starke stille - stille kraft

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Zürcher Hochschule der Künste in Kooperation mit der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, MAS Klinische Musiktherapie „Starke Stille - Stille Kraft“ Die Wirksamkeit von Stille in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern Theoriearbeit zur Erlangung des Titels Master of Advanced Studies in Klinischer Musiktherapie Vorgelegt von: Eva-Maria Eidenbenz Mentorin: Sandra Lutz Hochreutener Datum der Abgabe: 4.Juni 2012 Preisträger Johannes-Th.-Eschen-Preis der DMtG 2014

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Studie zum Thema Stille in der Musiktherapie

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Page 1: Starke Stille - Stille Kraft

Zürcher Hochschule der Künste in Kooperation mit der Interkantonalen Hochschule für

Heilpädagogik, MAS Klinische Musiktherapie

„Starke Stille - Stille Kraft“ Die Wirksamkeit von Stille in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern

Theoriearbeit zur Erlangung des Titels

Master of Advanced Studies in Klinischer Musiktherapie

Vorgelegt von: Eva-Maria Eidenbenz

Mentorin: Sandra Lutz Hochreutener

Datum der Abgabe: 4.Juni 2012

PreisträgerJohannes-Th.-Eschen-Preis der DMtG 2014

Page 2: Starke Stille - Stille Kraft

2

Abstract

Die vorliegende Studie befasst sich mit der musiktherapeutischen Wirksamkeit von Stil-

le mit unruhigen Kindern. Stille wird als Phänomen und in ihrer Grundfunktion für den

Menschen beschrieben. Das Kind und die Stille werden in Bezug gesetzt zu den gesell-

schaftlichen Verhältnissen. Der lauten und das Kind fremdbestimmenden Welt wird die

Welt der Musiktherapie gegenübergestellt, die dem Kind in seiner Unruhe die Welt der

Stille erschliessen kann, die das Kind in seiner Suche nach Selbstbestimmung unter-

stützt.

Untersucht wurde, was Stille in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern

auslöst und ob sich die Aufmerksamkeitsspanne durch Stille verändert.

Dazu wurde eine audiobasierte Teilnehmende Beobachtung von Einzeltherapiestunden

zweier Kinder durchgeführt. Anhand subjektiver Interpretation, ergänzt durch Stichpro-

ben kontrollierter Intersubjektivität, wurden die erhobenen und transkribierten Audioda-

ten in Bezug auf die Wirksamkeit von Stille phänomenologisch ausgewertet.

Es zeigte sich, dass der eigene Umgang mit Stille vonseiten der Therapeutin von höchs-

ter Relevanz ist, dass Stille für den Therapieprozess relevante Themen und Emotionen

auslöst und Wandel bewirkt. Eine Veränderung der Aufmerksamkeitsspanne lässt sich

jedoch nicht eindeutig mit der Wirksamkeit von Stille in Verbindung bringen.

In der Hinführung an zu bearbeitende Themen erweist sich die musiktherapeutische

Methode Stille als relevant.

Keywords: Unruhige Kinder, Musiktherapie, Stille, Wirksamkeit, „rapid fire culture“,

Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Lebenstempo, Spiegelneurone

Page 3: Starke Stille - Stille Kraft

3

Inhaltsverzeichnis

1   Einleitung .................................................................................................................. 6  

1.1   Erkenntnisinteresse .............................................................................................. 7  

1.2   Fragestellung und Hypothese .............................................................................. 8  

1.3   Inhaltlicher Überblick .......................................................................................... 8  

2   Definition von Stille .................................................................................................. 9  

2.1   Stille und Leib: Ruhe ......................................................................................... 10  

2.2   Stille und Sprache: Schweigen .......................................................................... 10  

2.3   Stille ................................................................................................................... 11  

2.3.1   Äussere Stille .............................................................................................. 12  

2.3.2   Innere Stille ................................................................................................. 12  

2.3.3   Stille und Kreativität ................................................................................... 13  

3   Gesellschaftliche Dimension von Stille heute ....................................................... 14  

3.1   Akustische und visuelle Dauerberieselung ........................................................ 14  

3.2   Aufmerksamkeit im kulturellen Kontext ........................................................... 15  

3.3   Achtsamkeit versus Aufmerksamkeit ................................................................ 17  

3.4   Zeit und Lebenstempo ....................................................................................... 19  

3.5   Zusammenfassende Reflexion ........................................................................... 20  

4   Unruhige Kinder: Ein gesellschaftliches Phänomen? ......................................... 20  

4.1   Fortschritte der Technologie .............................................................................. 21  

4.2   Im Karusell der Sinnesreize ............................................................................... 22  

4.3   Verlust des Hier und Jetzt .................................................................................. 23  

4.4   Kinder des beschleunigten Lebensstils .............................................................. 23  

4.5   Neurobiologischer Aspekt: Spiegelneurone ...................................................... 25  

4.5.1   Wie sich das Kind in die Welt spiegelt ....................................................... 25  

4.5.2   Lernen durch Erleben ................................................................................. 27  

4.6   Zusammenfassende Reflexion ........................................................................... 28  

5   Stille im Alltag von Kindern .................................................................................. 29  

5.1   Stille und Stillen ................................................................................................ 30  

5.2   Stille und Erziehung .......................................................................................... 31  

5.3   Stille und Schule ................................................................................................ 32  

Page 4: Starke Stille - Stille Kraft

4

5.4   Zusammenfassende Reflexion ........................................................................... 33  

6   Das Phänomen Stille in der Musiktherapie .......................................................... 34  

6.1   Stille und Musik ................................................................................................. 35  

6.2   Stille als musiktherapeutische Methode ............................................................ 36  

6.2.1   Der Stille Raum schaffen ............................................................................ 37  

6.2.2   Achtsamkeit auf Stille ................................................................................ 38  

6.2.3   Zu Stille hinführen ...................................................................................... 39  

6.3   Stille in der Musiktherapie mit Kindern ............................................................ 39  

7   Die Symmetrie der Stille ........................................................................................ 41  

8   Empirischer Teil ..................................................................................................... 44  

8.1   Untersuchungs-Umfeld ...................................................................................... 44  

8.2   Untersuchungsmethode ..................................................................................... 44  

8.3   Vorgehen ........................................................................................................... 45  

8.4   Dokumentation und Beobachtungskriterien ...................................................... 46  

8.5   Simon ................................................................................................................. 48  

8.5.1   Ausgangslage .............................................................................................. 48  

8.5.2   Therapieverlauf Simon ............................................................................... 49  

8.6   David ................................................................................................................. 76  

8.6.1   Ausgangslage .............................................................................................. 76  

8.6.2   Therapieverlauf David ................................................................................ 77  

8.7   Therapeutische Wirksamkeit von Stille ............................................................. 86  

8.7.1   Simon und David im Vergleich .................................................................. 86  

8.7.2   Anzahl von Stille-Momenten im Vergleich ................................................ 88  

8.7.3   Dauer von Stille-Momenten im Therapieverlauf ........................................ 89  

9   Folgerungen für die musiktherapeutische Arbeit mit unruhigen Kindern in der

heutigen Gesellschaft .................................................................................................... 90  

10   Schlussbetrachtung, Diskussion .......................................................................... 94  

10.1   Zusammenfassung der Erkenntnisse ............................................................... 94  

10.2   Bezugnahme zu Fragen und Hypothesen ........................................................ 96  

10.3   Weiterführende und abschliessende Gedanken ............................................... 98  

11   Anhänge ............................................................................................................... 101  

Page 5: Starke Stille - Stille Kraft

5

12   Literaturverzeichnis ........................................................................................... 120  

13   Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... 123  

Page 6: Starke Stille - Stille Kraft

6

1 Einleitung

Denn der Raum des Geistes,

dort wo er seine Flügel öffnen kann,

das ist die Stille.

Antoine de Saint-Exupéry (2007, 26)

Eine meiner Assoziationen zu Stille ist die Metamorphose der Schmetterlingsraupe. Das

Raupenleben besteht aus Nahrungsaufnahme und Häutungen. Die Raupe legt die zu

klein gewordene Haut immer wieder ab bis sie sich schliesslich verpuppt. Was in dem

Cocon geschieht, bleibt dem menschlichen Auge und Ohr verborgen. Das Wunder der

Ver-Wandlung geschieht in aller Stille... Was mich geradezu fesselt, ist die darin enthal-

tene Konsequenz des Ablebens der Raupe. Ohne Sterbeprozess geschieht in der Ver-

borgenheit der Stille keine Ver-Wandlung zum Schmetterling.

In dieser Stille entsteht Neues. Dass Stille innere Wandlung, Intensität der Sinneswahr-

nehmung und ein Verbundenheitsgefühl mit allem, was ist, bewirken kann, konnte ich

an einem Stille-Wochenende am eigenen Leib erleben. In meiner Erinnerung an diese

Erfahrung ist der Vergleich mit der Schmetterlingsraupe wahrhaftig stimmig: Die

durchaus unangenehmen Körperempfindungen während dem Verharren in derselben

Position (kriechen), das gierige Aufnehmen aller Impulse von aussen (Nahrungsauf-

nahme) und das immer wieder Loslassen von Gedanken, welche mich daran hinderten

ganz bei mir zu sein (Häutungen). Danach trat ein Zustand der Offenheit und Hingabe

ein (Verpuppung) und irgendwann öffnete mein Geist tatsächlich seine Flügel (Ver-

Wandlung). Ich verspürte eine tiefe innere Ruhe und schien vor Kreativität beinahe zu

zerbersten.

