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1 Exzerpt aus: Theorie U: Von der Zukunft her führen Presencing als soziale Technik der Freiheit 1 Einführung C. Otto Scharmer Massachusetts Institute of Technology www.ottoscharmer.com August 2005 2. Entwurf VERTRAULICH. VOR VERVIELFÄLTIGUNG UND VERTEILUNG BITTE UM RÜCKSPRACHE MIT [email protected] 1 Dieses Exzerpt ist die Einführung eines Buches mit gleichem Titel, das demnächst veröffentlicht wird. Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Ursula Versteegen.

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Exzerpt aus:

Theorie U: Von der Zukunft her führen

Presencing als soziale Technik der Freiheit1

Einführung

C. Otto Scharmer Massachusetts Institute of Technology

www.ottoscharmer.com

August 2005

2. Entwurf

VERTRAULICH. VOR VERVIELFÄLTIGUNG UND VERTEILUNG BITTE UM

RÜCKSPRACHE MIT [email protected]

1 Dieses Exzerpt ist die Einführung eines Buches mit gleichem Titel, das demnächst veröffentlicht wird. Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Ursula Versteegen.

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Einleitung Wir leben in einer Zeit aufeinander prallender Konflikte und massiven institutionellen Versagens, in einer Zeit von Ende und Neuanfang. Man spürt, wie sich etwas Grundsätzliches verschiebt und langsam stirbt, während etwas anderes, wie Vaclav Havel es ausdrückte, geboren werden will: „Ich denke, es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das moderne Zeitalter zu Ende geht. Es gibt heutzutage viele Hinweise darauf, dass wir uns in einem Übergangsstadium befinden, es sieht so aus, als ob etwas auf dem Weg hinaus ist und als ob etwas anderes unter Schmerzen geboren wird. Es ist so, als ob etwas taumelt, schwankt, schwindet und sich selbst erschöpft – während sich etwas anderes, noch Unbestimmtes, langsam beginnst aus den Trümmern zu erheben.2“ Der Krise unserer Zeit ins Gesicht sehen Die Krise der Gegenwart ist nicht einfach die Krise einer einzelnen Führungskraft oder einer einzelnen Organisation, eines bestimmten Landes oder eines einzelnen Konflikts. In der Krise der Gegenwart geht es darum, dass eine veraltete soziale Struktur abstirbt—eine alte Form der Institutionalisierung, eine alte Struktur des in-die-Welt-kommens von Gemeinschaft und sozialer Form. Immer wenn ich mit Praktikern über ihre Alltagserfahrung spreche – mit Managern, Lehrern, Krankenschwestern, Ärzten, Arbeitern, Bürgermeistern, Unternehmern, Landwirten und Führungskräften aus Wirtschaft und Regierung – dann habe ich den Eindruck, dass sich ihre gegenwärtige Situation ähnelt: Die Überhitzung einer sich immer höher schraubenden Arbeitsbelastung und der Druck, stets noch mehr tun zu müssen. Viele beschreiben die Situation als ein Arbeiten gegen Windmühlen oder ein Laufen im Hamsterrad. Kürzlich nahm ich an einer Tagung der Top 100 Führungskräfte eines großen amerikanischen Unternehmens teil. Der Redner vor mir begann seine Rede mit der folgenden Beobachtung. Er erinnerte uns daran, dass es gerade einmal 20 Jahre her sei, dass ernsthafte Diskussionen über die Frage geführt wurden, was wir eigentlich mit der ganzen zusätzlichen Freizeit, die wir sicherlich über kurz oder lang durch die Nutzung moderner Kommunikationstechnologien gewinnen würden, anstellen sollten. Die Zuhörer brachen in schallendes Gelächter aus. Es war aber, bei näherem Hinhören, ein gequältes Gelächter – denn die heutige Realität könnte nicht unterschiedlicher von diesem vermeintlichen Zukunftsbild sein. Während der Druck um uns herum zu und die Freiheitsgrade abnehmen, multiplizieren sich unsere Bedenken hinsichtlich der unbeabsichtigten Nebenwirkungen und Konsequenzen unseres Handelns. Zunehmend werden wir uns der größer werdenden Schattenseite unserer jetzigen Arbeitsweise bewusst:

• Wir haben eine florierende globale Wirtschaft geschaffen, die gleichzeitig 850 Millionen Menschen hungern3 und 3 Milliarden Menschen in Armut4 leben lässt (mit weniger als 2 Dollar pro Tag)

2 Präsident Vaclav Havel, Rede in Philadelphia am 4. Juli, 1994. Mein Dank gilt Goran Carstadt, der mich auf diese Rede aufmerksam machte. 3 „World Hunger Fact Sheet“, veröffentlicht von dem World Hunger Education Service: http://www.worldhunger.lorg/articles/Learn/world%20hunger%20facts%202002.htm.

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• Wir geben Unsummen Geld für Gesundheitssysteme aus, die auf der Symptomebene herumstochern und nicht in der Lage sind, die ursächlichen Gründe für Gesundheit und Krankheit in unserer Gesellschaft anzugehen. Wir produzieren mit viel Aufwand Gesundheitsergebnisse, die nicht viel besser sind als die Ergebnisse anderer Länder, die viel weniger Geld dafür ausgeben.

• Wir setzen beträchtliche Ressourcen für unsere Landwirtschaft und Nahrungssysteme ein und das nur, um eine nicht nachhaltige Nahrungsproduktion mit immer minderwertigerem Junk-Food zu schaffen, das sowohl unsere Körper, als auch unsere Umwelt vergiftet.

• Wir kippen große Mengen Geld in unsere Bildungssysteme, waren aber bislang nicht in der Lage, Schulen und Institutionen für Höhere Bildung zu schaffen, die die tief im Menschen veranlagte Fähigkeit, die eigene Zukunft zu empfinden und zu aktualisieren - eine Fähigkeit, die ich für die zentrale Kernkompetenz der Wissensgesellschaft dieses Jahrhunderts halte - zu entwickeln.

• Mehr als die Hälfte der Kinder auf der ganzen Welt wachsen heute unter eklatanten Mangelbedingungen auf wie z.B. in Armut, Krieg und mit HIV/AIDS5.

