ebd., S. 318. Die Terz des Auflösungsakkords (der Dominante) darf hier nicht verdoppelt werden, da es sich

um den Leitton handelt. An anderer Stelle schreibt Amon, dass die Folge von verminderter und reiner Quint „akzeptierbar“ ist (ebd., S. 75).

208 Ebd., S. 319.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

55

Abbildung 87: Auflösung des als Doppeldominante verwendeten verminderten Septakkords (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 318 und 319)

Kehrt man den verminderten Septakkord um, kommt es wieder zu einem verminderten Septak-

kord, da der Akkord aus drei kleinen Terzen besteht und der oktavierte Grundton eine weitere

kleine Terz über dem Akkord liegt.209 Durch enharmonische Umdeutung einzelner Akkordtöne

entstehen aus dem verminderten Septakkord h-d-f-as verminderte Septakkorde in sechs weiteren

Tonarten: in Es-Dur bzw. es-Moll, Ges/Fis-Dur bzw. -Moll und A-Dur bzw. a-Moll (Abb. 88).

Ein einziger verminderter Septakkord – von denen es insgesamt nur drei klangverschiedene

gibt210 – ist also durch enharmonische Umdeutung „leitereigen“211 in acht verschiedenen Tonar-

ten.

Abbildung 88: ein verminderter Septakkord ist durch enharmonische Verwechslung leitereigen in acht ver-schiedenen Tonarten (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 184)

Bei regulärer Weiterführung des verminderten Septakkords ist keiner seiner Töne im Auflö-

sungsakkord enthalten (Abb. 89, T. 1). Es gibt aber noch andere Weiterführungsmöglichkeiten

des verminderten Septakkords: die verminderte Sept kann etwa liegen bleiben und zum Grund-

ton eines Durdreiklangs werden212 (Abb. 89, T. 2-4).

Abbildung 89: weitere Auflösungsmöglichkeiten des verminderten Septakkords (Amon, Lexikon der Harmo-nielehre, S. 320)

209 Die in den Umkehrungen von h-d-f-as entstehende übermäßige Sekunde as-h entspricht einer kleinen Terz (as-

ces oder gis-h). 210 Diese drei klangverschiedenen verminderten Septakkorde – z.B. h-d-f-as, c-es-ges-heses und cis-e-g-b – bilden

übrigens die (alterierten) Septakkorde der VII. Stufe von Tonika, Dominante (c-es-ges-heses als fis-a-c-es) und Subdominante (cis-e-g-b als e-g-b-des) einer Tonart (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 320).

211 „Leitereigen“ ist der verminderte Septakkord – wie oben angemerkt – selbstverständlich nur in harmonischem Moll, und zwar als VII. Stufe (bzw. als verkürzter Dominantseptakkord). Als Doppel- oder Zwischendominante gehört der verminderte Septakkord unzähligen weiteren Tonarten an.

212 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 320.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

56

Der verminderte Septakkord ist schon wegen seiner Zugehörigkeit zu vier Tonarten als „univer-

sales Modulationsmittel“ bekannt213; eine weitere Modulationsmöglichkeit bietet sich mit der

Tiefalteration eines Akkordtons (Abb. 90) oder mit der Hochalteration von drei Akkordtönen

(Abb. 91): der verminderte Septakkord wird so zu einem (Zwischen-)Dominantseptakkord.214

Abbildung 90: Tiefalteration eines Tons des verminderten Septakkords – ein Dominantseptakkord entsteht (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 181)

Abbildung 91: Hochalteration dreier Töne des verminderten Septakkords – ein Dominantseptakkord entsteht (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 182)

Riemann

Der „kleine Terznonen-Accord“ – Riemanns Bezeichnung für den verminderten Septakkord –

ist ein „kleiner Nonenaccord“ ohne „Hauptton“.215 Dieser „kleine Nonenaccord“ ist für Rie-

mann eine Zusammensetzung „des Gegenklangs mit dem schlichten Quintklange“216: In Dur

entsteht er aus einer Verbindung der Dominante und der Mollsubdominante (ohne Quint); in

Moll setzt Riemann dafür die Mollsubdominante mit der Durdominante (ohne Prim) zusammen

(Abb. 92).217

Abbildung 92: Entstehung des kleinen Nonenakkords in Dur und Moll

213 Ebd., S. 317. Der verminderte Septakkord ist durch enharmonische Umdeutung seiner Akkordtöne leitereigen

in vier verschiedenen – eine kleine Terz voneinander entfernten – harmonischen Molltonarten. 214 Ebd., S. 54, 181. 215 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 166 (im Original gesperrt). Der Hauptton in Dur entspricht dem

Grundton, der Hauptton in Moll ist bei Riemann der höchste Ton des Akkords. Der verminderte Dreiklang ist ein Dur- bzw. Mollseptakkord ohne Hauptton.

216 Ebd. 217 Riemann begründet den leiterfremden Ton im verminderten Septakkord also mit „Molldur“ und „Durmoll“.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Riemann bezeichnet den kleinen Nonenakkord als Vorhaltsakkord, da die kleine None (as in g-

h-d-f-as bzw. h in h-d-f-as-c) den „Ober-Leitton zur Oktave“218 bildet. Gleichzeitig ist dies für

ihn die Begründung, wieso der kleine Nonenakkord meist ohne Hauptton vorkommt – als h-d-f-

as in C-Dur bzw. gis-h-d-f in a-Moll (Abb. 93). Ebenso wie der verminderte Dreiklang (und der

halbverminderte Septakkord der VII. Stufe) wird der verminderte Septakkord bei Riemann mit

durchgestrichenem Klangbuchstaben bzw. Funktionszeichen dargestellt.

Abbildung 93: der verminderte Septakkord als kleiner Nonenakkord ohne Hauptton

Riemann erkennt, dass man den „kleinen Terznonen-Accord“ in Moll genauso wie jenen in Dur

als Dominantseptnonakkord ohne Grundton verstehen kann, er schließt aber die Auslegung des

Akkords als Mollsubdominante nicht aus.219 Für Riemann ist eine Deutung des verminderten

Septakkords als Subdominante dann erforderlich, wenn der Grundton der Mollsubdominante (d)

in den Grundton der Tonika geführt wird (Abb. 94).

Abbildung 94: der verminderte Septakkord in Subdominantfunktion (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 167)

Der verminderte Septakkord kann für Riemann aber auch alterierte Subdominante in Dur sein,

wenn es die Stimmführung verlangt (Abb. 95).

218 Ebd. (im Original teilweise gesperrt). 219 Ebd. An der entsprechenden Textstelle über den verminderten Dreiklang (ebd., S. 146) erwähnt Riemann nicht

die mögliche Deutung der „verkürzten Unterseptimenakkords“ als Dominantseptakkord ohne Grundton – je-doch holt er dies im Kapitel über Modulation nach. Der Grund ist der, dass bei Riemann der verminderte Drei-klang in Moll eine von der in Dur abweichende Auflösung zeigt (der verminderte Dreiklang in Moll löst sich – als II. Stufe – in die Dominante auf, jener in Dur führt – als VII. Stufe – in die Tonika); der verminderte Sept-akkord in Moll wird bei Riemann jedoch gleich aufgelöst wie jener in Dur, da er sich sowohl in Dur als auch in Moll auf der VII. Stufe befindet.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Abbildung 95: der verminderte Septakkord als alterierte Dursubdominante (Riemann, Handbuch der Harmo-nielehre, S. 167)

Auch bemerkt Riemann, dass der verminderte Septakkord durch die enharmonische Verwechs-

lung seiner Bestandteile sehr gut in der Modulation eingesetzt werden kann, da bei diesem Ak-

kord „kein Klang vollständig vertreten und immer der Hauptton ausgelassen ist“.220 Jedoch ist

Riemann derselben Meinung wie Schönberg: der verminderte Septakkord ist „nur bei seltener

Anwendung von guter Wirkung“.221 Durch Hoch- bzw. Tiefalterieren des höchsten und/oder des

tiefsten Akkordtons bei den Septakkorden der Hauptklänge erhält Riemann weitere verminderte

Septakkorde (Abb. 96).222 Jeder verminderte Septakkord kann dann Dominante oder Doppel-

dominante in einer neuen Tonart sein.

Abbildung 96: weitere verminderte Septakkorde durch Hoch- und/oder Tiefalterieren von Akkordtönen

Riemann erkennt, dass der verminderte Septakkord durch enharmonische Verwechslung seiner

Bestandteile (Abb. 97) in alle Tonarten führen kann und zählt ihn daher nicht zu den „charakte-

ristischen Dissonanzen“ einer Tonart.223

220 Ebd., S. 167. 221 Ebd., vgl. auch ebd., S. 220; Schönberg, Harmonielehre, S. 234 f., 287 f. 222 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 219 f. 223 Ebd., S. 220. Am Beginn des Kapitels zählte Riemann den verminderten Septakkord ebenso wie den vermin-

derten Dreiklang zu diesen eine bestimmte Tonart herbeiführenden Akkorden (ebd., S. 218/219). Der Aus-schluss des verminderten Septakkords aus dieser „distinguierten Gesellschaft“ (ebd., S. 220) der charakteristi-schen Dissonanzen zeigt Riemanns andersartige Auslegung der enharmonischen Verwechslungsmöglichkeit des verminderten Septakkords gegenüber Schenker, für den der verminderte Septakkord auch als enharmoni-sche Verwechslung eine „eindeutige Erscheinung“ ist (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 251 und S. 444).

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Abbildung 97: enharmonische Verwechslung der verminderten Septakkorde

Schenker

Der verminderte Septakkord ist die „eindeutigste Erscheinung“ in Schenkers System: Er ent-

steht durch die Mischung von Dur und Moll und kann aus diesem Grund nur auf der VII. Stufe

vorkommen.224 Der verminderte Septakkord g-b-des-fes etwa kann nur auf der VII. Stufe von

As-Dur-Moll stehen (Abb. 98).

Abbildung 98: der verminderte Septakkord als „eindeutigste Erscheinung“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 247)

Auch der verminderte Septakkord wird bei Schenker zur Tonikalisierung – also als eine Art

Zwischendominante – verwendet: dazu werden Akkordtöne leitereigener Akkorde so chroma-

tisch verändert und mit verminderter Sept ausgestattet, dass sie einen verminderten Septakkord

einen Halbton unter dem nächsthöheren leitereigenen Akkord ergeben (Abb. 99).225

224 Schenker, Harmonielehre, S. 251. Der verminderte Septakkord ergibt sich bei einer Skala mit großer Sept (h in

C-Dur/c-Moll) und kleiner Sext (as in C-Dur/c-Moll). Diese Kombination findet sich in der zweiten und vierten Mischungsreihe Schenkers: Die zweite Mischungsreihe ist Dur mit erniedrigter sechster Stufe, sie entspricht Riemanns „Molldur“; die vierte Mischungsreihe ist Moll mit erhöhter siebenter Stufe, also harmonisches Moll bzw. Riemanns „Durmoll“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 110). Die anderen „eindeutigen Erscheinungen“ – Dominantseptakkord, verminderter Dreiklang und halbverminder-ter Septakkord – sind hingegen leitereigen auf je einer Stufe in Dur und Moll möglich: der Dominantseptakkord steht leitereigen auf der V. Stufe in Dur und auf der VII. in Moll, der verminderte Dreiklang und der halbver-minderte Septakkord befinden sich auf der VII. Stufe in Dur und der II. Stufe in Moll.

225 Schenker, Harmonielehre, S. 357.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Abbildung 99: Tonikalisierung bei steigenden Sekundschritten – der verminderte Septakkord als Zwischen-dominante

Schenker spricht die Modulationsfähigkeit des verminderten Septakkords nur sehr knapp an,

indem er die vier möglichen enharmonischen Verwechslungen des verminderten Septakkords

zeigt (Abb. 100). Die „Lehrbücher“ befürworten die Verwendung des verminderten Septakkords

aufgrund seiner „Eindeutigkeit als rasch und sicher funktionierendes Modulationsmittel“.226

Abbildung 100: die enharmonischen Verwechslungen des verminderten Septakkords (Schenker, Harmonieleh-re, S. 444)

Schönberg

Dem verminderten Septakkord – leitereigen auf der erhöhten VII. Stufe in Moll vorhanden –

folgt bei Schönberg zuerst wie dem halbverminderten Septakkord nur der übermäßige Dreiklang

auf der III. Stufe227 (Abb. 101, T. 1). Diese Verbindung ist motiviert durch die Dissonanzbe-

handlung durch Quintfall des Fundaments228 – in Moll ist dieser Fundamentschritt „leitereigen“

übermäßig. Weiters sind noch Verbindungen des verminderten Septakkords mit der I., IV., V.229

und VI. Stufe möglich (Abb. 101, T. 2-5). Wichtig ist für Schönberg, dass die erhöhte VII. Ska-

lenton (gis im Beispiel) entweder ins a geführt wird oder auf demselben Ton bleibt. Auch ver-

minderte Quint und verminderte Sept lösen sich entweder schrittweise nach unten auf oder blei-

ben liegen.

226 Ebd., S. 444. 227 Schönberg, Harmonielehre, S. 173 f. 228 Vgl. ebd., S. 54 f. 229 Bei der Verbindung des verminderten Septakkords auf der VII. Stufe mit dem Dominantseptakkord entgeht

Schönberg, dass die verminderte Sept f nur Vorhalt des Dominantgrundtons e ist.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Abbildung 101: Auflösung des verminderten Septakkords (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 174)

Als nächstes bildet Schönberg den verminderten Septakkord auf jenen Tönen der Dur- und

Mollskala, die einen Halbton unter dem nächsten leitereigenen Ton liegen: in Dur auf der III.

und VII. Stufe, in Moll zusätzlich zur erhöhten VII. auf der II. und V. Stufe (Abb. 102).

Abbildung 102: weitere verminderte Septakkorde

Dann errichtet Schönberg verminderte Septakkorde auf den Terzen der Nebendominanten, da

diese „tatsächlich siebente Töne sind“230; in C-Dur also auf fis, gis, cis und dis (Abb. 103).

Abbildung 103: verminderte Septakkorde auf den Terzen der Nebendominanten

Schönberg ist gegen die Vorstellung, auf alterierten Tönen einer Skala verminderte Dreiklänge

oder Septakkorde aufzubauen und findet endlich die „Auffassung eines fehlenden Grundtons

[…] zweckmäßiger und folgenreicher“231, weil sie dem „Vorbild“ – dem Durdreiklang – näher

ist. Schönberg lässt offen, ob er derselben Meinung ist. Denn zunächst teilt er selbst diese An-

sicht nicht, da für ihn „die wichtigste und einfachste Funktion des verminderten 7-Akkords […]

die trugschlußartige [Auflösung ist]: Fundament eine Stufe aufwärts (VII. in die I.)“, nicht die

Annahme der „Theorie“, die „die Auflösung auch dieses Akkords auf den Quartenschritt auf-

wärts des Fundaments [zurückführt]“ und den verminderten Septakkord als „9-Akkord mit aus-

gelassenem Grundton“ bezeichnet.232 Hier widerspricht sich Schönberg, denn in den nachfol-

genden Beispielen übernimmt er die Annahme der „Theorie“ und bezeichnet die verminderten

Septakkorde als verkürzte Nonakkorde, mit der Stufe ihres nicht vorhandenen Grundtons: z.B. 230 Schönberg, Harmonielehre, S. 230. 231 Ebd., S. 230. 232 Ebd., S. 230 f.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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gibt Schönberg für den verminderten Septakkord h-d-f-as in C-Dur nicht die VII. sondern die V.

Stufe an.233 Damit unterscheiden sich Schönbergs Sichtweisen von vermindertem Dreiklang und

vermindertem Septakkord, denn h-d-f in C-Dur bezeichnet Schönberg als VII. Stufe.

Schönberg bildet auf jeder Dur- bzw. Mollstufe Nonenakkorde ohne Grundton (Abb. 104);

er möchte aber zwei Akkorde davon zunächst nicht verwenden, weil sie zu leiterfremden Tönen

führen: den verminderten Septakkord über der IV. (weggelassenen) Dur- bzw. VI. Mollstufe,

der nach b führt, und jenen auf der IV. Mollstufe, weil das fis ins gis geführt werden müsste.234

Abbildung 104: Nonenakkorde ohne Grundton auf allen Dur- bzw. Mollstufen (vgl. Schönberg, Harmonieleh-re, S. 231)

Der verminderte Septakkord braucht laut Schönberg aufgrund seiner Zusammensetzung – er ist

der erste der beiden „eigentlich vagierenden“235 Akkorde – keine Vorbereitung; eine „stufen-

weise“ oder „chromatische“ Einführung wäre jedoch förderlich.236

Durch enharmonische Verwechslung einzelner Akkordtöne ist ein verminderter Septakkord

leitereigene VII. Stufe in vier verschiedenen Molltonarten237 (Abb. 105); insgesamt kann ein

verminderter Septakkord laut Schönberg auf mindestens 44 verschiedene Arten aufgefasst wer-

den (Abb. 106).238

233 Vgl. ebd. S. 235-230, Notenbeispiele 140 und 141/a und 141/b. 234 Nach dem „zweiten Wendepunkt“ von Schönbergs „Wendepunktgesetzen“ darf der erhöhte sechste Skalenton

(fis in a-Moll) nur in den erhöhten siebenten Skalenton (gis) geführt werden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 113).

235 Schönberg, Harmonielehre, S. 234. „Eigentlich vagierend“ bedeutet, dass der Akkord ohne Alterierungen, also schon „seiner Natur nach“ vagierend ist (ebd.). Der zweite „eigentlich vagierende“ Akkord ist der übermäßige Dreiklang (vgl. ebd., S. 291 f.).

236 Ebd., S. 231. 237 Schönberg bemerkt auch, dass die vier unterschiedlichen ausgelassenen Grundtöne dieser Nonenakkorde – g, b,

des/cis und e im Beispiel – den zweiten von insgesamt drei möglichen verschiedenen verminderten Septakkor-den ergeben (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 442). Die Begründung für einen möglichen Zusammenklang mit dem dritten verminderten Septakkord – dis, fis, a und c, nebenbei bemerkt die mit dem ersten verminderten Septakkord erreichten Tonarten –, wodurch sich insgesamt alle zwölf Töne ergeben, ist meiner Meinung nach nicht einleuchtend (vgl. ebd.).

238 Zwölf weitere Bedeutungen hat Schönberg ausgeklammert bzw. nicht in seine Tabelle aufgenommen: Bei den 44 Möglichkeiten nicht aufgezählt sind die Funktion des verminderten Septakkords als Nonenakkord ohne Grundton über der VI. Mollstufe in d-, f-, as- und h-Moll bzw. über der IV. Stufe in D-, F-, As- und H-Dur und d-, f-, as- und h-Moll (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 233).

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Abbildung 105: enharmonische Verwechslungen eines verminderten Dreiklangs (vgl. Schönberg, Harmonie-lehre, S. 231)

Abbildung 106: die 44 plus 12 möglichen Bedeutungen eines verminderten Dreiklangs (vgl. Schönberg, Har-monielehre, S. 233)

h-d-f-as kann auf folgenden Stufen Nonenakkord ohne Grundton sein:239

Dur

I II III IV V VI VII

C ● ● C Cis (Des) ● ● Cis (Des) D ● ○ ● D Es ● ● Es E ● ● E F ● ○ ● F Fis (Ges) ● ● Fis (Ges) G ● ● G As ● ○ ● As A ● ● A B ● ● B H ● ○ ● H

Moll

I II III IV V VI VII

c ● ● c cis (des) ● ● cis (des) d ● ○ (●) d es ● ● es e ● ● e f ● ○ (●) f fis (ges) ● ● fis (ges) g ● ● g as ● ○ (●) as a ● ● a b ● ● b h ● ○ (●) h

239 Lesart der Tabelle: h-d-f-as kann in C-Dur als Nonenakkord ohne Grundton auf der III. oder V. Stufe stehen;

auf der III. Stufe als (e-)gis-h-d-f, auf der V. Stufe als (g-)h-d-f-as. Die nicht ausgefüllten Kreise (nur in der Spalte der IV. Stufe) sind jene Funktionen des verminderten Septakkords, die Schönberg in seiner Tabelle nicht erwähnt, die eingeklammerten ausgefüllten Kreise (nur für das Vorkommen auf der VI. Mollstufe) stehen auch bei Schönberg in Klammern.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Für Schönberg ist die Verbindung des verminderten Septakkords mit allen Stufen möglich240,

jedoch will er den verminderten Septakkord „nur dort [anwenden], wo diese Stufe […] auch

sonst […] gesetzt werden kann“241 und „seine leiterfremden Töne sich ihrer Leittonrichtung

entsprechend bewegen können“242: Schönberg spricht vom Quintfall des Fundaments und den

beiden „gebräuchlichsten Trugschlüssen“243, Anstieg und Abfall des (nicht vorhandenen) Fun-

daments um eine Sekunde (Abb. 107).244

Abbildung 107: die hauptsächlichen Harmonieschritte des verminderten Septakkords (Schönberg, Harmonie-lehre, S. 239)

Schönberg zeigt noch mehrere Weiterführungsmöglichkeiten des verminderten Septakkords,

„melodische Führung[en] der Harmonie“, denen „meist nur pseudo-harmonische Bedeutung

zukommt“ – „ohne Bewußtsein der Fundamentschritte“245 (Abb. 108-110). Das Verändern nur

eines Tons des verminderten Septakkords ergibt vier verschiedene Dominantseptakkorde oder

halbverminderte Septakkorde (Abb. 108); bleiben zwei Töne des verminderten Septakkords

gleich, resultieren zwei unterschiedliche Dominantseptakkorde mit tiefalterierter Quint oder vier

Mollseptakkorde (Abb. 109); ändern sich drei von vier Akkordtönen des verminderten Septak-

kords, ergeben sich vier weitere Dominantseptakkorde, noch vier halbverminderte Septakkorde

und vier unterschiedliche Durakkorde246 (Abb. 110).

