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Page 1: (Theodor W. Adorno, “Minima Moralia”) · Fit durch Freude “Wenig fehlt, und man könnte die, welche im Beweis ihrer quicken Lebendigkeit und strotzenden Kraft auf-gehen, für

Fit durch Freude“Wenig fehlt, und man könnte die, welche im Beweis ihrer quicken Lebendigkeit und strotzenden Kraft auf-

gehen, für präparierte Leichen halten, denen man die Nachricht von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen Rücksichten vorenthielt. Auf dem Grunde der herrschenden Gesund-

heit liegt der Tod.”(Theodor W. Adorno, “Minima Moralia”)

Die Gesundheitsreform ist hartes Brot auch für den linken Kri-tiker. Sie lässt sich nicht entlarven. Das Vorhaben, die Pflicht-versicherten zur Ader zu lassen, um die Defizite der Kran-kenkassen aufzufangen, die Unternehmer zu entlasten und dieÄrzte- und Pharmalobby zufrieden zu stellen, wurde schließ-lich in aller Öffentlichkeit verhandelt, so dass jeder es mitbe-kommen konnte, ja sollte. Gerade die Unverfrorenheit, mit derdafür gesorgt wurde, dass, wie in den alten Romanen, Wohl-stand sich wieder am Zustand der Zähne und am Grad derRüstigkeit im Alter ausweist, umgibt das Gaunerstück mit derAura der Unausweichlichkeit. “Noch vor zwanzig Jahren wärejedem linksliberalen Leitartikler aufgefallen, daß die Frage,wieviel Geld eine Gesellschaft für Alte und Kranke ausgebenwill, eine moralische ist. Versicherungsmathematisch, alsFrage der demographischen Entwicklung und ihrer Kosten be-trachtet, gibt es nur eine richtige Antwort: Euthanasie”, resü-mierte Hermann L. Gremliza (in konkret 7/03); und wer, wiesämtliche Parteien, Zeitungen, Wirtschaftsführer und -wissen-schaftler, angesichts dieser klaren, einfachen und unausweich-lichen Antwort die Frage genauso stellt, muss es sich einfachleisten können. Widerstand ist zwecklos: Mehr besagen diebeliebten Termini “Reformbedarf”, “Finanzierbarkeit” und“Sachzwang” nicht. Das reicht; allemal jedenfalls dafür, dassin Meinungsumfragen die übergroße Mehrheit gegen denZwang, für Sehhilfen, Zahnersatz und Krankengeld selber zusorgen, votiert und bei Wahlen für den, der der FAZ und der‘Bild’ am glaubwürdigsten verspricht, die “notwendigenGrausamkeiten” zu begehen.Für den linken Politiker muss es dabei wie ein Wunder er-scheinen, warum immer wieder die anderen drankommen undnie eine treue Seele wie die Sahra Wagenknecht, die unver-drossen vorzurechnen vermag, es wäre für die Krankenversor-gung Geld genug da, würde nur die Wirtschaft entschlossenzur Kasse gebeten. Das wird rechnerisch schon stimmen. Nurbleibt für die Sache der Kritik dabei nichts übrig. Wer stetsdavon ausgeht, die hiesigen Massen wollten schon dasRichtige, sie bräuchten bloß ein wenig Unterstützung dabei, esrichtig auszudrücken, unterschätzt deren Bewußtsein just dort,wo er aus dessen Negativität noch etwas lernen könnte: Dasses für den linken Gesellschaftsplaner, der im Namen desWohls der Vielen sich berufen fühlt, für das Wohl des großenGanzen zu sorgen, in der politischen Ökonomie des Krisenka-pitalismus keinen Platz und keinen Sinn mehr gibt; dass sein -der Klage um Gerechtigkeit inhärentes - Lob an die warenpro-duzierende Gesellschaft, sie könnte den Massen, so wie sie ist,ein schönes Leben ermöglichen, würden die Mittel dazu nurendlich den oberen Zehntausend entrissen, keiner mehr hörenwill. Noch die vollkommenste soziale Absicherung verheißtnicht Freiheit im Überfluss, sondern Verwaltung des Mangels.Solange aber die falschen Zustände herrschen, bläst das Volk,das ein solches bleiben will, ganz unverstellt zur Jagd auf dieParasiten. Mit den “Nieten in Nadelstreifen” nehmen sie nurdann vorlieb, wenn genuinere Volksfeinde dem Zugriff entzo-gen sind. Daran aber besteht aktuell kein Mangel - nicht zu-letzt, weil auch die Gesundheitsreform bei der Suche hilfreichzur Hand geht.Das landestypische oppositionelle Bewusstsein hingegen siehtfortwährend nur die Gottesergebenheit, aus der es die Be-völkerung aufrütteln will, nie aber den Gott, dem diese damit