Über die gesamte Bandbreite produzieren wir kollektiv Ergebnisse (und Nebenwirkungen), die niemand will. Die zentralen Entscheidungsinstanzen sehen sich jedoch nicht in der Lage, den Lauf der Dinge in irgendeiner signifikanten Weise zu verändern. Sie fühlen sich genauso gefangen wie der Rest von uns. Das Grundproblem dieses massiven institutionellen Versagens ist, dass wir es nicht geschafft haben, unsere jahrhundertealten kollektiven Muster des Denkens, Organisierens und Institutionalisierens so in Bewegung zu bringen, plastisch zu machen und neu auszurichten, dass sie mit den Herausforderungen der heutigen Realität auf Augenhöhe kommen. Die Strukturen des alten sozialen Körpers, den wir heute langsam zerfallen sehen--lokal, regional und global--bauen auf traditionellen und industriell-modernen Denk- und Lebensgewohnheiten auf, die sich zunächst als sehr erfolgreich erwiesen haben, die jedoch in jüngerer Zeit zunehmend gegen die Wand fahren. Das Aufkommen fundamentalistischer Bewegungen überall in der Welt ist ein Symptom der tiefen Transformation. Fundamentalisten sagen: Seht ihr, dieser moderne westliche Materialismus funktioniert nicht. Er zerstört unsere Würde, unsere Lebendigkeit und unsere Seele. Lasst uns zur alten Ordnung zurückkehren. Fundamentalismus ist nur eine von drei Grundreaktionen auf die tiefen Herauforderungen der Gegenwart. Diese lauten:

4 „Working Out of Poverty: Making Jobs the Objective,“ world of Work Magazine (http://www.ilo.org/public/english/bureau/inf/magazine/48/poverty.htm). 5 The State of the World’s Children 2005: „Childhood under Threat“. http://www.unicefusa.org/site/pp.asp?c=duLRI8O0H&b=262152

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1. Bewegung der ewig Gestrigen: Lasst uns zur Ordnung der Vergangenheit zurückkehren. Retro-Bewegungen können, müssen aber nicht eine fundamentalistische Einfärbung haben.

2. Verteidiger des Status Quo – macht einfach weiter so. Der Schwerpunkt liegt auf dem „mehr von dem selben“, „es wird schon weitergehen“.

3. Vertreter der transformativen Veränderung: Beweg dich vorwärts, ins Offene, indem du dich intentional von dem alten Selbst verabschiedest und eine Erneuerung von innen suchst, von wo aus ein neues soziales Feld beginnt in die Welt zu kommen.

Ich persönlich denke, dass der allgemeine Zustand weltweit ein Aufruf für eine Veränderung der dritten Kategorie ist, die in verschiedenerlei Hinsicht bereits begonnen hat. Um die neue Qualität einer tieferen sozialen Präsenz zu erreichen, müssen wir uns von dem alten Körper institutionalisiertem, kollektiven Verhaltens trennen. Die vielfältigen Versuche der Gegenwart, die überkommenen Strukturen der Vergangenheit künstlich am Leben zu erhalten, sind letztlich alle zum Scheitern verurteilt. Worum es geht, ist nicht gegen die massiven Grundkräfte unserer Zeit zu arbeiten. Worum es geht, ist sich mit den positiven Grundkräften der Veränderung zu verbinden und aus dieser Verbindung vollkommen neuartige sozialen Felder und Gemeinschaftsstrukturen in die Welt zu bringen. Das spontane Entstehen von derartigen lebendigen Beispielen, die diese Transformation des kollektiven Bewusstseins und Handelns veranschaulichen und verkörpern, ist eines der wichtigsten Umbruchsphänomene unserer Zeit. Die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung ist es, die soziale Grammatik aufzudecken, die diese subtilen und profunden Verschiebungen im Feld des Sozialen beleuchten. Damit dies gelingt, müssen wir uns eines fundamentalen blinden Flecks im Bereich der Gestaltung sozialer Prozesse bewusst werden. Der blinde Fleck bezieht sich auf die Struktur der Aufmerksamkeit, die wir verwenden, wenn wir an unsere Arbeit gehen. Der blinde Fleck Die Art, mit der wir soziale Wirklichkeit betrachten, lässt sich damit vergleichen, wie wir die Arbeit eines Künstlers betrachten. Mindestens drei Perspektiven sind denkbar: Wir können uns auf den Gegenstand beziehen, das Ergebnis des schöpferischen Prozesses – sagen wir z.B. das Gemälde; wir können uns auf den Prozess des Malens fokussieren; oder wir können den Künstler betrachten, während er vor der leeren Leinwand steht. Anders ausgedrückt können wir das Gemälde betrachten, nachdem es geschaffen wurde (der Gegenstand), während es geschaffen wird (der Prozess) oder bevor der Schaffungsprozeß beginnt (die leere Leinwand). Das gleiche trifft auf Führungsprozesse zu. Wir können betrachten, was Führungskräfte tun. Wir können betrachten, wie sie führen, also den Prozess. Und, wir können ihre Arbeit aus der Perspektive der leeren Leinwand ansehen: was sind die inneren Quellen der Führungstätigkeit.

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Abbildung 1: Drei Perspektiven auf die Tätigkeit von Führungskräften

In einem Gespräch mit Bill O’Brien, dem früheren CEO von Hanover Insurance, habe ich zum ersten Mal über diesen blinden Fleck nachgedacht. Bill O’Brien erzählte mir damals, dass seine größte Erkenntnis nach vielen Jahren organisationaler Lernprojekte und Führung von Veränderungsprozessen inUnternehmen war, dass „der Erfolg einer Intervention von der inneren Verfasstheit des Intervenierenden abhängt.“ Diese Beobachtung schlug bei mir ein wie ein Blitz. Was wirklich zählt, so dämmerte mir, ist nicht nur was Führungskräfte tun und wie sie es tun, sondern die „innere Verfasstheit“, der innere Ort, von dem aus sie tätig sind, die Quelle, aus der heraus ihre Handlung erfolgt. Der blinde Fleck, um den es hier geht, ist ein Schlüsselfaktor in Führung und Sozialwissenschaften. Er beeinflusst auch unsere alltägliche Erfahrung im Sozialen. Im Verlauf unseres täglichen Arbeitens und sozialen Lebens ist uns gewöhnlich sehr bewusst, was wir tun und was andere tun; wir haben auch eine ungefähre Ahnung davon, wie wir und andere etwas tun (Prozesse oder Herangehensweisen). Und dennoch gibt es da den blinden Fleck. Wenn wir uns die Frage vorlegen: „Wo kommt denn eigentlich unser Handeln her?“, dann könnten die Meisten von uns keine Antwort geben. Dieser blinde Fleck betrifft die (innere) Quelle, von der aus wir handeln, wenn wir tun, was wir tun – der Entstehungsort und die Qualität unserer Aufmerksamkeit, die wir einer Sache schenken, um uns mit ihr zu verbinden. In meiner Arbeit mit Führungsgruppen in allen gesellschaftlichen Sektoren und Industriebranchen wurde mir klar, dass Führungskräfte den vor ihnen liegenden Herausforderungen nicht gerecht werden können, wenn sie nur die vergangene Erfahrung als Ausgangspunkt nehmen. Ich begann mich zu fragen, ob nicht in dem Erspüren der im Entstehen begriffenen Zukunft eine tiefere Lernmöglichkeit liegen könnte, als es dem reflektierenden Zugriff auf vergangene Erfahrungen möglich ist6. Anstatt ausschließlich über bereits vergangene Erfahrungen nachzudenken und auf sie zu reagieren, hieße das, sich in den Quell-Ort einer entstehenden Zukunft nach vorne zu versetzen.

