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Polly Stenham That Face – Szenen einer Familie (That Face) Deutsch von BARBARA NEU - Buchfassung - F 1326

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Polly Stenham

That Face –

Szenen einer Familie(That Face)

Deutsch von BARBARA NEU- Buchfassung -

F 1326

Bestimmungen über das Aufführungsrecht des Stückes

That Face – Szenen einer Familie (F 1326)

Dieses Bühnenwerk ist als Manuskript gedruckt und nur für den Vertrieb anNichtberufsbühnen für deren Aufführungszwecke bestimmt. Nichtberufsbühnenerwerben das Aufführungsrecht aufgrund eines schriftlichen Aufführungsvertrages mitdem Deutschen Theaterverlag, Grabengasse 5, 69469 Weinheim, und durch den Kaufder vom Verlag vorgeschriebenen Rollenbücher sowie die Zahlung einer Gebühr bzw.einer Tantieme.Diese Bestimmungen gelten auch für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aufführungenin geschlossenen Kreisen ohne Einnahmen.Unerlaubtes Aufführen, Abschreiben, Vervielfältigen, Fotokopieren oder Verleihen derRollen ist verboten. Eine Verletzung dieser Bestimmungen verstößt gegen dasUrheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich.Über die Aufführungsrechte für Berufsbühnen sowie über alle sonstigen Urheberrechteverfügt der S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/Main

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Figuren

MIA

IZZY

ALICE

HENRY

MARTHA

HUGH

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SZENE EINS Der Schlafsaal eines Internats an einem späten Sonntagabend. Alice sitzt auf einem Stuhl. Ihre Arme und Beine sind daran gefesselt. Sie hat eine schwarze Skimütze wie eine Maske über dem Gesicht. MIA Kriegt sie Luft? IZZY Warte… Izzy nimmt eine Schere und schneidet ein Loch in die Mütze. Sie macht das Loch mit ihren Fingern weiter. Alices Mund ist jetzt zu sehen. Nur um sicherzugehen. MIA Streck die Zunge raus. Alice tut es. Beweg sie hin und her. Alice tut es. Roll sie ein. Alice tut es. Ich kann das nicht, weißt du. Sieh mal. Sie versucht vergeblich, ihre Zunge einzurollen.

IZZY Mia… MIA Weißt du, das können nur manche Menschen. Vielleicht die Hälfte. Es soll ein Zeichen

von Intelligenz sein. Oder so. Oder vielleicht, dass man schwul ist. Ich weiß es nicht mehr. Aber sieh mal. Egal, wie ich mich anstrenge…

Versucht es wieder.

IZZY MIA! MIA Tut mir leid. Dranbleiben. Ich weiß. IZZY Alice. Herzchen. Heute ist der große Tag. Du sollst … erweckt werden. MIA Gefällt mir. „Erweckt“. Schön. IZZY Es ist ein Euphemismus. MIA Weiß ich. IZZY Wie ich schon sagte. Alice. Herzchen. Süße. Schätzchen. Gehen wir es noch mal

durch. Ist es dir erlaubt zu reden? Alice schüttelt kraftlos den Kopf.

Ist es dir erlaubt zu klagen? Kopfschütteln. Gutes Mädchen. Sie ist doch ein gutes Mädchen, Mia?

MIA Wundervoll.

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IZZY Nun. Ich würde es gern so weit wie möglich … sauber, unpersönlich, professionell, et cetera halten. Aber bevor wir die Simulation starten, würde ich gern unserem … Schützling … ein paar zwingend erforderliche Fragen stellen. Die sie in diesem besonderen Fall beantworten darf.

Der Kopf von Alice sackt herunter. Bleib bei mir, Alice. Ihr Kopf schnellt hoch. Alice. In meiner kurzen Zeit als Vorsteherin deines Schlafsaals. Haben ich und Mia, deine hochgeschätzte Hausschwester. Mia verbeugt sich spöttisch. Einen kleinen Anhänger bemerkt, den du um den Hals trägst. Gehe ich richtig in der Annahme, dass es sich um ein religiöses Symbol handelt? Alice nickt.

Ein Symbol christlicher Frömmigkeit? Alice nickt schwach.

Ein Kreuz, genau gesagt. Ja? Alice tut nichts. Mia packt Alice am Hinterkopf und nickt für sie. Jaaa. Unser Verdacht hat sich bestätigt, hochgeschätzte Hausschwester, stellvertretende Vorsteherin des Schlafsaals und aller fabelhaften Dinge.

MIA Stellvertretende. Ich bin befördert worden - IZZY Wir sind unterbesetzt. Alice. Herzchen, Süße, Schätzchen. Man hat dich im Laufe

dieser ersten Woche beobachtet und ist zu dem Schluss gekommen, dass du tatsächlich das oben erwähnte Symbol ständig trägst. Oder sollen wir sagen …

Kurze Pause. Gewissenhaft. Kurze Pause. Antworte bitte. Alice nickt sehr schwach. Das genügt. Hast du die Reaktion notiert, Mia?

MIA Ja, Sir. IZZY Es sind keine „Sirs“ im Raum. Mia – bemerkst du ein einziges Paar oder auch nur

einen einzelnen Hoden in diesem Schlafsaal? MIA Nein. IZZY Korrekt. Also Schluss mit diesem „Sir“-Gerede. Du darfst mich geschätzte

Schlafsaalvorsteherin nennen, Hohepriesterin oder, wenn es dir lieber ist, einfach Gott. Weil. Muss ich dich erinnern, Alice? Herzchen, Süße. Ich bin dein Gott.

Kurze Pause. Für heute Abend. Kurze Pause. Also nehmen wir besser das Ding da ab. Izzy will das Halsband abnehmen. Dabei sackt Alice nach vorne.

Faule Schlampe. Halt sie hoch. Mia müht sich ab, Alice an den Schultern hochzuziehen.

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MIA Schwer. IZZY Fett. Kurze Pause. MIA / IZZY Unförmiger Hefekloß. IZZY Ist das Kindchen müde? Haben wir dich geschafft? Och. Ist es Zeit zum

Schlafengehen? Mia lockert ihren Griff. Alice sackt wieder nach vorne. Halt sie hoch. MIA Ich versuch’s. IZZY Alice. Hör mit den Spielchen auf. Du machst das hier kompliziert. Und du willst es

doch jetzt nicht kompliziert machen, oder? Oder, Mia? Wäre sie so dumm, so zu tun, als würde sie schlafen? Dumme Sachen passieren dummen Mädchen, Alice. Dumme Sachen … Alice?

Izzy schüttelt sie. Keine Reaktion. Du willst doch nicht, dass wir das morgen Abend alles noch mal machen, oder? Oder? Izzy schubst sie. Keine Reaktion. Mein Gott, Mia. Sie untersucht Alice. Was ist denn los mit ihr? Schüttelt Alice heftig. Sie ist völlig hinüber. MIA Ich habe ihr Valium gegeben. IZZY Du hast was? MIA Ich. Habe. Ihr. Valium. Gegeben. IZZY Ich habe gehört, was du gesagt hast. MIA Tja. Hm. Tut mir leid. Nehme ich an. IZZY Du hast ihr Valium gegeben? Du hast ihr ein verdammtes Beruhigungsmittel gegeben

… du … du … Junkie. Wie hast du es ihr gegeben? Es ihr in den Tee getan? Es ihr in den Arsch gesteckt, während sie in Neighbours vertieft war? Ihr erzählt, es wären Vitamine, Smarties, eine Ecstasy Pille? Wie hast du es ihr gegeben, Mia?