240 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 235-236 und S. 313-316, Notenbeispiele 140/A und 191-196. 241 Ebd., S. 235. 242 Ebd., S. 240. 243 Ebd., S. 287. 244 Der Fundamentschritt der II. Stufe zur I. entspricht hier jenem zum kadenzierenden Quartsextakkord der Domi-

nante. 245 Schönberg, Harmonielehre, S. 322. Aus diesem Grund versucht Schönberg nicht, die Akkordverbindungen mit

einer passenden Stufenbezeichnung zu versehen. 246 Schönberg nennt auch die Möglichkeit der entsprechenden Mollakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S.

321); der Übersichtlichkeit halber wurden diese hier nicht dargestellt.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Abbildung 108: Veränderung eines Tons – verminderter Septakkord wird zum Dominantseptakkord oder zum halbverminderten Septakkord247 (Schönberg, Harmonielehre, S. 321)

Abbildung 109: Veränderung zweier Töne – verminderter Septakkord wird zum Dominantseptakkorde mit verminderter Quint bzw. zum Mollseptakkord (Schönberg, Harmonielehre, S. 321)

Abbildung 110: Veränderung dreier Töne – verminderter Septakkord wird zum Dominantseptakkord, zum halbverminderten Septakkord oder zum Durdreiklang (Schönberg, Harmonielehre, S. 231)

Das „Universalmittel“248 verminderter Septakkord hat nach Schönbergs Ansicht ausgedient;

Akkorde wie der übermäßige Dreiklang, „gewisse alterierte Akkorde“ und verselbständigte

Durchgangs- bzw. Vorhaltsbildungen „sind an seine Stelle getreten“.249

247 An manchen Stellen dieser Notenbeispiele wurden Töne enharmonisch verwechselt, eventuell auch in eine

andere Lage gebracht, um gleichbleibende bzw. sich verändernde Akkordtöne besser sichtbar zu machen und auch die Stimmführung logischer darzustellen.

248 Schönberg, Harmonielehre, S. 289. 249 Ebd., S. 288; vgl. ebd., S. 234 f.

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Vagierende Akkorde – Verminderter Septakkord

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Zusammenfassung

Riemann leitet auch den verminderten Septakkord von der Durdominante und von der Subdo-

minante in Moll ab, in Dur als Dominantseptnonakkord ohne Grundton, in Moll als Unternonen-

akkord der Subdominante. Riemann akzeptiert die hauptsächliche Auffassung auch des vermin-

derten Septakkords in Moll als verkürzter Dominantseptnonakkord, weil der verminderte Sep-

takkord in Dur und in Moll auf derselben Stufe stehen (der VII.); Riemann schließt aber auch

die subdominantische Verwendung des verminderten Septakkords nicht aus. Zu zwischendomi-

nantischen verminderten Septakkorden gelangt Riemann, indem leitereigene Septakkorde alte-

riert werden.

Schenker betrachtet den verminderten Septakkord auf der VII. Stufe nicht als verkürzten

Dominantseptnonakkord, sieht ihn aber – wie auch den verminderten Dreiklang und den halb-

verminderten Septakkord – als Vertreter der V. Stufe. Der verminderte Septakkord hat bei

Schenker immer dominantische Funktion. Auch er wird wie der diatonische halbverminderte

Septakkord zur Bekräftigung der Tonikalisierung bei einem Harmonieschritt nach dem Schema

VII-I eingesetzt, indem leitereigene Akkorde chromatisch zu verminderten Septakkorden verän-

dert werden.

Schönberg sieht den verminderten Septakkord – im Gegensatz zu vermindertem Dreiklang

und halbvermindertem Septakkord – als Dominantseptnonakkord ohne Grundton an. Jedoch

widerspricht sich Schönberg mehrmals in Bezug auf seine Interpretation des verminderten Sept-

akkords als verkürzten Dominantseptnonakkord, denn er bezeichnet im gleichen Zusammen-

hang den Harmonieschritt VII-I als „trugschlüssige Auflösung“ (obwohl diesem ja seiner An-

sicht nach der Quintfall V-I zugrundeliegt) und VII-III als „Quintfall des Fundaments“. Ähnlich

wie Schenker behandelt auch Schönberg nur die dominantische Funktion des verminderten Sep-

takkords. Schönberg betont die Modulationsfähigkeit des verminderten Septakkords wegen

seiner unzähligen Fortführungsmöglichkeiten: Er zeigt, dass ein verminderter Septakkord auf-

grund der Nebendominanten in mindestens 44 Tonarten leitereigen sein kann. Zusätzlich zeigt

Schönberg auch nicht-funktionale, „pseudo-harmonische“ Weiterführungsmöglichkeiten des

verminderten Septakkords.

Übermäßiger Dreiklang

Der übermäßige Dreiklang findet sich leitereigen nur auf der III. Stufe in harmonischem (und

melodischem) Moll (erhöhte VII. (bzw. VI und VII.) Skalenstufe). Er steht meist für eine Do-

minante mit hochalterierter Quint – diese hat die Funktion eines zusätzlichen Leittons (Abb.

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

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111, T. 1).250 In Moll kann sich die übermäßige Quint der Dominante nicht regulär auflösen251;

die enharmonische Umdeutung von dis zu es ergibt einen leitereigenen Sextvorhalt (Abb. 111,

T. 2).252

Abbildung 111: der übermäßige Dreiklang in Dur und Moll (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 34)

Um einen übermäßigen Dreiklang als (Zwischen-)Dominante zu erhalten, werden Akkordtöne

eines Dur- oder Molldreiklangs hoch- (auch tief-)alteriert (Abb. 112) – dieses Verfahren wurde

bereits in der Barockzeit angewandt.253

Abbildung 112: der übermäßige Dreiklang als Dominante und Zwischendominante (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 34)

Der übermäßige Dreiklang ist vielseitig einsetzbar, da einzelne oder alle Akkordtöne als Leittö-

ne gebraucht werden können.254 Die leittönige Verwendung eines einzigen Akkordtons führt zu

sechs verschiedenen (Zwischen-)Tonarten, indem sich jeweils ein Akkordton einen Halbton

höher oder tiefer auflöst (Abb. 113).255 Werden zwei Töne des übermäßigen Dreiklangs als

Strebetöne eingesetzt, resultieren drei unterschiedliche Tonarten (Abb. 114) – diese Art der

Auflösung des übermäßigen Dreiklangs kommt am öftesten vor.256 Verdoppelt werden kann nur

jener Ton des übermäßigen Dreiklangs, der keine Leittonfunktion hat.257

Abbildung 113: leittönige Verwendung eines Akkordtons (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 130)

250 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 33. Wird der übermäßige Dreiklang leitereigen – als III. Stufe – verwen-

det, ist er Dominante (mit hochalterierter Quint) zur VI. Stufe in Moll (vgl. ebd., S. 81, 206). 251 In c-Moll lautet der übermäßige Dreiklang auf der Dominante g-h-dis; dis müsste nach e geführt werden, wel-

ches in c-Moll jedoch nicht existiert. 252 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 34. 253 Ebd., S. 33, 329. 254 Ebd., S. 130. 255 Umkehrungen des übermäßigen Dreiklangs werden auch durch enharmonische Umdeutungen ausgedrückt. 256 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 131. 257 Ebd., S. 60.

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

68

Abbildung 114: leittönige Verwendung zweier Akkordtöne (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 130)

Riemann

Riemann begründet den übermäßigen Dreiklang nicht mit der harmonischen Molltonleiter – er

erhält ihn durch Hinzuziehen der Durdominante in Moll und der Mollsubdominante in Dur.258

So entsteht der übermäßige Dreiklang bei Riemann in Moll aus Bestandteilen der Molltonika

mit der Durdominante, in Dur resultiert er durch das Zusammenwirken der Mollsubdominante

und der Durtonika (Abb. 115).259

Abbildung 115: Entstehung des übermäßigen Dreiklangs in Dur und Moll

Da „die musikalische Logik zweiklängige Accorde nicht kennt“ und deshalb immer „einen

Klang zum Ausgang nimmt und die Bestandteile des anderen als […] dissonante Töne ver-

steht“260, können die übermäßigen Dreiklänge verschieden interpretiert werden: entweder als

„kleine Sextaccorde“ oder als „übermässige Quintaccorde“.

Als „kleine Sextaccorde“ betrachtet Riemann die übermäßigen Dreiklänge dann, wenn as-c-e

entweder C-Durdreiklang mit kleiner Sext (c-e-g-as – T6>, Abb. 116, T. 1) oder c-Unterklang (c-

as-f) mit kleiner „Untersext“ (c-as-f-e – SVI<, Abb. 116, T. 2) ist, und wenn c-e-gis oder E-

Durdreiklang (e-gis-h) mit kleiner Sext c (D6>, Abb. 116, T. 3) oder e-Unterklang (e-c-a) mit

kleiner Untersext gis ist (TVI<, Abb. 116, T. 4). Diese kleinen Sextakkorde sind also ursprüng-

lich Septakkorde (as-c-e-g etc.); Riemann erklärt sich das Wegfallen der Quint (ausgefüllter

258 Wird die Durdominante in Moll verwendet, nennt Riemann die resultierende Skala „Durmoll“ (sie entspricht

der harmonischen Mollskala), das Auftreten der Mollsubdominante in Dur bezeichnet Riemann als „Molldur“ (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 169; Riemanns „Molldur“ entspricht Schenkers zweiter Mi-schungsreihe, vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 112).

259 Bei der Herleitung des übermäßigen Dreiklangs für C-Dur und a-Moll resultiert ein identischer Klang (enhar-monische Umdeutung gis zu as).

260 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 169/170 (im Original teilweise gesperrt). Riemann nennt die über-mäßigen Dreiklänge „zweiklängig“, da die beiden großen Terzen, aus denen sie zusammengesetzt sind, von zwei verschiedenen Dur- oder Molldreiklängen stammen können.

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

69

Notenkopf im Beispiel) durch die starke Dissonanz zwischen kleiner Sext und Quint.261 Rie-

mann zählt die kleinen Sextakkorde zu den Vorhaltsakkorden.262

Abbildung 116: kleine Sextakkorde

Riemanns zweite Möglichkeit zum Verständnis des übermäßigen Dreiklangs ist dessen Auffas-

sung als „übermässiger Quintaccord“, wenn also die reine Quint des Dur- oder Molldreiklangs

zur übermäßigen alteriert wird (Abb. 117).263 Im Gegensatz zur oben genannten Auffassung des

übermäßigen Dreiklangs als kleiner Sextakkord „[liegt] der Schwerpunkt des Accordes […]

nicht im mittleren Tone sondern entweder im tiefsten oder höchsten (jenachdem der Accord im

Dur- oder Mollsinne gefasst ist)“.264

Abbildung 117: Hochalterieren der Quint bei Durdreiklängen und Tiefalterieren der Unterquint bei Molldrei-klängen führt zu übermäßigen Dreiklängen

Riemann äußert sich nicht über die Funktion eines zum übermäßigen Dreiklang alterierten Dur-

oder Mollakkords. Er sagt nur, dass nach einem übermäßigen Dreiklang ein Harmoniewechsel

möglich ist, zumindest muss der alterierte Ton um einen weiteren Halbton in dieselbe Richtung

geführt werden265 (Abb. 118).

261 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 170. In Riemanns Bezeichnungssystem steht eine am Klangbuch-

staben oder am Funktionszeichen hochgestellte Sechs normalerweise für „hinzugefügte Sext“, nicht wie heute üblich „Sext statt Quint“.

262 Tatsächlich ist die kleine (Dur-)Sext in den Beispielen Riemanns nur Vorhalt eines akkordeigenen Tons, meist in Verbindung mit der vorgehaltenen Quart – als kadenzierender Quartsextakkord (z.B. D6> – D5); einem Ak-kord mit hochalterierter Quint hingegen folgt immer ein anderer Akkord (z.B. D5< – T).

263 Für Riemann gilt ein Akkord dann als alteriert, wenn seine Prim, seine Terz oder seine Quint „chromatisch verändert“ wird (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 171).

264 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 171. Für Riemann sind die Mollakkorde mit übermäßiger Unter-quint (entspricht einem tiefalterierten Grundton) den Durakkorden mit übermäßiger (Ober-)Quint gleichgestellt – obwohl Riemann selbst diese als ungebräuchlich bezeichnet (vgl. ebd., S. 171).

265 Ebd., S. 171. Wenn sich nur der alterierte Ton auflöst, ergibt sich der Parallelklang des jeweiligen Akkords (vgl. ebd.).

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

70

Abbildung 118: Auflösung des übermäßigen Dreiklangs durch Weiterführung der übermäßigen Quint (Rie-mann, Handbuch der Harmonielehre, S. 172)

Durch Betrachtung der Beispiele Riemanns kann man erkennen, dass er den übermäßigen Drei-

klang sehr vielseitig verwendet. Fast immer bringt Riemann zuerst den nichtalterierten Dur-

oder Mollakkord, bevor er die akkordeigene Quint zur übermäßigen alteriert.266 Etwa jeder drit-

te übermäßige Dreiklang in den Beispielen Riemanns hat die Funktion einer in die Tonika füh-

renden Dominante (Abb. 119, T. 1). Fast einem Viertel der übermäßigen Dreiklänge folgt seine

Parallele (Abb. 119, T. 2). Sehr häufig in den Aufgaben hat der übermäßige Dreiklang auch

subdominantische Funktion (Abb. 119, T. 3) oder stammt von einem Vertreter der Tonika ab

(Abb. 119, T. 4267).

Abbildung 119: Funktion des übermäßigen Dreiklangs

Schenker

Schenker leitet den übermäßigen Dreiklang aus der Dur-Moll-Mischung her – zwei verschiede-

ne übermäßige Dreiklänge sind in C-Dur-Moll denkbar268: einer auf der erniedrigten III., ein

zweiter auf der erniedrigten VI. Stufe (Abb. 120).

266 Nur in zwei Beispielen wird die übermäßige Quint durch einen Akkordton des vorhergehenden Akkords vorbe-

reitet: S. 181/429: G7<5< – c5< – oe und S. 183/443: (fis7< – h5<). 267 Man könnte diesen Akkord statt als Tonikaparallele mit tiefalterierter Unterquint (bzw. Grundton) auch als

Leittonwechselklang der Molltonika mit hochalterierter Quint bezeichnen, jedoch benennt Riemann den über-mäßigen Dreiklang in allen entsprechenden Beispielen als chromatisch veränderten Molldreiklang. Vor allem in diesem Beispiel kann man die Tonikafunktion nicht wahrnehmen, denn die kleine Sept g-f wird durch die übermäßige Quint as-e doppelt leittönig erreicht.

268 Jeder der beiden möglichen übermäßigen Dreiklänge findet sich in zwei Mischungsreihen: es-g-h kommt in der ersten (Dur mit tiefalterierter dritter Stufe, entspricht dem melodischen Moll) und vierten (Moll mit hochalte-rierter siebenter Stufe, also harmonisches Moll bzw. Riemanns „Durmoll“) Mischungsreihe vor, as-c-e findet sich in der zweiten (Dur mit erniedrigter sechster Stufe, wie Riemanns „Molldur“) und sechsten Mischungsrei-he (Moll mit hochalterierter dritter Stufe, vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 110).

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

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Abbildung 120: zwei übermäßige Dreiklänge aus der C-Dur-Moll-Mischung269 (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 238)

Der übermäßige Dreiklang ist dementsprechend zweideutig: z.B. lässt das Erscheinen von b-d-

fis entweder auf die Tonart G-Dur-Moll (als III. Stufe) oder auf D-Dur-Moll (als VI. Stufe)

schließen (Abb. 121).

Abbildung 121: der übermäßige Dreiklang ist zweideutig (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 239)

Auf die Verwendung des übermäßigen Dreiklangs (Stimmführung, Verdopplung, Weiterfüh-

rung etc.) geht Schenker nicht ein.

Schönberg

Durch die Einbeziehung der erhöhten VII. Stufe in die Mollskala270 ergibt sich bei Schönberg

ein leitereigener übermäßiger Dreiklang in Moll: er steht auf der dritten Stufe und lautet in a-

Moll c-e-gis (Abb. 122).

Abbildung 122: leitereigener übermäßiger Dreiklang auf der III. Stufe in Moll

Die Auflösung der dissonierenden übermäßigen Quint muss aufwärts erfolgen – Schönberg

begründet dies mit den „Wendepunktgesetzen“.271 Als „wichtigste tonale Auflösungen“ nennt

269 Die Stufenbezeichnung der beiden übermäßigen Dreiklänge im Notenbeispiel 180] D) (Schenker, Harmonieleh-

re, S. 238) ist falsch – statt einem zweimaligen ÌIII / ÌVI muss die korrekte Stufenbezeichnung wie darüber im Text lauten: ÌIII / íVII für es-g-h und ÌVI / íIII für as-c-e.

270 Schönberg nimmt auch die erhöhte VI. Stufe in die Molltonleiter auf; für die Bildung des übermäßigen Drei-klangs ist jedoch nur die erhöhte siebente Skalenstufe notwendig.

271 Schönbergs „Wendepunktgesetze“ besagen, dass die Verwendung der erhöhten VI. und VII. Stufe in Moll nur in aufwärtsgehender Richtung zulässig ist; abwärtsgerichtet dürfen nur die unerhöhten Skalentöne (äolisches oder natürliches Moll) verwendet werden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 113). Das heißt in diesem Fall: die übermäßige Quint des übermäßigen Dreiklangs ist der erhöhte VII. Skalenton; dieser muss in die I. Stufe (hier a) geführt werden.

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

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Schönberg die I. oder VI. Stufe272 (Abb. 123); einzige Bedingung bei der Auflösung des über-

mäßigen Dreiklangs ist aber im Prinzip nur, dass der übermäßigen Quint (hier gis) ein um einen

Halbton höherer Ton (hier a) folgt.273

Abbildung 123: Auflösungen des übermäßigen Dreiklangs (Schönberg, Harmonielehre, S. 292)

Eingeführt wird der übermäßige Dreiklang auf der III. Stufe bei Schönberg zunächst nur durch

die V. und die VII. Stufe – aufgrund des gemeinsamen erhöhten VII. Skalentons. Jedoch erlaubt

Schönberg schon bald, dass jeder Akkord den übermäßigen Dreiklang vorbereiten und ihm fol-

gen kann274, denn Ziel eines übermäßigen Dreiklangs ist es, „durch den künstlichen Leitton

einer Verbindung Richtung zu geben“.275 Als III. Stufe folgt dem übermäßigen Dreiklang laut

Schönberg hauptsächlich die VI., die I., die IV. und die II. Stufe, in jeder möglichen Form eines

Dreiklangs oder Septakkords.

Mithilfe der Kirchentonarten gewinnt Schönberg weitere übermäßige Dreiklänge276, insge-

samt gibt es bei Schönberg also drei verschiedene übermäßige Dreiklänge (Abb. 124): auf der I.

(Äolisch), der IV. (Dorisch) und der V. Stufe (Phrygisch) in Dur. Diese „künstlichen übermäßi-

gen Dreiklänge“ werden bei Schönberg behandelt wie der leitereigene übermäßige Dreiklang

auf der III. Stufe: mit Quintfall, Terzfall und Sekundschritt des Fundaments nach dem Muster

III-VI, III-I, III-IV und III-II (Abb. 125).

Abbildung 124: übermäßige Dreiklänge aus den Kirchentonarten (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 212)

272 Schönberg, Harmonielehre, S. 291; vgl. ebd., S. 123. 273 Ebd., S. 124. Es gibt auch die Möglichkeit, dass das gis liegenbleibt, wenn es im nächsten Akkord enthalten ist. 274 Vgl. ebd., S. 124, S. 227, S. 294. Dies ist wohl der Grund für Schönbergs Aussage, dass der übermäßige Drei-

klang „auf die Entwicklung der modernen Harmonik einen sehr großen Einfluß gehabt“ hat (ebd., S. 123). 275 Ebd., S. 227 (im Original gesperrt). 276 Schönberg, Harmonielehre, S. 211 f. vgl. Kapitel „Theorien erweiterter Tonalität – Arnold Schönberg“.

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

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Abbildung 125: der künstliche übermäßige Dreiklang auf der I., IV. und V. Stufe (vgl. Schönberg, Harmonie-lehre, S. 225)

Schönberg wendet den übermäßigen Dreiklang auch als Dominante an – basierend auf dem

Harmonieschritt III-VI. Dazu alteriert er die leitereigene Quint der V. Stufe (Abb. 126). Die

anderen diatonischen Dur- und Mollstufen werden als übermäßige Dreiklänge zu Nebendomi-

nanten.277

Abbildung 126: der übermäßige Dreiklang als Dominante (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 292)

Schönberg zählt den übermäßigen Dreiklang wie auch den verminderten Septakkord zu den

„eigentlichen“ vagierenden Akkorden, da er ähnliche Eigenschaften besitzt wie dieser278: ledig-

lich durch enharmonische Umdeutung einzelner Akkordtöne ist ein übermäßiger Dreiklang lei-

tereigen in drei verschiedenen Molltonarten (Abb. 127).

Abbildung 127: enharmonische Verwechslungen eines übermäßigen Dreiklangs (Schönberg, Harmonielehre, S. 291)

277 Dazu muss teilweise auch die Terz hochalteriert werden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 292). 278 Ebd., S. 234, 287, 291. Schönberg bemerkt, dass es nur vier klangverschiedene übermäßige Dreiklänge gibt

(dass die fünfte Transposition die erste Umkehrung des ersten übermäßigen Dreiklangs ist), so wie nur drei klangverschiedene verminderte Septakkorde existieren.

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

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Zusätzlich ist der übermäßige Dreiklang für Schönberg auch „harmonisch belangloser“ Vor-

haltsakkord279: entweder wird die übermäßige Quint wie ein kleiner Sextvorhalt weitergeführt,

oder große Terz und übermäßige Quint werden als Quartsextvorhalt (mit verminderter Quart

und kleiner Sext) aufgefasst (Abb. 128).280 Resultat sind drei verschiedene Dur- bzw. Molldrei-

klänge.