Am Beispiel der Metamorphose erkenne ich im übertragenen Sinn aber auch die

scheinbar existenziellste aller Ängste, die Stille auslösen könnte - die Angst vor dem

Sterben und dem Tod. Darin lässt sich zudem manch andere Angst ausmachen wie jene

vor Kontrollverlust, Ungewissheit, vor Schmerzen, vor Machtlosigkeit, vor der Angst

selber. Dass die Themen Tod und Sterben in der Auseinandersetzung mit Stille mit-

schwingen, bringe ich mit dem Wort Toten-Stille in Verbindung. Zudem sehe ich einen

Page 7: Starke Stille - Stille Kraft

7

Zusammenhang mit der Negativbewertung, welche dem Tod in unseren Breitengraden

anhaftet. Stille und Tod scheinen in unserem Denken eine Verbindung zu haben. Der

gemeinsame Nenner ist die Angst davor. Ich kann nur Vermutungen anstellen, wieso

dem so sein könnte. Da Stille ein Aufhören oder Seinlassen von bewussten Funktionen

wie motorischer Bewegung, Sprache, Handlungen implizieren kann, scheint die Gleich-

setzung mit Still-Stand naheliegend: Kreislauf-Still-Stand, Atem-Still-Stand, Herz-Still-

Stand.

Still-Stand ist der Tod, geh voran, bleibt alles anders, singt Herbert Grönemeyer (1997)

in Wortgewandtheit und mit Gespür für den Zeitgeist in einem seiner Lieder. Seine

Aussage löst in mir folgende Fragen aus: Bringt die heutige Zeit aufgrund ihres Bestre-

bens voran zu kommen, nicht stehen zu bleiben, bzw. still zu stehen, immer mehr unru-

hige Kinder hervor? Sind sie Symptomträger der Unausgewogenheiten und Schwierig-

keiten unserer Gesellschaft? Führen sie uns die Schnelllebigkeit vor Augen, welche

heute geradezu zelebriert wird? Paradoxerweise scheinen wir uns am Verhalten unruhi-

ger Kinder dennoch in hohem Masse zu stören und finden sie als nicht normativ. Aber

passen sie tatsächlich nicht in die heutige Norm? Oder halten sie uns lediglich den

Spiegel vor, den wir lieber zerbrochen wüssten, um uns nicht mit den Wurzeln der wah-

ren Probleme der Gesellschaft, mehr noch mit unseren tiefsten Ängsten oder dem imma-

teriellen Reichtum zwischen Du und Ich auseinandersetzen zu müssen?

1.1 Erkenntnisinteresse

Viele der aktuellen Versuche, das störende Verhalten von unruhigen Kindern und damit

in manchen Fällen gar deren Willen zu „brechen“, wirken auf mich widernatürlich. Um

beim Beispiel der Metamorphose zu bleiben, wird dabei im übertragenen Sinne ver-

sucht, der Jungraupe - kaum aus dem Ei geschlüpft - aufzuzwingen, sofort ein Schmet-

terling zu werden.

Gerade weil ihre Unruhe Resonanz auslöst, sehe ich die Notwendigkeit, mit unruhigen

Kindern zusammen, die Unruhe auszuhalten und auf achtsame Weise nach Möglichkei-

ten zu suchen, still zu werden, zur Ruhe zu kommen. Nach meiner Erfahrung steckt in

vielen unruhigen Kindern ein überaus grosses kreatives Potenzial, welches sie meist

Page 8: Starke Stille - Stille Kraft

8

nicht nutzen können. Dieses aus der Stille heraus freizusetzen, scheint mir für die Kin-

der selber und für die Gesellschaft wichtig.

1.2 Fragestellung und Hypothese

Ich möchte herausfinden, ob meine Annahme stimmt, dass Stille im musiktherapeuti-

schen Setting eine Möglichkeit darstellt, die Aufmerksamkeitsspanne bei unruhigen

Kindern zu verlängern und ihnen so einen Zugang zu ihren kreativen Ressourcen zu

eröffnen. Weiter interessiert mich, ob Stille sie in der Bearbeitung ihrer persönlichen

Thematik unterstützt oder Emotionen auslöst, welche für den Therapieprozess relevant

sind.

Fragestellung

Was bewirkt Stille im musiktherapeutischen Setting bei unruhigen Kindern?

Verändert sich die Aufmerksamkeitsspanne durch Stille-Sequenzen?

Hypothese

Stille im musiktherapeutischen Setting bringt unruhige Kinder zur Ruhe.

Stille bewirkt für das Kind Wandel im entwicklungsförderlichen Sinn.

1.3 Inhaltlicher Überblick

Der Fragestellung wird in den Kapiteln 2 bis 5 anhand der theoretischen Auseinander-

setzung mit folgenden Themen nachgegangen: Definition von Stille, Bedeutung von

Stille und Langsamkeit in der heutigen Gesellschaft, Zunahme der Anzahl unruhiger

Kinder, Stille im Alltag von Kindern. Kapitel 3 bis 5 enden jeweils mit einer zusam-

menfassenden Reflexion in Bezug zur Fragestellung.

Kapitel 6 befasst sich mit dem Phänomen Stille in der Musiktherapie und Kapitel 7

stellt eine Verdichtung der Literaturrecherche dar. Das Vorkommen von Stille und de-

ren Wirksamkeit im musiktherapeutischen Setting wird im darauffolgenden praxisbezo-

genen Teil anhand einer phänomenologischen Forschung und einer quantitativen Mes-

sung untersucht (Kapitel 8). Deren Ergebnisse werden in Bezug zu der Fragestellung

und der Hypothese gesetzt, mit den Erkenntnissen der Theorieauseinandersetzung ver-

Page 9: Starke Stille - Stille Kraft

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glichen, Schlüsse für die musiktherapeutische Arbeit daraus gezogen und abschliessen-

de Gedanken dazu formuliert (Kapitel 9 und 10).1

2 Definition von Stille

Das Paradoxon, dass man über Stille reden muss und zugleich nicht reden kann,

verrät über dieses lautlose Phänomen zumindest eins:

Stille ist. Stille existiert. Und Stille bleibt.

Monika Lagler (2003, 307)2

Obschon der Begriff Stille in aktueller Literatur häufig zu finden ist, erweist sich ein

ganzheitlicher Definitionsversuch als schwierig, da sie sich rational nur begrenzt erfas-

sen lässt. Smetana (2005) erkennt es als Wesen der Stille, dass sie vieles des Unbegreif-

lichen und Nicht-Sagbaren in sich birgt und trotz – oder gerade wegen des wissenschaft-

lichen Anspruches der definierbaren Namensgebung stets ein Geheimnis bleiben wird.

„Je mehr man versucht, sich ihr anzunähern, desto mehr zerfällt sie in Einzelaspekte“

(Lutz Hochreutener 2009, 139).

Die Auseinandersetzung mit Stille bedarf folglich einer phänomenologischen Herange-

hensweise, einer wissenschaftlichen Vorgehensweise, welche das in übergreifendem

Sinne Wesentliche und Bedeutungsvolle in den Erscheinungen und Sachverhalten an-

hand eines geistig-intuitiven Zugangs zu erfassen sucht.3 Die Subjektivität des Erlebens,

beziehungsweise wie Stille wahrgenommen und erlebt wird, hängt eng damit zusam-

men, wie sich einem die Welt zeigt.

In diesem Sinne befasst sich dieses Kapitel mit Definitionsversuchen, Teilaspekten und

verschiedenen Betrachtungsweisen von Stille.

Zwei Aspekte, welche heute allgemein zu Stille assoziiert werden sind „Ruhe“ und

„Schweigen“.

1 Mit der wechselweise gebrauchten männlichen und weiblichen Form ist immer auch die andere mitgemeint. 2 Monika Lagler und Monika Smetana, welche in späteren Kapiteln genannt wird, sind identisch 3 Quelle: Online Enzyklopädie gefunden auf http://www.enzyklo.de/Begriff/phänomenologisch

Page 10: Starke Stille - Stille Kraft

10

2.1 Stille und Leib: Ruhe

„Ruhe“ ist der leibliche Aspekt von Stille. Da der Körper ein Gradmesser für die Unru-

he ist, kann Stillwerden nicht stattfinden, solange der Ruhelosigkeit des Körpers immer

wieder nachgegeben wird (Pot 2011).

„Ruhe“ im Sinne von Stille umfasst den weiten Bereich von Bewegungs- und Hand-

lungslosigkeit. Sie steht der Aktivität und der Aktion gegenüber. Sie kann sich als kör-

perliche Entspannung, als Erholung im Schlaf und schliesslich als ewige Ruhe im Tod

zeigen.

Da der leibliche Aspekt sowohl das Körperliche als auch das Seelische betrifft, kann

sich „Ruhe“ zudem in Form von Gelassenheit und Zuversicht ausdrücken (vgl. Lutz

Hochreutener 2009, 140).