MIA Na ja, ich – IZZY Hoffentlich ist sie okay. Wenn nicht, sitzen wir – Korrektur, sitzt du – tief in der

Scheiße. Eigentlich, Korrektur, sitze ich in der Scheiße, denn ich bin die Vorsteherin des Schlafsaales, und du hast unsere kleine Hausschwester mit

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verschreibungspflichtigen Suchtmitteln gedopt. Ich habe eigentlich die Verantwortung für sie. Scheiße! Scheiße! Scheiße!

MIA Komm mir nicht mit deinem „Scheiße, Scheiße, Scheiße“. Deine Verantwortung ist an

einen Stuhl gefesselt und sieht aus wie ein Folteropfer. Darüber würde ich mir mehr Sorgen machen, wenn ich du wäre.

IZZY Du weißt ganz genau, dass das was anderes ist. Dieses Aufnahmeritual. Das hat

Tradition. Den Lehrern ist es egal. Den Zwölftklässlern ist es egal. Es ist praktisch erlaubt, verdammt. Außerdem. Soll es Spaß machen.

Kurze Pause. Uns. Scheiße. MIA Beruhige dich. IZZY Sag du mir nicht, dass ich mich beruhigen soll. Wir sind geliefert. Sieh sie dir an. Wie

viele? MIA Was? IZZY Pillen? Wie viele Pillen? MIA In Milligramm, ich schätze vierzig. Vielleicht fünfzig. Es waren fünf Tabletten à zehn

Milligramm, also – IZZY Du verarschst mich. Sag mir, dass du mich verarschst. Selbst ich weiß, dass das

Unmengen sind. MIA Na ja, sie ist fett. IZZY Ich hasse dich. Ich hasse dich total. Sieh sie dir an. O Mann, ey, sie ist scheiß-

bewusstlos. Wir sind geliefert. Sie werden es meinen Eltern sagen. Scheiße Scheiße Scheiße.

Mia kichert. Lachst du über mich? MIA Nein. IZZY Du lachst über mich, oder? Du wagst es … MIA Beruhige dich. Die erholt sich. Ich dachte bloß, na ja … dass es helfen würde. IZZY Inwiefern, Mia, inwiefern dachtest du, dass es helfen würde, ein dreizehnjähriges

Mädchen zu vergiften? Inwiefern? Ich sterbe vor Neugier. MIA Es ist kein Gift. Es ist ein mildes Beruhigungsmittel … verhindert Panikattacken.

Nimmt den Dingen ihre Schärfe. Du kannst fies werden, wenn du … du weißt schon, loslegst, und ich wollte, dass das Initiationsding glatt läuft. Ich dachte, sie wäre ruhiger. Ich dachte, das würde dir gefallen. Du könntest mehr mit ihr machen.

IZZY Mann. Was für eine Geste. Wie verdammt aufmerksam von dir.

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Kurze Pause. Sieh sie dir an. Izzy versucht, sie aufzuwecken. Keine Reaktion. Sie ist scheiß-bewusstlos.

MIA Sie ist nicht bewusstlos, bloß super entspannt. IZZY fast in Tränen Das war’s. Wir sind dran. Ich werde nicht Präfektin, was mir meine

Uni-Bewerbung versauen wird, meine Mutter ... O Gott. Mia prustet los vor Lachen. Izzy wirbelt zu ihr herum. MIA Tut mir leid. Es ist nur … die Präfektin-Sache. IZZY Pass auf, ja! MIA Du hast Angst, stimmt’s? IZZY Nein, hab ich nicht. Ich bin realistisch. MIA Göttin der Nacht, die in ihrem Schlafanzug zittert. IZZY Ich habe keine Angst. MIA Du zitterst. Es ist zu viel, gib’s zu. Du stehst nur auf gute saubere Folter. IZZY Fick dich. MIA In deinen großen feuchten Träumen, Angsthase. IZZY Du kleines - MIA Was, kleines was? IZZY Miststück. MIA Oooh … furchterregend. IZZY Halt’s Maul. MIA Ich breche gleich vor Angst zusammen. Kurze Pause.

Du bist in Wirklichkeit zart wie ein Kätzchen. Stimmt’s?

IZZY Fick dich - MIA Wie ein Kinderpopo. Du tust nur so - IZZY HALT’S MAUL. MIA Du tust nur so. In Wirklichkeit hast du ein Herz wie ein Gummibärchen -

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IZZY Du eingebildetes - MIA Total klebrig und süß - IZZY Du eingebildetes, kleines - MIA Was? Eingebildetes kleines was? Kurze Pause.

IZZY knurrt Miststück. Sie wendet sich Alice zu und reißt ihr den Kopf hoch.

Knurrt. Eingebildetes kleines Miststück. Sie umkreist Alice.

MIA Ooh, grausam. IZZY Halt sie hoch. MIA Ooh, gruselig. IZZY HALT SIE HOCH. Kurze Pause.

Das hier ist noch nicht vorbei.

MIA Yes, Sir. Sie salutiert spöttisch.

SZENE ZWEI

Montagmorgen. Eine Wohnung in London. Henrys Schlafzimmer. Sauber, aufgeräumt, jungenhaft. Seine Fotografien und Zeichnungen sind an die Wände geheftet; manche wurden im Zuge eines Kampfes am Abend davor heruntergerissen und zerrissen. Die zerrissenen Bilder stehen in starkem Kontrast zu der Ordnung des Raumes. Henry schläft am Fußende des Bettes, auf der Decke. Er trägt einen Schlafanzug. Martha schläft im Bett. Sie trägt ein Nachthemd. Martha wacht auf. Sie stöhnt. Sie setzt sich auf und lässt sich wieder fallen. Sie liegt ruhig da, als versuchte sie, wieder einzuschlafen. Dann rappelt sie sich hoch zum Sitzen und zündet sich eine Zigarette an. Sie versucht anscheinend, sich an den Abend davor zu erinnern. Sie betrachtet den schlafenden Henry. Sie lehnt sich vor und streichelt sein Haar. Sie versucht, die Bettdecke so zu ziehen, dass sie ihn bedeckt. Sie geht um das Bett herum und betrachtet Henry aus allen Winkeln. Sie bemerkt, dass er noch seine Socken trägt. Sie zieht sie ihm aus. Sie deckt ihn noch mehr mit der Decke zu. Sie berührt sein Haar. Sie streichelt sein Gesicht. Sie verlässt den Raum. Man hört sie laut in der Küche hantieren. Henry rührt sich. Er gräbt sich tiefer in das Bett ein. Martha kommt zurück. Sie hat sich das Gesicht gewaschen und ihr Nachthemd zugeknöpft. Sie trägt zwei Becher Kaffee und ein Buch.

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Sie stellt den Kaffee und das Buch ab und setzt sich neben Henry. Sie beginnt, ihm den Rücken zu streicheln in langen, langsamen, sinnlichen Bewegungen über seiner Schlafanzugjacke. Henry rührt sich und räkelt sich näher an sie heran. Schmiegt sich an ihre Wärme. MARTHA Mein kleiner Junge … So lieb. Betrachtet ihn. Streichelt schweigend weiter.

Verzeih mir. Kurze Pause. Verzeih mir. Verzeih mir. Verzeih mir. Kurze Pause. Du siehst so gut aus. Wie ein russischer Soldat. Sie kratzt jetzt seinen Rücken mit sanften, langen Bewegungen. Henry streckt sich, anscheinend immer noch im Schlaf, und macht einen zufriedenen Ton. Soldatenjunge. So lieb. Vergib mir und ich werde lieb sein. Ich verspreche es. Nie wieder. Henry …? Henry rührt sich. Kurze Pause. Können wir es vergessen? Bitte. Ich mache es wieder gut. Er nickt schläfrig. War das ein Ja …? Er nickt wieder und streckt sich, damit sie ihn weiterkratzt. Er wacht richtig auf. Zuerst ist er verschlafen und orientierungslos. Dann dämmert es ihm.