6 Claus Otto Scharmer, „Organizing around Not-yet Embodied Knowledge“ in Knowledge Creation: A New Source of Value, ed. G.V.Krogh, I.Nonaka, and T. Nishiguchi (New York: Macmillan, 1999).

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Ich bezeichne dieses Lernen aus der im entstehen begriffenen Zukunft presencing. Presencing ist eine Wortschöpfung aus den englischen Wörtern „presence“, also Gegenwart bzw. Anwesenheit und „sensing“, fühlen, erspüren. Es geht darum, die eigene, höchste Zukunftsmöglichkeit wahrzunehmen und zu aktualisieren – eine direkte Verbindung zu der Zukunftsmöglichkeit herzustellen, die uns braucht, um in die Welt zu kommen. Eine Reihe von Gesprächspartnern, denen ich diese Idee vorstellte, betrachteten sie als Irrweg. Der einzige Weg zu lernen, so argumentierten sie, sei auf der Basis vergangener Erfahrungen. Lernen aus der Zukunft sei weder möglich noch sinnvoll, begründeten sie. Nur durch die Unterstützung, Inspiration und Zusammenarbeit von und mit Kollegen wie Joseph Jaworski, Michael Jung, Katrin Käufer, Ekkehard Kappler, Seija Kulkki, Ikujiro Nonaka, Edgar Schein, Peter Senge und Ursula Versteegen war es mir möglich, mich allen Warnungen und Bedenken zum Trotz in diese Richtung zu bewegen7. Die Existenz dieser tieferen Quelle und des damit verbundenen Lernzyklus, seine Entdeckung und Beschreibung, ist das Hauptanliegen dieser Untersuchung. Feldgang Ein Feld ist, wie jeder Landwirt weiß, ein lebendes System – ebenso wie die Erde ein lebender Organismus ist. Ich wuchs auf einer Farm in der Nähe von Hamburg auf. Eine der ersten Dinge, die mir mein Vater, einer der Pioniere biodynamischer Landwirtschaft in Deutschland, beibrachte, war, dass die Fruchtbarkeit des Bodens in der organischen Landwirtschaft das Wichtigste überhaupt ist. Er erklärte mir, dass jedes Feld zwei Seiten hat: die Sichtbare, das, was wir oberhalb der Erdoberfläche sehen und die Unsichtbare, das Erdreich unterhalb der Oberfläche. Die Qualität der Ernte – das sichtbare Ergebnis – ist eine direkte Funktion der Qualität des Bodens und zwar derjenigen Elemente des Feldes, die größtenteils für das Auge unsichtbar bleiben. Meine Überlegungen im Hinblick auf soziale Felder beginnen genau an diesem Punkt: Felder sind die Grundvoraussetzung, der Nährboden, aus dem heraus einmal das wachsen wird, was dann später für das Auge sichtbar ist. Und genauso, wie jeder gute Landwirt seine ganze Aufmerksamkeit auf den Aufbau und die Anreicherung der Qualität seiner Erde legt, so konzentriert jede gute Führungskraft in Organisationen ihre Aufmerksamkeit auf den Aufbau und die Anreicherung der Qualität des sozialen Feldes, für das sie verantwortlich ist. Jeden Sonntag nahmen meine Eltern meine Brüder, meine Schwester und mich auf einen Feldgang mit – über sämtliche Äckern unseres Hofs. Hin und wieder blieb mein Vater stehen, bückte sich und nahm einen Klumpen Erde aus einer Furche in seine Hand, so dass wir ihn untersuchen und lernen konnten, die verschiedenen Arten und Strukturen zu erkennen. Die lebendige Qualität der Erde, so erklärte er uns, hängt von einer Masse lebender Mikroorganismen ab – Millionen lebender Organismen, die jeden Kubikzentimeter der Erde bevölkern – und deren Arbeit

7 Eine detaillierte Beschreibung dieses Suchprozesses, ebenso wie eine erste Einführung in die Inhalte, die dieses Buch erkundet und vertieft, ist in Peter Senge, Claus Otto Scharmer, Joseph Jaworski & Betty Sue Flowers, Presence: Human Purpose and the Field of the Future (Boston: Society for Organizational Learning, 2004), zu finden.

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notwendig ist, damit die Erde atmen und sich als lebendiges System entwickeln kann. Im Sinne dieser Geisteshaltung versteht sich diese Studie als ein Gang über die sozialen Felder der Gegenwart unserer globalen Gesellschaft. Und wie seinerzeit während des Feldgangs, so werden wir hin und wieder an einer Furche stehen bleiben, einen kleinen Klumpen Erde in die Hand nehmen und ihn untersuchen, um die Beschaffenheit der subtileren Schichten sozialer Felder besser zu verstehen. Wie jede Führungskraft in Unternehmen, aber auch jeder erfahrene Berater weiß, ist das unsichtbare Gelände das wichtigste, wenn es um die Entwicklung erfolgreicher Teams, Organisationen und größerer institutionellen Ökologien geht. So beobachtete Jonathan Day von McKinsey im Laufe seiner Tätigkeit bei der Begleitung von tiefgreifenden Veränderungsprozessen in global tätigen Unternehmen: „Das Wichtigste ist unsichtbar für das Auge.“8 Die Frage ist: wie kann man diese verborgene Dimension von Führung bewusster und systematisch zugänglich machen? Der Archimedische Punkt: Das kollekt ive Sehen von Strukturen eigener Aufmerksamkeitsfelder Was ist der strategische Hebelpunkt für die Verschiebung der Struktur eines sozialen Feldes? Welcher Punkt könnte aus der Warte von Führung als der Archimedische Punkt funktionieren – die Bedingung der Möglichkeit – durch die das globale soziale Feld sich verschieben und in Erscheinung treten könnte? Für meinen Vater wäre in seinem Fall, der Landwirtschaft, relativ klar, welche Antwort er auf diese Frage geben würde. Wo setzt du den Hebel an? Am Boden. Damit sich die Bodenqualität verbessert. Das ist sein Mantra. Der fruchtbare Boden—die Humus—ist eine sehr dünne Schicht lebender Substanzen, die sich aus der ineinander verwobenen Verbindung zweier Welten entwickelt: der sichtbaren Welt oberhalb des Bodens und der unsichtbaren unterhalb der Oberfläche. Die Begriffe Kultur und Kultivierung leiten sich genau aus dieser Aktivität ab – die Erde kultivieren durch das Vertiefen und Intensivieren des Gewebes, das zwischen beiden Welten liegt und sie verbindet (z.B. das Pflügen). Wo also ist der Hebelpunkt im Fall des sozialen Feldes? An genau der gleichen Stelle: an der Schnittstelle, an der sich zwei Welten treffen, verbinden und mit einander verweben. Was ist denn im Fall der sozialen Felder die sichtbare Materie? Es ist der Inhalt dessen, was wir als soziale Wirklichkeit wahrnehmen. Und was ist die unsichtbare Sphäre? Das ist der blinde Fleck – die Quelle, von der aus unsere Wahrnehmung in die Wirklichkeit kommt. Und was liegt dazwischen? Der Zwischenraum ist der Bereich, wo die sichtbare Welt (was wir sehen) und die unsichtbare Welt (der Ort oder die Position, von der aus wir wahrnehmen) aufeinander treffen und sich miteinander verbinden.