2.2 Stille und Sprache: Schweigen

Die Stille ist so höflich, dass sie sofort verstummt, sobald jemand zu reden beginnt.

Carlos Martinez (2009, 114)

„Schweigen“ meint den sprachlichen Aspekt von Stille. Dennoch darf es nicht auf einen

Aspekt von Sprache und Sprechen reduziert werden. „Schweigen“ ist etwas Eigenstän-

diges (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 140). Es beinhaltet die Entscheidung, nicht zu

sprechen, was auf eine Absicht hinweist. „Schweigen ist eine aktive Haltung der Ab-

grenzung, des Bei-sich-Seins“ (Hegi & Rüdisüli 2011, 59).

Die enthaltene Intentionalität macht „Schweigen“ deutungswürdig. Es kann Quelle für

jeglichen Ausdruck von Sprache, von Handlungen oder von Künsten sein, auf Mangel

an Erinnerung, Verdrängen traumatischer Erfahrungen oder bewusstes Wahren von Ge-

heimnissen hindeuten. „Schweigen“ kann Widerstand, Erschöpfung oder innere Leere

zum Ausdruck bringen oder auf Lauschen nach innen hinweisen. Und letztlich kann

„Schweigen“ auch Tod bedeuten (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 140).

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2.3 Stille

Die Stille ist da, wenn man sie lässt.

Wenn man nicht mehr bewusst will, dass es still ist.

Stille ist schliesslich ein Seinszustand.

Pot (2011, 164)

Der Begriff Stille wurde vom althochdeutschen Wort stilli abgeleitet und bedeutet still,

ruhig, gelassen, unveränderlich, unerwähnt, mild (Köbler 1995). In diesen Bedeutungen

sind sowohl der leibliche und sprachliche Aspekt von Stille wie auch Assoziationen, die

heute allgemein mit Stille in Verbindung gebracht werden, enthalten.

In einer informellen mündlichen Umfrage unter Studierenden und Kindern wurde nach

spontanen Assoziationen zu Stille gefragt. Deren Ergebnisse zeigen, dass sich im Alltag

verschiedene Qualitäten von Stille erfahren lassen und dass sich Stille als eine eigene

Qualität des Erlebens zeigen kann:

Die erhabene Stille auf einem Berggipfel. Die zauberhafte Stille eines Herbstwaldes.

Die leise Stille von ersten Schneeflocken. Die reine Stille einer Schneelandschaft. Die

ehrfurchtsvolle Stille beim Betrachten der Schöpfung. Die laute Stille nach einem hefti-

gen Streit. Die erstickende Stille nach erfahrener Gewalt. Die staunende Stille über ein

Neugeborenes. Die würdevolle Stille des Sterbens. Die angstvolle Stille im Angesicht

des Todes. Die atemlose Stille von Sorgen. Die heilsame Stille innerer Berührtheit und

Zeitlosigkeit. Die stumme Stille nach einer Naturkatastrophe. Die ergriffene Stille nach

einem Vortrag. Die traurige Stille der Einsamkeit. Die beklommene Stille bei Peinlich-

keit. Die frustrierende Stille von Langeweile. Die schweisstreibende Stille bei Angst.

Die verzweifelte Stille der Ausweglosigkeit. Die pulsierende Stille des Blutrauschen-

Hörens. Die wärmende Stille der Sonne. Die wohlige Stille des Abendlichts. Die milde

Stille eines erwachenden Tages. Die behagliche Stille tiefer Zufriedenheit. Die wohltu-

ende Stille von Aufgehoben, bei sich sein. Die befreiende Stille, welche weg vom Ma-

chen und Müssen hin zum SEIN führt.

Page 12: Starke Stille - Stille Kraft

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Die genannten Assoziationen machen die Subjektivität des Erlebens deutlich. Sie erwei-

sen sich in ihrer Individualität als vielfältig und zeigen das Wesen der Stille in seiner

Unfassbarkeit auf.

Im Gegensatz zu „Ruhe“ und „Schweigen“ hat Stille keinen Gegenpol. Sie lässt sich als

Seinszustand, als ein „Sein“ ohne Absicht bezeichnen und beinhaltet die Anwesenheit

von etwas, das nicht definierbar ist. Stille kann eine Verbindung zu menschlichen An-

teilen herstellen, welche zeitlos und ewig, nicht nur an dieses Leben gebunden sind.

Wie bereits erwähnt, hat Stille keinen Gegenpol. Es wird jedoch zwischen äusserer und

innerer Stille unterschieden (Lutz Hochreutener 2009).

2.3.1 Äussere Stille

Da alles Lebendige in Bewegung ist und infolge dessen akustische Reize erzeugt, um-

fasst äussere Stille immer eine gewisse Bandbreite kaum merklicher Bewegungen, Töne

und Geräusche, die jedoch vom menschlichen Sinnesapparat nicht als solche wahrge-

nommen werden. Bis zu welchem Frequenzspektrum dieser Schwingungsraum als Stille

erlebt wird und welche Empfindungsqualität sie auslöst, ist individuell verschieden.

Dazu gehören Hörreize, welche aufgrund ihrer kontinuierlichen Präsenz nicht bewusst

wahrgenommen werden wie zum Beispiel das Rauschen eines Baches oder Verkehrs-

lärm.

Um äussere Stille überhaupt wahrnehmen zu können, muss man selbst still werden,

schweigen und sich nicht oder nur noch langsam bewegen. Sie lässt sich im übertrage-

nen Sinne auch als „Innehalten in einer Tätigkeit“, „Nicht-Reagieren“ sowie „Nicht-

Eingreifen und Abwarten“ verstehen (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 141).

2.3.2 Innere Stille

Innere Stille wird als Seinsqualität der Achtsamkeit und tiefster Innerlichkeit verstan-

den. Innere Stille bedeutet innerlich leer zu sein, interne Dialoge zu stoppen und die

bekannten Bilder loszulassen. Sie ist Hingabe an den Moment, ein Geschenk des Au-

genblicks. Sie kann weder willentlich, zielgerichtet noch leistungsorientiert erzwungen

werden, da sie sich im Gegensatz zu äusserer Stille weder machen noch festhalten lässt.

Innere Stille kann überall erlebt werden, beispielsweise bei der Hausarbeit, im Kinder-

Page 13: Starke Stille - Stille Kraft

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spiel, beim Musizieren, beim Betrachten eines Bildes oder einer Landschaft. Selbst bei

grösstem Lärm lässt sich innere Stille erfahren.

Da diese Seinsqualität einer tiefen menschlichen Sehnsucht entspricht, wird immer wie-

der nach Wegen gesucht, sich ihr zu öffnen. Meditation, Kontemplation, Gebet oder

Yoga sind nur einige Beispiele dafür (Lutz Hochreutener 2009; Pot 2011).

2.3.3 Stille und Kreativität

In unserer schnellen, von Aktivitäten geprägten Kultur, wird Stille oft als etwas Lang-

weiliges, Unspektakuläres betrachtet. Dennoch berichten Menschen, die zur Stille

kommen, Inspiration aus ihr zu schöpfen und kreativ zu werden. Stille scheint einen

Zugang zu Kreativität zu ermöglichen, welche eine gewisse Unvorhersagbarkeit mit

sich bringt, die alles andere als langweilig ist (Pot 2011).

Während der Stille spielt sich etwas ab, in dem Kunstästhetiker gerade das Zustande-

kommen der Stille selbst sehen: die Verwirklichung von etwas Positivem. Der italieni-

sche Kunstkritiker, Maler und Philosoph Gillo Dorfles (1992) beschreibt Stille gar als

Ursprung jeder möglichen Schöpfung, als kreativen Moment, als schöpferischen Zwi-

schenraum und als Pause zwischen zwei sicht- oder hörbaren Elementen, in der die

Möglichkeit besteht, noch nicht ausgedrückte Kräfte zu schöpfen.

Die Wichtigkeit von Stille zeigt sich bereits in der kindlichen Kreativitätsentwicklung:

Um sich bei seinem Spiel vertiefen zu können und innerlich still zu werden, braucht es

die äussere Stille. Eine „gesunde“ Balance von Ruhe und Aktivität, von Stille und Ab-

lenkung unterstützt die Entfaltung der Kreativität. Das Mittelmass zwischen Über- und

Unterstimulierung zu finden, gehört hierfür zu den Herausforderungen im Umgang mit

Kindern. Es gilt das vertiefte Spiel des Kindes nicht zu stören, bei „Fehlern“ und Kon-

flikten still zu bleiben, „lange Weile“, aus der sich Neues entwickeln kann, auszuhalten,

Umwege und lustvolles Experimentieren zuzulassen, ohne sich einzumischen und ab-

zuwarten, bis ein Spiel ausgespielt ist (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 147). Aus den vo-

rangehenden Ausführungen lässt sich Folgendes folgern: Wird dem Kind gewährt, die

Welt in seinem Tempo zu entdecken, kann sich eine Kreativitätskompetenz entwickeln,

Page 14: Starke Stille - Stille Kraft

14

welche ihm dabei hilft, die eigenen Gedanken und Gefühle auszudrücken und Lösungen

für Probleme zu finden.

3 Gesellschaftliche Dimension von Stille heute

Inmitten des Lärms unserer Gesellschaft, inmitten der Unruhe und Hast unseres Da-

seins, inmitten des Trends unserer Kultur hin zur Lückenlosigkeit ständigen Fortschritts

ist Stille anwesend und versucht uns zu begegnen.