HENRY Verkatert. MARTHA Was? HENRY Bist du verkatert? MARTHA Mir geht’s gut. Kurze Pause.

Ich habe dir Kaffee gebracht. Ich dachte, wir könnten ausgehen zum Frühstück.

HENRY Ich bin nicht hungrig - MARTHA Wir brutzeln uns ordentlich was. Alles, was du willst. HENRY Überraschung. Kein Essen im Haus. MARTHA Ich könnte was holen. HENRY Weißt du überhaupt, wo der Supermarkt ist? MARTHA Du könntest im Bett frühstücken. HENRY Ich habe keinen Hunger, und ich wette, du fühlst dich schlecht. MARTHA Ich fühle mich gut. HENRY Du fühlst dich schuldig.

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MARTHA Bitte, Hen. Ich habe gesagt, es tut mir leid. Ich meine es ernst. Ich meine es

wirklich ernst. Es kommt nicht mehr vor. Ich verspreche es. Was kann ich tun, um es dir zu beweisen? Na, du wirst schon sehen. Ich beweise es dir. Es dauert vielleicht ein bisschen, aber ich beweise es dir.

Sie streichelt ihm wieder den Rücken. Komm, wir machen uns einen schönen Tag. Wir machen, was immer du willst. Er weicht ihrem Streicheln aus.

HENRY Fass mich nicht so an. Das ist pervers.

Du erinnerst dich nicht an besonders viel, oder? MARTHA Ich - HENRY Ich finde das eine schreiende Ungerechtigkeit. Immer wenn das passiert,

werde ich wach und erinnere mich. Erinnere mich an alles, was du gesagt hast, und du wachst seltsam optimistisch auf.

MARTHA Bitte - HENRY Es kann dir nicht wirklich leidtun. Nicht, wenn du dich richtig erinnerst. MARTHA Sei nicht gemein zu mir, ich bitte dich. Nicht, Henry. Nicht. Ich versuche nur.

Es auszubügeln. Ich tue es nicht wieder. Wir können die Wohnung zusammen aufräumen. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen –

Schluck. - machen. Ich glaube nicht, dass du es verstehst - wenn du älter bist, wirst du es

verstehen. Schluck. Sei nicht herzlos. Ich meine es ernst. Schluchzt. Er schaut ihr beim Weinen zu.

Sie weint stärker. Er sieht schweigend zu. Sie beginnt nach Luft zu schnappen. Sie beginnt zu hyperventilieren.

Er rührt sich nicht. Was, wenn du mir nicht? Wenn du mir nicht, was mache ich dann? Du bist alles, was ich habe. Was mache ich dann? Ich liebe dich. Ich bin nicht vollkommen, ich liebe dich. Ich bessere mich. Bitte, Hen, du machst mir Angst, du erschreckst mich, bitte. Was mache ich, wenn du nicht - Du bist alles, was ich habe. Mein kleiner Junge, mein kleiner Junge. Keucht. Henry steht auf. Geht hinaus. Als er weg ist, flaut ihr Hyperventilieren merklich ab. Als er wieder hereinkommt, nimmt es an Geschwindigkeit und Lautstärke zu. Henry bringt eine braune Papiertüte. Gekonnt und leidenschaftslos befestigt er sie an ihrem Mund. Er beginnt, in tiefen, langsamen, regelmäßigen Atemzügen zu atmen, und macht ihr Zeichen, dasselbe zu tun. Sie tut es und beruhigt sich allmählich. Als sie regelmäßig atmet, nimmt er die Tüte weg und lässt sie sanft auf das Bett nieder. Er stützt ihren Rücken ab. Er holt ein Glas Wasser und eine einzelne Pille. Sie nimmt sie und schluckt sie dankbar mit dem Wasser.

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HENRY Du solltest so früh keinen Kaffee trinken. Du weißt doch, dass das nicht hilft. Kurze Pause.

Ich weiß, dass du es gepusht hast. Ich weiß nicht, ob du was dafür kannst, aber ich weiß, dass es so war. Cruella. Ich sollte mal eine Panikattacke kriegen. Was würdest du dann machen, mh? Henry ahmt Marthas Hyperventilieren überzeugend nach. Er lässt es an Geschwindigkeit und Lautstärke zunehmen, dann wirft er sich auf das Bett zurück, als sei er tot. Er zuckt ein paar Mal. Martha wimmert. Henry setzt sich auf. Tut mir leid. Wahrscheinlich war das herzlos. Sie rollt sich im Bett zusammen. Mami. Er versucht, ihr die Decke wegzuziehen. Sie klammert sich daran. Okay. Es tut mir leid. Martha. Er schmiegt sich an sie und umarmt sie. Bist du meine Mami? Sie nickt. Nimmst du mich mit nach Hause? Sie nickt. Versprich es ehrlich. Versuch es ehrlich. Okay? Dann tut es mir leid. Und dir tut es leid. Wir sind quitt. Aber es ist das letzte Mal. Ich weiß, ich sage das jedes Mal. Aber ich meine es ernst.

MARTHA Ich auch. Komm, wir verbringen den Morgen im Bett. Und sind faul.

HENRY Das ist ja mal ganz was anderes. Martha richtet sich auf seinem Bett ein.

Hier? MARTHA Dein Zimmer ist schöner. Besseres Licht. Sie richten sich ein, Henry auf dem Bett, Martha unter der Decke. Martha stützt sich

mit den Kissen ab. Henry räumt den Rest vom Glas weg, dann zieht er unter dem Bett einen Zeichenblock und Materialien hervor. Martha öffnet ihr Buch – eine Biographie von Marie Antoinette. Sie hat sie schon halb gelesen.

Henry zeichnet. Martha liest. Nach kurzer Zeit hört Martha auf zu lesen und sieht Henry bei der Arbeit zu. Sie legt

ihr Buch zur Seite und nimmt ihm den Zeichenblock ab. Wenn der Blick durch ein Fenster geht, ist die Perspektive eine andere. Siehst du? Es gibt mehr Tiefe. Und du musst an das Glas im Fenster denken. Sind das Muster für Bleiglas?

HENRY Bin nicht sicher.

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MARTHA Wenn ja und das Fenster in kleine Teile unterteilt ist, bricht es vielleicht den Blick aus dem Fenster anders. Fügt der Zeichnung etwas hinzu. Siehst du, was ich meine …

HENRY Ich glaube, ja. MARTHA Schau. Sie skizziert es schnell und grob. HENRY So in etwa … Er ergänzt die Zeichnung.

Eher so? Sie gibt sie ihm zurück.

MARTHA Du weißt, was du tust. Sie widmet sich wieder ihrem Buch.

Das hier ist gut. Marie Antoinette kannte ihre Rechte.

HENRY Sie wurde hingerichtet. MARTHA Ich hätte lieber ein kurzes Leben in unvergleichlichem Luxus und Dekadenz

gelebt als ein langes und langweiliges. HENRY Das überrascht mich nicht. MARTHA Wenn ich sie wäre und du wärst mein kleines Prinzchen, hättest du eine Flotte

weißer Pferde gehabt und eine Armee von schönen Konkubinen. Du hättest dich nicht beschwert.

Er lacht. Obwohl du nur … Sie blättert in ihrem Buch zurück und schaut nach. Ungefähr zehn Jahre alt geworden wärst. Vergiss also die Konkubinen. Sie liest weiter. Es klingelt an der Tür. Kurze Pause. Es klingelt wieder an der Tür. Ach, ignorier es. Wahrscheinlich Sonia oder so.

HENRY Hast du sie bezahlt? Es klingelt wieder an der Tür.

Hast du sie für das letzte Mal bezahlt? Es klingelt wieder an der Tür. Herrgott, Martha, hast du oder hast du nicht?

