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Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II www.zeit.de/schulangebote Inhalt: 2   Einleitung: Thema und Lernziele 3 Arbeitsblatt: Fühlt ihr euch geliebt? 7 Aufgaben 9  Internetseiten zum Thema Thema im November 2019: Familie kann auch schwierig sein Familie, das kann ein enger Zusammenhalt von Menschen sein, die sich gegenseitig helfen, lieben und unterstützen. Familie kann aber auch ein Ort von Verletzungen und Brüchen sein. Wer unter belastenden Familienverhältnissen aufwächst, muss oft besonders hart kämpfen, um sein Leben zu meistern. Umso wichtiger ist ein sensibles und achtsames Umfeld, das einem den Halt geben kann, den man zu Hause vielleicht nicht immer bekommt. In dieser Unterrichtseinheit beschäftigen sich Ihre Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen, oft schwierigen Familienkonstellationen. Sie beschreiben zunächst ihre eigene Familie in einem Satz und gestalten aus den Familiendefinitionen eine Galerie. Anschließend diskutieren sie ein Interview mit Men- schen, die in einer Patchworkfamilie aufgewachsen sind. Anhand eines Zitats versetzen sich die Schüle- rinnen und Schüler in die Lage von Gleichaltrigen, die in schwierigen Familienverhältnissen aufwachsen, und entwickeln daraus Ideen und Botschaften, um für ihre Lage Verständnis zu wecken. Zum Abschluss entwickeln sie in Gruppenarbeit Lösungsmodelle für familiäre Konfliktsituationen. Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für Lehrkräfte der Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag im Monat. Sie beleuchten ein Thema aus der ZEIT oder von ZEIT ONLINE, ergänzt durch pas- sende Arbeitsanregungen zur praktischen Umsetzung im Unterricht. www.sos-kinderdorf-campus.de In Zusammenarbeit mit:

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Page 1: Thema im November 2019: Familie kann auch …ZEIT für die Schule«-Arbeitsblätter | Familie kann auch schwierig sein 5Johannes: Und deine Mutter hat es geschehen lassen? Susanne:

Kostenloses Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe II

www.zeit.de/schulangebote

Inhalt:

2   Einleitung: Thema und Lernziele

3 Arbeitsblatt: Fühlt ihr euch geliebt?

7 Aufgaben

9  Internetseiten zum Thema

Thema im November 2019: Familie kann auch schwierig seinFamilie, das kann ein enger Zusammenhalt von Menschen sein, die sich gegenseitig helfen, lieben und unterstützen. Familie kann aber auch ein Ort von Verletzungen und Brüchen sein. Wer unter belastenden Familienverhältnissen aufwächst, muss oft besonders hart kämpfen, um sein Leben zu meistern. Umso wichtiger ist ein sensibles und achtsames Umfeld, das einem den Halt geben kann, den man zu Hause vielleicht nicht immer bekommt.

In dieser Unterrichtseinheit beschäftigen sich Ihre Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen, oft schwierigen Familienkonstellationen. Sie beschreiben zunächst ihre eigene Familie in einem Satz und gestalten aus den Familiendefinitionen eine Galerie. Anschließend diskutieren sie ein Interview mit Men-schen, die in einer Patchworkfamilie aufgewachsen sind. Anhand eines Zitats versetzen sich die Schüle-rinnen und Schüler in die Lage von Gleichaltrigen, die in schwierigen Familienverhältnissen aufwachsen, und entwickeln daraus Ideen und Botschaften, um für ihre Lage Verständnis zu wecken. Zum Abschluss entwickeln sie in Gruppenarbeit Lösungsmodelle für familiäre Konfliktsituationen.

Diese Arbeitsblätter sind ein kostenloser Service für Lehrkräfte der Oberstufe und erscheinen jeden ersten Donnerstag im Monat. Sie beleuchten ein Thema aus der ZEIT oder von ZEIT ONLINE, ergänzt durch pas-sende Arbeitsanregungen zur praktischen Umsetzung im Unterricht.

www.sos-kinderdorf-campus.de

In Zusammenarbeit mit:

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Familien stiften Identität, tragen zur sozialen Identifikation bei, legen die Basis für Selbstvertrauen und prägen soziale Bindungen und Wertvorstellungen – oft ein Leben lang. In Familien lernt man, Verantwor-tung füreinander zu übernehmen und sich gegenseitig zu unterstützen. Doch nicht immer gelingt es, dass die Familie den Kindern ein starkes Fundament mit auf den Lebensweg geben kann.