Inmitten einer Welt der Rationalisierung und Verdinglichung ergreift Stille ihren Platz

– physikalisch nicht messbar, plastisch nicht greifbar und doch: unüberhörbar.

Monika Lagler (2003, 307)

Das Kapitel greift die Abwesenheit von Stille in der heutigen Zeit und die damit ver-

bundenen Auswirkungen auf die menschliche Aufmerksamkeit, auf. Der Begriff der

Aufmerksamkeit, welche in der heutigen Gesellschaft grosse Beachtung bekommt, wird

in einen kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext gestellt und der Achtsamkeit ge-

genüber gestellt. Vor der zusammenfassenden Reflexion, welche das Kapitel schliess-

lich abrundet, findet sich zudem ein Abschnitt über das Lebenstempo.

3.1 Akustische und visuelle Dauerberieselung

Da die Gegenwart eines konstanten Zustandes von Nicht-Stille zur Normalität gewor-

den ist, wird die Forderung nach Raum für Stille in der heutigen Gesellschaft oft über-

sehen. Dorfles (1992) spricht von „tönender Umweltverschmutzung“. Diese betrifft

nicht nur die Gefahren des Übermasses an Verkehrslärm und Lärm in Städten, sondern

auch die Gefahren, welche von einem Übermass an Musik-Übertragung und -Empfang

verursacht werden. Ohne Unterbrechung und ohne ästhetische Unterscheidung giessen

die Massenmedien eine tönende Flut über die Menschen aus. Musikhören ist zu einem

permanent vorhandenen Füllsel der Zeit geworden. In der konstanten Gegenwart von

pausenlosem Lärm wird die Stille ständig aufgehoben und unterdrückt. Der rhythmische

Faktor, sprich die Balance zwischen Stille und Aktivität, welcher in jeder Lebenssituati-

on eine wichtige Rolle spielt, wird dadurch beeinträchtigt.

Page 15: Starke Stille - Stille Kraft

15

Durch die akustische und visuelle Dauerberieselung wird zudem die Selbstbestimmung

des Individuums eingeschränkt, weil sich der Mensch nicht mehr frei entscheiden kann,

was er hören oder sehen will. Da man die Ohren - anders als die Augen - nicht schlies-

sen kann, ist dies besonders in Bezug auf die auditiven Eindrücke schwerwiegend. Ent-

scheiden zu können, im Sinne von eine Wahl zu haben, ist grundlegend für die Erfah-

rung, ein Selbst zu sein. „Selbstbestimmung ist kein Zustand, sondern eine Erfahrung,

die eng verbunden ist mit Bedingungen und Bedürfnissen“ (Benz, 2007). Daraus lässt

sich folgern, dass Entscheide, die aus der Stille erwachsen, sowohl Selbstbestimmung

als auch die damit verbundene Selbstwirksamkeit intensiv und prägnant erlebbar ma-

chen, weil sie dem Inneren des Menschen, dem Selbst entspringen. Durch die Eliminie-

rung der Stilleräume in der westlichen Gesellschaft entfremdet der Mensch sich selbst

und wird entmündigt. „Gleichzeitig hält der Mensch die wenigen, ihm noch zur Verfü-

gung stehenden, Stilleräume oft nicht mehr aus. Der Lärm schützt uns vor existenzieller

Angst“ (Lutz Hochreutener 2009, 142).

Ungewollte Stimuli, die ununterbrochen aus allen Richtungen auf den Menschen ein-

dringen, haben die negative Folge, in ihm ein unbewusstes Verlangen nach intensiverer

Stimulation von aussen hervorzurufen. Wenn man sich diese von Reizen gesättigte Um-

gebung betrachtet, in der sich die heutige Gesellschaft bewegt, drängt sich der Gedanke

auf, der westliche Mensch brauche all die Reize, um sich im Moment lebendig zu füh-

len (DeGrandpre 2002).

3.2 Aufmerksamkeit im kulturellen Kontext

Ob man es will oder nicht, heutzutage streitet eine Flut von Reizen um die menschliche

Aufmerksamkeit. Gleichzeitig verlangt die moderne Kultur ein Mitglied der Gesell-

schaft, welches seine Aufmerksamkeitsleistungen kontinuierlich zur Verfügung stellen

kann. Es hat sich eine starke Tendenz entwickelt, über die Verfügbarkeit der Aufmerk-

samkeit Kontrolle auszuüben (DeGrandpre 2002; Bonney 2011). Diese Entwicklung

lässt sich anhand von natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und

Ereignissen der vergangenen Jahrhunderte erklären.

Page 16: Starke Stille - Stille Kraft

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Der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary (2002) hat sich zwanzig Jahre lang

wissenschaftlich mit der Fokussierung auf die Aufmerksamkeit und deren neuen Patho-

logien in der westlichen Gesellschaft auseinandergesetzt. Er unterzog die spezifischen

Veränderungen in der darstellenden Kunst seit Ende des 19. Jahrhunderts einer genauen

Analyse. Dabei entdeckte er, wie sich die Wahrnehmung seit jener Zeit neu konzipiert

und sich die Abbildung der Wirklichkeit in der Malerei sowie entsprechend die Auf-

merksamkeit auf das Darzustellende verändert hat.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts vertraten Philosophen die Meinung, die Ursache der

Wahrnehmung sei im wahrgenommenen Objekt zu finden. Ca. 1850 anerkannten sie,

dass es sich bei der Wahrnehmung um eine Leistung des wahrnehmenden Subjektes

handle. Ab 1870 wurden im Rahmen der sich differenzierenden Psychophysik die Ge-

setze der Wahrnehmung entwickelt (Bonney 2011). Damit wurde die moderne Sin-

nesphysiologie als neuer Baustein in die Hirnforschung eingeführt. Dies geschah etap-

penweise: 1874 entdeckte Wilhelm Wundt im Stirnlappen des Zentralnervensystems ein

vorderes Aufmerksamkeitszentrum, dessen Leistung er mit den Willensphänomenen

gleichsetzte. In der Folge versuchten Wissenschaftler der jungen Disziplinen Psycholo-

gie und Soziologie um 1900, schwer zu definierende Störungen der Aufmerksamkeit

mit antisozialen Verhaltensweisen in Verbindung zu bringen. Anstand war nach dama-

liger Auffassung der Soziologen das Resultat von Aufmerksamkeit. Und der damals

hochgeachtete Psychologe Théodule Ribot vertrat die Meinung, Prostituierte, Vagabun-

den, Kinder und Südamerikaner würden an Störungen der Aufmerksamkeit leiden. In

medizinischen Disziplinen fand derweil das Messen von Zahlen und Werten immer

grössere Beachtung, infolge dessen wurden die Begriffe gesund vs. krank durch normal

vs. unnormal verdrängt (Foucault 1988 in Bonney 2011, 46). 1902 publizierte der engli-

sche Arzt George Frederic Still, wie Bonney (2011) weiter ausführt, die erste wissen-

schaftliche Fassung der Trias Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperkinese und erhöhte Impul-

sivität, welche Ende des 20.Jahrhunderts als ADHS in die Glossare der psychiatrischen

Störungen aufgenommen wurde.

Die sich entwickelnde Industriegesellschaft zeigte Bemühungen, Aufmerksamkeit zu

definieren, zu kontrollieren und entsprechend neue Pathologien der Aufmerksamkeit zu

Page 17: Starke Stille - Stille Kraft

17

bezeichnen. Die Fortschritte der Naturwissenschaften waren diesbezüglich von grosser

Bedeutung. Bis in die neuste Zeit wurden mit hoher Geschwindigkeit Ergebnisse gelie-

fert, die menschliches Verhalten anhand von Hirnprozessen erklären und auf pharmako-

logischem Wege gezielt beeinflussen sollen. Die zunehmend differenzierte Kartierung

des Gehirns sowie die neuen Kenntnisse der Hirnchemie ermöglichen heute gar die

Messbarkeit von Aufmerksamkeitsleistungen und damit die Definitionen von deren Stö-

rungen (Bonney 2011; Crary 2002).

Parallel wurden mit der Entwicklung der Psychotherapie Kontrapunkte zu der Fokussie-

rung auf Aufmerksamkeitsleistungen und die Akzentuierung des Lebens- und Arbeits-

tempos in westlichen Gesellschaften gesetzt. In Polarität zu Aufmerksamkeit und Tem-

pobeschleunigung wurden Konzepte der Achtsamkeit entwickelt.

3.3 Achtsamkeit versus Aufmerksamkeit

Umgangssprachlich ist mit Aufmerksamkeit ein Verhalten gemeint, welches durch

Wachheit, Konzentration, Fokussieren auf die gegenwärtige Wahrnehmung äusseren

Geschehens, Lernbereitschaft und Reaktivität gekennzeichnet ist. Im psychiatrischen

und psychotherapeutischen Kontext handelt es sich bei der Aufmerksamkeit um ein

messbares Verhalten, welches einschätzbar, bzw. quantifizierbar ist (Bonney 2011).