MARTHA Habe ich. Habe ich, verdammt noch mal. Ignorier es. Schnelles, drängelndes Klingeln an der Tür.

Die geht schon weg. Ein lang anhaltender Klingelton von der Tür.

HENRY seufzt Haben wir Bargeld im Haus? Henrys Telefon piept. Er liest die Nachricht und lacht.

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Es ist Mia, sie ist es, sie ist draußen. Gott sei Dank. Ich dachte schon, wir hätten wieder Sonias Brutalo-Freund an der Backe.

MARTHA Mia? HENRY Ja, Mia. MARTHA Wieso? Sie sollte in der Schule sein. Wieso? HENRY Weiß ich nicht. Es klingelt wieder.

Ich lass sie rein.

MARTHA Wieso? Wieso ist sie hier? Wieso? HENRY Ich weiß es nicht. MARTHA Kleines Miststück. HENRY Bitte nicht. Es ist zu früh für so was. MARTHA Sie kann nicht hierbleiben. HENRY Hör auf. Ich lasse sie rein. Kurze Pause.

Mach nicht so ein, so ein … Gesicht. Ich weiß, dass ihr euch nicht versteht, aber sei bitte nett zu ihr, oder wenn du das nicht kannst, dann sei einfach gar nichts. Okay? Kurze Pause. Okay?

MARTHA Es ist nur … HENRY Was? MARTHA Immer muss sie uns stören, weißt du? HENRY Sie ist deine Tochter, benimm dich entsprechend. Es klingelt wieder.

MARTHA Sie mag mich nicht. HENRY Sie ist fünfzehn. Sei einfach nett, okay? MARTHA Sie sieht mich böse an. HENRY Herrgott, Martha, kann ich sie reinlassen? MARTHA Sie bleibt nicht hier. Henry drückt einen Knopf. Man hört Mias Schritte die Treppe heraufkommen.

HENRY Bitte. Mach keine Szene.

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Mia kommt herein. MIA Hallo. Pause. MARTHA gestelzt Wie geht es dir? MIA Ging schon mal besser. MARTHA Oh. MIA Ich hatte eine schreckliche Fahrt. Weißt du, so ein Tag, an dem sich alles gegen dich

verschworen zu haben scheint. Der Fahrkartenautomat funktioniert nicht, der Zug bleibt irgendwo ungefähr eine halbe Stunde stehen, Babys weinen … all das, heute. Hätte früher hier sein sollen. Also, ich wäre früher hier gewesen, du weißt schon, was ich meine.

MARTHA Das ist eine große Tasche. MIA Keine Sorge. Ich bin gleich wieder weg - MARTHA Wir haben nicht genug - MIA Platz. Ich weiß. HENRY Heute ist Montag. Solltest du nicht in der Schule sein? Mia zuckt die Schultern.

Warum bist du in London? Haben sie dir den Tag freigegeben? Pause. Sie kann ihm nicht in die Augen sehen. Mia?

MIA Ich komme bloß die Schlüssel holen. HENRY Was? MIA Die Schlüssel für die Docklands. Die Schlüssel für Dads Wohnung. Gibst du sie mir? HENRY Was ist los? MIA Sie weiß es. HENRY Du weißt es? MIA Die Schule hat angerufen. Gestern Abend. Sie haben mit dir gesprochen. MARTHA Ich erinnere mich nicht. HENRY Das Telefon. Es hat … Das war deine Schule? MIA Ja.

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HENRY Sie … du hast aufgelegt, oder? Herrgott nochmal. MARTHA Ich erinnere mich nicht. MIA Du warst besoffen. Ich glaube, das haben sie gemerkt. Sie haben Dad angerufen. Kurze Pause. Sie haben Dad in Hongkong angerufen. Er fliegt her. MARTHA Großartig. Daddylein fliegt her und nimmt die Dinge in die Hand. Wird

verdammt noch mal auch Zeit. Ihr zwei laugt mich aus. MIA Er fliegt her. Um mit der Schule zu sprechen. HENRY Was? MIA Er fliegt heute Abend. MARTHA Hast du mit ihm gesprochen? MIA Kurz. MARTHA Und wie war mein geliebter Mann? MIA Kurz angebunden. Kurze Pause.

Ich bringe dir die hier zurück. Sie wirft eine Pillendose aufs Bett.

HENRY Hast du die von hier mitgenommen? MIA Tut mir leid. Kurze Pause.

Scheiß drauf. Tut es mir nicht. Es hat mir schon die ganze Nacht lang leidgetan. Schluss damit.

MARTHA Du hast meine Pillen genommen? MIA Ja. MARTHA Ich brauche diese Pillen. Mein Arzt hat mir diese Pillen gegeben. MIA Ich weiß, Mum, Martha, wie auch immer. MARTHA Werd nicht frech. MIA Das habe ich nicht gemeint. Ich meine „Wie auch immer“ im Sinne von wie auch

immer dein Name ist, wie auch immer ich dich nennen soll. Nicht „wie auch immer“ im Sinne von ist mir egal … es ist mir nicht egal.

Kurze Pause. Das ist ein lächerlicher Schlafanzug.

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MARTHA Du hast sie gestohlen. HENRY Lass es, Martha. MARTHA Was wäre gewesen, wenn ich sie gebraucht hätte, hm? Sie hat sie mir

gestohlen. Absichtlich. MIA Du hast noch andere. Es ist nicht so, als hättest du keine anderen. MARTHA Woher willst du das wissen, Fräulein? MIA Du versteckst ja deinen Vorrat an rezeptpflichtigen Tabletten nicht gerade. MARTHA Siehst du. Siehst du. Sie ist immer grob zu mir. Sie bestiehlt mich. Sie hat

keine - HENRY Aufhören. Alle beide. Unbehagliche Pause. MARTHA steht auf, um zu gehen, murmelt Immer stört sie. Sie geht hinaus. Geräusch von fließendem Wasser und einer sich schließenden Tür. Mia wirft sich auf das Bett, erschöpft. HENRY Er kommt her? MIA Hol mir einfach die Schlüssel, Henry. HENRY Wieso? Wieso kommt er? MIA Bitte. Geh sie mir einfach holen. HENRY Was ist los? Mia berührt einige von Henrys Zeichnungen. MIA Die sind gut, weißt du. Ich glaube, du wirst besser. HENRY Du bist entweder krank oder du steckst in Schwierigkeiten. Und krank siehst

du nicht aus. MIA Ich glaube, ich habe eins deiner Gemälde am Bahnhof gesehen. Hast du dort eins

gemacht? An der Mauer hinter dem Parkplatz? HENRY Du steckst in Schwierigkeiten, oder? Du hast etwas angestellt. Kurze Pause. Und du siehst nicht krank aus. MIA Es war wirklich hübsch. HENRY Mia?

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MIA Ich wünschte, du würdest mich zeichnen. HENRY Warum haben sie angerufen? MIA Hol mir einfach die Schlüssel. Henry. HENRY Nicht, bis du es mir gesagt hast. MIA Gut. Ich finde sie schon. HENRY Mia, spuck’s aus. MIA Du willst nicht. Du würdest nicht. Du willst es nicht wissen. Du wirst mich hassen. HENRY Nein, werde ich nicht. MIA Doch, wirst du. HENRY Ich könnte dich nie hassen. MIA fast zu sich selbst Was werden sie mit mir machen …? HENRY Wer? MIA Die Schule, du Idiot. Sie schmeißen mich raus, Hen. Ich weiß es einfach. Und Dad. O

Gott. HENRY Mia. Es ist mir egal. Ich werde dich nicht hassen. Ich verspreche es dir. Ich

verspreche es. Erzähl es mir einfach. MIA ins Kissen Scheiße. Scheiße. Scheiße. HENRY Was es auch ist. Was du auch getan hast. Ich unterstütze dich, ich stehe dir zur

Seite. Ich verspreche es. MIA Versprichst du mir es wirklich? HENRY Versprochen. Was war es? Die Pillen? Hast du versucht, die Pillen an der

Schule zu verkaufen oder so was? MIA Zu verkaufen? Nein. Daran habe ich noch nicht mal gedacht. Obwohl, ich hätte ein

Vermögen machen können. Die sind alle stinkreich. Ich hätte sie in der Prüfungszeit verticken können, wenn sie alle Stress haben.