Fast jede zweite Ehe wird laut Statistischem Bundesamt geschieden. Rund zweieinhalb Millionen Haushalte mit Alleinerziehenden gibt es in Deutschland, und etwa jedes sechste Kind wächst in einer Patchwork- familie auf. Viele Kinder und Jugendliche bewältigen dies recht gut, insbesondere wenn sie sich weiterhin auf familiären Rückhalt und Zuwendung stützen können. Doch häufig sind solche Verlusterfahrungen, die konfliktbeladene Situation zu Hause und familiäre Umorientierungsprozesse mit schmerzhaften Erlebnis-sen und Gefühlen verbunden, die die Kinder und Jugendlichen verarbeiten müssen. Dies gilt beispiels-weise auch für Patchworkfamilien, die viele als Belastung empfinden. In dem hier vorgestellten Interview erzählen Betroffene aus verschiedenen Generationen über ihre Erfahrungen und Bewältigungsstrategien.

Noch schwieriger ist es für Kinder und Jugendliche, die nicht in ihren Ursprungsfamilien leben können. In Deutschland muss laut SOS-Kinderdorf alle 13 Minuten ein Kind zu seinem Schutz aus der eigenen Familie genommen werden. Diese Kinder haben bisweilen Gewalt oder Vernachlässigung erlebt. Solche trauma-tischen Erfahrungen können die seelische und physische Widerstandskraft der Betroffenen schwächen. Kinder, die wenig Liebe und Fürsorge erhalten und vernachlässigt werden, haben geringere Chancen, und das auf unterschiedlichen Ebenen: Sie kämpfen mit ihrem Selbstwertgefühl, werden häufiger ausgegrenzt oder haben Schwierigkeiten mit sozialen Bindungen. Dies kann sich auch auf ihre Konzentrationsfähigkeit und die Schulnoten auswirken.

Die vorliegende Unterrichtseinheit möchte Schülerinnen und Schüler für die Akzeptanz unterschiedlicher Familienmodelle sensibilisieren und auch auf die spezifischen Probleme aufmerksam machen, mit denen Menschen aus schwierigen Familiensituationen leben müssen. Durch die Beschäftigung mit diesem Thema soll Empathie geweckt und ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass man Betroffene stärken und unterstützen kann.

In dem Arbeitsblatt werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, einen Satz zu formulieren, der ihre Familie beschreibt. Sie besprechen und kommentieren anschließend die Aushänge mit den verschie-denen Familienbildern. In einem zweiten Schritt lesen sie das Interview zu Patchworkfamilien mit verteilten Rollen und diskutieren über die Voraussetzungen, unter denen Familie funktionieren kann. Anhand eines Zitats erarbeiten sie schließlich eine Aufforderung, Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen zu unterstützen. Zum Abschluss dieser Unterrichtssequenz entwickeln die Schülerinnen und Schüler ein Rol-lenspiel, in dem sie Lösungswege in Familienkonflikten aufzeigen.

Einleitung: Thema und Lernziele

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Arbeitsblatt Fühlt ihr euch geliebt?

Ein früher Abend in einem Restaurant am Landwehrkanal in Berlin. Die Schülerin Allissa Beer, 19, die Künstlerin Susanne Wagner, 59, und der Hörgeräteakustiker Johannes Meyer, 32, nehmen Platz. Sie ken-nen sich nicht, aber ihre gemeinsame Geschichte schafft gleich Vertrauen – über die Generationen hinweg. Sie alle sind Scheidungskinder, die mit ihren Müttern und deren neuen Partnern aufgewachsen sind. Allissa Beer hat eine Halbschwester und eine Stiefschwester, Johannes Meyer eine Schwester und einen Halbbru-der. Susanne Wagner hat ihre Kindheit in wechselnden Konstellationen mit einem Bruder, 16 Halb- und sieben Stiefgeschwistern verbracht. Patchwork ist das Modewort für Familien, in denen nicht alle Angehö-rigen blutsverwandt sind. In vielen Publikationen wird sie als zeitgemäßes Gegenmodell zur traditionellen Kleinfamilie gefeiert. Dabei betrachten Bücher wie »Glückliche Stiefmutter« von Katharina Grünewald das Phänomen immer aus der Perspektive der Eltern, nie aus der der Kinder. ZEIT-Autorin Paulina Cziens-kowski ärgert das. Sie hat ihre Patchwork-Jugend vor allem als Belastung empfunden. Kann es sein, dass es anderen genauso geht? Und was sind die Bedingungen, unter denen Patchwork auch für die Kinder funktioniert? […]