Abbildung 128: die übermäßige Quint als kleiner Sextvorhalt (und die große Terz als verminderte Quart) (Schönberg, Harmonielehre, S. 295)

Die übermäßige Quint des übermäßigen Dreiklangs kann durch Chromatik, durch einen Se-

kundschritt und auch durch Sprung eingeführt werden.281 Beispielsweise kann der übermäßige

Dreiklang c-e-gis in C-Dur von allen Stufen aus erreicht werden (Abb. 129). Auch kann ein

Dreiklang in alle vier klanglich verschiedenen übermäßigen Dreiklänge führen (Abb. 130).

Abbildung 129: Einführung des übermäßigen Dreiklangs c-e-gis durch die leitereigenen Dreiklänge von C-Dur (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 292-293)

Abbildung 130: Einführung der vier verschiedenen übermäßigen Dreiklänge durch einen C-Durdreiklang (Schönberg, Harmonielehre, S. 293)

Schönberg äußert sich nicht dazu, welcher Ton des übermäßigen Dreiklangs verdoppelt werden

kann; in den Beispielen282 wird hauptsächlich der Grundton, oft auch die Terz verdoppelt, nie

279 Schönberg, Harmonielehre, S. 295. 280 Schönberg schreibt gelegentlich melodisch „falsch“, um komplexe Notierungen zu umgehen. So schreibt er in

diesem Beispiel as-c-e – as-c-es statt as-c-fes – as-c-es und as-c-fes – as-ces-es statt as-deses-fes – as-ces-es (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 295/180).

281 Bei Riemann erfolgt die Einführung der übermäßigen Quint immer chromatisch (z.B. c-e-g – c-e-gis) 282 Schönberg, Harmonielehre, S. 292-295. Jedoch ist beim übermäßigen Dreiklang schwer festzustellen, welcher

Ton Prim, Terz oder übermäßige Quint ist, da diese Zuteilung nur aufgrund der Notierung geschehen kann. Bei enharmonischer Verwechslung ändern sich die Verhältnisse.

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

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jedoch die übermäßige Quint.283 Die Terz wird bei Schönberg sogar in Akkordverbindungen

verdoppelt, die der Folge V-I entsprechen, wo diese also Leitton ist.284

Für Schönberg ist im Grunde jede Verbindung des übermäßigen Dreiklangs mit einem ande-

ren Akkord möglich, denn er kombiniert unter anderem übermäßige Dreiklänge untereinander,

er verbindet den übermäßigen Dreiklang mit dem neapolitanischen Sextakkord und auch mit

dem übermäßigen Quintsextakkord (Abb. 131).285 Fast alle Akkordverbindungen vom übermä-

ßigen Dreiklang aus enthalten zumindest einen kleinen Sekundschritt; wo dies nicht der Fall ist,

gibt es gemeinsame Töne.286

Abbildung 131: der übermäßige Dreiklang in Verbindung mit anderen vagierenden Akkorden (vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 317-318)

283 Bei der Untersuchung der Verdopplung wurde von einer enharmonisch richtigen Notierung Schönbergs ausge-

gangen, da ja bekanntlich jeder Ton eines übermäßigen Dreiklangs die übermäßige Quint sein kann. 284 Ebd., S. 294 (Beispiel 179a, 3. auf 4. Takt und 179d, 3. Takt). Bei einer Leittonverdopplung springt der zweite

Leitton ab. 285 Die hier gezeigten Beispiele stellen nur einen Teil von Schönbergs Kombinationsmöglichkeiten mit dem über-

mäßigen Dreiklang dar. In der Harmonielehre finden sich auch noch Verbindungen mit dem verminderten Sep-takkord, dem übermäßigen Quintsextakkord, dem halbverminderten Septakkord und dem übermäßigen Terz-quartakkord (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 314/192; S. 317 und S. 318, Bsp. 197-200).

286 Von dieser unausgesprochenen Regel gibt es vier Ausnahmen; drei davon finden sich in den angeführten Bei-spielen: In Takt 2 der Verbindung übermäßiger Dreiklänge untereinander, in Takt 1 der Verbindung mit dem neapolitanischen Sextakkord und in Takt 4 der Verbindung mit dem übermäßigen Quintsextakkord finden sich entweder chromatische Fortschreitungen oder nur große Sekundschritte.

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Vagierende Akkorde – Übermäßiger Dreiklang

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Zusammenfassung

Riemann zählt anfangs nur je einen übermäßigen Dreiklang in Dur und Moll auf: in Moll auf

der III., in Dur auf der erniedrigten VI. Stufe. Riemann fasst diese übermäßigen Dreiklänge auf

zwei Arten auf: Entweder als Vorhaltsakkord mit kleiner Sext statt Quint („kleiner Sextakkord“)

oder als Dur- oder Molldreiklang, dessen Quint zur übermäßigen alteriert wurde („übermäßiger

Quintakkord“). Übermäßige Dreiklänge können bei Riemann aber nicht nur auf der III. Stufe in

Moll und auf der erniedrigten VI. Stufe in Dur stehen, sondern sind durch Alterationen auch auf

anderen Stufen möglich. Riemann teilt den übermäßigen Dreiklängen also keine bestimmte

Funktion zu – der hoch- oder tiefalterierte Ton ist einfach Leitton, der in den nächstgelegenen

höheren bzw. tieferen Halbton weiterzuführen ist.

Schenker nennt dieselben zwei leitereigenen übermäßigen Dreiklänge wie Riemann (auf der

III. und VI. Mollstufe), nur können bei ihm beide aufgrund ihrer Entstehung durch die Mi-

schung von Dur und Moll in Dur und Moll vorkommen. Auf die Verwendung dieser übermäßi-

gen Dreiklänge geht Schenker jedoch überhaupt nicht ein.

Für Schönberg ist nur der übermäßige Dreiklang auf der III. Stufe in Moll leitereigen.

Schönberg ist der Einzige der hier behandelten Autoren, der über die enharmonischen Ver-

wechslungen des übermäßigen Dreiklangs und damit über seine Modulationsfähigkeit spricht.

Für Schönberg ist der übermäßige Dreiklang ein Leittonklang, dessen Weiterführung offen ist –

er kann in jeden Akkord aufgelöst werden.

Tristanakkord

Als „Tristanakkord“ wird der erste Akkord im Vorspiel zu Richard Wagners Oper Tristan und

Isolde287 bezeichnet, er lautet f-h-dis1-gis1 (Abb. 132). Amon bezeichnet ihn als „doppelt über-

mäßigen Sekundakkord“288 (Abb. 133); er ist enharmonisch dem halbverminderten Septakkord

f-as-ces-es gleich.

287 Richard Wagner: Tristan und Isolde, komponiert 1857-59, Uraufführung: 10. Juni 1865. 288 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 40.

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Vagierende Akkorde – Tristanakkord

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Abbildung 132: Takt 1 bis 3 des Vorspiels zu Wagners „Tristan und Isolde“ (vgl. Amon, Lexikon der Harmo-nielehre, S. 40)

Abbildung 133: doppelt übermäßiger Sekundakkord (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 40)

Man kann den Tristanakkord auf verschiedene Arten herleiten: von einem Doppeldominantsep-

takkord mit Quint im Bass, dessen Quint tiefalteriert und dessen Sept von einer großen Sext

vorgehalten wird (Abb. 134, T. 1); aus der Subdominante mit hinzugefügter Sext, deren Grund-

ton hochalteriert und deren Quint von einer erhöhten Quart vorgehalten wird (Abb. 134, T. 2);

vom verminderten Septakkord der VII. Stufe (verkürzter Dominantseptnonakkord), dessen ver-

minderte Quint zu reinen hochalteriert wird (Abb. 134, T. 3).289 In der Ableitung von der Dop-

peldominante ist f der alterierte Ton und a Akkordton, in der Ableitung von der Subdominante

ist dis der alterierte Ton und ebenfalls a Akkordton, und in der Ableitung vom verminderten

Septakkord gis Akkordton und dis der alterierte Ton.

Abbildung 134: mögliche Herleitungen des Tristanakkords (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 41)

Alle drei Ableitungen haben gemeinsam, dass der Leitton dis („natürlich“ bzw. hochalteriert)

nicht regulär aufgelöst wird. Dies resultiert einerseits aus der Auflösung in einen Dominantsep-

takkord, andererseits aus einem Stimmtausch (Abb. 135).

289 Vgl. ebd., S. 41; vgl. Danuser, Hermann: Tristanakkord. In: MGG2, Sachteil Band 9. Metzler/Bärenreiter:

Kassel u.a. 1998, Sp. 832-844.

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Vagierende Akkorde – Tristanakkord

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Abbildung 135: Erklärung der Stimmführung beim Tristanakkord

Keine der Ableitungen ist vollständig zufriedenstellend. Häufig wird der Tristanakkord als

Doppeldominante mit tiefalterierter Quint im Bass und großer Sext statt kleiner Sept interpre-

tiert.290 Nicht nur wegen der auf den Tristanakkord folgenden Dominante291 ist die Interpretation

als alterierte Doppeldominante sicher sinnvoll.

Riemann

Riemann hielt nicht viel von Wagners Musik292, vermutlich erwähnte er aus diesem Grund den

Tristanakkord in keinem seiner Harmonielehrebücher. Jedoch gab er später in seinem Musikle-

xikon die von Max Arend stammende Auffassung des Tristanakkords bekannt (Abb. 136).

Abbildung 136: Takt 1 bis 3 des Vorspiels zu Wagners „Tristan und Isolde“ (Vogel, Tristan-Akkord, S. 30)

Riemann sieht wie Schenker das a als Akkordton an; den Akkord f-h-dis-a interpretiert er als

Unterseptimenakkord mit hochalterierter Unterquinte.293 Man könnte diese Deutung als „Sub-

dominantquintsextakkord mit hochalteriertem Grundton“ oder als „halbverminderter Septakkord

der II. Stufe mit hochalterierter Terz“ übersetzen. Riemann bezeichnet diesen Akkord als über-

mäßigen Terzquartakkord in Moll; dieser unterscheidet sich vom übermäßigen Terzquartakkord 290 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 40. Ein (Doppel-)Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quint (im Bass)

entspricht dem übermäßigen Terzquartakkord. 291 Als Auflösung des Tristanakkords folgt der Dominantseptakkord in a-Moll, mit hochalterierter Quart als Vor-

halt vor der Quint. Mit der enharmonischen Verwechslung der hochalterierten Quart zu tiefalterierten Quint er-gibt sich ein weiterer übermäßiger Terzquartakkord (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 41).

292 Vogel, Martin: Der Tristan-Akkord und die Krise der modernen Harmonielehre. Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik, Band 2. Düsseldorf: Verlag der Gesellschaft zur Förderung der systematischen Mu-sikwissenschaft 1962., S. 11-12.

293 Ebd., S. 30.

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Vagierende Akkorde – Tristanakkord

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in Dur: in der subdominantischen Auffassung sieht Riemann dis als (hoch-)alterierten Ton an,

würde er den Akkord als doppeldominantisch deuten, wäre für ihn f der (tief-)alterierte Akkord-

ton.

Schenker

Auch Schenker erwähnt den Tristanakkord nicht in seiner Harmonielehre – jedoch kommt der

Beginn des Tristanvorspiels als Analysebeispiel zu den alterierten Akkorden vor.294 Schenker

bezieht im Text keine Stellung zum Notenbeispiel, jedoch wird durch Schenkers Analyse deut-

lich, dass er gis1 im Akkord f-h-dis1-gis1 als Vorhalt zu a1 auffasst295 und den Akkord f-h-dis1-a1

als übermäßigen Terzquartakkord, in der Funktion einer II. Stufe (Abb. 137).

Abbildung 137: Takt 1 bis 3 des Vorspiels zu Wagners „Tristan und Isolde“296 (Schenker, Harmonielehre, S. 374)

Der Tristanakkord ist also für Schenker ein Doppeldominantseptakkord mit tiefalterierter Quint

und Vorhalt vor der Sept und stimmt somit mit der heute gängigen Auffassung überein. Auf die

besondere Auflösung des alterierten Akkords mit chromatischer Abwärtsführung der hochalte-

rierten Terz dis und Aufwärtsführung der Sept a in der Oberstimme geht auch Schenker nicht

ein.297

294 Schenker, Harmonielehre, S. 374 (Bsp. 326). 295 An einer späteren Stelle seiner Harmonielehre deklariert Schenker gis1 noch einmal deutlich als Vorhalt zu a1,

obwohl die Dauer des Vorhaltes (gis) länger ist als die der Auflösungsnote (Schenker, Harmonielehre, S. 408). 296 II. Stufe mit aufgelöster Quint steht für die II. Stufe in a-Moll: h-f, V. Stufe mit erhöhter Terz bedeutet h-dis als

V. Stufe von E-Dur. 297 Schenker behandelt die Stimmführung nicht in der Harmonielehre (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 226).

Schönberg vertritt diesbezüglich eine ähnliche Meinung: „Stimmführungsangelegenheiten [gehören] nur soweit in die Harmonielehre, als sie zur Darstellung harmonischer Vorgänge nötig sind“ (Schönberg, Harmonielehre, S. 399).

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Vagierende Akkorde – Tristanakkord

80

Schönberg

Schönberg sieht den Tristanakkord f-h-dis-gis als enharmonische Verwechslung des halbver-

minderten Septakkords f-ces-es-as an (Abb. 138), als leitereigene II. Stufe in es-Moll298 – ent-

sprechend seiner Verwendung in Takt 83 des Tristanvorspiels. Schönbergs harmonische Weiter-

führung des halbverminderten Septakkords nach Fes- bzw. E-Dur (Abb. 139) entspricht jener

bei Wagner; im Tristanvorspiel ist E-Dur jedoch Dominante, bei Schönberg ist E-Dur die er-

niedrigte II. Stufe.299

Abbildung 138: der Tristanakkord als enharmonische Verwechslung des halbverminderten Septakkords

Abbildung 139: Weiterführung des halbverminderten Septakkords in es- (bzw. dis-)Moll300 (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 308)

Schönberg lässt seine eigene Interpretation dieser vieldiskutierten Stelle offen, zeigt aber weite-

re Deutungsmöglichkeiten301: Wenn man a als Akkordton betrachtet (und gis als aufwärts ge-

henden Vorhalt), lautet der Akkord f-h-dis-a (Abb. 140). Diesen Akkord betrachtet Schönberg

als Septakkord der II. Stufe mit hochalterierter Terz (dis); die verminderte Quint (f) ist leiterei-

gen (in Moll) oder tiefalteriert (in Dur).302

Abbildung 140: a als Akkordton

298 Schönberg, Harmonielehre, S. 310. Schönberg nennt den Akkord jedoch nicht „halbvermindert“, sondern be-

zeichnet ihn als II. Stufe in Moll bzw. VII. Stufe in Dur (vgl. ebd., S. 309). 299 Schade, dass Schönberg diese Beispiele nicht mit Stufen bezeichnet hat. Es wäre sehr interessant zu erfahren,

wie Schönberg die Harmoniefolge leitereigene – erniedrigte II. Stufe benennen würde. 300 Eigenartig ist, dass Schönberg im dis-Moll-Beispiel den Tristanakkord „falsch“ notiert: der halbverminderte

Septakkord in dis-Moll lautet eis-gis-h-dis, nicht f-gis-h-dis. 301 Schönberg, Harmonielehre, S. 310. 302 Ebd., S. 309. Dieser Akkord – h-dis-f-a in A-Dur/a-Moll – ist der bei Schönbergs Auflistung der übermäßigen

Sextakkorde fehlende (Doppel-)Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quint (= übermäßiger Terzquartakkord der heutigen Auffassung). Schönbergs Herleitung als „Verbindung der Oberdominant-(Nebendominant-)Mög-lichkeiten mit den Mollunterdominantbeziehungen“ entspricht nebenbei bemerkt Schenkers Bezeichnung der alterierten Akkorde als Verbindung der II. und V. Stufe.

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Vagierende Akkorde – Tristanakkord

81

Die „schlimmste Annahme“ für Schönberg ist, dass der Akkord tatsächlich zu es-Moll gehört

und enharmonisch verwechselt wird, damit er mit a-Moll in Zusammenhang gebracht werden

kann.303 Leider gibt Schönberg dazu kein Notenbeispiel und führt diesen Gedanken auch nicht

weiter aus.304

303 Ebd., S. 310. Diese Aussage ist nicht ganz verständlich, denn Schönberg selbst interpretiert den Tristanakkord

als enharmonische Verwechslung der II. Stufe in es-Moll. 304 Schönberg nennt nur zwei weitere Akkorde, die auf a-Moll und es-Moll bezogen werden können, „denn a-moll

und es-moll haben ja nicht nur den [Akkord f-as-ces-es, E. E.] gemeinsam“ (Schönberg, Harmonielehre, S. 310) – leider „verrät“ Schönberg nicht, wie „der“ – die II. Stufe von es-Moll – auf a-Moll bezogen werden kann. In beiden Tonarten deutbar sind die VI. Stufe von es-Moll (Ces-Dur); sie entspricht der Doppeldominante von a-Moll (H-Dur); die Dominante in a-Moll (E-Dur) stimmt mit der „neapolitanischen Sext“ von e-Moll – Fes-Dur – überein (und umgekehrt: die „neapolitanische Sext“ von a-Moll (B-Dur) ist gleichzeitig Dominante von es-Moll).

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Vagierende Akkorde – Neapolitanischer Sextakkord

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Neapolitanischer Sextakkord

Der neapolitanische Sextakkord ist nicht die Umkehrung eines Durakkords auf der erniedrigten

zweiten Stufe, sondern Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint.305 Bis zur zweiten Hälfte

des 19. Jahrhunderts kam der neapolitanische Sextakkord nur in Moll zur Anwendung, mit

Quartsextvorhalt vor der Dominante (Abb. 141).306

Abbildung 141: der neapolitanische Sextakkord in Moll mit Quartsextvorhalt vor der Dominante (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 200-201)

Der Grundton der Subdominante muss in der Bassstimme sein307 und wird auch verdoppelt. Der

bei der Auflösung des neapolitanischen Sextakkords in die Dominante entstehende Querstand

(des-d in c-Moll) kennzeichnet diese harmonische Wendung (Abb. 142).308

Abbildung 142: der neapolitanische Sextakkord mit direkter Auflösung in die Dominante (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 200-201)

Dem neapolitanischen Sextakkord folgt oft auch der verkürzte Doppeldominantseptnonakkord

(Abb. 143).309

305 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 200, 207. 306 Ebd., S. 201. 307 Ebd. 308 Ebd., S. 201, 251. 309 Ebd., S. 201.

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Vagierende Akkorde – Neapolitanischer Sextakkord

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Abbildung 143: der neapolitanische Sextakkord in einer Wendung mit verkürzter Doppeldominante (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 201)

Befindet sich der neapolitanische Sextakkord in „Grundstellung“, spricht man vom „verselbst-

ständigten Neapolitaner“. Dieser ist der Durdreiklang auf der tiefalterieren II. Stufe (in Dur und

Moll), also der Durgegenklang der Mollsubdominante.310

Riemann

Der neapolitanische Sextakkord ist bei Riemann der „Leittonwechselklang der Mollsubdomi-

nante“.311 Die Verbindung des neapolitanischen Sextakkords mit der Durdominante bezeichnet

Riemann als „schlichten Tritonusschritt“312, da die beiden Akkorde in Grundstellung einen Tri-

tonus voneinander entfernt sind (Abb. 144). Bei dieser Verbindung entstehen jedoch „unmelodi-

sche Stimmschritte“.313

Abbildung 144: „schlichter Tritonusschritt“ (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 114)

Der „Leittonwechselklang der Mollsubdominante“ kann die Mollsubdominante ersetzen und

tritt deshalb vor allem mit dem Grundton (und der üblichen Stimmführung) der Mollsubdomi-

nante im Bass auf.314 Laut Riemanns Notenbeispiel sind aber offensichtlich auch der Grundton

als Basston und Verdopplungen der kleinen Sext b üblich (Abb. 145) – der durch die Verdopp-

lung des b nötige chromatische Schritt b-h stört Riemann offenbar nicht.315 Die übrigen Stimm-

schritte bleiben aber auch bei den Umkehrungen gleich: d-e (Subdominant- zu Dominantgrund-

310 Ebd., S. 34. 311 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 114. 312 Ebd.; vgl. auch ebd., S. 133. 313 Ebd., S. 114. 314 Ebd. 315 Auch im Elementarschulbuch der Harmonielehre stellt Riemann mehrere „gute Führungen“ des neapolitani-

schen Sextakkords vor, die eine andere Melodie und anderen Bass (bzw. abweichende Stimmführung) aufwei-sen (vgl. Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 138 f.).

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Vagierende Akkorde – Neapolitanischer Sextakkord

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ton), f-e (Leitton der Mollsubdominante zu Dominantgrundton) und die verminderte Terz b-gis

(„Umspringen vom Oberleitton zum Unterleitton“316).

Abbildung 145: Weiterführung des neapolitanischen Sextakkords (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 114)

Aus den Beispielen Riemanns in Funktionsschrift geht nicht unmittelbar hervor, welcher Ton

Basston sein soll, denn obwohl Riemann die passende Schrift dazu entwickelt hat (3 im Bass

etc.), wendet er sie in den Beispielen kaum an.317 Deshalb ist nicht ganz klar, ob Riemann den

neapolitanischen Sextakkord als Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint auffasst. In die-

sen Beispielen folgt dem neapolitanischen Sextakkord zwar am häufigsten die Dominante (auch

mit Quartsext-Vorhalt), jedoch kommen ebenfalls sehr oft andere Verbindungen vor.318

In der Vereinfachten Harmonielehre ist der neapolitanische Sextakkord für Riemann eindeu-

tig Mollsubdominante mit kleiner Sext – der „phrygischen Sekunde“ – statt Quint; auch ist die

Funktionsbezeichnung eine andere.319 Hier hat der neapolitanische Sextakkord in Verbindung

mit der Tonika auch Schlussfunktion. Riemanns Notenbeispiele untermauern die Auffassung

des Akkords als Mollsubdominante, denn Basston ist der Grundton der Mollsubdominante, wel-

cher auch verdoppelt wird (Abb. 146).