HENRY Das ist nicht witzig. MIA Sollte es auch nicht sein. HENRY Erzähl’s mir. MIA Es war etwas, das lustig anfing, und am Ende war es …

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Kurze Pause. Ernst.

HENRY Es muss ernst sein, wenn Dad vorhat, sich blicken zu lassen. Also, du hast sie

nicht verkauft. Du hast sie genommen? Oder? MIA Ich … HENRY Oder? MIA Ich habe sie einem jüngeren Mädchen gegeben. HENRY Okay. Gut. Wie alt? MIA Dreizehn. HENRY Mia! MIA Du hast gesagt, du wirst nicht wütend. HENRY Okay. Tut mir leid. War’s das? Ist das alles? MIA Eigentlich schon. HENRY Wie meinst du das, eigentlich schon? MIA Ich habe ihr ziemlich viel gegeben. HENRY Wieviel? MIA Vierzig Milligramm. HENRY Du machst Witze. Nicht mal Martha könnte das vertragen. Scheiße. MIA Das war mir nicht klar. HENRY Du kennst die Dosierung. Das ist massig, Mia. MIA Nein. Du kennst die Dosierung. HENRY Natürlich kennst du sie. Du hast sie ihr schon gegeben. MIA Nein. Du machst das immer. Sie will sie nie von mir. HENRY Was ist passiert? Nachdem du sie dem Mädchen gegeben hast? Was ist dem

Mädchen passiert? MIA Sie ist so was wie eingeschlafen. HENRY Bewusstlos.

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MIA Nein. Sie ist auch noch mal wach geworden. Sie war wirklich einfach nur beruhigt. Langsamer. Leiser.

HENRY Hat sie euch verraten? MIA Nicht wirklich. Wir haben uns eigentlich selbst verraten. Na ja. Es war offensichtlich.

Was wir getan hatten. Außerdem. Konnten wir nicht lügen. Sie haben es in ihrem Blut gefunden.

HENRY Was? MIA Sie ist im Krankenhaus. HENRY Du machst Witze. Du hast eine Beurlaubung bekommen, und du machst Witze. MIA Ich wünschte, es wäre so. HENRY Oh, Mia. O Gott. MIA Es tut mir leid. Es … es tut mir leid. HENRY Und er kommt her? Definitiv? MIA Definitiv. HENRY Oh, Mia. Wie konntest du nur? MIA Nicht. HENRY Warum mussten sie ihn hineinziehen? Warum haben sie nicht mich angerufen?

Ich hätte kommen können. Sie kennen mich. Ich bringe dich immer dort hin. MIA Ich hab’s doch gesagt. Sie haben angerufen. HENRY Ich hätte ans Telefon gehen sollen. Mist. Warum haben sie mich nicht auf dem

Handy angerufen? Ich habe die Nummer deiner Hausmutter gegeben. Für Notfälle. Warum haben sie mich nicht angerufen?

MIA Nachdem sie mit Martha gesprochen hatten, beschlossen sie, „besorgt“ zu sein wegen

meiner häuslichen Situation. Sie muss total breit gewesen sein. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war zum Totlachen. Weiß Gott, was sie gesagt hat. Sie mussten Dad anrufen. Du bist gerade mal achtzehn, Henry, du bist nicht alt genug.

HENRY Sie hatte sich gestern Abend hineingesteigert. Wütend auf alles. Auf alle. MIA Tja, diesmal hat sie sich selbst den Strick gedreht. „Wer kümmert sich um dich in den

Ferien, Mia?“ „Wie häufig ist deine Mutter so, Mia?“ „Seit wann hast du Zugang zu den Tabletten deiner Mutter. Mia?“ Bla bla bla.

HENRY Was hast du gesagt?

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MIA Die Wahrheit. Dass ich kaum hier wohne, meistens bei Freunden rumhänge oder in der Dockland Wohnung.

HENRY Das ist schlecht. MIA Ich weiß. HENRY Das hätte zu keinem schlimmeren Zeitpunkt passieren können. Es geht ihr

besser. Du hast gesehen, sie ist rausgegangen, bevor sie gemein wurde. Sie lernt Selbstkontrolle.

MIA Träum weiter, Henry. Das habe ich alles schon mal gehört. Hol mir einfach die

Schlüssel, okay? MARTHA aus dem Off HENRY! HENRY WAS? MARTHA HAB MEIN HANDTUCH VERGESSEN.

Henry findet eins and geht hinaus, um es ihr zu geben. Während er weg ist, zündet sich Mia eine von Marthas Zigaretten an. Henry kommt zurück.

HENRY „Wir“. Du hast „wir“ gesagt. Wer war noch beteiligt? MIA Noch ein Mädchen. Izzy. HENRY Älter? MIA Ein Jahr über mir. HENRY In welchem Krankenhaus ist sie? MIA Sie haben sie heute Morgen nach London verlegt. Ins Portland Krankenhaus. HENRY Du musst da hingehen. MIA Hingehen? HENRY Geh hin und finde das Mädchen. Sprich mit ihr. Entschuldige dich. Überrede

sie zu sagen, dass es alles Izzy war. Dass Izzy dich, ähm … dazu gezwungen hast. MIA Was soll das bringen? HENRY Dann wird Dad da nicht so hineingezogen. Er weiß sowieso, dass Martha

Tabletten schluckt. Wenn er denkt, dass es nicht deine Idee war – MIA Denn ich bin doch eindeutig so ein Unschuldslamm.

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HENRY Wenn die Schule denkt, dass es nicht deine Idee war, dann schmeißt er der Schule ein bisschen Cash hin und verschwindet gleich wieder. Ich will nicht, dass er hierherkommt.

MIA Das funktioniert nicht. HENRY Vielleicht doch. Du musst. Du musst es versuchen. Er kann nicht

hierherkommen. MIA Komm mit mir. HENRY Du weißt, das geht nicht. MIA Warum? HENRY Wenn ich hier bleibe, trinkt sie heute nicht. Sie hat ein zu schlechtes Gewissen. MIA Bitte. Ich möchte gehen, bevor sie rauskommt. Die Wohnung macht mir Gänsehaut. HENRY Hey … MIA Tut mir leid. Aber du weißt, wie ich das meine. Sie war mal schön. Sie könnte immer

noch schön sein. Bloß ist sie jetzt so unheimlich verwahrlost. Igitt. HENRY Du schaffst das. Komm danach direkt wieder hierher. MIA Du hast es versprochen, Henry. Pause. HENRY Okay. Warte. Mein Telefon. Er zieht sich schnell etwas an. MIA Die Schlüssel für die Docklands, Henry. HENRY Da drin. Sie findet die Schlüssel und rasselt mit ihnen. MIA Komm schon! HENRY Mein Telefon - Er will sich das Telefon greifen. MIA Scheiß drauf. Du willst frei wie ein Vogel sein. Wir können uns den ganzen Tag

nehmen. Krankenhaus am Morgen, Riesenrad am Nachmittag. HENRY Was wenn …? MIA Feigling. HENRY Nein, ernsthaft, wenn …

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MIA Mamakind. HENRY Na gut. Er kritzelt eine Nachricht für Martha und legt sie auf das Bett. Er stößt seine Schwester scherzhaft in Richtung Tür. Sie stößt ihn scherzhaft zurück.