dient. Wie Gesundheit im Kapitalismus anders machbar wäre,wissen sie, nur nicht, was im Kapitalismus Gesundheit ist. Je-der Schlag, den sie führen, fällt deshalb stets auf sie zurück.An der Gesundheit dürfe nicht gespart werden? - Recht so;wer wird sich also anstellen, wenn er in Zukunft ein paar Euromehr für sein leibliches Wohlergehen zahlen muss. Gesund-heit sei keine Ware? - Genau deshalb ist die Aufopferung desPflegepersonals auch in Geld nicht auszudrücken, und am bes-ten haben es die Kranken eh in der Familie, wo sie dieMenschlichkeit bekommen können, deren Fehlen in den In-stitutionen die Kritiker doch immer bemängeln.Die Gesundheitsreform einzig für eine Umverteilung zu hal-ten, einen Defizitausgleich, bei dem die da oben das Geldsparen, das denen da unten vom Lohn abgezogen wird, heißtihren Charakter zu unterschätzen. Die Praxisgebühr, die fälligwird, wenn ein Facharzt ohne Überweisung durch den Haus-arzt aufgesucht wird, dürfte weniger einbringen, als all die zu-sätzlichen Beratungsgespräche für jene, die sich ab sofort bravihren Überweisungsträger abholen, die Kassen kosten werden;und die Streichung von mehr und mehr vorbeugenden Maß-nahmen wird die Beteiligten, wie jeder weiß, ohnehin teuer zustehen kommen. Bei der Reorganisation des Sozialstaats gehtes um ein moralisches Projekt; dafür lässt man auch mal etwasspringen. - Moralisch dabei im kritischen, Marxschen Sinne,in dem dieser vom moralischen Moment in der Wertbestim-mung der Ware Arbeitskraft, den Kosten ihrer Reproduktion,spricht. Was, über Wasser, Brot und Schlafplatz hinaus,einfach sein muss, um rechtschaffen leben und also arbeitenzu können, wird derzeit gesellschaftlich neu reguliert. Inlängst prähistorisch scheinenden Zeiten verfuhr der Sozialstaatkalkuliert luxuriös. Nicht bloß die krankheitsbedingte Repara-tur ihrer im Arbeiter verkörperten Produktivkraft nahm dieGesellschaft souverän in ihre eigene Regie. Sie gewährte, alsAnerkennung für reichtumsbildende Verausgabung, auch denunproduktiv gewordenen Körpern eine finale Ruhepause, inder sie, ohne allzu schnellen Verschleiß, ganz der Erbauungihrer Besitzer dienen sollten.Nun entlässt eben, mit gleichem Recht, der Staat seine Bürger,wie es so schön heißt, in die verstärkte “Eigenverantwortung”für ihre Gesundheit - nicht, weil es sonst zu teuer wäre (dafürfehlt, wie beschrieben, jeder Maßstab), sondern weil er sichauf sie verlassen kann. Anders als bei den Arbeitern des 19.Jahrhunderts hat auch der wahnhafteste Kapitalist nicht zu be-fürchten, daß seine Untergebenen den Dienst mit dem Schnapsverwechseln würden. Im Gegenteil. So sehr hat sich der allge-meine Zweck des Wohlergehens in die Körper eingegraben,daß jede Unterscheidung, wem es gerade wohl ergeht, wenngejoggt und gebräunt, im Fitnesstudio gestählt und im Bettentspannt wird, dem Individuum oder der Gemeinschaft, sicherübrigt. Wenn der einzelne sich gegens Passivrauchen zurWehr setzt, um sein Innerstes vom trüben Dunst fremderLeidenschaft rein zu halten, ist ihm der Beifall aller Versi-cherten sicher, und ebenso der Drogenbeauftragten, wenn sieihm zur Hilfe eilt und den Zigarettenpreis auf pädagogischevier Euro erhöht. Nicht erst der herrschaftliche Wink mit demZaunpfahl, man möge doch bitte etwas mehr auf sich selberacht geben, weil man zukünftig für die Medikamente gegendie kleinen Wehwehchen, ob verschrieben oder nicht, selberaufzukommen habe, hält die Bürger dazu an, sich und anderen