8 Das vollständige Interview vom 14. Juli 1999, das Claus Otto Scharmer mit Jonathan Day führte, können Sie auf der folgenden website, Dialog on Leadership, lesen. (www.dialogonleadership.org/interviewDay.html).

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Ich nenne die Sphäre dieses Zwischenraums die Feldstruktur der Aufmerksamkeit. Der Begriff charakterisiert die Qualität der Beziehung zwischen dem Wahrgenommenen (Inhalt) und dem Wahrnehmenden (Quell-Ort). Das kollektive Sehen der Tiefenstruktur, aus der unsere Aufmerksamkeitsfelder arbeiten, ist der wichtigste singuläre Hebelpunkt in der Veränderung des sozialen Feldes. Sie ist der einzige Inhalt in unserem sozialen Bewusstsein, über den wir vollständige Kontrolle haben (denn der Ort, von dem aus wir wahrnehmen, hängt nur von uns ab—wir können niemand anderen dafür verantwortlich machen). Die Feldstruktur unserer Aufmerksamkeit zu sehen bedeutet, dass wir sowohl die Struktur unserer Aufmerksamkeit, als auch gleichzeitig andere Möglichkeiten des Sehens wahrnehmen. Wenn wir uns hierauf konzentrieren, erlaubt uns diese Fähigkeit, die Struktur der Aufmerksamkeit von einem Modus in einen anderen zu verwandeln. Vier Feldstrukturen von Aufmerksamkeit Vier Ströme sozialer Emergenz Die wichtigste Erkenntnis, die ich im Laufe meiner Untersuchungen und Forschung gewonnen habe, ist, dass es vier fundamental unterschiedliche Feldstrukturen von Aufmerksamkeit gibt. Die vier Feldstrukturen unterscheiden sich im Hinblick auf den Quellpunkt, an dem Aufmerksamkeit (und Absicht) entstehen. Jede Handlung, ob von einer Person, einer Gruppe, einer Organisation oder einer Gemeinschaft, kann ausgehend von vier unterschiedlichen Quellpunkten (in Bezug auf die eigene und organisationale Grenze) aus ausgeführt werden. Betrachten wir das Beispiel des „Zuhörens“. In meiner Arbeit mit Gruppen und Organisationen konnte ich vier Grundtypen des Zuhörens identifizieren. Die erste Grundart des Zuhörens ist das downloaden: Das Zuhören dient der Bestätigung bereits vorhandener Urteile. Wann immer Sie sich in einer Situation befinden, wo alles, was geschieht, genau das bestätigt, was Sie immer schon wussten, dann hören Sie im Modus des downloadens zu. In diesem Modus funktioniert unsere Weltwahrnehmung auf Basis eines Wahrnehmungsorgans der ersten Ordnung: die Gesamtheit unserer gewohnheitsmässigen Urteile, die wir in uns tragen. Wir sehen nur das, was unserem gewohnheitsmässigen Urteilen entspricht. Die zweite Grundart des Zuhörens ist das gegenständlich-unterscheidende Zuhören: Das gegenständlich-unterscheidende Zuhören bezieht sich auf die Welt als eine Menge von Gegenständen, an denen es neue Unterscheidungen hinsichtlich der tatsächlichen Aussagen und Fakten trifft. Bei dieser Art des Zuhörens achten Sie auf das, was anders ist, was abweicht. Sie fokussieren sich auf diejenigen Aspekte der Realität, die von Ihren eigenen Vorstellungen abweichen, anstatt diese Unterschiede zu verleugnen (was Sie im Fall des downloadens tun würden). Gegenständlich-unterscheidendes oder objektivierendes Zuhören ist der Grundmodus guter Wissenschaft. Sie stellen Fragen und beobachten sorgfältig die Antworten (Daten), die Ihnen die Natur darauf gibt. In diesem Modus aktivieren Sie ein Wahrnehmungsorgan der zweiten Ordnung: unsere tatsächlichen Sinnesorgane, die uns Aufschluss über die reale Beschaffenheit der Dinge verleiht.

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Eine dritte und tiefere Art des Zuhörens ist das empathische Zuhören. Immer wenn ein wirklicher Dialog entsteht, kann man eine profunde Veränderung beobachten. Hier findet eine Bewegung des inneren Ortes, von dem aus unser Zuhören geschieht [urständet], statt. Solange wir von den ersten beiden Modi des Zuhörens aus arbeiten, entsteht das Zuhören innerhalb der Grenzen unserer eigenen mental-kognitiven Organisation. Im Fall des empathischen Zuhörens jedoch, verschiebt sich unsere Wahrnehmung aus unserer eigenen Organisation in das Feld hinaus, zum Anderen, zu dem Ort, von dem aus der Andere spricht. Wenn wir in diesen Modus des Zuhörens kommen wollen, müssen wir unsere empathische Fähigkeit – unsere Liebe – aktivieren, um so eine direkte Verbindung, von Herz zu Herz, zu der anderen Person aufzubauen. Wir müssen lernen, die Intelligenz unseres Herzen als aktives Wahrnehmungssensorium „auszufahren.“ Gelingt dies, so spüren wir eine substantielle Veränderung: wir vergessen unseren eigenen Plan und beginnen die Welt mit den Augen des anderen zu sehen. In diesem Modus können wir in der Regel erspüren, was der andere sagen möchte, ohne dass er jedoch die Worte bereits ausgesprochen hat. In dem Zustand können wir erkennen, ob unser Gesprächspartner das richtige oder falsche Wort gewählt hat, um etwas Bestimmtes auszudrücken. Dieses Urteil ist jedoch nur möglich, wenn wir ein unmittelbares Gespür für das haben, was der Andere sagen will, bevor wir analysieren, was unser Gegenüber jetzt eigentlich gesagt hat. Empathisches Zuhören ist eine Fähigkeit, die wie jede andere menschliche Fähigkeit kultiviert und entwickelt werden kann. Es ist eine Fähigkeit, deren Intelligenz eine andere Quelle hat, die jedoch aktiviert werden kann – die Intelligenz unseres Herzens als ein Wahrnehmungsorgan der dritten Ordnung. Und nicht zuletzt gibt es eine vierte Ebene des Zuhörens. Diese vierte Ebene geht über das gegenwärtige Feld hinaus und schließt an einen noch tieferen Bereich von Emergenz an. Ich nenne diese Ebene des Zuhörens schöpferisches Zuhören oder Zuhören aus dem in Entstehen begriffenen Feld der Zukunft. Diese Qualität des Zuhörens veranlasst uns, den Willen zu öffnen als ein Wahrnehmungsorgan der vierten Ordnung, mit dem wir ein Sensorium öffnen, das uns erlaubt, eine noch tiefere Resonanz zu verspüren, durch die wir uns in eine direkte Beziehung mit unserer höchsten Zukunftsmöglichkeit setzen können. Wenn wir auf dieser Ebene arbeiten, konzentrieren wir uns darauf, das eigene Ego aus dem Weg und aus dem Zentrum zu schaffen. Dadurch eröffnen wir einen inneren Raum der Stille und des Werdens, durch den hindurch eine andere Qualität von Gegenwärtigkeit anwesend werden kann. An diesem Punkt suchen wir nicht mehr außerhalb von uns selbst. Wir sind nicht mehr empathisch mit Jemandem, der uns gegenüber sitzt, verbunden. Wir befinden uns in einem gänzlich veränderten Aggregatzustand des sozialen Feldes, durch den wir weit über unsere normalen Organisationsgrenzen hinausgehoben werden, indem wir in einen Moment der zeitlosen Stille eintreten, und in dem wir erleben, wie durch diesen Moment der zeitlosen Stille hindurch etwas ganz anderes Neues und Zukünftiges beginnt durch unsere gemeinsame Mitte hindurch anwesend zu werden. Die vierte Ebene des Zuhörens unterscheidet sich hinsichtlich ihrer Textur als auch in ihren Ergebnissen von den vorausgegangenen Qualitäten. Ob Sie auf der vierten Ebene anwesend waren, erkennen Sie am Ende eines Gesprächs, wenn Sie plötzlich feststellen, dass Sie nicht mehr die gleiche Person sind, die das Gespräch begonnen hat. Sie sind durch eine subtile, kaum spürbare aber profunde Verwandlung gegangen. Sie haben eine Berührung erlebt. Eine Berührung mit der tiefsten Quelle Ihres Selbst—Ihres authentischen zukünftigen Selbst.