Er geht vor ihr hinaus. Während er nicht hinsieht, steckt sie die Nachricht für Martha ein.

Mia geht hinaus. MARTHA aus dem Off HENRY! Martha kommt herein. Klatschnass mit einem Handtuch.

HENRY!

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SZENE DREI

Später am Tag. Ein Einzelzimmer im Krankenhaus. Alice liegt im Bett, ihr Kopf ist teilweise verbunden, sie hängt an einer Infusion. Es ist unklar, ob sie sediert oder bewusstlos ist oder ob sie schläft. Henry und Mia stehen jeweils an einer Seite des Bettes. Mia starrt Alice an.

MIA Sag was. Irgendwas. Bitte. Kurze Pause.

Sie sieht schlecht aus, oder? HENRY O Gott, Mia. MIA Sie ist nur hier verkabelt. Ist das gut? HENRY Das hier ist furchtbar. Weißt du das. Du bist furchtbar. MIA Nicht. HENRY Was nicht? Was soll ich denn sagen? Dass es gut ist. Du hättest es mir sagen

können. Mich warnen. Scheiße. Was hatte sie euch getan? MIA Das ist nicht so … HENRY Was? „Nicht so“ was? MIA Einfach. HENRY Es ist so scheiß-einfach. So etwas macht man nicht mit Leuten. Macht man

einfach nicht. MIA Das verstehst du nicht. HENRY Nein. Stimmt. Tue ich nicht. MIA Im Zusammenhang, was passiert ist, was wir getan haben. Das kam uns okay vor. Es

schien uns völlig in Ordnung zu sein – sogar erlaubt. HENRY In Ordnung? Das hier schien euch in Ordnung zu sein - ? MIA Es ist anders dort: andere Regeln, andere Machtverhältnisse … es ist kompliziert. In

der Schule, nachts, wenn die Lehrer alle im Bett sind und die Macht sich verschiebt … wenn Alter die Rangordnung bestimmt. Und die Leute sich anöden.

HENRY Du kannst dich nicht rausreden, Mia. Nichts kann das hier entschuldigen – MIA Es ist eine andere Welt, mit anderen Regeln. Und manche Sachen … na ja, sie

kommen einem okay vor. Sogar erlaubt. Aber hier im Tageslicht. Auch schon vorher, als ich aus dem Schultor kam und normale Leute sah, ohne Schuluniform. Da wurde mir klar, wie krank das ist, was passiert ist. Aber als ich im Schlafsaal war, mit Izzy,

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und wir sie gefesselt haben – da konnte ich irgendwie nur die Teile sehen, die winzig kleinen Teile. Nicht das große Bild.

HENRY Du machst mir Angst. MIA Soll ich versuchen, mich zu entschuldigen? HENRY Was, wenn wir gesehen werden? MIA Es war deine Idee. HENRY Ich wusste ja nicht, wie schlimm das hier ist. Wenn ich das gewusst hätte - MIA Alice … HENRY Lass uns einfach gehen. MIA Entspann dich, ihre Eltern wissen nicht, wie wir aussehen. HENRY Jetzt wissen sie’s wahrscheinlich. MIA Sie haben sie früher hingebracht am Anfang des Schuljahrs. Also sind wir uns nie

begegnet. Kurze Pause.

Ich habe aber Fotos gesehen … neben ihrem Bett. Sie sahen nett aus. Henry betastet die Pappbecher neben dem Bett.

HENRY Mann, Mia. Die sind noch warm. MIA beunruhigt Dann sind sie also gerade erst gegangen. HENRY Dann sind sie sich noch einen Kaffee holen gegangen. Ich glaube, wir sollten

gehen. MIA Es war deine Idee. HENRY Weil ich dachte, sie sitzt im Bett und fühlt sich noch ein bisschen benebelt.

Nicht. Nicht. Dass sie wie ein Kriegsopfer aussieht. O Gott, Mia. MIA Aber unser Plan - HENRY Ist hinfällig. Gehen wir. MIA beunruhigt Hast du gesehen, wie groß der hier ist? Sie untersucht einen Bluterguss auf Alice’ Gesicht.

Er ist riesig. HENRY Bitte. Gehen wir. Das macht mich fertig. Außerdem könnte sie aufwachen. MIA Ich dachte, du wolltest, dass sie aufwacht?

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HENRY Wie oft noch? Ich hatte es mir anders vorgestellt. Völlig anders. Herrgott. Wenn sie aufwacht und dich hier über sie gebeugt sieht, schreit sie wahrscheinlich los. Würde ich an ihrer Stelle. Vergiss den Plan. Wir gehen.

Sie hören beide, wie es plötzlich an der Tür klopft. Erschrocken verstecken sie sich unter dem Bett.

Izzy kommt herein, schniefend. Sie hält einen riesigen, extravaganten Blumenstrauß und eine groteske, selbstgemachte Karte. Sie entspannt sich, sobald sie merkt, dass keine Besucher im Raum sind. Sie legt die Blumen am Fußende des Bettes ab. Sie tritt an Alice heran und betrachtet sie.

IZZY leise Alice? Herzchen? Sie zupft zart an ihrer Schulter, keine Reaktion. Sie versucht es wieder. Keine

Reaktion. Pause. Sie schnipst ihr leicht mit den Fingern ins Gesicht. Keine Reaktion. Sie wiederholt die

Aktion fester. Keine Reaktion. Beruhigt, dass Alice bewusstlos ist, nimmt sie allmählich ihr Werk wahr und pfeift

leise durch die Zähne. Alice, Herzchen, du siehst ja vielleicht aus … Mia und Henry tauchen hinter Izzy auf. Mia legt Izzy die Hand über den Mund. Izzy kreischt.

MIA Shhh … IZZY Du bist das. Du hast mich erschreckt. Kurze Pause.

Wart ihr beide eben schon hier? MIA Ja. IZZY Mann, ihr habt mich ganz irre gemacht. Ich dachte, es wären die Eltern. Ich war dabei,

meinen Heuschnupfen bis zum Maximum auszunutzen. Sie schaut sich im Zimmer um.

Nicht schlecht, was? Sie muss privat versichert sein. MIA Shhh … du weckst sie vielleicht auf. IZZY Entspann dich. Sie ist völlig hinüber. MIA Oder sie tut nur so. IZZY honigsüß Alice? Herzchen? Keine Reaktion. HENRY Hör auf. IZZY Warum bist du denn hier? Um dich zu entschuldigen? Verschon mich … Izzy grinst Henry und Mia an, lehnt sich hinüber und zwickt Alice’ Brustwarze. Keine

Reaktion. Sag ich doch. Sie ist hinüber. Izzy streckt die Hand aus.

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Izzy. HENRY Ich weiß. IZZY Henry, richtig? Mia spricht oft von dir. Ich höre, du bist Künstler? Mia hat gerade die Blumen bemerkt. MIA Du hast ihr Blumen mitgebracht? IZZY Sie hat mir erzählt, dass du die Schule geschmissen hast, um Maler zu sein. Ich finde

das sooo - MIA Und eine Karte - IZZY - cool, weißt du? Ich male auch gern. Ich habe diese Karte gemacht. Sieh mal. HENRY Wozu soll das gut sein? IZZY Mummy dachte, es wäre angebracht, wenn ich meine aufrichtige Anteilnahme zum

Ausdruck brächte. Außerdem tut das ja nicht weh. MIA Sie sieht schlimm aus, oder? Ich erinnere mich nicht, dass sie so schlimm ausgesehen

hat. IZZY Du scheinst zu vergessen, was wir ihr in den letzten zwanzig Minuten angetan haben. Kurze Pause.