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nicht zur Last zu fallen. Das Geschäft des Alltags überstehtunbeschadet nur, wer den Mahnungen der Bundeszentrale fürgesundheitliche Aufklärung Folge leistet, auch ohne dass sieausgesprochen werden, und sich ihm belastbar, motiviert bisin die Haarspitzen und fit wie ein Turnschuh stellt; man fragenur auf dem Arbeitsamt nach. - Aber will nicht jeder ohnehinund aus den besten Gründen das, worauf Staat, Kapital undKrankenkassen freundlich insistieren, im Interesse aller Betei-ligten? Sicherlich. Nur macht der Spiegel das Gesicht, nichtumgekehrt; und in dem, den die Gesellschaft ihren Mitglie-dern vorhält, sehen diese den Erfolg in Gestalt jener Typen,die es, so wie sie es in die Bravo-Love-Stories schaffen, nochweit bringen werden: mit breiter Brust und guter Laune, wieman sie sich nur beim Bodybuilden und Snowboardfahren an-trainieren kann. Vor diesem Spiegel macht sich zurecht, wersich selber gefallen will und - zum Dank für den Glanz, dendas gesellschaftliche Spektakel bereitwillig spendet - auchdiesem. Die Gesundheitsreform setzt dabei neue Maßstäbe, was demKörper gut tut. Mit der Ausgliederung von Zahnersatz, Sehhil-fen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall beginnt die Rück-führung der Notwendigkeiten auf unhintergehbare Nöte, anderen Ausmaß die Bürokratie mit den an der Reform beteilig-ten, konkurrierenden Cliquen einstweilen noch feilt; alles dar-über aber, da herrscht Einigkeit, wird als Luxus geltenmüssen. Dass das brüsk Abgelehnte von heute der einzigmögliche Beschluss von morgen ist, weiß das Publikum, demdieses Schauspiel bei jedem neuen Reformruck der 90er gebo-ten wurde, allemal. So weiß es auch, dass zu dem, was gestri-chen werden soll, nicht nur teure Eingriffe an den Unproduk-tiven und typische Therapien für verwöhnte Schlaffis gehörenwerden, sondern, nach dem gleichen Prinzip, die kostengüns-tige Reparatur derjenigen körperlichen Fehlfunktionen, die miteinem weniger riskanten Lebensstil zu vermeiden gewesenwären. Das aber sind, will man konsequent bleiben, naturge-mäß alle.Die Objektivität selber befördert, ganz abgeklärt und nüchtern,die mythologische Sicht auf die Gesundheit als schicksalshafteFügung. Unter Bedingungen, unter denen von zehn, die Arbeitwollen, trotzdem - und mit Notwendigkeit - einer keine findet,verteilt sich auch der beschleunigte Verfall auf die Individuennach dem undurchdringlichen Richtspruch der Statistik. Jederweiß schließlich, was Sozialwissenschaftler mühsam heraus-finden müssen: dass Menschen mit geringem Einkommen einegeringere Lebenserwartung haben; in Deutschland sterben sieim Durchschnitt sieben Jahre frühe als Reiche. So haben dieSubjekte recht, den entfremdeten Körper als Menetekel zufürchten. Nur wenn er sich nicht muckt, können sie sich vorihm sicher fühlen. Spüren sie ihn aber, wie er unter den gesell-schaftlichen Lasten ächzt, aus Angst und Hoffnungslosigkeitverkrampft oder von unduldsamen Verlangen erschüttert wird,ist es schon zu spät; dann ist die Niederlage längst besiegelt.Nur solange der Einzelne tagtäglich auf wundersame Art dasgesellschaftliche Ganze reproduziert, verläuft auch seinepersönliche Reproduktion reibungslos. Wer aber zu den Aus-geschlossenen gehört, vertritt der Allgemeinheit gegenüber dieBedürftigkeit des Fleisches, weil er mangels eigenen Vermö-gens beim Hegen, Pflegen und Füttern auf deren Gnade ange-wiesen ist. Drastisch wird die Reduktion auf die Leiblichkeitan denjenigen öffentlich zur Schau gestellt, deren Haut, be-deckt mit Einstichstellen, eiternden Wunden und getrocknetenExkrementen, die Male von Genuss und Vogelfreiheit trägt.Der Erfolg mag himmlisch sein, das Scheitern aber ist kreatür-lich. In der Stilisierung noch des subalternen Lohnabhängigen zueiner Ich-AG, die stolz Mitdenken, flexibles Situationsma-nagement und Teamfähigkeit vorführt, erscheint die Tendenzdes postindustriellen Kapitalismus, an allem anderen, wasjener vielleicht zu bieten hätte, zunehmend weniger Bedarf zuhaben. Immer mehr Dienstleister, die nur tote Kosten verursa-