316 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 114 (im Original gesperrt). 317 Vgl. z.B. ebd.: Der neapolitanische Sextakkord in Bsp. 75 ist laut Funktionsschrift in Grundstellung, wird aber

mit Terz im Bass angewendet. In nur drei der zahlreichen Beispiele mit dem neapolitanischen Sextakkord in Funktionsschrift auf S. 118-124 wird die Terz im Bass angeschrieben – aber immer erst nach der Grundstellung (vgl. ebd., Bsp. 76, 83 und 89).

318 So folgt dem neapolitanischen Sextakkord etwa die verkürzte Doppeldominante (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 224/152, auch als verkürzter Septnonakkord (ebd., z.B. S. 180/133)), die Dursubdominante (ebd., S. 226/173), Subdominantparallele (ebd., z.B. S. 119/80), oder der Leittonwechselklang der Dominante (ebd., z.B. S. 119/82).

319 Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 100 f. Riemanns Notierung des neapolitanischen Sextakkords ist selbst für seine Verhältnisse komplex, denn er vermischt dafür die Schreibweise der Ober- und Untertöne: Der Akkord ist ausgedrückt als „Mollsubdominante mit kleiner Obersekunde“; „Obersekunde“ bezieht sich in Moll aber auf den höchsten Ton des Akkords, sie ist sozusagen „Wechselnote der Mollsubdominantprim“ (ebd., S. 101).

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Vagierende Akkorde – Neapolitanischer Sextakkord

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Abbildung 146: Auflösung des neapolitanischen Sextakkords (Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 102 und 104-105)

Schenker

Den Akkord des-f-as in c-Moll – dieser ist nicht in Schenkers Mischung enthalten – bezeichnet

Schenker als „phrygischen Zug“.320 Für Schenker ist dieser Durakkord auf der erniedrigten II.

Stufe Ersatz für den verminderten Dreiklang d-f-as auf der leitereigenen II. Stufe in Moll und

lässt sich auf das „Bedürfnis“ des Motivs zurückführen, nicht als verminderter Dreiklang zu

erscheinen.321

Die Verwendung der phrygischen II. Stufe bzw. des neapolitanischen Sextakkords322 be-

gründet Schenker mithilfe der Tonikalisierung: Er geht zunächst von einer Kadenz in d-Moll

aus, dem „invertiven Quintenzug“ VI – II – V – I (Abb. 147).323 Der verminderte Dreiklang der

zweiten Stufe wird dann zu einem Durdreiklang, um die nachfolgende V. Stufe (A-Dur) zur

Tonika zu „erheben“; entfernt man des Weiteren die d-Moll-Tonika, ergibt sich die uns bekann-

te Wendung mit dem neapolitanischen Sextakkord (Abb. 148). In der Analyse bezeichnet

Schenker die erniedrigte II. Stufe bzw. den neapolitanischen Sextakkord meist als „II (phry-

gisch)“.

Abbildung 147: Herleitung des neapolitanischen Sextakkords als leitereigene VI. Stufe in d-Moll (Schenker, Harmonielehre, S. 364)

320 Schenker, Harmonielehre, S. 143. 321 Ebd., S. 143 f. 322 Schenker nennt die Bezeichnung „neapolitanischer Sextakkord“ nicht. 323 Schenker, Harmonielehre, S. 364. Schenker betont in einer Anmerkung, dass trotz der in Noten gefassten Stu-

fen keine Stimmführung angenommen werden darf. Er ist der Meinung, dass die Harmonielehre „sich doch nur mit der Psychologie der abstrakten Stufen zu befassen hat“ (ebd., S. 226).

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Vagierende Akkorde – Neapolitanischer Sextakkord

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Abbildung 148: Tonikalisierung der Dominante von d-Moll und Weglassen der d-Moll-Tonika ergibt eine Kadenz in A-Dur mit phrygischer II. Stufe (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 364-365)

Jedoch ist Schenker der Meinung, dass diese Kadenz in A-Dur halbschlüssig ist, der A-

Durakkord also dominantisch ist und nach ihm die d-Moll-Tonika erwartet wird. Dies ist für ihn

auch die Begründung, warum der zweiten phrygischen Stufe b-d-f nach der Dominante vorwie-

gend A-Dur folgt, nicht a-Moll324: weil A-Dur eigentlich Dominante ist. Der neapolitanische

Sextakkord ist für Schenker also nicht leiterfremde erniedrigte zweite Stufe, sondern leitereige-

ne sechste Stufe der Unterquint-Tonart d-Moll (welche aber nicht folgt).325

Schönberg

Schönberg sieht den neapolitanischen Sextakkord – f-as-des in C-Dur und c-Moll – als „Stell-

vertreter der II.“ Stufe, aber nicht als deren „chromatische Umgestaltung“.326 Schönberg schließt

offensichtlich die Funktion des neapolitanischen Sextakkords als Vertreter der IV. Stufe aus,

denn er geht – trotz des charakteristischen Vorkommens des neapolitanischen Sextakkords mit

Subdominantgrundton im Bass und Verdopplung dieses Tons (Abb. 149) – von der Grundstel-

lung des-f-as aus: Der Des-Dur-Dreiklang ist leitereigene VI. Stufe in f-Moll (der Tonart der

Mollsubdominante), somit für Schönberg in C-Dur und c-Moll eine aus f-Moll entlehnte II.

Stufe.327

Der neapolitanische Sextakkord löst sich laut Schönberg in die I. und V. oder gleich in die V.

Stufe auf328 (Abb. 149); Schönberg zeigt auch die Weiterführung über vagierende Akkorde

(Abb. 150).

324 Als Schenker das erste Mal in der Harmonielehre den „phrygischen Zug“ erwähnt, bezeichnet er diesen als

„Eigentum […] des heutigen Moll[systems]“ (ebd., S. 143, Kursivsetzung nicht original); hier, wenn er von der uns bekannten Kadenz mit dem neapolitanischen Sextakkord spricht, ist plötzlich die Durtonika als Schlussak-kord üblich.

325 Diese Auffassung entspricht im Prinzip Riemanns anfänglicher Meinung vom neapolitanischen Sextakkord als Leittonwechselklang der Mollsubdominante (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 113 f.).

326 Schönberg, Harmonielehre, S. 282. Schönberg ist gegen die Hypothese mit erniedrigtem Grundton, sondern glaubt an die Existenz von zwei verschiedenen Grundtönen auf der II. Stufe: d und des. Nur wenn der neapoli-tanische Sextakkord durch den verminderten Dreiklang der II. Stufe in Moll oder den Molldreiklang auf der II. Stufe in Dur erreicht wird, könnte man von „Grundtonerniedrigung“ sprechen (vgl. ebd., S. 283/167 f und g).

327 Vgl. ebd., S. 267 f. 328 Der „Quartsextakkord der I. Stufe“, in den der neapolitanische Sextakkord häufig geführt wird, ist natürlich der

kadenzierende Quartsextakkord der Dominante. Zum Quartsextakkord der Tonika in der Kadenz vgl. Schön-berg, Harmonielehre, S. 168 f. Folgt auf den neapolitanischen Sextakkord gleich die Dominante, bezeichnet dies Schönberg als „Kürzung ei-ner Wendung durch Weglassung des Wegs“ (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 423).

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Vagierende Akkorde – Neapolitanischer Sextakkord

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Abbildung 149: Herkömmliche Auflösung des neapolitanischen Sextakkords (Schönberg, Harmonielehre, S. 282)

Abbildung 150: Auflösung des neapolitanischen Sextakkords über vagierende Akkorde329 (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 318-319)

Schönberg bringt auch verschiedenste Beispiele für die Vorbereitung des neapolitanischen Sex-

takkords (Abb. 151 und 152).

Abbildung 151: mögliche Einführungsakkorde für den neapolitanischen Sextakkord330 (Schönberg, Harmonie-lehre, S. 283 und 315)

329 Der erste Akkord dieses Beispiels ist ein Dominantseptakkord, der enharmonisch verwechselt den dritten Ak-

kord des Beispiels, einen übermäßigen Quintsextakkord ergibt. 330 Schönberg bezeichnet in seinem Notenbeispiel nicht die Zugehörigkeit zu Stufen, außer im Beispiel des letzten

Taktes (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 283/167 a-e und S. 315/194 a). Im letzten Takt des Beispiels bezeichnet Schönberg den verminderten Septakkord als VI. Stufe (in C-Dur bzw. c-Moll), obwohl der Grundton von fis-a-c-es d, also die II. Stufe ist. Dass zwei Akkorde derselben Stufe auf-einander folgen ist für Schönberg nicht einleuchtend, weil kein „Fundamentschritt“ erfolgt (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 309), wohl deshalb ist fis-as-c-es für ihn die enharmonische Verwechslung von c-es-ges-heses, mit Grundton as (also VI. Stufe; Schönberg notiert jedoch as-c-es-ges-a) (vgl. ebd., S. 315). Schönberg nimmt es mit der korrekten Schreibweise grundsätzlich nicht so genau, denn er bevorzugt es, „an Stelle eines komplizierten Notenbildes, das oft durch diese pedantische Genauigkeit entsteht, jenes Zeichen zu setzen, das auf einen bekannten Akkord zurückführt“ (ebd., S. 424), weil „die üblichen Vorschriften [der Orthographie]“ das rasche Lesen beeinträchtigen (ebd., S. 456) (vgl. auch ebd., S. 307, 319).

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Vagierende Akkorde – Neapolitanischer Sextakkord

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Abbildung 152: der übermäßige Dreiklang als Einführungsakkord für den neapolitanischen Sextakkord (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 317)

Laut Schönberg kommt der neapolitanische Sextakkord auch mit anderen Basstönen vor331 – in

den gezeigten Beispielen unterstreicht die Umkehrung eine bestimmte Bassfortschreitung (Abb.

153).

Abbildung 153: Der neapolitanische Sextakkord mit anderen Basstönen (Schönberg, Harmonielehre, S. 283)

Zusammenfassung

Riemanns Sicht des neapolitanischen Sextakkords schwankt zwischen der Interpretation als

Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint. und als erniedrigte II. Stufe (Leittonwechsel-

klang der Mollsubdominante). Als Mollsubdominante ist immer die IV. Stufe Basston, als er-

niedrigte II. Stufe sind für Riemann verschiedene Lagen des Akkords möglich.

Für Schenker ist der neapolitanische Sextakkord innerhalb einer Tonart die erniedrigte II.

Stufe. Auch er leitet den neapolitanischen Sextakkord von der Tonart der Mollsubdominante ab

– im Gegensatz zu Riemann und Schönberg versteht er den neapolitanischen Sextakkord jedoch

als Teil einer unvollständigen Kadenz in der Mollsubdominanttonart.

Schönberg sieht den neapolitanischen Sextakkord als Vertreter der II. Stufe an und leitet ihn

in C-Dur als VI. Stufe von f-Moll ab – diese Herleitung entspricht in etwa Riemanns „Leitton-

wechselklang der Mollsubdominante“. Der neapolitanische Sextakkord kommt jedoch bei

Schönberg fast immer auf seine charakteristische Weise zur Anwendung: mit Subdominant-

grundton im Bass und erniedrigter II. Stufe in der Melodie.

331 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 283.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Übermäßige Sextakkorde

Unter dem Überbegriff „übermäßige Sextakkorde“ versteht man den übermäßigen Sextakkord,

den übermäßigen Terzquartakkord und den übermäßigen Quintsextakkord. Sie alle enthalten als

Rahmenintervall die übermäßige Sext – des-h für dominantische, as-fis für doppeldominanti-

sche Akkorde in C-Dur bzw. c-Moll.

Übermäßiger Sextakkord

Der übermäßige Sextakkord ist verkürzter Dominantseptakkord mit tiefalterierte Quint im Bass,

in C-Dur und c-Moll als Dominante des-f-h, als Doppeldominante as-c-fis (Abb. 154).332 Die

beiden Leittöne des und h bzw. as und fis – die übermäßige Sext – wollen in die Oktave c-c

bzw. g-g aufgelöst werden.333

Abbildung 154: der (doppel-)dominantische übermäßige Sextakkord

Der übermäßige Sextakkord wird meist als Doppeldominante verwendet (as-c-fis in C-Dur oder

c-Moll) – dann auch „Italienische Sext“ genannt334 – und löst sich entweder gleich in die Domi-

nante oder in ihren Vorhaltsquartsextakkord auf (Abb. 155). Verdoppeln kann man nur die

Quint des übermäßigen Sextakkords (c im Beispiel), da sie als einziger Ton dieses Akkords

nicht Leitton ist.

Abbildung 155: Auflösung des doppeldominantischen übermäßigen Sextakkords (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 31-33)

Übermäßiger Terzquartakkord

Der übermäßige Terzquartakkord ist ein Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quint im Bass

(des-f-g-h als Dominante, as-c-d-fis als Doppeldominante in C-Dur und c-Moll), bringt also den

332 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 31. 333 Im Gegensatz dazu strebt der identische Klang, die kleine Sept des-ces, nach ges-b bzw. ges-heses. 334 Vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 31. Die Namen „Italian Sixth“, „French Sixth“ und „German Sixth“

prägte John Wall Callcott (A Musical Grammar, 1806) (vgl. Harrison (1995), S. 181).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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fehlenden Grundton (g bzw. d) des übermäßigen Sextakkords (Abb. 156). Er ist bei Auftreten

als Doppeldominante auch als „Französische Sext“ bekannt.335

Abbildung 156: Ableitung und Auflösung des übermäßigen Terzquartakkords (Amon, Lexikon der Harmonie-lehre, S. 37)

Übermäßiger Quintsextakkord

Der übermäßige Quintsextakkord ist ein verminderter Septakkord, dessen tiefalterierte Quint im

Bass steht: dominantisch in C-Dur und c-Moll als des-f-as-h, doppeldominantisch (in welcher

Form der Akkord vorwiegend gebraucht wird, so auch als „Deutsche Sext“ bekannt“) als as-c-

es-fis.336 Dieser Akkord besteht aus vier Leittönen; bei richtiger Auflösung der Leittöne ergeben

sich jedoch (erlaubte) parallele Quinten – die sogenannten „Mozartquinten“ (Abb. 157). Man

kann diese umgehen, indem man dem übermäßigen Quintsextakkord den kadenzierenden Quart-

sextakkord der Dominante folgen lässt.

Abbildung 157: Ableitung und Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords (vgl. Amon, Lexikon der Har-monielehre, S. 39)

Der übermäßige Quintsextakkord ergibt enharmonisch verwechselt den Dominantseptakkord

der einen Tritonus bzw. einen Halbton entfernten Tonart: as-c-es-fis (übermäßiger Quintsextak-

kord in G- bzw. C-Dur und -Moll) klingt gleich wie as-c-es-ges bzw. gis-his-dis-fis (Dominant-

septakkord in Ges- bzw. Fis-Dur und -Moll) (Abb. 158).337

335 Ebd., S. 37. Weitere Bezeichnungen des übermäßigen Terzquartakkordes lauten: „Wechseldominantterzquart-

akkord mit tiefalteriertem Bass“ und „hart verminderter Terzquartakkord“ – diese Bezeichnung stammt von der Entstehungsweise des übermäßigen Terzquartakkordes: einem „hartverminderten“ Dreiklang (g-h-des) wird ei-ne kleine Sept (f) hinzufügt (vgl. ebd.).

336 Amon nennt auch den „doppelt übermäßigen Terzquartakkord“ as-c-dis-fis als enharmonische Verwechslung des übermäßigen Quintsextakkords as-c-es-fis. (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 37 f.). Er kommt durch die chromatische Erhöhung des Grundtones (d zu dis) beim übermäßigen Terzquartakkord as-c-d-fis zu-stande. Für diesen Akkord ist auch die Bezeichnung „Swiss Sixth“ geläufig – diese stammt aus Walter Pistons Harmony, vgl. http://www.tufts.edu/~mdevoto/Piston.pdf, S. 9). Die ordnungsgemäße Fortsetzung des doppelt übermäßigen Terzquartakkordes ist der Vorhaltsquartsextakkord der Dominante in Dur (g-c-e), da die doppelt übermäßige Quart (dis in as-c-dis-fis) nach e aufgelöst werden muss. Amon bezeichnet auch übermäßige Quint-sextakkorde, die sich in den kadenzierenden Dur-Quartsextakkord auflösen, als doppelt übermäßigen Terz-quartakkord (vgl. ebd., S. 38).

337 Vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 31, 54, 67, 184.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Abbildung 158: enharmonische Verwechslung des übermäßigen Quintsextakkords zum Dominantseptakkord

Die doppeldominantischen übermäßigen Sextakkorde können auch aus der „ungarischen Moll-

skala“ (mit hochalterierter vierter und siebenter Tonleiterstufe) gebildet werden (Abb. 159).338

Abbildung 159: übermäßige Sextakkorde aus dem ungarischem Moll (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 40)

Riemann

Riemann unterscheidet „verminderte Quintaccorde“, „Septimenaccorde mit übermässiger Quin-

te“ und „übermässige Sextaccorde“, nennt jedoch auch die im Generalbass üblichen Bezeich-

nungen dieser alterierten Akkorde.339

„Verminderte Quintaccorde“ – übermäßiger Sextakkord und Terzquartakkord

„Verminderte Quintaccorde“ sind Akkorde, deren reine Quint zur verminderten alteriert wird.

Diese kommen laut Riemann vorwiegend auf der Durdominante und der Mollsubdominante vor.

Riemann geht zunächst von der Dominante in C-Dur aus und vermindert dessen Quint: g-h-d

wird zu g-h-des (Abb. 160). Riemann stellt g-h-des als g5> bzw. in C-Dur und c-Moll als D5> 338 Ebd., S. 40, S. 308. 339 Riemann bezeichnet diese Akkorde gemäß seiner Auffassung von der Identität eines Akkordes mit seiner Um-

kehrung nach ihrer Grundstellung (im Gegensatz zur Generalbassterminologie, die die Akkorde nach ihrer Um-kehrung benennt: wenn die tiefalterierte Quint im Bass steht, bildet sie mit der Terz des Akkordes eine übermä-ßige Sext).

Riemann führt im Handbuch der Harmonielehre die Generalbassbezeichnungen für die übermäßigen Sextak-korde an, geht jedoch nicht genau darauf ein, wie er diese Akkorde benennen würde. Nur zu Beginn erwähnt er: „In unserer neuen Bezifferung müssen dieselben v e r m i n d e r t e Q u i n t a c c o r d e heißen“ (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 172, Sperrung im Original). Jedoch bleibt die analoge Bezeichnung für Ak-korde mit übermäßiger Quint („übermässige Quintaccorde“) aus. Im Elementar-Schulbuch der Harmonielehre fasst Riemann alle Akkorde, die eine übermäßige Sext enthalten – Riemann zählt hier 16 verschiedene Funktionsbezeichnungen auf –, unter dem Begriff „übermäßige Sextakkor-de“ zusammen. Dabei bezeichnet er auch Zusammenklänge mit unterschiedlicher Intervallstruktur mit demsel-ben Begriff, z.B. sind die Akkorde des-f-a-h und des-f-as-h „übermäßige Quintsextakkorde“ und die Bildungen des-f-g-h, des-fes-g-h und des-f-gis-h „übermäßige Terzquartakkorde“ (vgl. Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 166 f.; die Beispiele sind der Übersichtlichkeit halber teilweise transponiert). Riemann selbst sind diese Bezeichnungen „weder erschöpfend noch genügend unterscheidend“, deshalb braucht man sie sich auch nicht zu merken (ebd., S. 168). In der Vereinfachten Harmonielehre erwähnt Riemann die übermäßigen Sextakkorde überhaupt nicht, sie kommen aber vereinzelt in Beispielen mit Funktionssymbolen vor, bis auf einem Ausnahme (als Zwischendo-minante zur Doppeldominante) immer als Doppeldominante, meist in der Form eines übermäßigen Quintsex-takkords (vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 147-15).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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dar. Die zweite Umkehrung des Akkords (mit der tiefalterierten Quint im Bass), des-g-h, ergibt

den „übermässigen Quartsextaccord“.340

Abbildung 160: der übermäßige Quartsextakkord

Riemann addiert nun zum ursprünglichen Akkord g-h-des – mit und ohne Grundton – die kleine

Sept; so erhält er die Akkorde g-h-des-f bzw. h-des-f. Er verwendet wieder die Umkehrung mit

verminderter Quint im Bass: des-f-g-h ergibt den „übermässigen Terzquartsextaccord“ –

welchen Riemann als g75> bzw. D7

5> bezeichnet –, des-f-h den „übermässigen Sextaccord“

(Abb. 161).341

Abbildung 161: übermäßiger Terzquartakkord und Sextakkord – abgeleitet von der Dominante

In a-Moll geht Riemann vom Akkord oa bzw. von der Mollsubdominante aus: die Unterquint

von d-f-a wird zu dis-f-a erhöht, bei Riemann ausgedrückt durch aV< bzw. durch das Funktions-

340 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 172. Schenker und Schönberg nennen in ihren Abhandlungen

keinen übermäßigen Quartsextakkord. Laut Amon ist der übermäßige Quartsextakkord selten und hat haupt-sächlich doppeldominantische Funktion (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 35). Riemann erwähnt den übermäßigen Quartsextakkord vermutlich einzig aus dem Grund, weil er später nur durch die entsprechende Anwendung in Moll (Erhöhung der Unterquint) zum übermäßigen Sextakkord in Moll gelangt.

341 Die entsprechende Bezeichnung für den „übermässigen Sextaccord“ mit durchgestrichenem „Klangbuchstaben“ bzw. Funktionszeichen bleibt Riemann hier schuldig.