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Den meisten Menschen sind diese vier Arten des Zuhörens vertraut. Die erste Reaktion ist häufig: Na ja, ich kenne die ersten zwei Typen des Zuhörens. Dann, nach längerem Überlegen, tauchen Erinnerungen an einige wenige Beispiele des empathischen Zuhörens auf und nach einer längeren biographischen Reflektion werden tiefer verborgene Erfahrungen der Ebene 4 sichtbar. Diese Art von Erfahrungen werden im Laufe unserer Biographie häufig aus uns heraussozialisiert, da sie nicht zu der dominierenden Kultur des downloadens, den herrschenden Denk- und Handlungsgewohnheiten unserer Institutionen, passen. Und dennoch wurde mir in meinen Gesprächen mit Meistern ihres Fachs über alle Professionen hinweg – Künstler, Wissenschaftler, Leistungsträger, Erfinder, Erzieher, Coaches – deutlich, dass sie alle eine Gemeinsamkeit haben. Alle haben einen Weg gefunden, aus diesem vierten Feld heraus tätig zu werden. Der Violinist Miha Pogacnik beschrieb mir diese Form der Praxis mit dem folgenden Beispiel:

Als ich mein erstes Konzert in Chartres gab, hatte ich das Gefühl, dass mich die Kirche fast rauswarf. „Raus mit Dir!“, sagte sie. Ich war jung und versuchte Leistung zu bringen, so wie ich es gewohnt war: einfach meine Geige zu spielen. Aber dann wurde mir auf einmal klar, dass du in Chartres gar nicht die kleine Violine spielen darfst, du musst die Makro-Violine spielen. Die kleine Violine ist das Instrument in deinen Händen. Die Makro-Violine ist die ganze Kathedrale, die dich umgibt. Die Kathedrale von Chartres ist vollständig nach musikalischen Prinzipien aufgebaut. Wenn du die Makro-Violine spielen willst, musst du den größeren Raum hören und von einem anderen Ort aus spielen. Du musst dein Zuhören und Spielen von innerhalb deiner selbst über diese Grenzen hinaus schieben9.

Kristallisation der U-Theorie Im Kern besteht die Theorie, die ich in dieser Studie vorstellen möchte, aus der simplen Unterscheidung von vier unterschiedlichen Strömen sozialen Werdens, vier Strömen sozialer Emergenz. Diese Theorie argumentiert, dass jedes Handeln eines einzelnen Menschen oder einer sozialen Entität (unabhängig von ihrer Größe) aus vier unterschiedlichen Quellen oder Ebenen der Emergenz generiert werden kann – dass heißt, aus vier verschiedenen Feldern von Aufmerksamkeit. Der Knackpunkt meiner Theorie ist, dass die gleiche Handlung zu radikal unterschiedlichen Ergebnissen in ihrem jeweiligen sozialen Kontext führt und zwar abhängig von der Aufmerksamkeitsstruktur, von der ausgehend die jeweilige Aktivität hervorgebracht wird. Wenn ich von der Ebene 1 her zuhöre, erfriert das Gespräch in alten Mustern der Vergangenheit (downloading). Wenn ich von Ebene 2 aus zuhöre, stelle ich mich dem anderen diskursiv gegenüber. Wenn ich von Ebene 3 her zuhöre, evoziere ich ein dialogisches Feld, indem ich eine unmittelbare Berührung, Verbindung und Einheit (Identität) mit den Anderen erlebe, in dem sich die trennende Grenze zwischen mir und dem anderen auflöst. Wenn ich von Ebene 4 aus zuhöre, beginn ich an der Bildung eines neuen Innenraums teilzunehmen, durch den hindurch eine stille schöpferische Präsenz beginnt anwesend zu werden und durch den hindurch eine direkte Resonanz zu meiner höchsten zukünftigen Möglichkeit real erlebbar und produktiv werden kann.

9 Persönliches Gespräch mit Miha Pogacnik in New York, 1999

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Durch die Beschreibung dieser vier Ebenen beleuchtet die Theorie U eine soweit verborgen gebliebene Dimension sozialer Prozesse: die Quelle, von der aus menschliches Handeln in die Welt gebracht wird. Lassen Sie mich die Kernpunkte der U-Theorie herauskristallisieren, indem ich die dem Buch zugrunde liegende Frage beantworte: Was sind die Voraussetzungen, um aus der im Entstehen begriffenen Zukunft zu lernen? Aus der Sicht der U-Theorie können diese Voraussetzungen in 8 Thesen oder Kernpunkten zusammengefasst werden: [1] Um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden, müssen Organisationen und soziale Systeme ihren Lernkreislauf von den Ebenen 1 und 2 auf die Ebenen 3 und 4 erweitern und vertiefen.