Außerdem brauchen Quetschungen Zeit, um anzuschwellen und sich zu verfärben. Hast du noch nie ein blaues Auge gehabt?

MIA Ein lascher Ball ins Gesicht. IZZY Scheißfängerin. HENRY Und ich nehme an, sie war auch eine Scheißfängerin? IZZY Sie war bloß … Scheiße. HENRY So was zu sagen, ist schrecklich. IZZY Das ist die Wahrheit oft. Beide Mädchen betrachten sich die Quetschung genau. MIA Wer hat ihr die beigebracht? Du oder ich? IZZY Was wäre dir lieber? MIA Du. IZZY Dann war ich es. Henry bewacht die Tür, hat sich von den Mädchen abgewandt.

Izzy betrachtet ihn.

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Also, wieso bist du hier?

MIA Er unterstützt mich. IZZY Das ist ja niedlich. HENRY Ich glaube, wir sollten jetzt gehen, Mia. IZZY Sie kann auf der Karte unterschreiben, wenn du willst … Kurze Pause. Ich mag dein

T-Shirt. Man hört Schritte näher kommen und einen Teewagen, der an der Tür

vorbeigeschoben wird. MIA Sie kommen vielleicht wieder, mit Medikamenten oder so. IZZY Gute Idee. Gehen wir was trinken. MIA Erwartet deine Mum dich nicht zurück oder so? IZZY arrangiert die Blumen ordentlich neben dem Bett Scheiß drauf, ich habe schon so

viel Ärger, dass es nicht mehr drauf ankommt, wenn ich noch ein bisschen mehr kriege. Was können sie machen? Brüllen? Ich glaube, Mummy hat sich schon den letzten Rest Sauerstoff aus der Lunge gebrüllt.

Pause. Los. Gehen wir einen trinken. Gehen wir … irgendwohin. Kurze Pause. Was macht ihr für Gesichter? Wir sollten feiern. Es geht ihr nicht halb so schlimm, wie wir dachten.

MIA Wie du dachtest. Izzy wirft noch einen Blick auf Alice. Sie nimmt das Klemmbrett vom Fußende des

Bettes und wirft sich in eine komische, gelehrte Arztpose. IZZY Sie ist nicht tot. Sie wird nicht sterben. Also sind wir fein raus. Gehen wir ein Glas auf

die zähe kleine Alice heben. Na los. Sie schlendert hinaus und wirft dabei Henry einen Blick über die Schulter zu.

Na los. Sie geht hinaus.

MIA Sie ist scharf auf dich. HENRY Sie macht mir Angst. Sie gehen hinaus. Alice bewegt sich in ihrem Bett und fängt an zu weinen.

SZENE VIER

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Dienstagmorgen. Marthas Wohnung. Henrys Schlafzimmer. Martha ist in seinem Bett. Neben dem Bett steht ein überquellender Aschenbecher - es soll so aussehen, als hätte sie die ganze Nacht dort verbracht. Man hört Henry die Tür öffnen. MARTHA Henry? Sie steht auf.

Henry? HENRY? Man hört die Dusche rauschen. Martha setzt sich wieder hin. Sie steht auf. Setzt sich hin. Sie ist offensichtlich verwirrt. Sie geht, um sich an die Tür zu stellen. Sie will das Zimmer verlassen, entscheidet sich aber im letzten Moment anders und geht zum Bett zurück. Sie schlüpft unter die Decke, bleibt aber sitzen. Sie lässt sich weiter unter die Decke sinken. Sie zieht sich die Bettdecke über den Kopf. Bleibt so eine Weile. Martha seufzt. Das Wasser läuft noch. Sie setzt sich wieder hin. Öffnet ein Buch. Versucht, lässig zu lesen. Kann sich nicht konzentrieren. Nimmt sich eine Zigarette. Raucht sie nervös. Das Geräusch der Dusche hört auf. Sie macht sie hastig aus, stürzt sich ins Bett und deckt sich bis über den Kopf mit der Decke zu.

HENRY aus dem Off Martha? Wo sind die sauberen Sachen? Meine Hemden? Ich

habe sie gewaschen. Ich habe sie aufgehängt im … Sie sind nicht da … Kurze Pause. Henry kommt herein, klatschnass, nur mit einem Handtuch um die Hüfte.

Er sucht das Zimmer nach seinen Kleidern ab und findet sie nicht. Wo sind meine ganzen Sachen? Martha vergräbt sich tiefer im Bett. Wo sind sie? MUMMY? Wo sind sie? Sie setzt sich auf. Danke. Sie starren sich an. Sie betrachtet seinen Oberkörper. Sie bemerkt einen Knutschfleck an seinem Hals. Gib mir was zum Anziehen. Kurze Pause. Wenn du mir nicht sagst, wo sie sind, finde ich eine Notlösung. Schau mich nicht so an.

MARTHA Warum nicht? HENRY Das weißt du. Kurze Pause.

Wo sind meine Sachen? Sie starrt ihn an. Schön. Schön. Ich ziehe … ich ziehe … das an. Er hält einen von Marthas Morgenmänteln hoch, einen langen weißen mit Blumenmuster. Martha rückt zum Bettrand in seine Nähe und setzt sich auf.

MARTHA Du bist nass.

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Er wendet sich von ihr ab. Er hat Kratzer am Rücken. Er zieht sich verlegen den Morgenmantel an und lässt das Handtuch erst fallen, nachdem er bedeckt ist. Er bindet den Gürtel fest um. Martha lacht bei seinem Anblick. Er lächelt, zuckt die Schultern und starrt an sich herab.

Dein Haar ist nass. Er reibt sich das Haar mit dem Handtuch trocken. Du hättest die anziehen können, in denen du nach Hause gekommen bist.

HENRY Die waren dreckig. Kurze Pause. MARTHA Du bist dreckig. Was hast du da am Hals? HENRY wie zu einer Tauben Wo - sind - meine - Sachen?

Mummy? MARTHA? MARTHA wie zu einem Tauben Wo - war - mein - Sohn? HENRY Das ist nicht komisch. MARTHA Wie du mir, so ich dir. Ich sag’s dir, wenn du’s mir sagst. Wo warst du? HENRY Aus. MARTHA Mit wem? HENRY Freunden. MARTHA Du hast keine Freunde. HENRY Du weißt nicht alles über - MARTHA Über dich, doch. Du hast keine Freunde. Du hattest nie Freunde. HENRY Ich war bei einem Freund zu Hause. Ich habe den letzten Bus verpasst. Wo

sind meine Sachen? MARTHA Wer? HENRY Wer? MARTHA Wer war dein Freund? HENRY Ein … ein … Kumpel, okay? Jemand, den ich von früher kenne. MARTHA Namens? HENRY Geht dich nichts an.

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MARTHA Werd nicht frech. Ich bin deine Mutter, nicht einer deiner … Kumpels. Wie hieß er? HENRY überlegt Ian. MARTHA Ein Junge. HENRY Ja. Ein Junge. MARTHA Du hast bei einem Jungen übernachtet? HENRY Zwei Jungen. Sie fängt an zu lachen. MARTHA Komm her. Sie öffnet ihre Arme. Er kommt vorsichtig näher. Sie umarmt ihn.