Riemann bezeichnet den übermäßigen Terzquartakkord als „Terzquartsextaccord“, obwohl sich die General-bassterminologie für gewöhnlich mit der Bezeichnung „Terzquartakkord“ zufrieden gibt – wohl um „übermäßi-ge Sext“ zu betonen. Dasselbe gilt für Riemanns Bezeichnungen „Sekundquartsextaccord“ und „Terzquintsex-taccord“: die herkömmlichen Bezeichnungen lauten „Sekundakkord“ und „Quintsextakkord“. Es stellt sich die Frage, ob für Riemann die Umkehrung mit (tiefalterierter) Quint im Bass Voraussetzung ist, oder ob die übermäßigen Sextakkorde nicht auch in anderen Umkehrungen auftreten können – aus seinen Be-zeichnungen der Akkorde lässt sich dies nicht eindeutig bestimmen, denn er notiert die verminderte Quint nicht unterhalb des „Klangbuchstabens“ bzw. des Funktionszeichens. Nur den „übermässigen Sekundquartsextac-cord“ in Dur notiert Riemann in der Umkehrung (7 unterhalb des Funktionszeichens). Aus den Ausführungen Riemanns geht nicht hervor, ob er – ähnlich wie Schenker – alle Umkehrungen dieser Akkordbildungen zulässt und nur deshalb die Umkehrung mit Quint im Bass nennt, um die Generalbassbezeichnung nachzuempfinden.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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zeichen SV<.342 Den „übermässigen Sextaccord“ in Moll erhält Riemann durch die erste Um-

kehrung von dis-f-a: f-a-dis (Abb. 162).343

Abbildung 162: der übermäßige Sextakkord – abgeleitet von der Mollsubdominante

Auch in Moll gibt es für Riemann einen „übermässigen Terzquartsextaccord“: Dieser Akkord

wird durch Hinzufügen der „Unterseptime“ h zur Mollsubdominante mit verminderter (erhöh-

ter) Quint gebildet und in dieselbe Lage wie der übermäßige Sextakkord gebracht: f-a-h-dis,

auch aVIIV< oder SVII

V< (Abb. 163).344

Abbildung 163: der übermäßige Terzquartakkord – abgeleitet von der Mollsubdominante

Für den Dualisten Riemann bilden in Dur und Moll also unterschiedliche Transpositionen der-

selben Akkordstruktur den übermäßigen Sextakkord und den übermäßigen Terzquartakkord.345

Die beiden von der Mollsubdominante abgeleiteten Klänge können mit dem nach heutigem

Verständnis doppeldominantischen übermäßigen Sext- bzw. Terzquartakkord verglichen werden

– der Unterschied ist aber, dass Riemann den Grundton der Subdominante als hochalteriert ver-

steht (d zu dis in a-Moll bzw. f zu fis in c-Moll, Abb. 162), bei der Doppeldominante ist die

Quint (fis zu f in a- bzw. a zu as in c-Moll) der tiefalterierte Ton.

342 In Dur bedeutet „verminderte Quinte“, dass diese erniedrigt wird; in Moll führt eine Erhöhung der Quint (nach

Riemanns Auffassung d im d-Mollakkord d-f-a) zu ihrer Verminderung. Riemanns Herleitung des übermäßigen Sextakkordes in Moll entspricht also nicht derjenigen in Dur: Der über-mäßige Sextakkord in Dur ist ein Septakkord ohne Grundton, der übermäßige Sextakkord in Moll ist ein Drei-klang mit erhöhter Unterquint.

343 Hier macht sich die Problematik des Dualismus auch noch auf eine weitere Weise bemerkbar: Der Akkord dis-f-a ist für Riemann in a-Moll Subdominante mit erhöhter Unterquint (eigentlich Grundton), das heißt dis ist der alterierte Ton. Derselbe Akkord stellt in E-Dur einen Dominantseptakkord mit erniedrigter Quint ohne Grund-ton dar; in diesem Fall ist aber f der alterierte Ton. Da Riemann die Terz der Mollsubdominante ohnehin als Leitton (nach unten) ansieht, ergeben sich jedoch die Weiterführung der alterierten Töne betreffend keine Dis-krepanzen.

344 Auch den Akkord h-dis-f-a bezeichnet Riemann also als von der Subdominante d-f-a hergeleitet, obwohl dieser, wenn man nach der Terzenschichtung geht, einen neuen Grundton besitzt (h) – dies würde sich allerdings nicht in das dualistische System Riemanns einfügen. Übertragen in die heutige Terminologie lautet Riemanns Herlei-tung des übermäßigen Terzquartakkordes in Moll folgendermaßen: Mollsubdominante mit hinzugefügter ho-chalterierter Sext und hochalteriertem Grundton.

345 In Dur stehen übermäßiger Sextakkord und Terzquartakkord auf der erniedrigten II. Stufe, des in C-Dur (als Umkehrung der VII., h, bzw. V. Stufe, g), in Moll auf der VI. Stufe, as in c-Moll (der Ausgangsakkord befindet sich auf der erhöhten IV. Stufe, fis, bzw. auf der II. Stufe, d).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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„Septimenaccorde mit übermässiger Quinte“

Nun greift Riemann das Erhöhen der Quint beim Mollakkord auf und wendet es in Dur auf den

Dominantseptakkord an: er erhält so den Akkord g-h-dis-f. Die vierte Umkehrung dieses Vier-

klangs ergibt f-g-h-dis, den „übermässigen Sekundquartsextaccord“, g75< bzw. D7

5< (Abb.

164).346

Abbildung 164: übermäßiger Sekundakkord

Die erste Umkehrung des „Mollseptimenaccordes mit übermässiger Quinte“ (Unterquint im

Bass) ergibt des-f-a-h, den „übermässigen Terzquintsextaccord“ (Abb. 165) – dieser ent-

spricht jedoch nicht dem heute als „übermäßigen Quintsextakkord“ bekannten Zusammenklang

(des-f-as-h). Riemann drückt ihn durch aVIIV> bzw. SVII

V> aus.347

Abbildung 165: übermäßiger Quintsextakkord

„Übermässige Sextaccorde“

Die nach Riemanns Terminologie „übermässigen Sextaccorde“ sind Dur- bzw. Mollakkorde

mit hinzugefügter übermäßiger Sext, Riemann nennt die Dursubdominante und die Molldomi-

nante: f-a-c-dis in C-Dur, abgekürzt f6< bzw. S6<, und des-e-g-h in a-Moll, hVI> bzw. DVI> (Abb.

166).348

346 Hier notiert Riemann die Umkehrung auch beim „Klangbuchstaben“ bzw. beim Funktionszeichen, was er zuvor

bei den übermäßigen Sext- und Terzquartakkorden in Dur und Moll nicht gemacht hatte. Dies legt den Schluss nahe, dass Riemann nur den übermäßigen Sekundakkord immer als Umkehrung verstanden wissen will.

347 Auch hier verzichtet Riemann auf die Darstellung der Umkehrung bei „Klangbuchstabe“ und Funktionszeichen. 348 Es ist logisch, dass Riemann die Bezeichnung „übermäßige Sextakkorde“ nicht für die Akkorde mit alterierter

Quint übernehmen kann, da er die Dur- und Mollakkorde mit hinzugefügter Sext als „Sextakkorde“ bezeichnet. Die einleuchtende Folgerung daraus ist, dass als „übermäßige Sextakkorde“ Dur- und Mollakkorde mit hinzu-gefügter übermäßiger Sext bezeichnet werden müssen.

Der Akkord f-a-c-dis hat die gleiche Intervallstruktur wie der übermäßige Quintsextakkord, steht aber auf einer anderen Stufe. Er ist heute als „Subdominantquintsextakkord mit übermäßiger Sext“ bekannt und löst sich ent-weder in die Tonika oder in den kadenzierenden Quartsextakkord der Dominante auf (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 39).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Abbildung 166: Dur- und Mollakkord mit hinzugefügter übermäßiger (Unter-)Sext

Wie schon aus der Kapitelüberschrift („Alterierte Accorde und übermässige Sextaccorde“) her-

vorgeht, zählt Riemann diese beiden Akkordbildungen nicht zu den alterierten Akkorden, weil

der Dur- bzw. Mollakkord unverändert bleiben, wohingegen bei den „verminderten“ und

„übermäßigen Quintakkorden“ der Dur- bzw. Mollakkord alteriert wird. Schenker hingegen

rechnet Akkorde mit übermäßiger Quint nicht zu den alterierten Akkorden – für ihn sind sie

„Durchgangserscheinungen“, da sich in ihnen die verminderte Terz nicht zwischen Terz und

Quint des Akkords befindet.349

Übermäßiger Quintsextakkord

Bei seiner Aufzählung der „verminderten Quintaccorde“ im Handbuch der Harmonielehre ver-

gisst Riemann eine bestimmte Akkordbildung, die er aber innerhalb der Aufgaben mehrfach

angibt350: den Dominantseptakkord mit kleiner None, verminderter Quint und ausgelassenem

Grundton (Abb. 167) – heute als übermäßiger Quintsextakkord bekannt.

349 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 374-378. Laut Riemann unterscheidet die Generalbassterminologie trotz unterschiedlicher Intervallstruktur nicht zwi-

schen f-a-c-dis und des-f-a-h („Mollseptimenaccord mit übermässiger Quinte“) – beide Akkorde werden „übermässiger Quintsextaccord“ genannt; ebenso sei die Generalbassbezeichnung für die verschiedenen Ak-korde des-e-g-h und f-g-h-dis (Dominantseptakkord mit übermäßiger Quint) dieselbe: „übermässiger Sekund-quartsextaccord“. Riemann unterscheidet jedoch die „Septimenaccorde mit übermässiger Quinte“ (g-h-dis-f und h-des-f-a) von seinen „übermässigen Sextaccorden“ f-a-c-dis und des-e-g-h, da diese eine übermäßige Sekunde enthalten, die „Septimenaccorde mit übermässiger Quinte“ dagegen nicht. Nicht klar ist, wieso Riemann hier nicht die beiden übermäßigen Sekunden aus seinen Beispielen (c-dis und des-e) nennt, sondern die nach seinem Verständnis übermäßigen Sextakkorde auf die C-Dur- bzw. die a-Moll-Tonika transponiert (c-e-g-ais und ges-a-c-e) und die resultierenden übermäßigen Sekunden g-ais und ges-a in seinem Text erwähnt (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 173).

350 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 182/439, S. 185/458, S. 206/474, S. 207/475 und S. 211/496 – der übermäßige Quintsextakkord hat hier zumeist doppeldominantische Funktion. In der Bezeichnung Riemanns fehlt die „7“ (z.B. h9>

5> mit durchgestrichenem Klangbuchstaben), jedoch wird diese „als selbstverständlich in-begriffen angenommen […], wenn die 9 verlangt ist“ (vgl. ebd., S. 16).

Im Elementar-Schulbuch der Harmonielehre zählt Riemann den übermäßigen Quintsextakkord u.a. als verkürz-ten Dominantseptnonakkord mit verminderter Quint auf (des-f-as-h in C-Dur); die Beispiele zeigen wie im Handbuch der Harmonielehre eine überwiegend doppeldominantische Verwendung dieses Akkords. Der Beg-riff „übermäßiger Terzquintsextakkord“ steht bei Riemann aber auch für den „großen Durterznonenakkord mit verminderter Quinte“, des-f-a-h in C-Dur, und den „Mollseptimenakkord mit übermäßiger Quinte“, des-f-a-h in a-Moll bzw. d-fis-as-c in c-Moll (vgl. Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 167 f.).

In der Vereinfachten Harmonielehre erwähnt Riemann die übermäßigen Sextakkorde überhaupt nicht; in den Beispielen kommen diese aber manchmal vor – fast immer doppeldominantisch und meist als übermäßiger Quintsextakkord (vgl. Vereinfachte Harmonielehre, S. 147-153).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Abbildung 167: der übermäßige Quintsextakkord als Dominantseptnonakkord mit verminderter Quint und ohne Grundton351

Verwendung der übermäßigen Sextakkorde

Es fällt auf, dass Riemann im Zuge der Beschreibung der übermäßigen Sextakkorde kein einzi-

ges Notenbeispiel bringt. Außerdem erwähnt er nichts über Weiterführung und Verwendung der

übermäßigen Sextakkorde. Die Aufgaben am Ende des Kapitels geben jedoch Aufschluss dar-

über, dass Riemann gemäß seiner Theorie von den Funktionen der Akkorde die von der Subdo-

minante abgeleiteten übermäßigen Sextakkorde immer in die Dominante führt, und dass er jene

von der Dominante abgeleiteten übermäßigen Sextakkorde in dominantischem Sinn verwendet

– auch als Zwischen- oder Doppeldominante.352 Über die Stimmführung verliert Riemann eben-

falls kein Wort, doch zeigen zwei „Musterbeispiele“ Riemanns die Auflösung übermäßiger Sex-

takkorde (Abb. 168 und 169).353

Abbildung 168: doppeldominantische Verwendung des übermäßigen Terzquartakkords aus Moll (vgl. Rie-mann, Handbuch der Harmonielehre, S. 177)

Abbildung 169: doppeldominantische Verwendung des übermäßigen Quintsextakkords354 (vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 149)

351 Hier hat der übermäßige Quintsextakkord die Funktion als Zwischendominante. Bei Riemann ist der Klang-

buchstabe gis (erster Akkord) natürlich durchgestrichen. 352 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 179-186. Riemanns von der Mollsubdominante abgeleitete über-

mäßige Sextakkorde decken sich also mit der doppeldominantischen Verwendung der übermäßigen Sextakkor-de. Im Handbuch der Harmonielehre werden die von der Dominante abgeleiteten übermäßigen Sextakkorde hauptsächlich als Dominante eingesetzt, oft auch als Zwischendominante (meist als Zwischendominante zur Subdominante), aber auch als Doppeldominante.

353 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 177/128 bzw. Vereinfachte Harmonielehre, S. 149/156. 354 Das Funktionszeichen der Doppeldominante (erster Akkord) ist bei Riemann natürlich durchgestrichen. Hier

nimmt Riemann sogar aus melodischen Gründen die Umdeutung von der kleinen Non zur übermäßigen Oktav vor (ges zu fis) – ohne sie in seiner Funktionsschrift zu berücksichtigen. Vgl. dazu Schönberg, Harmonielehre, S. 297 f.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Schenker

Herleitung der alterierten Akkorde

Schenker fasst die übermäßigen Sextakkorde unter dem Begriff „alterierte Akkorde“ zusammen.

Für ihre Herleitung geht er zunächst vom Vierklang auf der V. Stufe in C-Dur, g-h-d-f, aus. Er

lässt die Quint d weg, weil der Dominantseptakkord auch so weiterhin „eindeutig“ ist.355

Gleichzeitig baut Schenker auf g einen halbverminderten Septakkord auf: g-b-des-f, welcher in

(f-)Moll leitereigen auf der II. Stufe steht. Auch bei diesem Vierklang entfernt Schenker aus

ähnlichen Gründen wie beim Dominantseptakkord einen Ton – hier die Terz b – und erhält so g-

des-f. Schenker verbindet die beiden „Akkordreste“ zum Klang g-h-des-f, mit h als Dominant-

terz von C-Dur und des als tiefalterierte Quint der II. Stufe in f-Moll (Abb. 170).356 Schenker

beschreibt den Effekt dieses Akkords als den „zweier verschiedener Stufen in zwei verschiede-

nen Tonarten“.357

Abbildung 170: die Verbindung der V. Stufe in C-Dur und der II. Stufe in f-Moll ergibt den alterierten Ak-kord g-h-des-f (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 367-368)

Durch den zusammengesetzten Akkord g-h-des-f erhält Schenker zwei neue Intervalle: die ver-

minderte Terz h-des und ihre Umkehrung, die übermäßige Sext des-h. Diese beiden Intervalle

sind laut Schenker „stets das Kennzeichen eines alterierten Zustandes“.358

Übermäßiger Terzquartakkord, Übermäßiger Sextakkord und übermäßiger Quintsextak-

kord

Schenker erwähnt nun die von ihm festgestellte „psychologische Verwandtschaft“359 des Domi-

nantseptakkords g-h-d-f mit dem Dreiklang (VII3: h-d-f) und den beiden Septakkorden auf der

VII. Stufe in C-Dur (VIIí7: h-d-f-a) bzw. C-„Dur/Moll“ (VIIÌ7: h-d-f-as) und alteriert die Quint

(bzw. Terz) d dieser „eindeutigen Erscheinungen“ zu des. Schenker begründet die Übertragung

355 Schenker, Harmonielehre, S. 367. Der verbleibende Zusammenklang g-h-f hat nämlich noch immer als einziger

diatonischer Akkord die Intervallstruktur mit kleiner Sept (g-f) und verminderter Quint zwischen Terz und Sept (h-f) (vgl. ebd.).

356 Schenker vergleicht dieses Vorgehen mit seiner „Mischung“, nur dass hier zwei unterschiedliche Tonarten – hier C-Dur und f-Moll – miteinander verbunden werden (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 369).

357 Schenker, Harmonielehre, S. 368 f. 358 Schenker, Harmonielehre, S. 369 (im Original gesperrt). Schenker zieht auch den Umkehrschluss: Er verweist

an anderer Stelle darauf, dass nur Akkorde, die dieses Intervall zwischen Terz und Quint enthalten, zu den alte-rierten Akkorden gehören/zu zählen sind (vgl. ebd. S. 374 f.).

Die beiden Intervalle verminderte Terz und übermäßige Sext komplettieren außerdem Schenkers Liste der durch Diatonie und Mischung möglichen Intervalle (vgl. ebd., S. 157 f.).

359 Vgl. ebd., S. 250 f.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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des Intervalls h-des auf den Dominantseptakkord und die ihm verwandten Akkorde damit, „daß

ja der V3-Akkord eine der Voraussetzungen des Alterationsprozesses bildet“.360 Schenker ver-

zichtet kommentarlos auf die Alterierung des Septakkords auf der VII. Stufe in Dur (h-d-f-a)361;

er erhält also drei alterierte Akkorde (und ihre Umkehrungen), die alle die verminderte Terz (h-

des) bzw. die übermäßige Sext (des-h) enthalten (Abb. 171).

Abbildung 171: Alterierung der eindeutigen Erscheinungen V7, VII und VIIÌ7 (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 370-371)

Der übermäßige Terzquartakkord ist für Schenker Dominantseptakkord mit tiefalterierter

Quint, der übermäßige Sextakkord hat für Schenker die Bedeutung eines Dominantseptak-

kords ohne Grundton mit tiefalterierter Quint und der übermäßige Quintsextakkord ist Domi-

nantseptakkord ohne Grundton mit kleiner None und tiefalterierter Quint.362 Schenker findet für

alle drei Akkorde und deren Umkehrungen eine Bezeichnung: „II + V oder ganz präzise: II in

F-moll + V in C-dur“, da eine einzelne Stufenzahl der „vereinigten Wirkung zweier Stufen“

nicht gerecht werden würde.363 Schenker kritisiert, dass die „Verfasser der bisherigen Lehrbü-

cher“ nur diejenige Umkehrung der drei Akkorde anführen, in der die tiefalterierte Quint in der

Bassstimme steht (Abb. 172).364

360 Ebd., S. 370. Schenker könnte die verminderte Terz h-des innerhalb von C-Dur und c-Moll ja ebenfalls auf die

Septakkorde der dritten Stufe (e-g-h-d und es-g-b-d) anwenden. 361 Vermutlich führt er den zusammengesetzten Akkord h-des-f-a nicht an, weil sich sonst zwei verschiedene

Quintsextakkorde ergeben würden. Nebenbei bemerkt ist h-des-f-a jener Akkord, den Riemann in der Umkeh-rung des-f-a-h als „übermässigen Terzquintsextaccord des Generalbasses“ bzw. als „Mollseptimenaccord mit übermässiger Quinte“ bezeichnet (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 173).

362 Den Grundton (g) des übermäßigen Sextakkordes und des übermäßigen Quintsextakkordes muss man „in Ge-danken ergänzen“ (Schenker, Harmonielehre, S. 374 f.). Schenker bezeichnet Alterierungen an den Stufen als V7

Ì5, VIIí5Ì3 und VIIÌ7

Ì3 (vgl. ebd., S. 370). 363 Schenker, Harmonielehre, S. 370. 364 Ebd., S. 371. Daraus lässt sich schließen, dass Schenker alle Umkehrungen dieser übermäßigen Sextakkorde

anerkennt (vgl. Keller, Wilhelm: Heinrich Schenkers Harmonielehre. In: Beiträge zur Musiktheorie des 19. Jahrhunderts. Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Band 4, hrsg. von Martin Vogel. Regensburg: Gustav Bosse 1966, S. 203-232, hier S. 228).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Abbildung 172: die "gebräuchlichen" Umkehrungen der alterierten Akkorde

Anwendung der übermäßigen Sextakkorde

Schenker schließt aus der festgestellten Zusammensetzung von g-h-des-f, h-des-f und h-des-f-as

aus zwei verschiedenen Stufen, dass diese alterierten Akkorde auch auf zwei verschiedene Ar-

ten verwendet werden können: als II. Stufe in f-Moll oder als V. Stufe in C-Dur. Das bedeutet

für die Anwendung dieser alterierten Akkorde, dass ihnen entweder eine V. und eine I. (wenn

der alterierte Akkord als II. Stufe gedacht ist) oder nur eine I. Stufe (wenn der alterierte Akkord

eine V. Stufe darstellen soll) folgen kann: II+V – V – I (in f-Moll) oder II+V – I (in C-Dur)

(Abb. 173).365 Der alterierte Akkord hat also die Funktion als Doppeldominante oder als Domi-

nante. Für Schenker stehen beide Varianten der Weiterführung der alterierten Akkorde gleichbe-

rechtigt nebeneinander.

Abbildung 173: Verwendung der alterierten Akkorde als II. oder als V. Stufe

Die Existenzberechtigung dieser alterierten Akkorde begründet Schenker mithilfe der „Tonika-

lisierung“366: Er erklärt die „kombinierte Wirkung zweier Stufen und zweier Tonarten“ der alte-

rierten Akkorde als dritten denkbaren Weg der „Tonikalisierung“ – als Verbindung der II. und

der V. Stufe.367 Dabei wird „der allzu eindeutige Charakter des V7-Akkords durch das g l e i c h -

z e i t i g hinzutretende Element einer zweiten Stufe in Moll gemildert“.368

Schenker bringt drei Ausschnitte aus Musikwerken369; die Analyse Schenkers zeigt eindeu-

tig, dass Schenker den übermäßigen Sextakkord und Quintsextakkord als Vertreter des übermä-

365 Schenker spricht hier von der Grundstellung der I. Stufe – nicht wie Schönberg, der ebenfalls von einer I. Stufe

spricht (in zweiter Umkehrung), aber in Wirklichkeit den Vorhaltsquartsextakkord der V. Stufe meint (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 296, 298).