Abbildung 2: Vier Ebenen des Umgangs mit Veränderung

Die globalen Herausforderungen unserer Zeit zwingen die meisten Institutionen dazu, sich von Grund auf neu zu erfinden und zu definieren: wer sind wir, wofür sind wir hier, was wollen wir in die Welt bringen, wie gehen wir vor? Organisationen und Institutionen benötigen Könnerschaft, um sich auf allen vier Ebenen des Lernens und der Veränderung zu bewegen und nicht nur auf den oberen beiden. Es gibt keine größere Frustrationsquelle und Ressourcenvergeudung als das Bemühen Ebene-4-Probleme (die eine Veränderung der Identität verlangen) mit Ebene 1 und 2 Methoden (technische Problemlösungen) bewältigen zu wollen. [2] Der Aktivierungsvorgang der tieferen Schichten des Lernens umfasst drei Bewegungen (1) beobachte, beobachte, beobachte: öffne und verbinde dich mit dem, was draußen vor sich geht; (2) lass das innere Wissen entstehen: öffne und verbinde dich mit dem, was von innen heraus entsteht; (3) handle schnell durch eine aktionsbezogene Integration von Kopf, Herz und Hand: bring das Neue in die Wirklichkeit, so wie es entstehen möchte.

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Abbildung 3: Drei Bewegungen zur Entwicklung eines generativen sozialen Feldes

Diese drei Bewegungen kann man sich als eine notwendige Voraussetzung für eine Infrastruktur denken, die nötig ist, um ein generatives soziales Feld entstehen zu lassen. Um ein solches soziales Feld entstehen zu lassen, müssen wir zunächst drei Arten von Verbindungen aufbauen, die man sich wie eine Verdrahtung der Infrastruktur vorstellen muss. Die Erste verbindet ein gegebenes System mit seinem Umfeld (Co-Sensing). Die Zweite verbindet das eigene gegenwärtige mit dem zukünftigen Selbst (Co-Presencing). Das dritte Stück verbindet die Intelligenz der Hand und die in ihr eingebettete Weisheit mit lokalen Anwendungszusammenhängen (rapid-cycle prototyping). Obwohl dieser Prozess sich einfach anhört und mit den Erfahrungen vielen hochkreativer und innovativer Menschen weitgehend übereinstimmt, entspricht das primäre Muster, nach dem Institutionen arbeiten, keineswegs dieser Vorgehensweise. Das dominante Muster wird bestimmt durch das Downloaden oder das Funktionieren auf Ebenen 1 und 2. Es ist so, als würde man in einem Haus mit sieben Zimmern leben, aber nur die Hälfte davon oder weniger nutzen. Man weiß sogar, dass es diese anderen Zimmer gibt. Man versucht vielleicht sogar, sie zu betreten. Aber ohne Erfolg. Der Versuch, diese tieferen Schichten zugänglich zu machen, äußert sich in der Form von Reorganisationen, wie z.B. von Restrukturierung oder Re-engineering – oder wie immer das Mantra lautet. Aber alles was dabei herauskommt, ist eine weitere Verstärkung des gemeinsamen Gefühls, wieder einmal gegen die Wand gelaufen zu sein. Warum? Weil uns ein entscheidender Teil fehlt, eine soziale Technologie: eine kollektive Führungstechnologie, die es uns ermöglicht, die tieferen Schichten des Lernens und der Veränderung wirklich zu ergreifen. [3] Um die tieferen Schichten des Lernens und der kollektiven Intelligenz zugänglich zu machen, benötigen Führungskräfte eine neue soziale Technologie, durch die drei Instrumente bewegt und gestimmt werden können: der offene Verstand, das offene Herz und der offene Wille. Die neue soziale Technologie, um die es hier geht, bezieht sich auf das Einstimmen der drei inneren Instrumente: die Öffnung des Denkens (Open Mind), die Öffnung des Fühlens (Open Heart) und die Öffnung des Willens (Open Will). So wie die Öffnung des Denkens in Bezug zur Aktivierung unseres IQ steht und die Öffnung

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des Fühlens in Bezug zum EQ (emotionale Intelligenz), so kann der offene Wille als Pendant dessen bezeichnet werden, was jüngst als SQ (spirituelle Intelligenz) diskutiert wird.

Abbildung 4: Theorie U

Die Erschließung dieser tieferen Schichten sozialen Werdens (unterhalb der Ebene des Downloadings) erfordert innere Arbeit. Der Alltagshabitus des Denkens, Fühlens und Wollens lässt sich durch einen Prozess verändern, der durch die folgende Schritte gekennzeichnet ist: innehalten, umwenden, loslassen, kommen-lassen, in-die-Welt-bringen, verkörpern. [4] Das wichtigste Werkzeug für diese Führungstechnologie ist Ihr Selbst

Abbildung 5: Das höhere Selbst ist das wichtigste Werkzeug

Im Kern der U-Theorie steht die folgende Annahme: jeder und jede von uns ist nicht Einer, sondern Zwei. Jedes einzelne menschliche Wesen und jeder einzelne soziale Organismus ist Zwei. Zum einen ist da die Person, die wir durch die Reise der Vergangenheit geworden sind. Das ist die Person, die wir gut kennen. Zum

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anderen ist es die Person, die wir durch unsere Reise in die Zukunft werden könnten, sie ist unsere höchste Zukunftsmöglichkeit. Diese zweite Person ist nicht so offenkundig, wie es die Erste ist. Es ist eine noch nicht realisierte Möglichkeit, die auf uns wartet und auf uns angewiesen ist, um in die Welt zu kommen. Michael Ray (Universität Stanford, USA) beschreibt die erste Person als das selbst mit dem kleinen s und die zweite Person – unsere höchste Zukunftsmöglichkeit – als das Selbst mit dem Großbuchstaben S. Der Kernpunkt von Presencing ist, dass diese zwei Selbste, das Gewordene und das Werdende mit einander in einen Dialog treten. Durch das Zwiegespräch von Gewordenem und Werdendem entsteht ein subtiler Bezug zu unserer höchsten Zukunftsmöglichkeit, der dann beginnt richtungs- und inspirationsgebend für uns in sehr realer Weise eine helfende Kraft zu werden. [5] Die innere Arbeit der Führungskraft beschäftigt sich mit der Begegnung und der Überwindung dreier Feinde

Abbildung 6: Die Stimmen des Urteilens, Zynismus und Angst sind drei Gegner Warum ist die Reise zu den tiefer gelegenen Schichten des U eine wenig befahrene Strasse? Weil die erforderliche innere Arbeit verdammt schwierig ist. Drei Feinde und Gegenüber, denen wir uns stellen und die wir überwinden müssen, blockieren die betreffenden Eingangstore. Der erste Feind blockiert den Zugang zum Open Mind (Öffnung des Denkens). Michael Ray nennt diesen Gegner die SdU (Stimme des Urteils). Solange es uns nicht gelingt, die Stimme des Urteils zum Schweigen zu bringen, solange werden wir bei dem Versuch, auf unsere wirkliche Kreativität und Präsenz zuzugreifen, keine wirklichen Fortschritte machen. Der zweite Feind blockiert das Tor zum Open Heart (Öffnung des Herzens). Dieser Feind wird häufig als Zynismus beschrieben, das heißt, alle Emotionen die in einer Distanz zwischen mir und dem Anderen resultieren. Worum geht es, wenn wir das Herz beginnen zu öffnen? Wir bringen uns unweigerlich in Situationen, in den wir verletzlich sind. Eine Öffnung des Herzens heißt größere Verletzbarkeit. Wie kann ich mich schützen? Zynismus. Auf Distanz zu gehen. Der leichte und oft viel bequemere Weg aus diesem Risiko. Ich will hiermit nicht sagen, dass man gefühlsmäßig nie auf Distanz gehen sollte. Ich will jedoch sagen, dass wenn Sie zum tiefsten Punkt des U vordringen wollen – zu einer direkten Verbindung mit Ihrem authentischen Selbst – dann ist emotionale Distanz, wie z.B. Zynismus, schlicht und ergreifend dysfunktional. Es blockiert Ihr Fortschreiten auf diesem Weg.