DIE ZEIT: Die Statistik ist deutlich: In Deutschland wird knapp jede zweite Ehe geschieden, etwa jedes sechste Kind wächst inzwischen in einer Patchworkfamilie auf. Wie fühlt sich das von innen an?

Susanne Wagner: Patchwork ist die Realität, für mich ist das aber kein neues Familienideal. Ich habe sogar den Verdacht, dass das schöne Bild der modernen, total entspannten Patchworkfamilie, das uns die Frauenzeitschriften seit ein paar Jahren vorgaukeln, genauso falsch ist wie das der klassischen Familie.

Johannes Meyer: Ich bin da auch skeptisch. Jede Ehe wird doch in der Hoffnung auf ewige Liebe geschlos-sen. Und Patchwork zeigt: Es hat mal wieder nicht geklappt.

Susanne: Nehmen Sie meine Mutter. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich damals in so viele Ehen ge-stürzt hat, weil sie eine große, heile Familie haben wollte. Es ist ihr nur nicht gelungen.

ZEIT: Die Familienforschung sagt: Wenn es zwischen den Eltern gar nicht mehr geht, ist Trennung die beste Lösung, auch wenn die Kinder das erst mal nicht hören wollen.

Paulina Czienskowski: Die Trennung meiner Eltern war nicht das Problem. Die lief sehr freundschaftlich ab, mein Vater hatte in der Nähe eine Wohnung, und ich konnte da jederzeit hin. Mein Problem war mein Stiefvater, der mich behandelt hat, als gehöre ich nicht dazu. Deshalb regt es mich so auf, wenn ich lese, wie die tollen neuen Stiefeltern sich für die Kinder ihrer Partner aufopfern. Mit meiner Erfahrung hat das nichts zu tun. Und mit der meiner Freunde auch nicht.

Viele wachsen heute nicht bei der eigenen Mutter oder dem eigenen Vater auf. In der Patch-workfamilie soll trotzdem jeder glücklich werden. Aber was macht sie mit den Kindern?

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Johannes: Meine Mutter hatte nach der Scheidung diverse Partner, die mit mir und meiner Schwester nichts anfangen konnten. Ich bin ihr total dankbar, dass sie mit denen nie zusammengezogen ist. Das wäre nicht gut gegangen.

Allissa Beer: So hat meine Mutter das auch lange gehandhabt. Mein Vater ist in die Türkei gezogen, als ich vier war. Die ersten Freunde meiner Mutter habe ich nie richtig ins Herz schließen müssen, weil das nur Mamas Liebhaber waren. Dann zog plötzlich Hannes, mein Stiefvater, bei uns ein. Und vom einen auf den anderen Tag gab es einen Mann in der Familie, der mir Ansagen machte. Mir gefiel das gar nicht. Inzwischen nenne ich ihn Papa. Mit seiner Tochter, die nur ein Jahr älter ist als ich, gab es sofort eine große Nähe. Sie hat genau verstanden, wie es mir in dieser neuen Familie ging. Denn ihr ging es ja genauso.

Paulina: Glück gehabt, würde ich sagen. Denn man weiß vorher ja nicht, wie es läuft. Mein Stiefvater hat vor der Hochzeit sicher nicht gesagt: Also, auf die Pauli hab ich keine Lust. Er hat einfach irgendwann auf-gehört, Frühstück für mich mit zu decken. Oder Familienurlaube in die Schulzeit gelegt, sodass ich leider, leider nicht mitfahren konnte. Das war sicher nicht vorsätzlich boshaft, aber sehr unüberlegt.