366 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 343 ff. 367 Die erste Möglichkeit war das Voranstellen eines Dominantseptakkordes; die zweite, eine zusätzliche II. Stufe

vor dem Dominantseptakkord zu bringen. Die Verwendung der übermäßigen Sextakkorde zur Tonikalisierung lässt sich mit ihrer Anwendung als Zwischendominante vergleichen.

368 Schenker, Harmonielehre, S. 372 (Sperrung im Original). 369 Vgl. ebd., S. 373 f.: Schenker nimmt jedoch zu seiner Analyse im Text keine Stellung.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

100

ßigen Terzquartakkords ansieht (Abb. 174) – so wie er den verminderten Septakkord als Vertre-

ter des Dominantseptakkords auffasst.370

Abbildung 174: die alterierten Akkorde können einander vertreten

Schenker betont, dass das Vorhandensein einer verminderten Terz allein nicht auf einen alterier-

ten Akkord schließen lässt, sondern dass auch die Lage dieser verminderten Terz innerhalb des

Akkords eine Bedeutung hat. So gelten laut Schenker nur jene Akkorde als alteriert, in denen

sich die verminderte Terz zwischen Terz und Quint befindet.371 Das bedeutet im Fall des über-

mäßigen Sextakkords und des übermäßigen Quintsextakkords, dass Schenker sie als Akkorde

mit weggelassenem Grundton betrachten muss, da sie andernfalls für ihn nicht als alterierte Ak-

korde gelten würden.

Schönberg

Übermäßiger Quintsextakkord

Schönberg geht für die Herleitung des übermäßigen Quintsextakkords – anders als Riemann und

Schenker vor ihm – von einem Akkord auf der II. Stufe aus. Zunächst zeigt er die „gewöhnliche

Ableitung“: In C-Dur wird der Septakkord auf der II. Stufe in seiner ersten Umkehrung gebracht

(f-a-c-d), dann sein Grundton und seine Terz erhöht und seine Quint erniedrigt, sodass sich der

Akkord fis-as-c-dis ergibt. In c-Moll entsteht der übermäßige Quintsextakkord durch Hochalte-

ration des Grundtones beim Septakkord auf der IV. Stufe (f-as-c-es wird zu fis-as-c-es) (Abb.

175). Diese beiden Akkorde (fis-as-c-dis als II. Stufe in Dur und fis-as-c-es als IV. Stufe in

Moll) sind „im Klang gleich und in der Funktion ziemlich ähnlich“.372

370 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 250 f. In einem Beispiel findet sich der arpeggierte Akkord b2-gis2-f2-d2 und

im Zuge einer Sequenz seine transponierte Fassung g2-es2-cis2-b1; beide bezeichnet Schenker als IIÌ5 + Vì3. Die-se Intervallzusammensetzung hatte Schenker zuvor als Septakkord der VII. Stufe in „Dur/Moll“ (also als über-mäßigen Quintsextakkord) charakterisiert. Diesem Notenbeispiel fügt Schenker in einem zusätzlichen Basssys-tem Grundtöne hinzu – er ergänzt die beiden übermäßigen Quintsextakkorde um e bzw. a. Dies bestätigt, dass Schenker den übermäßigen Quintsextakkord als „Vertreter“ des (Doppel-)Dominantseptakkordes mit vermin-derter Quint (bzw. des übermäßigen Terzquartakkordes, hier e-gis-b-d bzw. a-cis-es-g) ansieht. (Analog dazu sieht Schenker den verminderten Septakkord als Stellvertreter des Dominantseptakkordes an.)

Riemann bringt im Handbuch der Harmonielehre zwei Beispiele, die den übermäßigen Terzquartakkord und den übermäßigen Quintsextakkord zum vollständigen Dominantseptnonakkord mit tiefalterierter Quint vereini-gen (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 181/431 und S. 209/488).

371 Die Akkorde f-a-es-cis und e-gis-b-cis z.B. enthalten zwar auch eine verminderte Terz bzw. übermäßige Sext (cis-es bzw. gis-b); diese kommen aber zwischen einer übermäßigen Quint und einer kleinen Sept bzw. zwi-schen einer zur reinen erhöhten Quint und einer verminderten Sept vor. Beide erhöhten Quinten (Schenker mei-det den Begriff „hochalteriert“) sieht Schenker als „durchgehende Erscheinung“ an (Vgl. Schenker, Harmonie-lehre, S. 376 f.).

372 Schönberg, Harmonielehre, S. 296.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Abbildung 175: der übermäßige Quintsextakkord in Dur und Moll (Schönberg, Harmonielehre, S. 296)

Bald stellt Schönberg jedoch die zuvor vorgestellte Herleitung des übermäßigen Quintsextak-

kords (von der II. Stufe in Dur bzw. der IV. Stufe in Moll) in Frage, da er einerseits die Erhö-

hung des Grundtones, andererseits das Abstammen des Akkords von zwei verschiedenen Stufen

problematisch findet. Daher nennt Schönberg nun seine Auffassung des übermäßigen Quint-

sextakkords: Er bildet auf der II. Stufe – gleichermaßen in C-Dur und in c-Moll – den „Neben-

dominant-Sept-Non-Akkord“ d-fis-a-c-es; dann lässt er den Grundton (d) weg und erniedrigt die

Quint a zu as (Abb. 176).

Abbildung 176: Ableitung des übermäßigen Quintsextakkords aus dem Nebendominantseptakkord der II. Stufe (Schönberg, Harmonielehre, S. 297)

Nur in der Stellung fis-as-c-es nennt Schönberg den Zusammenklang „übermäßigen Quintsext-

akkord“373 – die weiteren Umkehrungen dieses Akkords haben bei Schönberg eine eigene Be-

zeichnung. Für Schönberg ist es ohne Weiteres möglich, dass statt es dis im Akkord auftritt; er

begründet dies mit der schon beim verminderten Septakkord verwendeten enharmonischen Um-

deutung von es zu dis.374

Schönberg sieht den übermäßigen Quintsextakkord als Vertreter hauptsächlich der II., aber

auch der IV. Stufe an. Ihm kann sowohl der kadenzierende Quartsextakkord folgen – Schönberg

sieht diesen jedoch als dritte Umkehrung der I. Stufe an – als auch der Dreiklang der V. Stufe

(Abb. 177). Schönberg erwähnt, dass sich beim Auflösen des übermäßigen Quintsextakkords in

373 Somit wird Schönbergs übermäßiger Quintsextakkord zwar durch dieselben Töne gebildet wie der heute be-

kannte, jedoch in einer anderen Umkehrung: die heutige Theorie sieht den Quintsextakkord as-c-es-fis als übermäßigen Quintsextakkord an, Schönberg den verkürzten Nonenakkord mit Terz im Bass, fis-as-c-es. Schönberg übernahm wohl nur deshalb den Begriff „Quintsextakkord“, weil er damit ausdrücken will, dass es sich um eine (erste) Umkehrung handelt.

374 Schönberg, Harmonielehre, S. 237 f. Schönberg ist bei enharmonischer Verwechslung, die der leichteren Les-barkeit bzw. dem besseren Verständnis dient, prinzipiell nicht so streng (vgl. ebd., S. 307, 319, 424, 456). Aber sogar Riemann nimmt aus melodischen Gründen diese Umdeutung von der kleinen Non zur übermäßigen Oktav vor – ohne sie in seiner Funktionsschrift zu berücksichtigen: In einem von ihm ausgesetzten Beispiel (ei-nem sogenannten „Musterbeispiel“) folgt einem doppeldominantischen übermäßigen Quintsextakkord der ka-denzierende Dur-Quartsextakkord der Dominante in Es-Dur, ces-es-a-fis – b-es-b-g statt ces-es-a-ges – b-es-b-g (vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 149/156).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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den Dreiklang der V. Stufe parallele Quinten ergeben (die sogenannten „Mozart-Quinten“),

welche für Schönberg zulässig sind, „weil sie Mozart geschrieben hat“375 (Abb. 177, T. 3).

Abbildung 177: Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords in die V. Stufe (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 297)

Aus der Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords in die V. („authentischer Schritt“) und in

die I. Stufe („trugschlussartiger Schritt“) folgert Schönberg, dass auch die Fortsetzung des

übermäßigen Quintsextakkords in die III. Stufe (zweiter Trugschlussschritt) möglich ist (Abb.

178).376

Abbildung 178: Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords in die III. Stufe (Schönberg, Harmonielehre, S. 297)

Der übermäßige Quintsextakkord wird „in Dur eingeführt, wie die Akkorde der Mollunterdomi-

nantbeziehungen; in Moll ähnlich wie eine Nebendominante oder ein verminderter 7-

Akkord“377, tritt demnach in Dur als Doppeldominante auf und in Moll als Zwischendomi-

nante.

Umkehrungen des übermäßigen Quintsextakkords

Schönberg geht nicht mit der gängigen Meinung konform, dass der übermäßige Terzquartak-

kord einen anderen Akkord darstellt als der übermäßige Quintsextakkord.378 Schönbergs Auf-

fassung ist, dass der übermäßige Terzquartakkord und der übermäßige Sekundakkord „Umkeh-

rungen desselben Stammakkords“ sind.379 Der übermäßige Terzquartakkord ist bei Schön-

berg demnach zweite Umkehrung des „Stammakkords“ (d)-fis-as-c-es (bzw. erste Umkehrung

375 Schönberg, Harmonielehre, S. 296. 376 Ebd., S. 298. 377 Ebd. 378 Ebd., S. 296 (Anm.). 379 Ebd., S. 299.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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des übermäßigen Quintsextakkords fis-as-c-es) und lautet as-c-es-fis380 (Abb. 179, T. 2). Der

übermäßige Sekundakkord lautet c-es-fis-as und ist zweite Umkehrung des übermäßigen

Quintsextakkords (bzw. dritte Umkehrung des Stammakkords, Abb. 179, T. 3). Mit Schönbergs

Auffassung des übermäßigen Terzquartakkords und des übermäßigen Sekundakkords als Um-

kehrungen des übermäßigen Quintsextakkords erübrigt sich, über deren Verwendung zu spre-

chen: „Sie stehen dort, wo der übermäßige 56-Akkord stehen kann, und die melodische Linie

einen anderen Baßton verlangt.“381

Abbildung 179: übermäßiger Terzquartakkord und übermäßiger Sekundakkord als Umkehrungen des über-mäßigen Quintsextakkords (Schönberg, Harmonielehre, S. 299)

Schönberg nennt weiters noch eine vierte Umkehrung des Nonenakkords d-fis-as-c-es: es-fis-as-

c oder dis-fis-as-c (Abb. 180).382

Abbildung 180: vierte Umkehrung des Nonenakkords (Schönberg, Harmonielehre, S. 299)

Übermäßiger Sextakkord

Den übermäßigen Sextakkord erhält Schönberg ebenfalls aus dem übermäßigen Quintsextak-

kord fis-as-c-es: Dieser ergibt sich, wenn man die None des „Stammakkords“ d-fis-as-c-es bzw.

die Sept des übermäßigen Quintsextakkords (es) weglässt. Möglich sind laut Schönberg alle

Umkehrungen: fis-as-c, as-c-fis (der eigentliche übermäßige Sextakkord) und c-fis-as (Abb.

181).383 Der übermäßige Sextakkord wird an denselben Stellen eingesetzt wie der übermäßige

380 Diese Umkehrung – as-c-es-fis – nennt die heutige Theorie „übermäßigen Quintsextakkord“. 381 Schönberg, Harmonielehre, S. 299. 382 Ebd., S. 300. Schönberg, ist der Meinung, dass diese mögliche vierte Umkehrung seine Herleitung des übermä-

ßigen Quintsextakkords als richtig bestätigt. Denn bei der Entstehungsweise des übermäßigen Quintsextakkords aus dem Septakkord der II. Stufe in Dur bzw. der IV. Stufe in Moll ist eine vierte Umkehrung des Akkords nicht zielführend, da sie wieder den Ausgangsakkord ergeben würde. Eine vierte Umkehrung des übermäßigen Quintsextakkords gibt es aber nur deshalb, weil Schönberg den übermäßigen Quintsextakkord schon als erste Umkehrung ansieht (eine „Grundstellung“ existiert jedoch nicht, weil der Grundton weggelassen ist). Inwiefern jedoch die Möglichkeit einer vierten Umkehrung Schönbergs Ableitung des übermäßigen Quintsextakkords vom Nonenakkord bekräftigen soll, ist jedoch nicht klar. Vermutlich versucht Schönberg lediglich, seine Theo-rie der Umkehrung von Nonenakkorden (vgl. ebd., S. 416-419) zu untermauern.

383 Was die Benennung der übermäßigen Sextakkorde betrifft, ist in Schönbergs Theorie eine gewisse Unlogik spürbar: Fast jede Umkehrung des alterierten Nonenakkords erhält bei Schönberg einen eigenen Namen (nicht die vierte Umkehrung), jedoch trifft dies nicht auf die Umkehrungen des übermäßigen Sextakkordes zu.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Quintsextakkord und seine Umkehrungen, Schönbergs Ansicht nach „dann, wenn man sich

nicht traut, Quinten zu schreiben“.384

Abbildung 181: übermäßiger Sextakkord (Schönberg, Harmonielehre, S. 299)

Schönbergs Aussage, dass der übermäßige Sextakkord dem übermäßigen Quintsextakkord ge-

genübersteht wie der verminderte Dreiklang der VII. Stufe dem Septakkord der V., ist falsch;

richtig hingegen ist die auch geäußerte Ähnlichkeit mit dem Verhältnis des verminderten Drei-

klangs zum verminderten Septakkord (Abb. 182).385 Jedoch zeigt diese Anmerkung Schönbergs,

dass er ähnlich wie Schenker eine Verwandtschaft zwischen all diesen Akkorden erkennen

kann.

Abbildung 182: Verhältnis übermäßiger Sextakkord / Quintsextakkord bzw. verminderter Dreiklang / Septak-kord

Übermäßiger Terzquartakkord

Den heute als übermäßigen Terzquartakkord bekannten alterierten Akkord386 erhält Schönberg

ebenfalls aus der II. Stufe, mittels Alterierung der Terz zur großen und der Quint zur verminder-

ten (Abb. 183) – jedoch erwähnt er nicht die offensichtliche Verwandtschaft mit dem übermäßi-

gen Quintsextakkord. Für Schönberg stellt der Akkord eine „Verbindung der Oberdominant-

(Nebendominant-)Möglichkeiten mit den Mollunterdominantbeziehungen“ dar.387

Abbildung 183: Ableitung des übermäßigen Terzquartakkords aus der II. Stufe (Schönberg, Harmonielehre, S. 308)

384 Schönberg, Harmonielehre, S. 300. 385 Ebd. 386 Schönberg bezeichnet diesen Akkord nur als „noch einen vagierenden“ (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S.

307). 387 Schönberg, Harmonielehre, S. 309. Diese Betrachtungsweise des übermäßigen Terzquartakkords stimmt mit

der Auffassung Schenkers überein, der die alterierten Akkorde als Verbindung der II. und V. Stufe deutet (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 367 f.).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

105

Um die Verbindung des übermäßigen Terzquartakkords mit der erniedrigten II. Stufe, also die

Harmoniefolge II-II (Abb. 184, T. 1) darzustellen, hilft sich Schönberg mit einer Herleitung des

Akkords vom übermäßigen Quintsextakkord (die kleine Non wird zur verminderten, Abb. 184,

T. 2) bzw. vom enharmonisch verwechselten Dominantseptakkord (mit verminderter Quint)

(Abb. 184, T. 3 und 4).388 In beiden Fällen wird der Grundton d des übermäßigen Terzquartak-

kords zu eses umgedeutet.

Abbildung 184: Ableitung des übermäßigen Terzquartakkords vom übermäßigen Quintsextakkord bzw. vom enharmonisch verwechselten Dominantseptakkord (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 308)

Die den Harmonieschritt d-des erklärende Umdeutung zu as-des ist bei den herkömmlichen

Harmoniefolgen der II. Stufe (II-V, II-III und II-I389, Abb. 185) nicht sinnvoll, denn das hieße,

dass der Grundton des übermäßigen Terzquartakkords eigentlich nur eine enharmonische Ver-

wechslung der tiefalterierten Quint ist.390

Abbildung 185: "gebräuchliche" Auflösungen des übermäßigen Terzquartakkords

Schönberg gibt den übermäßigen Terzquartakkord auch als mögliche Deutung des Tristanak-

kords an – wenn gis als Vorhalt zu a betrachtet wird.391

Anwendung der übermäßigen Sextakkorde

In den Notenbeispielen392 – wie fast überall in Schönbergs Harmonielehre in Form von un-

rhythmisierten „Beispielsätzchen“ – zeigt Schönberg die Einführung und Auflösung des über-

mäßigen Quintsextakkords (Abb. 186) bzw. seiner Umkehrungen. Nach Schönberg erfordern

388 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 309. Diese enharmonische Umdeutung des übermäßigen Terzquartakkords

d-fis-as-c ergibt also einen weiteren übermäßigen Terzquartakkord, as-c-eses-ges. Schönberg erkennt dies of-fenbar nicht. Auch nimmt er keinen Bezug darauf, in welchem Verhältnis dieser übermäßige Terzquartakkord zum übermäßigen Quintsextakkord steht (der übermäßige Terzquartakkord besitzt statt der Non des übermäßi-gen Quintsextakkords den Grundton).

389 Der hier als „II-I“ angegebene Fundamentschritt ist keiner, denn die I. Stufe (hier e-g-g-c) ist in Wirklichkeit V. mit Quartsextvorhalt.

390 Schönberg, Harmonielehre, S. 309. Ähnliches lässt sich für den halbverminderten Septakkord der II. Stufe sagen (vgl. ebd.).

391 Vgl. ebd., S. 310 bzw. Kapitel „Tristanakkord“. 392 Schönberg, Harmonielehre, S. 300-304 (Nr. 185).

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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die übermäßigen Sextakkorde im Gegensatz zu den „anderen Septakkorden“ keine Vorberei-

tung.393

Abbildung 186: Einführungsmöglichkeiten des übermäßigen Quintsextakkords (vgl. Schönberg, Harmonieleh-re, S. 300-304)

In Dur werden beide Schreibweisen des übermäßigen Quintsextakkords (fis-as-c-es oder fis-as-

c-dis) bzw. seiner Umkehrungen gebraucht.394 In den Moll-Beispielen wird ausschließlich die

Notierung mit es angewandt. Die Schreibweise mit dis führt in Schönbergs Beispieltonsätzen

immer in den Vorhaltsquartsextakkord der V. Stufe (welchen er jedoch als zweite Umkehrung

der I. Stufe bezeichnet) mit meist anschließendem Dominantseptakkord, in der Schreibweise mit

es folgt dem übermäßigen Quintsextakkord entweder der kadenzierende Quartsextakkord oder

der Dreiklang (oder Septakkord) der V. Stufe (vgl. Abb. 177).

Analog zur „künstlichen Herstellung“ der Dominante, des verminderten Dreiklangs und des

verminderten Septakkords („Nebendominanten“395) überträgt Schönberg nun auch den übermä-

ßigen Quintsextakkord auf alle Stufen.396 Diese werden wie Zwischendominanten eingesetzt

und lösen sich meist in ihre „Nebentonika“397 auf (Abb. 187, T. 2) oder werden trugschlüssig

weitergeführt (Abb. 187, T. 1 und 3) – um einen Sekundschritt des Fundaments, also des nicht

vorhandenen Grundtons abwärts.

393 Ebd., S. 300. Schönbergs Begründung dafür lautet folgendermaßen: Die eigentliche Sept, c in d-fis-as-c-es, ist

im Akkord fis-as-c-es und seinen Umkehrungen verminderte Quint, und die None, es in d-fis-as-c-es, ist in fis-as-c-es verminderte Sept. Beide Intervalle konnten in Schönbergs Harmonielehre schon vorher unvorbereitet eingeführt werden (vgl. ebd., S. 171 f.).

Schönberg führt die übermäßigen Sextakkorde in den Beispielen durch Akkorde auf allen Stufen ein – dabei bevorzugt er das schrittweise und chromatische Erreichen der Akkordtöne.

394 Schönberg bringt in den Dur-Beispielen beide Schreibweisen des übermäßigen Quintsextakkordes und des übermäßigen Sekundakkordes, der übermäßige Terzquartakkord jedoch erscheint in Dur nur mit dis. Auf das mögliche Erscheinen des übermäßigen Terzquartakkords und Sekundakkords mit dis statt es hatte Schönberg jedoch zuvor nicht explizit hingewiesen.

395 Schönberg, Harmonielehre, S. 207 f. 396 Schönberg nimmt gedanklich auch die Übertragung auf die Umkehrungen des übermäßigen Quintsextakkords

und den übermäßigen Sextakkord vor (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 304). 397 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 462.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Abbildung 187: Weiterführungsmöglichkeiten des nebendominantischen übermäßigen Quintsextakkords (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 305)

Auch bei den übermäßigen Sextakkorden kommt Schönbergs „Nachlässigkeit“ bei harmonisch

richtiger Notierung zu tragen, denn er verwechselt des Öfteren Akkordtöne enharmonisch, um

melodisch richtig zu notieren398: „Es ist überflüssig zu sagen, daß es nicht viel zum Zweck hat,

sich den Kopf zu zerbrechen, ob man wegen der harmonischen Bedeutung cis oder des, gis oder

as schreiben soll. Man schreibt das Einfachste.“399

Schönberg weist auch darauf hin, dass der übermäßige Quintsextakkord durch enharmoni-

sche Verwechslung einen Dominantseptakkord darstellt und zeigt, wie man mit diesem Wissen

die Tonart „bereichern“ kann: Indem man die Terz des Nonenakkords (bzw. den Grundton des

übermäßigen Quintsextakkords) enharmonisch verwechselt, wird diese zur Sept eines Domi-

nantseptakkords. Der übermäßige Quintsextakkord ermöglicht so, weit entfernte Tonarten in die

Komposition einzubeziehen: Auf den übermäßigen Quintsextakkord in C-Dur (fis-as-c-es) folgt

normalerweise der Dreiklang oder der Vorhaltsquartsextakkord der V. Stufe (g-h-d oder g-c-e).