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Der dritte Feind blockiert den Zugang zum Open Will (Öffnung des Willens). Der Name dieses Feindes ist Angst. Die Angst davor, das loszulassen, was wir haben und wer wir sind. Die Angst, ökonomische Sicherheit aufzugeben. Die Angst, sozial isoliert und ausgeschlossen zu werden. Die Angst ausgelacht und gemobbt zu werden. Die Angst vor dem Grundgeschehen des Sterbens. Die Angst vor dem Tod. Und dennoch liegt die Begegnung mit der Angst im Zentralbereich eines neu und tiefer verstandenen Führungsgeschehens: Loslassen des Alten (selbst) und kommen lassen des Neuen (Selbst). Den Mut zu haben, anstatt sich an den alten zugrunde gehenden Formen festzuklammern, diese loszulassen, um zum Vehikel für das in-die-Welt-kommen des Neuen zu werden. Die indo-europäische Wurzel des englischen Wortes leadership und des deutschen Wortes Leitung ist *leith und bedeutet wörtlich „nach vorne gehen“, „über die Schwelle gehen“ oder „sterben“. Die tiefere Erfahrungsschicht von Führung in Veränderungsprozessen zeigt eine spürbare Resonanz von dieser ursprünglichen Bedeutung der Wortwurzel, die in der existenziellen Erfahrungsdimension in transformationalen Veränderungsprozessen sichtbar wird: im Loslassen und Sterben-lassen des Alten und im In-die-Welt bringen des Neuen und in dem Mysterium und dem Nichts, das zwischen diesen beiden Bewegungen liegt. [6] Die äußerlich sichtbare Arbeit einer Führungskraft zielt auf den Aufbau von drei Arten von Infrastrukturen ab

Abbildung 7: Drei Infrastrukturen des Lernens: kollektives Sehen, Aktualisieren und Handeln aus der Zukunft heraus

Die drei Infrastrukturen schaffen die Orte und Rhythmen durch drei das Feld aufladende Verbindungen:

- Orte des gemeinsamen Wahrnehmens und Sehens, die einem System helfen, sich selbst aus den Augen des eigenen Umfelds zu sehen (co-sensing)

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- Orte der Stille, durch die die Verbindung zu den Quellen der eigenen Kraft, Kreativität Energie und authentischer Anwesenheit neu erschlossen und vertieft wird, sowohl auf individueller, als auch auf kollektiver Ebene (co-presencing).

- Orte und Werkstätten der Zukunft, in denen

Mikrokosmen des Neuen durch entdeckendes Tun und schnell-zyklige Lernprozesse vor Ort praktisch erkundet und als ‚Landebahnen der Zukunft’ gemeinsam improvisiert werden (co-creating).

[7] Die Zukunft jedes sozialen Systems ist Ausdruck des Emergenzgrads, von dem aus die hervorbringende kollektive Führung arbeitet. Der wirkliche Kampf, um den es weltweit heute geht, ist der um die Evolution von Menschen und Gesellschaften. Zur Disposition steht nichts Geringeres als wer wir sind, wer wir sein wollen und wohin wir die Welt entwickeln möchten, in der wir heute leben und morgen leben wollen. Warum sind wir hier? Die Antworten auf diese Fragen fallen unterschiedlich aus, abhängig von der Aufmerksamkeitsstruktur (der Quelle des sozialen Werdens), die wir bei der Beantwortung der Frage einsetzen. Sie können aus einer rein materialistisch-deterministischen Perspektive beantwortet werden (wenn wir von Ebenen 1 und 2 aus arbeiten) oder aber aus einer ganzheitlichen Sichtweise, die die subtileren (spirituellen) Quellen unserer Wirklichkeitsgestaltung mit umfasst (einbeziehen der Ebenen 3 und 4). So wie das Ergebnis eines Gesprächs abhängig ist von der Ebene des Zuhörens, die man einsetzt (resultierend in Gesprächsformen des Downloadens, der Debatte, des Dialogs oder generativen Werdens) oder das Ergebnis institutioneller Veränderungsprozesse abhängt von der Ebene des Werdens, aus der heraus die betreffende Führung arbeitet (resultierend in Mustern des Reagierens, Re-Design, Re-Frames oder Presencing), so gibt es radikale Unterschiede bei den Verlaufswegen, die das Projekt menschliche Evolution einschlägt, je nachdem auf welcher Ebene sich die weltweit verteilte kollektive Führung bewegt. Beachten Sie bitte, dass ich mich nicht auf individuelle Führungskräfte, sondern auf die kollektive Führung bezogen habe, die alle Menschen, die Veränderung bewirken, unabhängig von ihrer Position einschließt. [8] Führung in diesem Jahrhundert ist letztlich immer global und verlangt die Verschiebung der kollektiven Aufmerksamkeitsstruktur entlang des Gesamtspektrums aller Ebenen. Führung in diesem Jahrhundert ist letztlich immer global und verlangt eine Verschiebung der Struktur kollektiver Aufmerksamkeit von der individuellen (mikro) und Gruppeneben (meso) zur institutionellen (makro) und globalen System-Ebene (mundo). Die gute Nachricht ist, dass die Wendepunkte für die Transformation der Feldstruktur von Aufmerksamkeit auf allen Ebenen die gleichen sind. Diese Wende- oder Flexionspunkte, die ich in der Studie diskutiere, gelten für alle Systemebenen. Die Herausforderung liegt in dem Preis, der dafür bezahlt werden muss. Wer aus der vierten Ebenes des sozialen Werdens heraus