ZEIT: Was darf man als Kind von den neuen Partnern der Eltern erwarten? Gibt es da so etwas wie einen Mindeststandard?

Johannes: Ich finde, dass den neuen Partnern klar sein muss, dass sie eine Familie heiraten. Sie werden ihre neue Partnerin nie für sich allein haben, sie sind nicht nur Liebhaber, sondern auch Teilzeitvater. Das müssen sie aushalten.

ZEIT: Kann es nicht auch übergriffig sein, wenn der neue Partner der Mutter gleich als Vaterersatz auftritt?

Paulina: Absolut. Das hätte ich als Verrat an meinem leiblichen Vater betrachtet.

Johannes: So habe ich das nicht gemeint. Für mich war auch immer klar: Mein Stiefvater wird meinen Vater nicht ersetzen können, und in der Pubertät habe ich ihn das auch spüren lassen. Ich habe mir wenig sagen lassen und ihn nie um etwas gebeten. Trotzdem hat er mich gegenüber Fremden immer als seinen Sohn bezeichnet, was ich schön fand. […]

Susanne: […] Als Kind bin ich überhaupt nie auf die Idee gekommen, meine Stiefväter als Vaterersatz zu sehen. Dazu haben die sich auch zu wenig gekümmert, was mir nur recht war. Die Väter meiner Freundin-nen waren eher abschreckende Gestalten. Eine hat eine krasse Missbrauchsgeschichte erlebt, was ich nicht wusste. Aber mir war schon als Kind klar: So einen Vater brauche ich nicht. Dann heiratete meine Mutter in zweiter Ehe diesen einen Mann, der gerne Familienoberhaupt spielte. Weil er gerne Würstchen in Biersoße aß, mussten wir Kinder das auch essen – und bis zum letzten Bissen sitzen bleiben. Einmal wurde ich auf dem Schulweg von einem Auto angefahren. Als die Polizei mich nach Hause brachte, hat er mir eine run-tergehauen, weil ich unachtsam war.

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Johannes: Und deine Mutter hat es geschehen lassen?

Susanne: Meine Mutter war zu dem Zeitpunkt nicht da. Sie hätte es nicht geschehen lassen. Bei allem, was ich ihr vorzuwerfen habe: Ich wusste immer, dass sie im Zweifelsfall zu uns Kindern halten würde.

Paulina: Das ist der Unterschied zwischen uns. Meine Mutter hat sich all die Jahre rausgehalten. Aber komischerweise habe ich ihr das nie übel genommen. […] Ich glaube, es war so: Ich habe früh verstanden, dass es einen Grund dafür gibt, dass sie mit diesem Mann zusammen ist. Ich wollte, dass sie glücklich wird.

ZEIT: Sie haben sich für die Partnerschaft der Mutter verantwortlich gefühlt. Ging das den anderen auch so?

Allissa: Total. Vor allem am Anfang. Da gab es oft Streit darum, wer wie viel im Haushalt helfen muss. Und mein Stiefvater war immer der Meinung, ich machte zu wenig. Meine Mutter hat mich dann immer in Schutz genommen, was nur fair war, weil ich genauso viel gemacht habe wie meine Stiefschwester, bloß nicht so sichtbar. Trotzdem hatte ich immer Angst, dass meine Mutter wegen mir ihre Beziehung gefähr-det. […] Man wünscht sich so sehr, die echte, leibliche Tochter zu sein. Aber das ist man halt nicht. […]

Johannes: […] Als ich 14 war, habe ich noch einen Halbbruder bekommen und festgestellt, wie geduldig und liebevoll mein Stiefvater sein kann. Mit mir und meiner Schwester hat er immer sehr schnell die Nerven verloren. Das war schon hart. […]

Allissa: […] Mein leiblicher Vater hat mich einmal besucht, da war ich acht, und er wollte mit mir Kaffee trinken, mit einem Grundschulkind! Ich hatte Angst vor ihm. Mein Stiefvater ist für mich mein Vater.

ZEIT: Ihre Väter entsprechen dem Klischee vom verantwortungslosen Scheidungsvater, das die Jugend-ämter im Kopf haben, wenn sie die Kinder nach Scheidungen reflexhaft den Müttern zusprechen. Wie war das bei Ihnen, Paulina und Johannes?