chen, müssen in tausenderlei Tätigkeiten ein profitablesArbeits- und Verkaufsklima schaffen, um die Bedingungeneines Verwertungsprozesses, in dem anteilig immer wenigermit der Produktion von Mehrwert betraut sind, zu sichern. DieKonsequenzen dessen stehen dem Bewusstsein als Sockel-arbeitslosigkeit vor Augen, die seit zwanzig Jahren, unabhän-gig von der konjunkturellen Lage, stetig anwächst. So prekär,wie Fühlen und Denken an sich selber sind, so prekär ist daherihre Produktivierung - stets bedroht von jener Verwandlungdes metaphorisch körperlosen in einen real menschenleerenBetrieb, auf die das Kapital bewusstlos zusteuert. Solange aberGeist und Seele sich im Austausch gegen Lohn nochverflüssigen lassen, hängt den Vereinzelten nur der abgetrenn-te Körper als Klotz am Bein; totes Gewicht, dessen Verant-wortung die Gesellschaft nicht länger tragen will. Allein ge-lassen mit dessen Besitz, weiß niemand wohin damit, weilkeine allgemein approbierte Nützlichkeit den Weg weist.Dass sie mit ihren Körpern nichts mehr anzufangen wissen,weil das Kapital mit ihnen nichts mehr anfangen kann, heißtjedoch nicht, dass sie es nicht trotzdem müssten. Mens sana incorpore sano - so viel klassische Halbbildung wird vorausge-setzt. Gerade um nicht störend in Erscheinung zu treten,verlangt der Körper alle Aufmerksamkeit; ein hoffnungslosesUnterfangen - umso mehr, als zwar dynamisch wie ein Wind-hund, belastbar wie Leder und flexibel wie ein Abgeordneterder Grünen zu sein gute Voraussetzungen abgeben, um wasaus sich zu machen, aber eben keine hinreichende Bedingung.Manche teilen sich mit größter Hingabe die nötigen QuantenKraft durch Fun zu und bringen es dennoch bloß zur Honorar-kraft in ihrem Fitnessclub. Der Bestätigung erheischendeBlick in den Spiegel (ohnehin trügerisch, wie uns die Krebs-vorsorge nicht müde wird zu warnen, weil unter der makel-losesten Oberfläche die Krankheiten wuchern können) nimmtdann keinen glänzend aufpolierten Arbeitskraftbehälter wahr,sondern sieht, im gleichen Bild, einen eitlen Fatzke, der zusehr im Genuss an sich selbst aufgeht, als dass er noch an dieGesellschaft und ihre Ansprüche zu denken vermöchte.Aus diesem Teufelskreis befreit kein selbstbestimmtesArbeitskraftunternehmen mehr, sondern bloß - und einmalmehr - der gute alte autoritäre Staat. Nur er allein vermag si-cher zu verbürgen, dass es die anderen sind, die krank sind;solche, die pathische Projektion traditionell unter Verdachtstellt, leidenschaftlich zu leben: die Arbeitslosen und dieFremden. Sie sichtbar als das zu markieren, was sie in ihrerüberflüssigen Lebendigkeit darstellen - “ein gigantisches Nah-rungsreservoir für gefährliche Mikroben”, wie der Präsidentder Max-Planck-Gesellschaft, Markl, die bedürftigen 80% derMenschheit nannte -, ist nicht nur Anliegen einer Anett Rog-genbuck, die an die Hamburger Morgenpost (23.7.03) schrieb:“Zukünftig erkennt man sie sofort: Die mit gutem Gebiss undguter Gesundheit, sprich” - nein, nicht Land- und Geldadel,sondern: “Asylbewerber, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger[…].” Das ist die Botschaft der derzeitigen Debatte: Mit unskönnen sie es tatsächlich machen, wenn nur die Gerechtigkeitgewahrt bleibt, d.h. es denen auf der Stufe unter uns zum Aus-gleich so richtig dreckig geht. Dafür sind wir auch bereit, un-serem ureigenen Begehr zu folgen und uns Körper wie ausdem Lehrbuch zuzulegen, so tip-top konserviert und lei-chenstarr, wie wir sie alle aus dem Biologie-Unterrichtkennen.

Die ungekürzte Fassung dieses Textes findet sich demnächstunter www.studienbibliothek.org