Durch die Umdeutung des fis zu ges wird der übermäßige Quintsextakkord zum Dominantsep-

takkord in Des-Dur (as-c-es-ges) (Abb. 188).400 Auf diese Weise gelangt man zu einer um einen

Tritonus entfernten Tonart, also folgt statt der erwarteten V. die erniedrigte II. Stufe.

Abbildung 188: enharmonische Verwechslung des übermäßigen Quintsextakkords zum Dominantseptakkord (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 299)

Schönberg verbindet die übermäßigen Sextakkorde auch mit dem verminderten Septakkord,

dem übermäßigen Dreiklang und dem neapolitanischen Sextakkord (Abb. 189).

398 So notiert Schönberg etwa den künstlichen übermäßigen Quintsextakkord auf der I. Stufe in C-Dur als e-ges-b-

cis statt e-ges-b-des (vgl. Abb. 187, T. 1), oder jenen auf der III. Stufe in Moll statt (es-)g-heses-des-fes als g-a-cis-e (Schönberg, Harmonielehre, S. 304/186).

399 Schönberg, Harmonielehre, S. 307. 400 Diese Umdeutung ist natürlich auch in die andere Richtung möglich: ein Dominantseptakkord wird durch die

enharmonische Umdeutung seiner Sept zum übermäßigen Quintsextakkord.

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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Abbildung 189: die übermäßigen Sextakkorde in Verbindung mit anderen vagierenden Akkorden

Zusammenfassung

Riemann leitet die übermäßigen Sextakkorde – wie auch alle anderen vagierenden Akkorde –

von der Durdominante und von der Mollsubdominante ab. Auf diese Weise ergeben sich im Fall

des übermäßigen Sextakkords und des übermäßigen Terzquartakkords die heute bekannten Ak-

korde. Die dominantische Ableitung des übermäßigen Terzquartakkords und des übermäßigen

Sextakkords als „verminderte Quintakkorde“ stimmt mit der heutigen Theorie überein. Die Ab-

leitung des übermäßigen Terzquartakkords und des übermäßigen Sextakkords von der Mollsub-

dominante enthält zwar dieselben Töne wie der (verkürzte) Doppeldominantseptakkord mit

tiefalterierter Quint; Riemann versteht jedoch im Akkord h-dis-f(-a) das dis als (hoch-)alterier-

ten Ton, während in der Doppeldominante f der (tief-)alterierte Ton ist. Den übermäßigen

Quintsextakkord der heutigen Theorie als verkürzten Dominantseptnonakkord mit tiefalterierter

Quint erwähnt Riemann nicht.

Ähnlich wie Riemann baut Schenker die übermäßigen Sextakkorde auf der V. Stufe in Dur

auf. Seine Herleitung der übermäßigen Sextakkorde als alterierte Dominantsept(non)akkorde

(mit bzw. ohne Grundton) stimmt vollständig mit der heutigen Auffassung dieser Akkorde

überein. Schenker unterscheidet den übermäßigen Terzquartakkord, den übermäßigen Sextak-

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Vagierende Akkorde – übermäßige Sextakkorde

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kord und den übermäßigen Quintsextakkord nicht voneinander, für ihn stellen sie dieselbe Stufe

dar (II+V) – ähnlich wie Dominantseptakkord, verminderter Dreiklang und verminderter Sept-

akkord, die Schenker jedoch in der Analyse unterschiedlich bezeichnet (V7, VII und VII7). Die

doppeldominantische Funktion der übermäßigen Sextakkorde erklärt Schenker mithilfe seiner

Ableitung der alterierten Akkorde: Die übermäßigen Sextakkorde können sowohl als II. als auch

als V. Stufe angewendet werden, da sie für ihn eine Zusammensetzung der leitereigenen Sep-

takkorde auf der II. Stufe in Moll und der V. Stufe in Dur sind. Auch die übermäßigen Sextak-

korde können bei Schenker zur Tonikalisierung einer nachfolgenden Stufe – also als Zwischen-

dominante eingesetzt werden.

Schönberg ist der Einzige der drei hier untersuchten Autoren, der den übermäßigen Sextak-

korden nur doppeldominantische Funktion zugesteht, da er sie von der II. Stufe ableitet. Im

Grunde können die übermäßigen Sextakkorde bei Schönberg jedoch infolge des Nachbildungs-

prinzips auf jeder Stufe stehen. Schönberg erkennt, dass der übermäßige Quintsextakkord und

der übermäßige Sextakkord Akkorde ohne Grundton sind, übersieht aber deren Verwandtschaft

mit dem übermäßigen Terzquartakkord. Den übermäßigen Terzquartakkord bildet Schönberg –

Schenkers Ableitung in etwa entsprechend – aus einer Verbindung der II. Mollstufe mit der

Nebendominante der II. Stufe. Ähnlich wie Schenker bezeichnet Schönberg alle übermäßigen

Sextakkorde gleich (als II. Stufe), macht dies aber nicht bei Dominantseptakkord, vermindertem

Dreiklang und vermindertem Septakkord (V, VII und V). Nur Schönberg spricht auch über die

Modulationsfähigkeit des übermäßigen Quintsextakkords wegen seiner Klanggleichheit mit

dem Dominantseptakkord.

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Anwendung der Theorien

110

III Anwendung der Theorien

In diesem Kapitel wird die Anwendbarkeit der Theorien Hugo Riemanns, Heinrich Schenkers

und Arnold Schönbergs erprobt, denn Vor- und Nachteile einer Theorie offenbaren sich oft erst

mit der konkreten Anwendung. Anhand einer harmonischen Analyse werden die Theorien ein-

ander gegenübergestellt und miteinander verglichen. Grundlage der Analyse ist Johannes

Brahms’ Intermezzo in b-Moll, op. 117/2. Form, Motivik oder Stimmführung des Intermezzo

sollen an dieser Stelle nicht Gegenstand der Untersuchung sein; es wird alleine die Harmonik

ausgewählter Abschnitte von op. 117/2 berücksichtigt und ihre mögliche Deutung durch Rie-

mann, Schenker und Schönberg behandelt. Im Anschluss daran wird auch ein kurzer Ausschnitt

aus einer frühen Komposition Arnold Schönbergs (Streichsextett Verklärte Nacht, op. 4) disku-

tiert.

In der vorliegenden harmonischen Analyse des Intermezzo op. 117/2 steht die Behandlung

vagierender Akkorde wie verminderter Dreiklänge oder übermäßiger Sextakkorde im Vorder-

grund; auch Sequenzen sind Gegenstand der Betrachtung.401 Die Interpretationen der ausge-

wählten Abschnitte durch Riemann, Schenker und Schönberg werden einander in Tabellenform

gegenübergestellt. Die unterschiedliche Breite der Kästchen soll das ungefähre zeitliche Ver-

hältnis der Harmonien zueinander sichtbar machen.402 Der Übersichtlichkeit halber wurde in

den meisten Fällen angenommen, dass Riemann, Schenker und Schönberg der gleichen Mei-

nung gewesen wären, was die herrschende Tonart betrifft. Die Darstellung von Riemanns Inter-

pretationen erfolgt durch die von ihm entworfene Funktionsschrift. Schenkers und Schönbergs

Stufenbezeichnungen unterscheiden sich dahingehend, dass nur Schenker den Unterschied zwi-

schen leitereigenen und chromatisch veränderten Akkorden mithilfe von Akzidentien und Zif-

fern erkennbar macht.403 Um eine einigermaßen überschaubare Darstellung der unterschiedli-

chen Auffassungen zu erhalten, werden Dreiklänge und Septakkorde nicht als Umkehrungen

dargestellt.

401 Um Redundanzen bei den Notenausschnitten und Tabellen zu vermeiden, überschneiden sich die Kapitel teil-

weise. 402 Aufgrund des Zusammenwirkens längerer Abschnitte und komplizierter Darstellungen (v.a. Riemanns) war es

jedoch manchmal nicht möglich, das zeitliche Verhältnis 2:1 darzustellen (vgl. z.B. Tabelle T. 65 f.). Außerdem wurde versucht, alle behandelten Abschnitte ohne Umbruch darzustellen – bis auf die Abbildung der Sequenz Takt 62-73 war dies immer möglich.

403 Schönberg kennzeichnet Akkorde in der Harmonielehre nur mit der Stufenzahl, gelegentlich sind die Stufen-zahlen aber auch durch Ziffern ergänzt: zur Darstellung einer Umkehrung (6, 4

6) bzw. zur Kennzeichnung eines Septakkords (7, 5

6, 34, 2). In einem einzigen Beispiel in der Harmonielehre finden sich auch Akzidentien in Zu-

sammenhang mit Stufenzahlen oder Akkordtönen (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 119/49).

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

111

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2 (ca. 1892)

In Abb. 190 ist der harmonische Extrakt des gesamten Intermezzo b-Moll op. 117/2 von Johan-

nes Brahms zu sehen. Hier wurde der tatsächliche Melodie- und Bassverlauf berücksichtigt,

soweit dies auf nur einem Notensystem möglich ist.

Abbildung 190: Johannes Brahms, Intermezzo op. 117/2 – harmonischer Extrakt

Verminderter Dreiklang

Verminderte Dreiklänge sind im Intermezzo op. 117/2 von Johannes Brahms relativ selten: Nur

am Beginn des ersten Themas (Auftakt zu T. 1, 2, 10, 11 und 61) und in Takt 20 (erstes und

drittes Achtel) werden von Brahms verminderte Dreiklänge eingesetzt. In zwei Fällen (T. 10.3

und 20.3) haben die verminderten Dreiklänge in diesem Intermezzo die Funktion als VII. Stufe

bzw. als Dominantseptakkord ohne Grundton, ansonsten stellt der verminderte Dreiklang in

diesem Intermezzo immer die II. Stufe dar (bzw. die Mollsubdominante mit kleiner Sext statt

Quint).

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

112

Abbildung 191: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 7 bis 12404

Takt 10 11

Riemann b-Moll XVII oT (C7) DVII>

Schenker b-Moll II I II VII

III7

I

Schönberg b-Moll II VII

I VI

II VII

III I

Der verminderte Dreiklang es-ges-c als Auftakt zu Takt 10405 (Abb. 191) kann auf verschiedene

Arten aufgefasst werden: er kann in b-Moll II. Stufe sein, IV. Stufe mit Sext statt Quint oder

auch Vertreter der V. Stufe – als Quint, Sept und Non eines Dominantseptnonakkords. Diese

Auffassung des verminderten Dreiklangs c-es-ges als Dominantseptakkord über f ohne Grund-

ton und Terz wird begünstigt durch das Auftreten des verkürzten Dominantseptnonakkords ohne

Quint (a-es-ges) in Takt 9 und Takt 60. Riemann würde diesen ersten verminderten Dreiklang

als verkürzten Unterseptimenakkord darstellen, da ihm die Tonika folgt. Damit interpretiert er

den verminderten Dreiklang als IV. Stufe mit Sext statt Quint. Schenker und Schönberg fassen

ihn als II. Stufe auf. Es bleibt offen, wie Schenker diesen verminderten Dreiklang interpretieren

würde, da er den verminderten Dreiklang auf der II. Stufe in seiner Harmonielehre nicht be-

spricht.406 Schönberg sieht in der Stufenfolge II-I möglicherweise eine Nachbildung der Stufen-

404 Alle folgenden Notenausschnitte sind entnommen aus: Brahms, Johannes: Klavierstücke. Nach Eigenschriften,

Abschriften und den Handexemplaren des Komponisten, hrsg. von Monica Steegmann, Fingersatz von Walter Georgii. München: Henle 1976.

405 Der Auftakt zu Takt 10 entspricht dem Beginn des Intermezzos und dem Auftakt zu Takt 61. 406 Schenker erwähnt in seiner Harmonielehre zwar den verminderten Dreiklang als leitereigene II. Stufe der Moll-

tonart, bespricht aber ausschließlich die Aufgabe des verminderten Dreiklangs der VII. Stufe (als Vertreter der V. Stufe bzw. zur Tonikalisierung).

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

113

folge VII-VI (in Des-Dur), die er als Stellvertretung der Trugschlussfortschreitung V-VI auf-

fasst.407

Derselbe verminderte Dreiklang (es-ges-c) hat einen Takt später Dominantfunktion zum fol-

genden Des-Dur-Septakkord (Auftakt zu Takt 11). Schenker interpretiert ihn – ähnlich wie

Riemann – im Prinzip als verkürzte Zwischendominante, da die Stufenfolge II-III in Moll dem

„Tonikalisierungsmodell VII-I“ entspricht. Schönbergs Auslegung des verminderten Dreiklangs

ist auch hier fraglich, er könnte aber die Folge II-III ebenfalls als Nachahmung der Folge VII-I

und damit als Vertreter der Folge V-I deuten.

Halbverminderter Septakkord

Auch der halbverminderte Septakkord wird im Intermezzo op. 117/2 nicht allzu oft gebraucht

(T. 5, 24.3, 47.3, 51.2/3 und 56). Ähnlich wie mit dem verminderten Dreiklang verhält es sich

mit dem halbverminderten Septakkord: Er steht immer für die II. Stufe (oder für die Mollsub-

dominante mit hinzugefügter Sext) – zweimal als Bestandteil einer Sequenz (T. 5 bzw. 56).

Abbildung 192: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 49 bis 54

Takt 49-51 51.2/3 52

Riemann es-Moll V79> SVII D7

407 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 172. Diese Interpretation ist aber fraglich, da Schönberg die Behandlung

des verminderten Dreiklangs im Sinn der VII. Stufe (Harmonieschritte VII-I, VII-VI und VII-IV) nur für die „künstlich verminderten Dreiklänge“ auf der I., III., IV. und V. Stufe erwähnt (vgl. ebd., S. 228). Die reguläre Fortschreitung des verminderten Dreiklangs der II. Stufe bei Schönberg ist die V. Stufe.

Schenker spricht in seiner Harmonielehre zwar auch über „Trugschlusschromatisierung“, aber nur in Zusam-menhang mit dem steigenden Sekundschritt (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 360 f. bzw. Kapitel „Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker“).

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

114

Schenker es-Moll ìIVÌ7

VII

II7

V7

I

Schönberg es-Moll II II V

Der halbverminderte Septakkord f-as-ces-es beim Auftakt zu Takt 52 (Abb. 192) steht für eine

II. Stufe oder Subdominante mit hinzugefügter Sext in es-Moll.408 Diesen Bezug zur Subdomi-

nante stellt Riemann mit seiner Interpretation des halbverminderten Septakkords auf der II. Stu-

fe in Moll als Ableitung von der Subdominante her. Der Grundton des halbverminderten Sep-

takkords f-as-ces-es (T. 51.2/3) ist derselbe wie der weggelassene Grundton (f) des ihm voraus-

gehenden verminderten Septakkords a-c-es-ges (T. 49-51). Offensichtlich wird dies nur in

Schönbergs Darstellung, da hier für ihn beide Akkorde dieselbe Stufe repräsentieren – obwohl

beide Akkorde nur einen einzigen Ton gemeinsam haben. Riemann und Schenker würden den

halbverminderten Septakkord hier vermutlich als Durchgangsakkord zwischen dem verkürzten

Doppeldominantseptnonakkord bzw. der zur Tonikalisierung erhöhten IV. Stufe (T. 49-51) und

dem Dominantseptakkord (T. 52) ansehen.

Neapolitanischer Sextakkord

Auch ein neapolitanischer Sextakkord ist Bestandteil des Intermezzo op. 117/2 von Brahms (T.

21-22, Abb. 193).

Abbildung 193: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 17 bis 22

408 Bei Takt 52 beginnt das erste Thema das einzige Mal nicht in b-Moll, sondern in es-Moll, der Mollsubdomi-

nanttonart. Das Thema wird zwar wieder durch die II. Stufe eingeleitet, diesmal folgt statt der Tonika aber der Dominantseptakkord.

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

115

Takt 18-19 20 21-22 22.3 23

Riemann Des-Dur (F7 D7 XVII) oS (C7)

← → oS2> D7 T+

Schenker Des-Dur V7 IÌ7

ges-Moll: V

- II

IVÌ3

I

IIIÌ5

VII

ÌÌII oder II (phryg.) VI

V7 II

I V

Schönberg Des-Dur V I V IV III II V I

Der neapolitanische Sextakkord ist für Riemann eindeutig Stellvertreter der Subdominante bzw.

IV. Stufe. Die Deutung als Mollsubdominante mit kleiner Obersekunde (oS2>) und die Auffas-

sung der beiden verminderten Dreiklänge in Takt 20 als Zwischendominanten409 der Mollsub-

dominante lassen vermuten, dass Riemann die Takte 20 bis 22 als nur zu einer Harmonie gehö-

rig interpretiert. Schenker und Schönberg sehen den neapolitanischen Sextakkord als Vertreter

der II. Stufe an410, daher können sie – im Gegensatz zu Riemann411 – den Übergang von Takt 20

auf Takt 21 als Trugschluss in ges-Moll auffassen: Der verminderte Dreiklang f-as-ces (T. 20.3)

bildet gemeinsam mit dem Eses-Dur-Dreiklang einen Trugschluss.412

Der verminderte Dreiklang as-ces-eses (T. 20.1) wird von Riemann als verkürzte „Zwi-

schensubdominante“ interpretiert. Schenker kann diesen verminderten Dreiklang in Des-Dur

nicht durch eine Stufe darstellen, da für ihn ein verminderter Dreiklang auf der V. Stufe nicht

möglich ist – auch nicht durch die Mischung von Des-Dur und des-Moll.413 Nur die Annahme

einer „Scheintonart“ ges-Moll – entsprechend Riemanns Zwischenkadenz zur Mollsubdominan-

te, aber nur mithilfe einer zweiten Ebene darstellbar – würde für Schenker den verminderten

Dreiklang as-ces-eses in Des-Dur rechtfertigen, als II. Stufe in ges-Moll. Vermutlich würde

Schenker diesen verminderten Dreiklang (T. 20.1) aber als Vorhalt vor der IV. Stufe bezeichnen

– bekräftigt durch seine betonte Stellung auf der Takteins –, wodurch auch die Tonikalisierung

der IV. Stufe ges-heses-des durch ihre Dominante des-f-as-ces (Modell V-I, T. 18-20) klarer

409 Für Riemann, der das Prinzip der „Zwischendominanten“ erfunden hat, kann jede „Dominante“ – also auch der

verkürzte Unterseptimenakkord der Subdominante – auf den nachfolgenden Akkord bezogen werden (vgl. Ka-pitel „Theorien erweiterter Tonalität – Hugo Riemann“).

410 Schenker versteht den neapolitanischen Sextakkord einerseits als tiefalterierte II. Stufe (der leitereigene ver-minderte Dreiklang will als Durdreiklang erscheinen), andererseits als entlehnt aus der Tonart der Mollsubdo-minante. (Die Tonikalisierung der vermollten IV. Stufe in Des-Dur (ges-Moll) nach dem Modell V-I (T. 18-19) würde die Herleitung Schenkers der neapolitanischen Kadenz als unvollständige Kadenz in der Tonart der Mollsubdominante bestätigen.) Schönberg lehnt die Auffassung des neapolitanischen Sextakkords als chromati-sche Umgestaltung ab (vgl. Kapitel „Neapolitanischer Sextakkord“).

411 Wenn Riemann den neapolitanischen Sextakkord als Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint ansieht, findet kein Trugschluss statt, denn der verkürzte Dominantseptakkord f-as-ces (T. 20.3) ist theoretisch auch die Dominante der Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint (ges-heses-eses). Bei der Auffassung Riemanns des neapolitanischen Sextakkords als „Leittonwechselklang der Mollsubdominante“ (S>) wie im Handbuch der Harmonielehre würde Riemann die Stelle ebenfalls als Trugschluss deuten können.

412 Die Harmoniefolge (des-)f-as-c – eses-ges-heses ist ein Trugschluss nach dem Modell V-VI in ges-Moll. 413 In „Dur-Moll“ ergeben sich verminderte Dreiklänge auf der II., III., VI. und VII. Stufe (in Des-Dur-Moll: es-

ges-heses, f-as-ces, b-des-fes und c-es-ges; vgl. Kapitel „Theorien erweiterter Tonalität – Heinrich Schenker“).

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

116

zum Vorschein kommen würde.414 Schönberg interpretiert den verminderten Dreiklang auf der

V. Stufe als Errungenschaft aus dem Mollsubdominantbereich: as-ces-eses ist leitereigene II.

Stufe der Mollsubdominante von Des-Dur.

Übermäßige Sextakkorde

Übermäßige Sextakkorde kommen im Intermezzo op. 117/2 mehrfach vor; meist als übermäßi-

ger Sextakkord (T. 29.3, 65.3, 66.3 und 77.3), aber auch als übermäßiger Terzquartakkord (T.

79/3) oder als übermäßiger Quintsextakkord415 (T. 14 und T. 43-44).

Abbildung 194: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 28 bis 31

Takt 29 30

Riemann F-Dur b-Moll

oS>7

TVII> C

75>

SV< / V7

5>

T D

Schenker F-Dur b-Moll

ÌII7

VI7 II+V V II+V II

I V

Schönberg F-Dur b-Moll

II VI

V II

I V

Brahms’ Verwendung des übermäßigen Sextakkords in Takt 29 (Abb. 194) macht keine

Schwierigkeiten: Riemann und Schenker können ihn problemlos auf zwei verschiedene Arten

414 Der Auffassung von eses-as-ces (T. 20.1) als Vorhalt zum ges-Moll-Dreiklang ähnlich ist die Interpretation als

Terz, Quint und Sept eines Dominantseptnonakkords, analog zum Auftakt zu Takt 1 (bzw. T. 2, 10 und 61). Die Deutung als Dominantseptnonakkord ohne Grundton und Terz wird ähnlich wie in Takt 9 und Takt 60 dadurch untermauert, dass dem verminderten Dreiklang as-ces-eses (Takt 20.1) der vollständige Dominantseptakkord (des-f-as-ces, T. 18 und 19) vorausgeht. (Im Vergleich dazu steht vor dem verminderten Dreiklang c-es-ges (T. 9.3 und T. 60.3) ein verkürzter Dominantseptnonakkord ohne Quint (a-..-es-ges, T. 9 und 60).)