Paulina: Ich hatte immer ein Zimmer bei meinem Vater und wusste, der ist jederzeit für mich da. Haupt-sächlich habe ich aber bei meiner Mutter gewohnt. Dort hat der Alltag einfach besser funktioniert.

Johannes: In der Pubertät hätte ich schon gerne bei meinem Vater gewohnt. Der war mein großes Vorbild, einer, der alles kann: Informatikprofessor, belesen, hat zwischendurch mit dem Gedanken gespielt, Kunst zu studieren. Aber meine Eltern hatten anders entschieden, im Nachhinein muss auch ich sagen: völlig zu Recht. […] Meine sehr bodenständige, feministische Mutter hat mich einfach viel besser aufs Leben vor-bereitet. […]

Susanne: […] Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, fällt mir auf, dass ich sehr schnell große Distanz zu den Erwachsenen aufgebaut habe, weil die das Elternsein einfach nicht auf die Reihe bekamen und wir Kinder uns so oft alleingelassen fühlten. Meine Familie, das waren für mich immer meine Halb- und Stief-geschwister. Da gab es nie eine Konkurrenz. Wir hatten immer das Gefühl, wir sitzen in einem Boot und müssen gemeinsam an Land. […]

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Interview: Paulina Czienskowski und Stefanie Flamm, DIE ZEIT Nr. 40/2019, https://www.zeit.de/2019/40/patchwork-familien-kinder-erziehung-liebe-familienleben (gekürzt)

Paulina: Für die Beziehungsforschung sind Halbgeschwister das Bindeglied, das die neue Familie zusam-menhält. Hat bei uns aber nur so halb geklappt. Meine Mutter, mein Halbbruder und ich, wir waren die totale Einheit […]. Aber mein Stiefvater gehörte für mich nie dazu. […]

ZEIT: Stiefkinder lernen früh, sich in neue Konstellationen einzufügen. Was können sie sonst noch besser als andere?

Johannes: Ich habe schon als Kind gelernt, meine Bedürfnisse so zu formulieren, dass sie auch wahrge-nommen werden. Das hat mich stark gemacht, aber auch ziemlich konfrontativ, was auch ein Problem ist, weil ich auf der anderen Seite total harmoniesüchtig bin.

Susanne: Ich würde sagen, dass ich ziemlich gut darin bin, Konflikte auszutragen, ohne dass es zum Bruch kommt. Nachdem ich meine Kindheit damit verbracht habe, ständig neue Mitglieder in meine Familie zu integrieren, ist meine Klaviatur im Umgang mit anderen Menschen sehr groß. […]

ZEIT: Viele Studien belegen, dass Scheidungskinder nicht sehr ausdauernd in Beziehungen sind.

Paulina: Wie denn auch? Wenn man schon als Kind lernt, dass nichts für immer ist, wird man fatalistisch.

Allissa: Ich hatte bisher nur einen Freund, und da dachte ich auch vom ersten Tag an: Der haut bestimmt bald wieder ab.

Susanne: Das war bei meinen ersten beiden Freunden genauso. Ich hatte einfach nicht das Vertrauen, dass so was halten kann. Mit meinem dritten Freund bin ich jetzt seit 32 Jahren verheiratet. Und was interessant ist: Alle meine vielen Geschwister führen sehr lange Ehen.

ZEIT: Aus Protest gegen das Elternhaus?

Susanne: Aus Erfahrung, würde ich sagen. Natürlich kann man sich immer einen Mann vorstellen, der bes-ser ist. Aber man weiß halt auch: Mit jedem neuen Mann kommen neue Probleme. Und wenn man dann zusammen so viele Hochs und Tiefs durchgestanden hat, gewinnt man irgendwann Vertrauen in das, was im Elternhaus nie funktioniert hat.

Johannes: Das ist auch mein Plan. Als ich meine Freundin drei Monate kannte, sind wir zusammengezo-gen. Damals haben alle gesagt, das sei viel zu früh, das halte nie. Doch ich habe beschlossen, eine Bezie-hung zu führen, wie sie im Bilderbuch steht. Dafür muss man sich immer wieder bewusst entscheiden.