Als achtsam wird ein Mensch bezeichnet, wenn er sich vorsichtig, bedächtig und sensi-

bel auf Äusseres und Inneres fokussierend verhält und seine Handlungen und Reaktio-

nen abwägt anstatt sofort zu agieren. Auch wenn der Begriff der Achtsamkeit heute oft

durch undifferenzierten Gebrauch entwertet wird, so wird die Haltung der Achtsamkeit

dennoch seit Jahrtausenden geschätzt. Bis heute hat sie ihre Anziehung nicht verloren,

weil sie sich als ein Weg erweist, der dem Einzelnen hilft, die Innen-Welt und die Aus-

sen-Welt aufzuschliessen: Der gegenwärtige Augenblick in seinem Reichtum ist das

Terrain der Achtsamkeit, welches durch Körper und Geist erschlossen wird (vgl. Kalt-

wasser 2008, 45).

Fachlich ist die Achtsamkeit bislang wenig erfasst. Ihre Bedeutung im psychiatrischen

und psychotherapeutischen Kontext lässt sich jedoch wie folgt beschreiben: Individuell

Page 18: Starke Stille - Stille Kraft

18

erlebtes, wertungsfreies Wahrnehmen des Augenblicks jenseits von Zeitdruck, Balance

zwischen Fremd- und Eigenanforderungen (vgl. Bonney 2011, 44).

Als ein Innehalten fordernder Kontrapunkt gegenüber dem Fokus auf die Aufmerksam-

keit ist der Begriff der persönlichen und privaten Achtsamkeit gegen Ende des 20. Jahr-

hunderts ins Zentrum verschiedener psychotherapeutischer Denk- und Arbeitsweisen

gerückt: Urteilsfreies Spüren und Wahrnehmen statt ständiges Bereitstellen von auf-

merksamer Leistungsfähigkeit. Solche Achtsamkeit zurückzugewinnen, wird zum

Schutz seelischer Gesundheit psychotherapeutisch als zentrale Aufgabe gesehen.

Im medizinischen und psychologischen Zusammenhang hat sich vor allem das Konzept

der Achtsamkeitspraxis von Professor Jon Kabat-Zinn, welcher 1994 an der University

of Massachusetts Medical School das Center for Mindfulness, Health, Care and Society

(Zentrum für Achtsamkeit in Medizin, Gesundheitswesen und Gesellschaft) gründete,

verbreitet. Mit Achtsamkeit wird darin eine Art der Aufmerksamkeitslenkung verstan-

den, welche durch die Merkmale bewusst, absichtsvoll, im gegenwärtigen Augenblick,

im Hier und Jetzt, ganzheitlich (Gefühle, Gedanken, Körper), nicht wertend, gekenn-

zeichnet ist (Lattmann 2010)

Die moderne Kultur verlangt von den Mitgliedern der Gesellschaft, ihre Aufmerksam-

keitsleistungen kontinuierlich zur Verfügung stellen zu können. Sie hat eine Tendenz

entwickelt, über die Verfügbarkeit der Aufmerksamkeit Kontrolle auszuüben. Dass

Menschen auch Achtsamkeitserfahrungen benötigen, um gesund zu bleiben, wird erst in

neuester Zeit wieder beachtet (Bonney 2011).

Die Erlebens- und Handlungsweisen von Kindern bis zum neunten Lebensalter sind vor

allem beim Spielen durch Nichtbeachtung zeitlichen Organisierens charakterisiert. In

ihren kreativen, nicht auf ein bestimmtes Ziel ausgerichteten Schaffensprozessen tritt

meist ein besonderer Bewusstseinszustand der Achtsamkeit auf, der sich als Flow-

Erlebnis (Csikszentmihalyi 2000) bezeichnen lässt und oft mit einem Verlust des Zeit-

bewusstseins einhergeht. Dies zeigt, dass es neben der notwenigen Aufmerksamkeit

auch Momente der Achtsamkeit braucht, „[...] weil wir auch auf die Kraft der Kreativi-

Page 19: Starke Stille - Stille Kraft

19

tät vertrauen müssen, ohne die das kontinuierliche Lösen unserer gesellschaftlichen

Probleme unmöglich ist“ (Horx 2010 in Bonney 2011, 57). Der biblische Satz „Es sei

denn, dass ihr umkehret und werdet wie die Kinder [...]“ (Matthäus, 18:3) scheint be-

züglich eines Lebens in Achtsamkeit für die heutige Gesellschaft von aktueller Bedeu-

tung.

3.4 Zeit und Lebenstempo

Immer mehr Menschen fühlen sich im Zeitalter der Globalisierung und der Post-

Moderne getrieben. Auch Kinder leiden unter dem Verlust der Langsamkeit und dem

Getriebensein vieler Erwachsenen. Bei der Geschwindigkeit von Filmen, Videoclips,

Computerspielen hat das Gehirn gar nicht mehr die Zeit, sich mit seiner Aufmerksam-

keit auszurichten. Es sind kaum mehr Pausen gewährt, in denen sich neue Informatio-

nen im Gehirn setzen lassen könnten (Baer & Barnowski 2005).

Der amerikanische Psychologieprofessor Robert Levine hat das Erleben, den Umgang

mit der Zeit im Kulturvergleich zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse ge-

macht. In seinem interkulturellen Vergleich des Umgangs mit der Zeit hat er in 31 ver-

schiedenen Ländern das Lebenstempo erforscht.

Zur Messung des Lebenstempos definiert Levine (2007) drei Indikatoren: Gehge-

schwindigkeit von Fussgängern in der Innenstadt, Arbeitsgeschwindigkeit (gemessen

als Zeit, die benötigt wird, in der Post eine Briefmarke zu kaufen) und Genauigkeit öf-

fentlicher Uhren. Die Auswertungen führten zu der Erkenntnis, dass Lebenstempo und

Wirtschaftskraft eines Landes eng zusammenhängen. So fand sich in Ländern mit ho-

hem Pro-Kopf-Einkommen und hoher Kaufkraft immer auch eine hohe Lebensge-

schwindigkeit. Es erstaunt wenig, dass Mexiko als das Land mit dem geringsten und die

Schweiz mit Deutschland und Japan als jene mit dem höchsten Lebenstempo ermittelt

wurden.

Daraus lässt sich folgern, dass Länder mit hoher Wirtschaftskraft ein hohes Lebenstem-

po in Kauf nehmen, um das Pro-Kopf-Einkommen hochzuhalten. Etwas in Kauf zu

nehmen, zieht Kosten nach sich und hat seinen Preis. Anders als Kinder, können sich

Erwachsene bedingt dagegen wehren, diesen zu bezahlen. Kinder sind dem hohen Le-

benstempo jedoch ausgeliefert.

Page 20: Starke Stille - Stille Kraft

20

3.5 Zusammenfassende Reflexion

Kinder wachsen heute in einer Umwelt auf, in der sich der Mensch in vielen Lebensbe-

reichen nicht mehr frei entscheiden kann, was er hören oder sehen will. Die dadurch

verursachte Beeinträchtigung der Entwicklung einer gesunden Balance zwischen Stille

und Aktivität macht deutlich, dass die Unruhe von vielen Kindern keineswegs als

selbstverschuldet oder intentional betrachtet werden kann. Sie erscheint gar eine natürli-

che Reaktion, der Reizüberflutung mit Unruhe zu begegnen, um diese zu verarbeiten

oder nicht in sich aufzunehmen. Von der akustischen und visuellen Aussenwelt zudem

in der Entdeckung ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt, erleben sich Kinder wahr-

scheinlich als wenig selbstwirksam. Dies kann zur Folge haben, dass sie sich nicht

wahrgenommen und unbedeutend fühlen, sodass es irgendwann zu einem unbewussten

Entscheid kommen kann, lieber Negativ-Aufmerksamkeit als gar keine Aufmerksamkeit

zu bekommen, wodurch sich die Selbstwahrnehmung zu einem Negativum wandeln

kann. So finden sie sich plötzlich in einem Teufelskreis von sozialen und emotionalen

Schwierigkeiten, welche sich auf ihre Aufmerksamkeitsleistungen auswirken und im

schlimmsten Fall zu Resignation führen können.

Es scheint von höchster Wichtigkeit, unruhige Kinder in der musiktherapeutischen Ar-

beit dabei zu unterstützen, sich selbst, ihre Stärken und Ressourcen (wieder) zu entde-

cken, ihrem Tempo angepasst eine Balance zwischen Stille und Aktivität zu finden und

zudem Achtsamkeits- und Stille-Erfahrungen zu ermöglichen, welche im Hier und Jetzt

stattfinden und die sich sowohl dem hiesigen Lebenstempo wie auch der Leistungsfor-

derung entziehen. Dies alles setzt einen reflektierten Umgang der Therapeutin mit Stille

und eine eigene gesunde Balance voraus.

4 Unruhige Kinder: Ein gesellschaftliches Phänomen?

Das folgende Kapitel befasst sich mit dem Phänomen der Zunahme der Anzahl unruhi-

ger Kinder. Es wird der Frage nachgegangen, wo mögliche Gründe dafür liegen könn-

ten: Anfänglich wird beschrieben, wie sich die Gesellschaft zu der heutigen „rapid fire

culture“ (DeGrandpre 2002) entwickelt hat. Diese zeigt sich vor allem in der amerikani-

schen Kultur, wobei die europäische Gesellschaft im interkulturellen Vergleich diesel-

Page 21: Starke Stille - Stille Kraft

21

ben Tendenzen zeigt. Wie die Kultur der Geschwindigkeit das menschliche Bewusstsein

transformiert und eine Gesellschaft geschaffen hat, welche in ihrem Beschleunigungs-

wahn gefangen ist und wie sich dieser auf Kinder auswirkt, ist Gegenstand weiterer

Erläuterungen.