415 Beide übermäßige Quintsextakkorde entstehen durch enharmonische Umdeutung der Dominantsept ces zur Terz h des übermäßigen Quintsextakkords: In Takt 14 ist lediglich der übermäßige Quintsextakkord des-f-as-h notiert; in Takt 43 und 44 dagegen notiert Brahms nur den Dominantseptakkord des-f-as-ces, obwohl durch den verminderten Septakkord h-d-f-as und die Transformation von d zu des in Takt 42 der übermäßige Quintsex-takkord schon angedeutet ist.

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

117

auffassen, in F-Dur oder in b-Moll.416 Schönberg nennt in seiner Harmonielehre zunächst nur

die Verwendung des übermäßigen Sextakkords als II. Stufe – was eine Deutung des übermäßi-

gen Sextakkords z.B. in Takt 29 nur in b-Moll zulassen würde; mithilfe der „Nachbildungsme-

thode“ – wonach bei Schönberg im Prinzip jede Akkordbildung auf jeder Stufe zu stehen kom-

men kann – ist es Schönberg aber möglich, den übermäßigen Sextakkord auch in anderen Ton-

arten (hier F-Dur) zu deuten.417

Abbildung 195: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 43 bis 48

Takt 43-44 45 46

Riemann Ges-Dur F-Dur

D7 (D7)[S>]

C

7 D7

Schenker Ges-Dur F-Dur-Moll

V7 ÌVIÌ7

íVII

V7

Schönberg F-Dur VI = II VII V

416 Riemann und Schenker nennen in ihren Harmonielehren mehrere Interpretationsmöglichkeiten des übermäßi-

gen Sextakkords: als Dominante bzw. V. Stufe, als Subdominante bzw. II. Stufe und als Zwischendominante (auch Doppeldominante) bzw. zur „Tonikalisierung“ des folgenden Akkords. Riemanns Auffassung des übermäßigen Sextakkords als Subdominante und Schenkers Anwendung als II. Stufe (bzw. Riemanns alterierte Doppeldominante) unterscheiden sich voneinander: Riemanns alterierte Mollsubdo-minante (Sv<) ist in c-Moll fis-as-c statt f-as-c, Schenkers alterierter Akkord in Verwendung als II. Stufe (bzw. Riemanns alterierte Doppeldominante) lautet in c-Moll fis-as-c statt fis-a-c – die Alteration betrifft also unter-schiedliche Akkordtöne. Was die Stimmführung betrifft, kommt die unterschiedliche Deutung aber auf dasselbe hinaus: Riemann fasst die Terz der Mollsubdominante (as) auch als Leitton auf (der Terz der Dominante (fis) entsprechend).

417 Dasselbe trifft auch auf die dominantische Verwendung des übermäßigen Terzquartakkords (T. 79/3) zu: Schönberg würde die Stelle aufgrund seiner Ableitung des übermäßigen Terzquartakkords von der II. Stufe zu-nächst in es-Moll deuten; mithilfe seines Prinzips der Nachahmung kann Schönberg diese Stelle aber auch in B-Dur bzw. b-Moll interpretieren.

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

118

Der übermäßige Quintsextakkord in Takt 43 und 44 (Abb. 195) kommt durch enharmonische

Umdeutung eines Dominantseptakkords zustande: des-f-as-ces wird – gedanklich, da von

Brahms nicht notiert – zu des-f-as-h und damit zur II. Stufe in f-Moll. Schönberg ist der Einzige

der drei hier untersuchten Theoretiker, der diese Modulationsmöglichkeit beim übermäßigen

Quintsextakkord in seiner Harmonielehre erwähnt418; außerdem spricht er mehrmals über seinen

freien Umgang mit enharmonischer Verwechslung.419 Schönberg würde Takt 43 und 44 also

problemlos als Umdeutung eines Dominantseptakkords in einen übermäßigen Quintsextakkord

erklären können (in F-Dur: Umdeutung einer VI. zur II. Stufe). Riemann und Schenker würden

den Übergang von Takt 44 auf Takt 45 als Trugschluss interpretieren, da der nach dem Domi-

nantseptakkord des-f-as-ces erwartete Akkord (Ges-Dur oder ges-Moll) nicht folgt.

Sequenzen

In Brahms’ Intermezzo op. 117/2 treten mehrfach Sequenzen auf; es handelt sich in allen Fällen

um Quintfallsequenzen.

Abbildung 196: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 1 bis 9

418 Vgl. Kapitel „Übermäßige Sextakkorde“. 419 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 307, 319, 424, 456.

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

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Takt 3 / 54 4 / 55 5 / 56 6-7 / 57-58 8 / 59 9 / 60

Riemann b-Moll TVI SVI X

IX DVII> TVII> SVII D7 T>III> (oS)oTp C7

9>

Schenker b-Moll I7 IV7 VII7 III7 VI7 II7 V7í3 VIÌ3

VIIÌ7

Schönberg b-Moll I IV VII III VI II V VI V

Die Quintfallsequenz ist von Takt 3 bis 7 (Abb. 196, bzw. T. 54-58) leitereigen in b-Moll.420

Schwierigkeiten machen sich bei Riemann und Schenker in Takt 8 bemerkbar: Der Zusammen-

klang ges-a-des (T. 8 bzw. T. 59) ist in dieser Notierung nicht tonal deutbar. Schönberg dagegen

würde diesen Klang als vereinfachte Schreibweise des ges-Moll-Dreiklangs ges-heses-des auf-

fassen.421 Nur mithilfe der für Schönberg unproblematischen enharmonischen Umdeutung von a

zu heses lässt sich der Übergang von Takt 7 auf Takt 8 (bzw. T. 58/59) als „vermollter Moll-

trugschluss“ in b-Moll erkennen.422

Abbildung 197: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 10 bis 19

420 Die Sequenz bei Takt 53 gleicht ab Takt 54 (bis inklusive des Wiedereinsatzes des ersten Themas, T. 61) jener

bei Takt 3. Die Sequenz bei Takt 53 beginnt in es-Moll, startet also statt mit einem b-Moll-Septakkord (T. 2.3) mit einem B-Dur-Dominantseptakkord (T. 53).

421 „Vereinfachung“ bezieht sich hier auf die leichtere Lesbarkeit des a wegen des nachfolgenden unvollständigen Dominantseptakkords a-es-ges.

422 Der herkömmliche Trugschluss in b-Moll lautet F-Dur – Ges-Dur; der aus B-Dur entlehnte Trugschluss ist F-Dur – g-Moll.

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

120

Takt 12 13 14 15 16 17

Riemann Des-Dur f-Moll

(D7)[Dp] D7 (F7 D7)

F7

XIX

D7

(D7)[oSp]T6<

V9>

5>

D4

6> D3

5

oTII-III

Schenker f-Moll V7

I7

í3

V

IV7í3

I V

VII7

I V

IIIÌ7

I V

II+V ? II

V46

V V3

5 I4-3

Schönberg f-Moll V I IV VII III VI = II I46 V I

Die Quintfallsequenz von Takt 12 bis 17 (Abb. 197) besteht fast nur aus Dominantseptakkor-

den, enthält aber auch einen übermäßigen Quintsextakkord (T. 14). Schenker erklärt jeden Har-

monieschritt mit der „Tonikalisierung“ nach dem Modell V7-I. Dementsprechend deutet Rie-

mann alle Akkorde als Zwischendominanten.423 Für Schönberg ist eine Dominantseptakkordket-

te wie hier scheinbar gleichbedeutend mit einer leitereigenen Quintfallsequenz.

Der übermäßige Quintsextakkord in Takt 14 wird hier auch von Riemann und Schenker als

solcher gedeutet, da Brahms ihn nicht als Dominantseptakkord des-f-as-ces, sondern als über-

mäßigen Quintsextakkord des-f-as-h notiert.424 Nur Schenker kann nicht erkennen, dass von

Takt 13 auf Takt 14 ebenfalls ein Quintfall stattfindet; denn Riemann interpretiert den übermä-

ßigen Quintsextakkord einfach als Durdreiklang mit hinzugefügter übermäßiger Sext (hier T6<).

Schönbergs Auffassung der beiden übermäßigen Quintsextakkorde (T. 14 und T. 43-44) unter-

scheidet sich nicht voneinander.

423 Für die Sichtbarmachung des Quintschrittes von Takt 11 auf Takt 12 (C7 – F7) müsste Riemann eine weitere

Tonart hinzuziehen, denn sowohl die Deutung in f-Moll (D7 – (F7)XIX) als auch die Des-Dur-Interpretation ((D7)[Dp] – (F7)F7) machen ein Erkennen des Quintfalls unmöglich.

424 Der zweite übermäßige Quintsextakkord in Intermezzo op. 117/2 (T. 43-44) wird von Brahms nicht als solcher notiert, sondern nur als Dominantseptakkord des-f-as-ces.

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

121

Abbildung 198: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 61 bis 72

Takt 62 63 64 65

Riemann b-Moll (D7) oS> (C9>) oS> (D7) oTp oD>

oTpIII> oD>III>

(F7

(D7)[oDp]

Schenker b-Moll VIÌ7 V

ÌII I

IÌ7Ì3

VII

ÌII I

VII7 V

III I

IIIÌ3 IV7í3

Schönberg b-Moll VI II VI II VII III III IV

65.3 66 67-68 69-72 73-74 C

75>)[oTp]

(SV< oder V75>

(D7)[oSp/T>] D7) [oSp/T>]

(C75>)[?]

(SV< oder V75>

(D7)[?]

D7)[?] S> D7 T+

ÌIIÌ3

II+V IIIÌ7 V

- II+V

- V ÌII

V7 Ií3

VII III VI II V I

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Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2

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Die vierte Quintfallsequenz im Intermezzo op. 117/2 beginnt bei Takt 65 (Abb. 198) und besteht

aus Dominantseptakkorden und verkürzten Dominantseptakkorden mit verminderter Quint

(bzw. übermäßigen Sextakkorden). Sie wird in Takt 62 bis 64 durch eine Terzfall-Quintfall-

Sequenz (b-Ges7-Ces, Ces-As7-Des) eingeleitet. Die übermäßigen Sextakkorde innerhalb dieser

Sequenz (T. 65.3 und T. 66.3) werden von Riemann, Schenker und Schönberg ähnlich interpre-

tiert, allerdings ist hier wieder Riemanns Problem beim Darstellen von Sequenzen innerhalb

einer Tonart auffällig.425 Für Schenker dienen die beiden übermäßigen Sextakkorde (T. 65.3 und

T. 66.3) zur „Tonikalisierung“ des folgenden Akkords nach dem Muster „II+V – V“.

Schönberg ist der Einzige der drei, der über den Vorzeichenwechsel in Takt 66 hinwegsehen

kann, denn dieser dient hier nur zur einfacheren Lesbarkeit der Akkorde.426 Riemann und

Schenker können diese zur Vereinfachung gedachte enharmonische Umdeutung (T. 66.3, c-e-

ais statt deses-fes-b und T. 67-68, h-dis-fis-a statt ces-es-ges-heses) in derselben Tonart nicht

darstellen.

425 Die Darstellung Riemanns der Sequenz ab Takt 65 ist äußert komplex, erlaubt aber teilweise Rückschluss auf

fallende Quinten – etwa dann, wenn man sich in Takt 65 und 66 die nach den Zwischendominanten erwarteten Funktionen (in den eckigen Klammern) ansieht: Die Folge oDp – oTp – oSp lässt Quintfall erkennen. Diese eckigen Klammern Riemanns sind hier irreführend, da sie auf Trugschlüsse schließen lassen, die in Wirklich-keit nicht stattfinden: z.B. wird in Takt 65 nach dem übermäßigen Sextakkord eses-g-c Des-Dur erwartet (oTp in b-Moll); diese Annahme wird auch nicht enttäuscht, denn es folgt der Dominantseptakkord auf des.

Riemanns Interpretation des übermäßigen Sextakkords als Alteration der Mollsubdominante ist hier gut brauchbar, da mithilfe dieser „Zwischenkadenzen“ zwei fallende Quinten dargestellt werden können.

426 Statt c-e-ais müsste eigentlich deses-fes-b, statt h-dis-fis-a sollte ces-es-ges-heses notiert sein. Allerdings kann in Schönbergs zusatzloser Stufenbezeichnung nicht erkannt werden, dass die Kadenz in Takt

67 bis 73 in engem Zusammenhang mit der „neapolitanischen Kadenz“ in Takt 21 bis 23 steht: Ces-Dur (bzw. die enharmonische Verwechslung H-Dur) ist erniedrigte II. Stufe in b-Moll, dadurch ergibt sich ähnlich wie in Takt 21 eine Kadenz mit erniedrigter II. Stufe, Dominantseptakkord und Durtonika als Einleitung für das zwei-te Thema. (Auch der Wiederholung des zweiten Themas (T. 31 f.) geht eine Kadenz mit erniedrigter II. Stufe voraus (T. 29 und 30).)

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Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4

123

Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4 (1899)

Ein kleiner Ausschnitt aus Arnold Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 (T. 41-49,

Abb. 199) – nur wenige Jahre nach Brahms’ Intermezzo op. 117/2 entstanden – macht sehr

schnell deutlich, dass die harmonischen Systeme von Riemann und Schenker nicht sehr flexibel

bezüglich Erweiterungen der tonalen Harmonik sind.

Abbildung 199: Arnold Schönberg, Streichsextett Verklärte Nacht op. 4, T. 41-49

Takt 41 42 43 44 45 46-48 49

Riemann

d-Moll g-Moll

D46>

D7

(D9)[?]

(C9)

SIXI>

?

(SVII

C9>)[oDp]

V9>

(V9>)

D46>

F46>

D7

F7

(C9>)[oS] C

9>

SVI<

T6>

TVI< D6>

Schenker

d-Moll g-Moll

V46

V7í3

-

C: VII

I

c: VII

ìIVÌ7

VII

V46

I

V7í3

II7í3

ìIIIÌ7

g: VII

VIIÌ7

II7

b: VII

VIì5

III ì5

Iì5

Schönberg d-Moll g-Moll

I46

V

V?

VI

VII

I?

(IV =) II

I46

V II

I V/VII

III

Takt 41 42 43 44 45 46-48 49

Die Takte 42 und 43 des Streichsextetts (Abb. 199) lassen sich funktional nicht erfassen, da die

Akkorde durch Stimmführung entstehen. Deutlich wird dies schon am Beginn (T. 42.1): as-c-

es-g-b ist erstens nicht der erwartete Akkord nach dem Dominantseptakkord a-cis-e-g (T. 41.4)

und zweitens ein Nonenakkord mit Non im Bass. Riemann kann den Akkord as-c-es-ges-b zwar

als großen Dominantseptnonakkord deuten, kann ihn aber nicht auf d-Moll beziehen. Auch

Schenker kann den Nonenakkord als zusammengesetzte V. und VII. Stufe interpretieren, dazu

müsste aber Des-Dur oder des-Moll folgen. Für Schönberg ist dieser Nonenakkord das Resultat

von Stimmführung – as-c-es-g-b verbindet alle Akkordtöne des Dominantseptakkords a-cis-e-g

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Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4

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(T. 41.4) chromatisch mit dem halbverminderten Septakkord h-d-f-a (T. 42.4). Unklar ist je-

doch, mit welcher Stufe Schönberg diesen Akkord bezeichnen würde.

Eher unwahrscheinlich ist es, dass Riemann den Vorhalt c (T. 44.1) als Akkordton eines

halbverminderten Septakkord d-f-as-c ansieht; damit wäre eine Interpretation mit dem nachfol-

genden verminderten Septakkord h-d-f-as (T. 44.2) als trugschlüssige Zwischenkadenz möglich.

Für Schönberg stellen enharmonische Umdeutungen kein Problem dar, deshalb deutet er einfach

das as des verminderten Septakkords h-d-f-as (T. 44.2) zum gis des verminderten Septakkords

gis-h-d-f (T. 44.3) um. Der ganze Takt 44 ist also als verkürzter Doppeldominantseptnonakkord

in d-Moll aufzufassen, nicht nur die zweite Hälfte des Taktes.

Riemann kann in der Harmoniefolge a-cis-e-g – fis-a-c-es (T. 45.3-46) einen Quintfall von

der Doppeldominante zur verkürzten Dominante in g-Moll erkennen; auch für Schenker ist das

möglich, weil er die VII. Stufe als Vertreter der V. Stufe ansieht. Schönberg hingegen könnte

fis-a-c-es (T. 46) aufgrund des Nachbildungsprinzips sogar als I. Stufe ohne Grundton in d-

Moll/D-Dur interpretieren.

Den Übergang vom verminderten Septakkord fis-a-c-es zum übermäßigen Dreiklang b-d-fis

(T. 48/49) deutet Riemann eventuell als authentischen V-I Schluss – jedoch sollte für diese In-

terpretation der g-Moll-Dreiklang folgen, da Riemann im übermäßigen Dreiklang b-d-fis die

übermäßige Quint fis als Vorhalt zu g ansieht (welches nicht folgt). Schenker könnte die Har-

moniefolge von Takt 48 auf 49 als leitereigenen Quintfall in d-Moll oder g-Moll betrachten.

Oder, wenn Schenker g (T. 48.2) als Akkordton und fis (T. 48.4) als Antizipation ansieht, würde

er den halbverminderten Septakkord a-c-es-g mithilfe der Tonikalisierung deuten, also als ver-

kürzte Zwischendominante des übermäßigen Dreiklangs b-d-fis interpretieren. Schönberg deutet

die Harmoniefolge fis-a-c-es – b-d-fis (T. 48/49) als VII-III in g-Moll. Für Schönberg ist der

übermäßige Dreiklang auf der III. Stufe die logische Auflösung des verminderten Septakkords

auf der VII. Stufe (Quintfall des Fundaments). Für diese Interpretation muss Schönberg aller-

dings seine Auffassung des verminderten Septakkords als Dominantseptnonakkord ohne Grund-

ton wieder verwerfen.

Zusammenfassung

Der Vergleich der Theorien Hugo Riemanns, Heinrich Schenkers und Arnold Schönbergs an

einem praktischen Beispiel harmonischer Analyse zeigt deutlich: Jede der drei Theorien hat ihre

Vorzüge, aber auch Schwachstellen.

In Bezug auf die Darstellung des Harmonieverlaufs bietet Schönbergs Stufenbezeichnung

die größte Übersichtlichkeit. Allerdings ist Schönberg in der Bezeichnung der Stufen nicht ein-

heitlich: So ist z.B. h-d-f in C-Dur für Schönberg VII. Stufe, h-d-f-as jedoch V. Stufe ohne

Grundton. Wegen nicht vorhandener Zusätze zu den Stufenzahlen hebt Schönbergs harmonische

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Analyse auch nicht die Besonderheiten hervor, so kann etwa die Ziffer II in der Stufenfolge II-

V-I unter anderem für einen neapolitanischen Sextakkord, einen übermäßigen Quintsextakkord

oder einen Mollakkord stehen. Durch diese ungenaue Darstellungsweise ist die Rekonstruktion

eines harmonischen Ablaufs ausgeschlossen – von Schönberg aber auch nicht intendiert. Die

detaillierte Darstellung harmonischer Verläufe durch Riemanns Funktionsanalyse – die auch

wichtige Aufschlüsse über harmonische Zusammenhänge gibt – würde eine solche Wiederher-

stellung ermöglichen, stößt aber schnell an Grenzen der Übersichtlichkeit. Oft ist nicht gleich

klar, welche Harmonien hinter einer Folge von Funktionen stecken; besonders deutlich wird

dies bei Sequenzen. Schenkers Darstellung vereint positive Seiten der Theorien Riemanns und

Schönbergs: Er kombiniert die übersichtlichere Stufenanalyse Schönbergs mit der genaueren

Definition eines Zusammenklangs bei Riemann; Schenker kann aber deutlich weniger Harmo-

nien innerhalb einer Tonart erklären als Riemann oder gar Schönberg.

In den Interpretationen der Harmonieverläufe im Sinn von Riemann, Schenker und Schön-

berg gibt es oft Abweichungen. Das Beispiel eines verminderten Dreiklangs auf der V. Stufe im

Intermezzo op. 117/2 (T. 20) lässt Unterschiede in den drei Theorien besonders gut erkennen:

Riemann interpretiert in als „verkürzte Zwischensubdominante“, Schenker als Vorhalt und

Schönberg als Erweiterung aus dem Mollsubdominantbereich. Auch die verschiedenen Auffas-

sungen des neapolitanischen Sextakkords (T. 21) als Vertreter der IV. (Riemann) oder der II.

Stufe (Schenker, Schönberg) bewirken unterschiedliche Interpretationen eines Trugschlusses.

Die Grenzen der harmonischen Systeme Riemanns und Schenkers zeigen sich anhand der Ana-

lyse des Intermezzos vor allem am Beispiel des übermäßigen Quintsextakkords, da sie im Ge-

gensatz zu Schönberg in ihren Harmonielehren die Klanggleichheit des übermäßigen Quintsext-

akkords mit dem Dominantseptakkord nicht berücksichtigen.

Die praktische Anwendung der hier untersuchten Theorien Hugo Riemanns, Heinrich

Schenkers und Arnold Schönbergs macht offensichtlich, dass keine der drei Theorien allein zur

harmonischen Analyse geeignet ist – erst eine ausgewogene Berücksichtigung aller Sichtweisen

bzw. die Ergänzung durch andere Theorien (etwa in Bezug auf die Stimmführung spätere An-

sätze Schenkers) liefert eine schlüssige Interpretation der musikalischen Zusammenhänge. Dies

trifft jedoch nicht auf die Analyse von Musik an den (äußersten) Grenzen der Tonalität zu, wie

die Diskussion von Schönbergs Verklärter Nacht zeigte: Hier wird deutlich, dass die harmoni-

schen Systeme Riemanns und Schenkers sehr rasch an ihre Grenzen stoßen und viele Zusam-

menklänge für sie nicht mehr deutbar sind. Schönberg kann zwar alle Klänge erklären, aber

auch ihm fehlt ein geeignetes Darstellungssystem für eine Harmonik, die in erster Linie durch

Stimmführungsprozesse zustande kommt.

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