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tätig werden will, muss in aller Regel einen Preis zahlen. Der Preis betrifft das Grundgeschehen am unteren Wendepunkt des U-Prozesses sozialen Werdens: alles das, was nicht wesentlich ist, loslassen zu können (sterben-lassen), um in den tieferen Atmungsryhtmus des „gehen-lassens/kommen-lassens“ einzutauchen, den Goethe als die Essenz der menschlichen Reise beschrieben hat: „Und kennst du nicht dies stirb und werde, so bist du nur ein trüber Gast auf Erden.“ Gestaltung einer sozialen Technologie der Freiheit: 20 Prinzipien und Praktiken des Presencing Mit diesem Buch möchte ich zwei Ziele erreichen: Erstens, eine soziale Grammatik der Emergenz zu entwerfen, die den blinden Fleck ausleuchtet (Theorie U) und zweitens, eine soziale Technologie der Freiheit zu skizzieren, die diesen Ansatz praktisch macht (durch die Prinzipien und Praktiken des Presencing). Methode und soziale Technologie werde ich am Ende des Buchs anhand von 20 Prinzipien und Praktiken zusammenfassen. Die 20 Prinzipien sind eine Matrix und ergeben ein Ganzes. Dieses vorausgestellt, können die Prinzipien auch entlang der Stadien von dem Grundgeschehen des Werdens dargestellt werden, das durch den U-Prozess angedeutet und skizziert ist. Diese Stufen lauten: Co-Initiating: Forme eine gemeinsame Intention. Höre auf das, was dein Leben, Stimmen deines Umfelds und Stimmen deines inneren Feldes (Innfelds) dir vorschlagen, jetzt zu tun. Wenn du sowieso bis zum Anschlag arbeitest, warum nicht den Fokus deiner Arbeit auf ein Projekt legen, was wirklich essentiell ist, mit dem du eine echte positive Resonanz zu deiner tieferen Lebensintention verspürst. Gehe und verbinde dich mit den Kontexten, Gruppen und Akteuren, die relevant sind für dein Projekt. Lerne, die Sache aus ihren Augen zu sehen. Dann schaffe schöpferische Räume, in denen du kleine mikrokosmische Kerngruppen des Feldes versammelst, um gemeinsam eine handlungsleitende Intention zu generieren. Co-Sensing: Tauche vollkommen ein in die unterschiedlichen Kontexte Formt ein Kernteam und begebt euch auf eine Entdeckungsreise, in der ihr tief eintaucht in die für das Projekt relevanten Kontexte. Begegnet den Menschen und Situationen Eurer Entdeckungsreise mit einem weit geöffneten Denken, Fühlen und Wollen. Je größer die Wertschätzung ist, die ihr in Begegnungen den anderen entgegenbringt, desto größer das Geschenk, was euch aus diesen Begegnungen zuteil werden wird.

Co-Presencing: Verbinde dich mit der Zukunft, die durch dich werden will. Suche den Ort der Stille auf, öffne dich der tieferen Quelle des Werdens und verbinde dich mit der Zukunft, die durch dich (euch) in die Welt kommen will.

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Co-Create: Suche die Zukunft mit deinen Händen, nicht mit dem Kopf. Markiere Landungspunkte der Zukunft durch rasches Prototyping von Mikrokosmen des Neuen, damit du im Tun lernen und entdecken kannst (Integration von Kopf, Herz, und Hand).

Co-Evolving: Entwickle öffnende Innovationsräume durch Vernetzung mit dem Umfeld Entwickele differenzierte institutionenübergreifende Ökosysteme der Innovation, indem du die Kraft eines vierten Koordinationsmechanismus praktisch machst: Koordination durch Orte, in denen die Akteure eines Systems gemeinsam vom Ganzen her sehen. Sich aus den Trümmern erheben Wir alle wissen genug über das, was heutzutage alles nicht funktioniert – über das Sterben des alten sozialen Körpers kollektiven Verhaltens. Aber wo ist das Neue? Was ist es, das sich aus den Trümmern erheben will? Was sich aus den Trümmern erhebt, ist eine neue Qualität der Beziehung zwischen kleinen Gemeinschaften von Menschen. Eine neue Feldqualität des gemeinsamen Denkens, Sprechens und Handelns entsteht, wenn Gruppen und Individuen beginnen, sich mit ihrer höchsten Möglichkeit zu verbinden. Wenn dieser erweiterte Resonanzkörper beginnt, ins Schwingen zu kommen, erleben Menschen „Presencing“, indem sie die Veränderung des sozialen Raums (eine erlebte Dehnung der Raumerfahrung), eine Veränderung der sozialen Zeit (eine erlebte Verlangsamung der Zeit bis zum Stillstand) und einen veränderten Zustand des Selbst (ein absolutes Überschreiten der Grenzen des Ego) bemerken. Eine Gruppe, der es bereits einmal gelungen ist, in diesem Modus zu funktionieren, findet es normalerweise leichter, dies ein weiteres Mal zu tun. Diese Lernerfahrung kann als anhaltende, gemeinsame Bindung, Bandung oder Beziehung beschrieben werden. Sie bleibt sogar dann erhalten, wenn neue Mitglieder zu der Gruppe dazustossen. Diese Form vertiefter Präsenz in Gruppen führt dazu, dass eine ganz andere Dimension von Kraft zugänglich wird. Die Ergebnisse einer solchen Feld-Veränderung umfassen ein erhöhtes Maß an individueller Energie und Bewusstheit, einen höheren Grad authentischer Präsenz, eine klarere Richtung und eine tiefere und nachhaltigere persönliche und organisationale Veränderung und Innovation. Die vorliegende Studie baut auf einer zehnjährigen Erforschung und Feldarbeit (1995-2005) der Führung von Veränderungs- und Innovationsprozessen auf. Sie umfasst unter anderem 150 Interviews mit weltweit führenden Denkern und Praktikern in den Bereichen von Strategie, Wissen, Innovation und Führung; zahllosen Reflektions-Werkstätten mit Kollegen und Mitforschern; ebenso wie den Beratungs- und Aktionsforschungsergebnissen aus Projekten mit Führungskräften von Fujitsu, Daimler-Chrylser, GlaxoSmithKline, Hewlett-Packard, Federal

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Express, McKinsey & Company, Nissan, PricewaterhouseCoopers, Shell Oil und mit Bürgerbewegungen in den USA, Europa und Asien. Indem ich Sie zu diesem Feldgang einlade, werde ich mich auf drei Methoden beziehen bzw. sie einsetzen: Phänomenologie, Dialog und kollaborative Aktionsforschung. Alle drei beziehen sich auf den gleichen Kern: die wechselseitig verbundene Qualität von Wissen, Wirklichkeit und Selbst. Alle drei folgen dem Diktum von Kurt Lewin, dem Begründer der Aktionsforschung, dessen These lautete: „Du hast ein System nicht verstanden, solange Du es nicht verändern kannst.“ Jede der drei Methoden verfolgt einen unterschiedlichen Schwerpunkt: Phänomenologie setzt an der Perspektive der 1.Person (dem individuellen Bewusstsein); Dialog an der Perspektive der 2. Person (Felder der Konversation); und Aktionsforschung an der Perspektive der 3. Person (Hervorbringung von neuen institutionellen Mustern und Strukturen). Der erste Teil des Feldgangs setzt sich mit unterschiedlichen Aspekten des blinden Flecks auseinander. Der zweite Teil erforscht die tieferen Mechanismen und zugrundeliegende Grammatik dieses Geländes anhand der U-Theorie. Der dritte Teil des Feldgangs schließlich konzentriert sich auf die Prinzipien und Praktiken des Presencing, eine neue soziale Feldtheorie und Führungstechnologie. Das Buch schließt mit einer Skizze für die Gründung einer globalen Aktionsforschungsuniversität, die die oben genannten Prinzipien gesellschaftlich praktisch und produktiv macht.