Zum Schluss wird die enorme Fähigkeit des Menschen, sich den laufend wechselnden

Umweltsituationen - sowohl negativen, wie positiven - in einer beschleunigten Gesell-

schaft anzupassen, aus Sicht der Neurobiologie beleuchtet. Eine zusammenfassende

Reflexion rundet das gesamte Kapitel schliesslich ab.

4.1 Fortschritte der Technologie

Die Beschleunigung der Gesellschaft ging über die Jahre ganz allmählich vor sich, so

dass das derzeitige Lebenstempo als normal empfunden wird. Gerade Kinder sind da-

von betroffen, da sie immer mit der allerneusten Beschleunigungsphase aufwachsen.

Erst wenn man den Lebensstil mit dem Leben der Generation vorher oder jener davor

vergleicht, entsteht ein realistisches Bild von der stattfindenden Beschleunigung der

Gesellschaft: Geräte des täglichen Gebrauchs wie zum Beispiel Wählscheiben-Telefone

oder getrennte Hähne für warmes und kaltes Wasser, vormals „das neuste Modell“, ge-

ben heute Anlass zu Frustrationen, da sie schlicht zu langsam sind. Obschon diese auch

schon zur Beschleunigung des Lebens in ihrer Zeit beitrugen. Vor dreißig Jahren waren

die Menschen es noch gewohnt, im direkten Gespräch mit anderen zu stehen und der

Stille (reden, Pause, zuhören), welche zum menschlichen Dialog gehört, Raum zu geben

(Fasser 2001). Heute findet die Kommunikation mehrheitlich digital, folglich indirekt

statt. Um etwas in nützlicher Frist zu erledigen, keine Zeit zu verlieren oder einem un-

angenehmen Gespräch auszuweichen, schreibt man schnell eine sms, schickt eine Mail,

eine mms oder macht einen Eintrag in einem Blog. Der einzige Grund, warum alte, einst

sehr nützliche Technologien heute überholt erscheinen, ist der, dass sie hinter das Tem-

po des Lebensbewusstseins zurückgefallen sind. Das bedeutet, dass nicht der Fortschritt

der Technologie an sich von Bedeutung ist, sondern eher seine Wirkung auf die Wahr-

nehmung und Aufmerksamkeit, auf Wünsche und Frustrationen (vgl. DeGrandpre 2002,

22).

Page 22: Starke Stille - Stille Kraft

22

4.2 Im Karusell der Sinnesreize

Das Bewusstsein neutralisiert den jeweils erreichten technischen Fortschritt, indem es

sich den Versuchen anpasst, es auf immer höhere Touren zu bringen. Die Reize müssen

ständig intensiviert werden, wenn die erwünschte kurzfristige Befriedigung eintreten

soll, welche von Reizverstärkung ausgehen kann. Die stete Suche nach Neuem und nach

Veränderungen stellt sich bald als nicht mehr so stimulierend heraus.

Der beschleunigte Lebensstil prägt ein beschleunigtes Bewusstsein. DeGrandpre (2002)

spricht von einer Sucht nach Sinnesreizen. Diese bedeutet eine Störung des bewussten

Erlebens, welche eine Unfähigkeit hervorbringt, mit Langsamkeit umzugehen – und bei

Kindern die Unfähigkeit, eigenes Verhalten zu kontrollieren. Es kommt zu Reizabhän-

gigkeiten, welche das Verhalten animieren, nach (noch) mehr Stimuli zu suchen. Unru-

he, Hyperaktivität und die Unfähigkeit, sich auf nüchtern-sachliche Aktivitäten einzu-

lassen, stellen die Art von Fluchtverhalten dar, welche `reizsüchtige` Menschen zeigen,

um ihren benötigten Stimulationsstrom aufrechtzuerhalten.

Die allgegenwärtige Ausrichtung auf Geschwindigkeit erschwert ein Sich-Einlassen auf

langsame Zeitausschnitte. Diese Unfähigkeit zur Verlangsamung hat zur Folge, dass

wichtige Aktivitäten verhindert werden, wie beispielsweise Bücher zu lesen, kon-

zentriert dem Unterricht zu folgen, stehen zu bleiben, auf etwas zu warten, eine intime

Beziehung aufzubauen, dem Kind zeichnen beizubringen. Dies sind alles Situationen

oder Prozesse bei denen sich keine elektronischen Hilfsmittel einsetzen lassen, um diese

zu beschleunigen.

Das Unbehagen an der Langsamkeit resultiert aus der gleichzeitig erfolgenden Über-

nahme eines noch hektischeren Lebensstils, da die beschleunigte Gesellschaft eine

Flucht vor der unbehaglichen Erfahrung der Langsamkeit und Langeweile bietet. Lang-

samer zu leben, einmal innezuhalten und der Stille Raum zu geben, löst die existenzielle

Angst aus, es könnte sich eine riesige Leere auftun. Der Terror der Langeweile ist einer

der größten Schrecken der gehetzten Welt (Levine 2007).

Page 23: Starke Stille - Stille Kraft

23

Das Fluchtverhalten besteht heute in Aktivitäten wie Computer-Spielen, Fernsehen oder

Telefonieren. Es gehören jedoch auch subtilere Formen der Selbststimulation dazu wie

Zappeln, Naschen, Rauchen und chronischer Kaffeekonsum.

Es zeigt sich also, dass von dem beschleunigten Lebensstil am Ende nur ein unstillbares

frustriertes Verlangen nach ständiger Stimulierung bleibt (DeGrandpre 2002).

4.3 Verlust des Hier und Jetzt

Durch einen Wahrnehmungsmodus, in dem Langsamkeit als unangenehm empfunden

wird, hat die Reizsucht eine Tendenz, eine zeitlich vorwärts gerichtete Haltung zu er-

zeugen, eine Flucht vor der Gegenwart. Aus der Gegenwart etwas so Flüchtiges zu ma-

chen, dass sie kaum mehr existiert, scheint die Hauptfunktion der geschäftigen, reiz-

überfluteten Kultur. Dies führt zu einer Entfremdung von dem einzigen zeitlichen Ort,

in dem sich die Welt authentisch erleben lässt: der Gegenwart.

Indem die Gegenwart vernachlässigt wird, kultiviert sich die Sehnsucht nach der Zu-

kunft und ein zukunftsfixiertes Bewusstsein. Weil der Augenblick mit wenig Bewusst-

sein vorübergeht, haben alltägliche Geschehnisse eine geringe Erfahrungsqualität und

dementsprechend einen geringen Erinnerungswert.

Es scheint, dass viele Menschen das Vergehen der Zeit in ihrem Lebensprozess heute

als rascher erfahren, weil das Erfahren von Ereignissen selten zur Oberfläche des Be-

wusstseins empordringt (DeGrandpre 2002).

4.4 Kinder des beschleunigten Lebensstils

Was Stille im Ohr, ist Ruhe im Körper. Musik, Töne, Geräusche, das alles wirkt, löst

Emotionen aus, beeinflusst uns, turnt uns an. Unsere Lebenswelt wird ständig lauter.

Und irgendwo müssen diese Eindrücke wieder raus - zum Beispiel durch Bewegung.

Wolfgang Fasser (2011, 22)

Kinder sind in den hektischen Rhythmus des Alltags eingespannt und werden unfreiwil-

lig mit einer Flut von Reizen bombardiert. Kinder kommen nie genug zur Ruhe, um

auch das Leben in Langsamkeit zu lernen, welches ihnen ein Abschalten erlauben könn-

te. Die Fähigkeit, still zu sein, kann sich auf diese Weise kaum entwickeln. Dadurch

fehlt den Kindern heute etwas Wichtiges: In der Stille die Umwelt zu hören, nachzu-

Page 24: Starke Stille - Stille Kraft

24

denken, kreative Impulse zu empfangen, zu sich zu kommen. Es erstaunt nicht, dass es

für immer mehr Kinder schwierig ist, still zu sein, Stille auszuhalten (Fasser 2011). Von

Geburt an mit chronischer Stimulation gesättigt, zeigen viele Kinder bereits Anzeichen

einer Sucht nach Sinnesreizen. Sie sind daran gewöhnt, unterhalten zu werden. Lehrper-

sonen sehen sich mehr denn je mit Kindern konfrontiert, die kognitiv und emotional

überfordert sind und dies in schwer verstehbarem Verhalten äussern.