Mein schöner Junge. Mein schönes Kindchen, voller Flecken. Du dummes Ding. Sie wiegt ihn. Du hättest es mir sagen können. Aber andererseits glaube ich, ich habe es immer gewusst. Mir macht es nichts aus … ich weiß, dass es manchen Eltern etwas ausmacht. Meinen Eltern hätte es wirklich etwas ausgemacht. Gott … mein Vater. Aber sie waren religiös, und nicht so eng wie wir, nicht? Nein, mir macht es gar nichts aus. Ich will bloß keine Geheimnisse zwischen uns. Mein schöner Junge. Russischer Soldat. Du musst mir alles erzählen - nicht die Details natürlich. Aber wir können tratschen. Ehrlich gesagt hatte ich schon so etwas vermutet, weil du so sanft bist. So lieb. So ganz anders als … Moderne Zeiten, allerdings, moderne Zeiten – Henry hat in die Bettwäsche hineingegriffen und einen Streifen zerschnittenen Hemdenstoff herausgezogen.

HENRY Herrgott. Er greift noch einmal hinein und zieht eine Handvoll heraus. Er springt auf.

Steh auf. Sie bleibt stocksteif sitzen. STEH AUF. Sie steht auf. Henry zerrt die Bettdecke vom Bett. Zum Vorschein kommt ein Haufen seiner Kleider, die alle in winzige Streifen zerschnitten sind. Henry steigt auf das Bett. Er hebt Hände voller Stoff hoch. Er fängt an zu lachen. Nervös fängt Martha auch an zu lachen. Du - Lacht. Du - Lacht. Du - Lacht. Übergeschnappte - Lacht. Kurze Pause. Hexe. Du durchgeknallte Hexe.

MARTHA Es macht doch nichts, oder? Ich kaufe dir neue. Es war. Bloß. Ein Moment.

Gestern Abend. Ich war wütend auf dich. Du bist verschwunden. HENRY Durchgeknallte - MARTHA Du bist verschwunden und du hast keinen - HENRY - HEXE. Schweigen.

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MARTHA Verzeih.

Verzeih. Verzeih. Bitte. Es ist okay jetzt. Siehst du? Es ist okay. Jetzt, da ich weiß, wo du warst. Dann ist es okay. Jetzt, da ich weiß, was du bist. Es ist okay. Ich will bloß - Keine Geheimnisse. Ich halte das nicht aus. Bitte.

HENRY Was bin ich, Martha? MARTHA Mit Männern. Du magst Männer. Henry lacht. HENRY Das würde dir gefallen, nicht wahr? MARTHA Ich liebe dich. Egal was du bist. HENRY Ich war bei einem Mädchen. Wie zu einer Tauben. Ich - habe - mit - einem -

MÄDCHEN - geschlafen. So war das. Ich bin gestern Abend nicht nach Hause gekommen, weil ich bei einer Frau war. Und weil ich dort sein wollte. Bei ihr. Nicht hier. Ich hätte nach Hause kommen können, aber ich habe es nicht getan. Hast du mich gehört? Das bin ich. Bloß ein kleines bisschen normal.

Kurze Pause. Das ändert alles, oder? Das gefällt dir nicht so gut. Aber denk dran. Du liebst mich. Kurze Pause. Egal was.

MARTHA Zieh ihn aus. HENRY Was? MARTHA Meinen Morgenmantel. Zieh ihn aus. Er gehört mir. Ich will ihn zurück. HENRY Nein. Näh mir was zum Anziehen und ich ziehe ihn aus. Näh meine Sachen

wieder zusammen und ich ziehe ihn aus. Benimm dich wie ein annähernd liebenswerter Mensch und ich ziehe ihn aus.

MARTHA War es … HENRY Was? MARTHA War es dein erstes Mal? HENRY Ja. MARTHA Oh. HENRY Es musste passieren. Es sollte passieren.

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MARTHA Ich dacht bloß. Dass. Du Frauen nicht magst. HENRY Du dachtest, ich mag Männer. MARTHA Nein. Ja. Nein. Ich weiß nicht.

Du bist ein Künstler. Du bist ein sanfter, vollkommener Sohn. Du bist … hübsch. Es lag nahe.

HENRY Na ja. Du kennst mich eben offenbar doch nicht so gut. MARTHA Es ist. Bloß. Ein Schock. HENRY Dass ich hetero bin? Gott. Du lebst in einer verdrehten Welt, Martha. Hör zu.

Ich wollte dir nicht weh tun. Ich wollte etwas für mich tun. Verstehst du nicht? MARTHA Du gehörst nicht mehr mir. Du gehörst ihr. HENRY Ich gehöre immer dir. Aber ich gehöre mir auch selbst. MARTHA Hat sie dir weh getan? Deinem Rücken? HENRY Du hättest sie sehen sollen.

War nur ein Witz. MARTHA Warum hast du nicht angerufen? Ich war. Außer mir. HENRY Ich war beschäftigt. Mit Dingen. Mit Dingen, die ich tun sollte. Gib mir nicht

das Gefühl, dass … das verkehrt ist. Ich bin dein Kind, nicht dein - MARTHA Russischer - HENRY Ich weiß. Russischer Soldat. Was auch immer. Lass mich einfach ein bisschen

los, bitte. Du benimmst dich verrückt. MARTHA Bist du jetzt sauber? HENRY Ich habe geduscht. MARTHA Riechst du nicht? Du weißt schon. Nach einer anderen - HENRY Person. Nein, Mummy. MARTHA Komm her. Er geht zu ihr. Sie riecht an ihm und streichelt ihm übers Haar. Sie umarmt ihn fest.

Sie fängt an, den Morgenmantel vorne zu öffnen. HENRY Was machst du da? MARTHA Ich will dich anschauen. HENRY Himmel. Wieso?

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MARTHA Deinen Körper. Ich will sehen, ob du anders aussiehst. Ob du dich anders

anfühlst. Eindringlich. Bitte. Ich muss. Du bist mein Kind. Sie riecht an seiner Brust und vergräbt den Kopf daran. Er seufzt, schlingt die Arme

um sie und wiegt sie ein wenig. Sie drückt auf den Knutschfleck mit den Fingern. Tut das weh?

HENRY Nein. MARTHA Ist sie hübsch? HENRY Ja. MARTHA Siehst du sie wieder? HENRY Vielleicht. Sie vergräbt wieder den Kopf an seiner Brust. Er schlingt die Arme um sie und wiegt

sie. Sie verharren so einige Augenblicke lang. Plötzlich springt Henry zurück. Und stößt Martha von sich. Er hat jetzt einen weiteren Knutschfleck am Hals. Martha lächelt.

MARTHA Wenn du sie siehst. Kannst du ihr das zeigen. Dunkel.

SZENE FÜNF

Hughs Wohnung an der Canary Wharf. Sie ist minimalistisch und unpersönlich. Die Junggesellenwohnung eines Geschäftsmannes. Hier übernachtet er bei seinen seltenen und immer seltener werdenden Besuchen in London. Große Glasfenster durchfluten die Wohnung mit Licht. Man sieht Spuren eines kleinen Trinkgelages: einen iPod am Lautsprecher angeschlossen, eine leere Wodkaflasche, ein paar Bierdosen, einen überfüllten Aschenbecher, ein Twister-Spiel - sie alle passen nicht zum Gesamtdesign der Wohnung. Auf dem Teppich ist auch noch ein großer Fleck. Mia kommt zerzaust herein – sie ist gerade aufgewacht. Sie drückt die „Aus“-Taste ihres Handys, nachdem sie gerade mit Hugh gesprochen hat. Sie nimmt den Zustand des Raumes wahr, den Fleck auf dem Boden … MIA Mist. Sie beginnt hektisch, die Wohnung aufzuräumen.

Izzy! Henry! Leute … STEHT AUF. Dad hat gerade angerufen. Er ist gelandet. Izzy. IZZY! Komm schon. Du musst gehen. Izzy stolpert aus dem Schlafzimmer, eingewickelt in ein Betttuch. Sie lässt sich auf das Sofa fallen. Mia zerrt an dem Betttuch. Zieh dich an. Du musst gehen. HENRY …