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Aufgaben

Einstieg

1. Die eigene Familie in einem Satz beschreiben Für manche ist die Familie vor allem ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit, für andere oft eine Quelle von Frust und Traurigkeit. Viele denken bei »Familie« nur an Verwandtschaft oder Zusammen-leben, andere finden auch im Freundeskreis oder in Wahlfamilien ihr Zuhause.a) »Was bedeutet Familie für dich?«: Beantworten Sie diese Frage in einem Satz. Nehmen Sie hier-

für ein Blatt Papier, und lassen Sie Platz für Kommentare. Siehe auch: ze.tt.de: So beschreibt ihr eure Familie in einem Satz https://ze.tt/was-bedeutet-familie-fuer-dich

b) Sammeln Sie die Papierbögen ein, und bilden Sie drei Kategorien: • Äußerungen, die Familie überwiegend positiv beschreiben• Sätze, die eine ambivalente bis negative Familiensituation beschreiben• Familienmodelle außerhalb von Verwandtschaft (Ersatz- oder Wahlfamilien)

c) Hängen Sie Ihre Ein-Satz-Beschreibungen von Familie in einer Art Galerie in Ihrem Klassenzim-mer auf, oder legen Sie die Blätter aus. Gehen Sie nun die Galerie entlang. Lesen und besprechen Sie die Sätze, und schreiben Sie zu den Äußerungen, die Sie interessieren oder bewegen, einen Kommentar.

Hinweis zur Umsetzung: Niemand muss seine Familiensituation offenlegen, wenn er oder sie das lieber nicht möchte. Seien Sie fair, positiv und achtsam in Ihren Kommentaren. Familie kann ein sensibles Thema sein. Verurteilen und verletzen Sie niemanden!

Basis-Aufgabe

2. Das Interview zu Patchworkfamilien besprechen und kommentierena) Bilden Sie Gruppen (idealerweise fünf Personen), und lesen Sie das Interview mit verteilten

Rollen: DIE ZEIT (Moderation), Allissa, Susanne, Johannes und Paulina. Alle können das Interview unterbrechen und ihre Gedanken oder Erfahrungen zu einzelnen Punkten beisteuern. Die Mode-ration stellt Fragen, leitet das Gespräch und führt immer wieder zum Text zurück.

b) Fassen Sie Ihre Diskussionsergebnisse und Kerngedanken nach diesem Prozess anhand folgen-der Fragestellungen zusammen:• Welche Passagen haben bei Ihnen die lebhaftesten Diskussionen ausgelöst – und warum?• Welche spezifischen familiären Problemlagen haben die Gesprächspartner erfahren, und wel-

che Strategien haben sie entwickelt, um damit klarzukommen? Falls jemand in Ihrer Gruppe eigene Erfahrungen beigesteuert hat, beziehen Sie auch diese ein.

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Weiterführende-Aufgaben

3. Unterschiedliche Familienmodelle und -definitionen zusammentragen und diskutierena) Kinder und Jugendliche wachsen in verschiedenen Familienkonstellationen auf: in großen oder

kleinen Ursprungsfamilien, unter kulturell unterschiedlichen Familienbegriffen und -werten und auch außerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen, beispielsweise in betreuten Kinderwohn- gemeinschaften oder Ersatzfamilien. Sammeln Sie eine Übersicht von möglichst vielen Familien-modellen, und stellen Sie sie als Mindmap dar.

b) Recherchieren Sie im Internet nach Definitionen von »Familie«. Prüfen Sie, ob die gefundenen Definitionen der Vielfalt der unter a) gelisteten Familienmodelle gerecht werden.

c) Diskutieren Sie: • Was darf man als Kind oder Jugendlicher von der Familie erwarten? Welche Bedürfnisse

sollten erfüllt werden?• Welche grundlegenden Regeln sollten in einer Familie herrschen? • Kann eine Patchworkfamilie, eine Pflegefamilie oder ein Heim diese Familienaufgaben erfül-

len? Welche Voraussetzungen müssten für ein Gelingen gegeben sein?