Der Bedarf nach konstantem Konsum von Sinnesreizen lässt sich beispielsweise bei

manchen AD(H)S-Kindern deutlich beobachten. Studien haben gezeigt, dass sich viele

hyperaktive, an Aufmerksamkeitsdefizit leidende Kinder unter reizgesättigten Bedin-

gungen in alltägliche Kinder verwandeln. Erst wenn der Strom an Reizen nachlässt,

werden sie verhaltensauffällig. Dies wirft die Frage auf, ob AD(H)S wirklich eine neu

entdeckte, behandlungsbedürftige Erkrankung oder eine kulturell induzierte Störung ist,

die aus der Sucht nach Geschwindigkeit resultiert (DeGrandpre 2002). Hier sei auch

erwähnt, dass Hirnforscher und Mediziner in zunehmendem Masse betonen, ein ursäch-

licher Zusammenhang zwischen hirnorganischen Veränderungen und dem, was als

AD(H)S bezeichnet wird, sei bislang nicht bewiesen (Baer & Barnowski, 2009). Zudem

disponiert die reizübersättigte Umwelt heute wohl alle Kinder von Geburt an, Sympto-

me von AD(H)S zu entwickeln (Herzka, 2011).4

DeGrandpre (2002) führt eine Langzeitstudie auf, die in den Siebzigerjahren begonnen

und 1995 veröffentlicht wurde. Diese lieferte hierzu interessante Ergebnisse: Forscher

untersuchten 191 Kinder, beginnend im Alter von sechs Monaten und dann durch die

frühe und mittlere Kindheit hindurch. Dabei wurde eine Vielzahl an verhaltensbezoge-

ner, psychologischer und familiärer Variablen gemessen. Es stellte sich heraus, dass die

Qualität der Zuwendung und Betreuung sehr viel deutlichere Voraussagen bezüglich

Ablenkbarkeit zulässt als frühe biologische Faktoren oder solche des Temperaments.

Viele Erwachsene tendieren heute dazu, Kindern immer weniger Zeit zur Verfügung zu

stellen. Als Motto scheint dabei „Qualität anstatt Quantität“ zu stehen. Die Wirkungen

4 Herzka, H.S. (2011), mündliche Mitteilung vom 3.10.2011

Page 25: Starke Stille - Stille Kraft

25

des hektischen Lebens von erwachsenen Bezugspersonen entfalten in der kindlichen

Welterfahrung, welche einem eigenen Rhythmus unterliegt, zerstörerische Kraft. Hier

bezieht sich Überstimulierung auf die unbewusste Praxis, Kindern erwachsenes Zeit-

und Tempo-Gefühl aufzuzwingen, statt sie ihr eigenes Tempo bestimmen zu lassen. Ist

ein Kind einer solchen Betreuungsform chronisch ausgesetzt, lässt es sich, wie Untersu-

chungen gezeigt haben, immer leichter ablenken und entwickelt die Neigung zu Un-

aufmerksamkeit (vgl. DeGrandpre 2002, 53).

4.5 Neurobiologischer Aspekt: Spiegelneurone

Was wir sehen – dies ist die zentrale Botschaft der Spiegelneuronenforschung -, wird in

Nervenzellnetze eingeschrieben, die die Programme für

eigene Handlungsmöglichkeiten kodieren.

Joachim Bauer (2005, 121)

Zuerst passiv erlebend, dann abschauend und schliesslich imitierend, übernehmen Kin-

der den hektischen Lebensstil von Erwachsenen alsbald. Wie diese Übernahme zustande

kommt, lässt sich neurobiologisch erklären: Dafür sind die Spiegelneurone verantwort-

lich. Die folgenden Ausführungen dazu berufen sich auf Bauer (2005).

4.5.1 Wie sich das Kind in die Welt spiegelt

Spiegelnervenzellen, bzw. Spiegelneurone sind jene Nervenzellen des Gehirns, welche

im Körper einen bestimmten Vorgang, wie zum Beispiel eine Handlung oder eine Emp-

findung, steuern können, gleichzeitig aber auch dann aktiv werden, wenn derselbe Vor-

gang bei einer anderen Person beobachtet wird. Diese Spiegelresonanz setzt ohne

Nachdenken ein. Die Spiegelneurone nutzen das neurobiologische Inventar des Be-

obachters, um ihn in einer inneren Simulation spüren zu lassen, was im anderen, den er

beobachtet, vorgeht.

Dem Säugling wird von der genetischen Grundausstattung ein Startset von Spiegelneu-

ronen zur Verfügung gestellt. Dieses befähigt ihn, bereits wenige Tage nach der Geburt

erste Spiegelungsaktionen mit seinen Bezugspersonen vorzunehmen. Dies zeigt sich

zum Beispiel darin, dass er bestimmte Gesichtsausdrücke spontan imitiert. Es ist von

entscheidender Bedeutung, ob dem Säugling die Chance gegeben wird, solche Aktionen

zu realisieren, da Nervenzellensysteme verloren gehen, wenn sie nicht benutzt werden.

Page 26: Starke Stille - Stille Kraft

26

Spiegelaktionen brauchen immer einen Partner, damit dieses wechselseitige Spiel statt-

finden kann, welches dazu führt, dass sich erste zwischenmenschliche Bindungen ent-

wickeln. Dadurch wird die Grundlage für die emotionale Intelligenz geschaffen.

Frühe Spiegelungen entsprechen beim Neugeborenen einem emotionalen und neurobio-

logischen Grundbedürfnis, weil sie nicht nur zu seelischem, sondern auch zu körperli-

chem Glück führen. Eine absichtlich verweigerte Spiegelung ruft umgekehrt massive

Unlustreaktionen hervor. Bleibt die Miene der erwachsenen Bezugsperson beispielswei-

se absichtlich regungslos, wendet sich das Kind impulsiv ab. Bei mehrfacher Wiederho-

lung dieser Prozedur, kann dies einen emotionalen Rückzug zur Folge haben.

Obschon sich der Säugling noch nicht als eigene Person wahrnimmt, erzeugt der spie-

gelnde Austausch in ihm ein erstes intuitives Grundgefühl von sozialer Verbundenheit

(Intersubjektivität, Stern, 2011). Bereits mit zwei Monaten sind Kleinkinder aktiv da-

rum bemüht, eine gefühlsmässige Abstimmung, bzw. Übereinstimmung mit der Mutter

herzustellen. Im dritten Lebensmonat entwickelt das Kind ein Gefühl dafür, dass es mit

den eigenen Lebensäusserungen, Verhaltensänderungen bei seinen Bezugspersonen

auslösen kann. Etwa zum selben Zeitpunkt beginnt der Säugling auch seine Aufmerk-

samkeit nach der Blickrichtung und damit nach der Aufmerksamkeit der Erwachsenen

auszurichten. Bauer (2005, 63) nennt dies, spiegelndes Einschwingen auf ein gemein-

sames Aufmerksamkeitsziel (joint attention).

Mit ca. sechs Monaten beginnt das Kind den Ablauf und das Ziel von Bewegungsse-

quenzen zu speichern. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass es wenig später auch

Handlungssequenzen inklusive ihres Endzustands speichern kann. Um den neunten

Monat bildet sich die Fähigkeit, Objekte oder Bezugspersonen in dem Wissen zu reprä-

sentieren, dass sie auch weiter existieren, wenn sie nicht zu sehen sind. Auf diesem

wichtigen Entwicklungsschritt baut die Fähigkeit auf, auch Vorstellungen von nicht

sichtbaren Abschnitten einer Handlungssequenz zu entwickeln. Mit zwölf bis vierzehn

Monaten ist das Kind dann in der Lage, Handlungs-Ziele und –Absichten, die es beo-

bachtet, vorauszusehen und zu verstehen. Die Möglichkeiten des Spiegelsystems erwei-

tern sich damit schrittweise.

Page 27: Starke Stille - Stille Kraft

27

Als eine Ansammlung von Handlungsmöglichkeiten entwirft das Kind sein Bild der

Welt und die Basis für Vorstellungen vom eigenen Selbst. Zwischen dem zwölften und

achtzehnten Monat bildet sich die Erkenntnis, dass es eine Unterscheidung zwischen

Selbst und anderen gibt. Im Alter von etwa achtzehn Monaten kann das Kind schliess-

lich Handlungen gezielt beobachten und durch bewusste Imitation einüben.

Das Kind kann in den Spiegelungen der Erwachsenen nach und nach erkennen, wer es

selbst ist. Deshalb kann es nur dann ein in sich konsistentes, stabiles Selbstgefühl ent-

wickeln, wenn ihm Beziehungen zur Verfügung stehen, in denen es sich mit seinem

individuellen Temperament und seinen persönlichen Eigenschaften gespiegelt sehen

kann. Bezugspersonen sind aus neurobiologischer Sicht durch nichts zu ersetzen, weil

die Spiegelsysteme Handlungssequenzen nur dann einspiegeln können, wenn sie von

lebenden Vorbildern, von biologischen Akteuren kommen.

4.5.2 Lernen durch Erleben

Spiegelnervenzellen sind für alle Lernvorgänge von grosser Bedeutung, da sie das ent-

scheidende Bindeglied zwischen der Beobachtung eines Vorgangs und dessen eigen-

ständiger Ausführung sind. Für das bekannte „Lernen am Modell“ bilden die Spiegel-

neurone die entscheidende neuronale Basis. Die Beobachtung einer bestimmten Hand-

lung verbessert die Fähigkeit, diese Handlung selbst auszuführen. Diese Übertragungs-

funktion der Spiegelneurone beschränkt sich nicht nur auf den reinen Handlungsaspekt,

sondern auch auf sensorische und emotionale Wahrnehmungen (Wie fühlt sich das für

einen Menschen an?). Die Kompetenz, die gleiche oder eine ähnliche Aufgabe zu lösen,

erweitert sich, wenn das Kind beobachtet, wie ein anderer emotional mit Problemen

umgeht, ein Gerät bedient oder eine schwierige Aufgabe löst (vgl. Bauer 2005, 122).