4. Lösungsmodelle für familiäre Konfliktsituationen entwickelna) Erörtern Sie anhand des unten stehenden Zitats, wie man Jugendliche stärken kann, die Proble-

me aufgrund ihrer Familiensituation haben. Finden Sie dafür beispielhafte Situationen aus dem Alltag oder aus dem Schulleben. Überlegen Sie, wie jeder Einzelne (Lehrkräfte, Klassenkamera-dinnen und Klassenkameraden, Teammitglieder im Verein etc.) konkret helfen kann. »Die meisten Jungs in meiner Klasse wollten Feuerwehrmann, Detektiv oder Superheld sein. Ich wollte nur Fußballer werden. Meine Eltern haben mich dazu ermutigt, in einen Fußballverein einzutreten. […] Ich hatte alles, was ein Kind braucht, um seinen Weg zu gehen: Fürsorge, Sicher-heit und Liebe. Natürlich hatte ich Rückschläge, aber in schwierigen Zeiten hatte ich Rückhalt. Vor allem durch meine Familie, die immer an mich geglaubt und mich unterstützt hat. […] Es gibt zu viele Kinder, die nicht in Liebe und Geborgenheit aufwachsen. […] Die Familie können wir nicht ersetzen, aber wir können Kinder und Familien stark machen.« Marco Reus, deutscher Fußballspieler, #alle13minuten, https://www.youtube.com/watch?v=Kf1uZRcjFuI

Statistisches Bundesamt: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/08/

PD19_308_225.html

b) Entwickeln Sie ein Rollenspiel, das einen familiären Konflikt aufgreift. Als Grundlage dafür kön-nen Sie an Ihre Überlegungen aus Aufgabe a) anknüpfen, an eine geschilderte Situation aus dem Interview oder selbst erlebte oder gehörte Erfahrungen verarbeiten. Zeigen Sie in dem Rollen-spiel mögliche Wege auf, um den Konflikt zu lösen. Präsentieren Sie das Rollenspiel dann im Plenum, und diskutieren Sie anschließend auch alternative Wege, um mit der Konfliktsituation umzugehen: Welche Strategien wirken deeskalierend und ausgleichend? Durch welches Verhal-ten könnte sich die Krise eher verschärfen?

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IMPRESSUMProjektleitung: Franziska Sachs, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Projektassistenz: Jannike Möller, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, didaktisches Konzept und Arbeitsaufträge: Susanne Patzelt, Wissen beflügelt

ze.tt.de: So beschreibt ihr eure Familie in einem Satzhttps://ze.tt/was-bedeutet-familie-fuer-dich

ZEIT ONLINE: »Systemsprenger«: Unbändige Wuthttps://www.zeit.de/2019/38/systemsprenger-kinofilm-jugendhilfe-pflegekind-trauma-eltern-psychiatrie

ZEIT ONLINE: »Keine Trennung zwischen Privatleben und Beruf«https://www.zeit.de/hamburg/2019-09/sos-kinderdorf-hamburg-dulsberg-familienzentrum-kinder-eroeffnung

Statistisches Bundesamt: Jugendämter leiten 2018 rund 52.600 Inobhutnahmen zum Schutz Minderjähriger einhttps://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/08/PD19_308_225.html

Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke)www.bke.de

KidKit – Hilfe bei Problemelternwww.kidkit.de

Internetseiten zum Thema: Familie kann auch schwierig sein

SOS-Kinderdorf CampusAngelehnt an den Lehrplan unterstützt SOS-Kinderdorf Campus Lehrkräfte mit alters-gerechten Unterrichtsangeboten rund um die Themen Familie, soziale Strukturen und gesellschaftliche Verantwortung. Im Rahmen von Unterrichtsstunden, Berufsinformationen, Workshops und Exkursionen in SOS-Kinder-dorf-Einrichtungen werden Schülerinnen und Schüler für soziale Themen sensibilisiert. Die SOS-Kinderdorf-Campus-Angebote gibt es in Bayern, Baden-Württemberg, Bremen und Niedersachsen.

www.sos-kinderdorf-campus.de, www.sos-kinderdorf.de/portal/spenden/aktuelle-projekte/kinderarmut

Weitere Informationen gerne per E-Mail an [email protected] oder per Telefon: 089 12606–105