Da die Spiegelnervenzellen eines Beobachters jede Aktivität verweigern, wenn die beo-

bachtete Handlung nicht von einem lebenden Individuum ausgeführt wird, ist die zwi-

schenmenschliche Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden neurobiologisch be-

trachtet von überragender Bedeutung. Das Zeigen und Vormachen, die persönliche Un-

terweisung durch die lehrende Person, ist eine entscheidende Komponente beim Lehren

und Lernen.

Page 28: Starke Stille - Stille Kraft

28

Beim Transfer von Wissen ist das Vormachen und Zeigen jedoch nur der erste Schritt.

„Das Gehirn betrachtet die Welt aus dem Blickwinkel möglicher Handlungsstrategien“

(Bauer 2005, 123). Deshalb sollten sich Lernziele nicht darauf beschränken, abstraktes

Wissen sprachlich abspeichern und wider geben zu können. Erst durch handelndes oder

fühlendes Ausprobieren des Gelernten, entstehen wirkliches, gesichertes Wissen und

Motivation.

4.6 Zusammenfassende Reflexion

Das Lernen am Modell, welches Kinder aufgrund der Spiegelneurone automatisch be-

treiben, wird - bezogen auf die Thematik einer nicht zur Ruhe kommenden Umwelt - zu

einem verhängnisvollen Unterfangen: Die Unruhe der Erwachsenenwelt wird gespiegelt

und der hektische Lebensstil verinnerlicht. Kinder steigen ins Karussell der Sinnesreize

ein. Da ihnen Ruhephasen und Stille-Erfahrungen, welche ein Bewusstsein für Lang-

samkeit und Achtsamkeit voraussetzen, kaum mehr vorgelebt werden – und wenn, dann

eher als nicht erstrebenswert, weil zeitlich unerwünscht – wird Stille zu etwas Negati-

vem, Langweiligem, Bedrohlichem. Sie wird als unliebsame Unterbrechung, als Stö-

rung des Alltagsbetriebs erfahren, welche Frustration oder gar Scham auslöst, da sie mit

Versagen im Sinne von Unproduktivität gleichgesetzt wird. „Innehalten in einer Tätig-

keit“, „Nicht-Reagieren“ sowie „Nicht-Eingreifen und Abwarten“ können auf diese

Weise nicht ins Repertoire kindlicher Handlungsmöglichkeiten aufgenommen werden.

Mit Stille nicht vertraut zu sein und ihren tragenden Grund nicht zu kennen, macht sie

zu etwas Beängstigendem, dem mit Ablenkung und Unruhe ausgewichen oder begegnet

wird. Die Quelle der Kraft, welche in der Stille verborgen liegt, kann nicht entdeckt

werden und bleibt Kindern verschlossen.

Die Tendenz der Reizsucht, aus der Gegenwart etwas so Flüchtiges zu machen, dass

diese kaum mehr existiert, führt zu einer Entfremdung von der Gegenwart. Da Hingabe

an den Moment nirgendwo anders stattfinden kann als in der Gegenwart, wird es Er-

wachsenen wie auch Kindern schwer gemacht, die Seinsqualität der Achtsamkeit, inne-

re Stille zu erfahren. Die Geschenke, welche Augenblicke der Stille zu bescheren ver-

mögen, können nicht als solche wahrgenommen werden.

Page 29: Starke Stille - Stille Kraft

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Unruhiges Verhalten von Kindern, welches Unaufmerksamkeit und Ablenkbarkeit zur

Folge hat, scheint die logische Konsequenz des hektischen Lebensstils zu sein. Es ist

die „normale“ Reaktion auf das, was sie erleben, wie sich ihnen die Welt zeigt. Die Zu-

nahme der Anzahl von unruhigen Kindern darf demnach nicht überraschen, sondern

regt vielmehr zum Nachdenken an. Um neue Wege beschreiten zu können, bedarf es

zuerst einer Destabilisierung des Vorhandenen.

Hier wird erneut die Wichtigkeit des eigenen Umgangs mit Stille in der musiktherapeu-

tischen Arbeit mit unruhigen Kindern deutlich. Um einem Kind Stille-Erfahrungen zu

ermöglichen, um es auf dem Weg in die Stille zu begleiten, muss die Therapeutin selber

mit Stille vertraut sein. Zudem verlangt das Wissen um besagte Reizsucht, vertiefte

Achtsamkeit auf mögliche „Entzugserscheinungen“ und die Schaffung einer möglichst

reizfreien Umgebung im Therapieraum. Da sich die Symptome und Auffälligkeiten

dadurch vorerst intensivieren können, ist die Therapeutin gefordert, die Unruhe zusam-

men mit dem Kind auszuhalten und gemeinsam einen Weg zu gehen. Nötig sind - in

Vorbildfunktion - kein Zwang zur Stille, sondern Ernstnehmen des Bewegungsbedürf-

nisses und, dem Tempo des Kindes angepasst, behutsame Begleitung in Ruhephasen.

5 Stille im Alltag von Kindern

Die Stille wartet geduldig ab, bis jemand ihr das Wort erteilt.

Carlos Martinez (2009, 9)

Musse und Langsamkeit wurden durch einen steten Kampf um Aufregung und Ge-

schwindigkeit verdrängt. Die Konsequenz daraus ist, dass im Alltag immer weniger Zeit

für wohltuende Stille und Ruhe zur Verfügung steht. Bereits Kinder haben heute ein

Tagesprogramm, welches vollgepackt mit Terminen an den Arbeitstag eines Erwachse-

nen erinnert.

Dieses Kapitel geht der Frage der Bedeutung und dem Vorkommen von Stille im Alltag

von Kindern nach.

Page 30: Starke Stille - Stille Kraft

30

5.1 Stille und Stillen

Ich bin zur Ruhe gekommen. Mein Herz ist zufrieden und still. Wie ein Kind in den Ar-

men seiner Mutter, so ruhig und geborgen bin ich bei dir!

Psalm 131,3

Stille spielt in der kindlichen Entwicklung eine wesentliche Rolle. Bereits im Mutterleib

lernt es die Qualität von Stille kennen. Der Fetus nimmt die von Tomatis (2007) be-

schriebene „summende Stille“ oder „lebendige Ruhe“ (Herzrhythmus, Atem, Darmge-

räusche und Bewegungen der Mutter) in der Gebärmutter wahr. Zunächst taktil-haptisch

als Berührung, dann über das Gleichgewichtsorgan als Schwingung und ab ca. vierein-

halb Monaten als Hören über das Ohr. Das Kind macht erste Erfahrungen mit Stille und

Nicht-Stille, indem es den Wechsel von Ruhe (Mutter schläft) und bewegt werden

(Mutter bewegt sich), von intrauteriner Stille (Mutter schweigt) und extrauterinen akus-

tischen Eindrücken (Stimme der Mutter oder Stimmen anderer Bezugspersonen, Musik,

Alltagsgeräuschen) mit erlebt. Psychische Veränderungen bei der Mutter wie Freude,

Trauer, Angst, Stress oder Erschrecken, nimmt es neuroendokrin ebenso wahr. Diese

Ereignisse bereiten das Kind auf die Wechsel zwischen Lärm und Stille ausserhalb des

geschützten Mutterleibs vor. Überschreiten diese jedoch die individuell unterschiedliche

Toleranzgrenze, wird das Kind gestört und verunsichert, was sich im späteren Umgang

mit Stille zeigen kann: Im Geniessen und sich ihr Anvertrauen-Können oder in Angst

davor und Abwehr (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 146).

Das Stillen des Kindes gehört zu den innigsten menschlichen Stille-Erfahrungen. Die

körperliche und seelische Nähe zur Mutter, welche es dabei erlebt, spendet Kraft und

hilft ihm, die noch fremde Welt zu bewältigen. „Stillen kann als Ursprungserfahrung für

das Erleben von Stille in späteren Lebensphasen bezeichnet werden, als Quelle der

Kraft und des Kontaktes zu sich selbst und der Mitwelt“ (Lutz Hochreutener 2009, 146).

Die Stillzeit ist eine Zeit, in der ein Urvertrauen ebenso geschaffen wird wie ein Ver-

trauen in die Stille – oder auch nicht (vgl. Lagler 2003, 3).

Page 31: Starke Stille - Stille Kraft

31

5.2 Stille und Erziehung

Los, los, los emal, los mal wie das still isch, wänn du und ich zäme sind,

s`isch doch genau eusi Melodie.

I däre Wält wo alles luut und schrill isch, da bini froh ghöri wenigschtens dich

Nume schad ghörsch mi jez nöd.

Patent Ochsner (1997)

Die gesunde Kindesentwicklung hängt von der emotionalen Bindung des Kindes an

seine Eltern oder andere anwesende Bezugspersonen ab. Die Anforderungen von Ar-

beitsplatz und Wohlstand machen es Eltern jedoch immer schwerer, die Entwicklungs-

und Erlebenswelt ihrer Kinder zu erhalten und zu schützen (vgl. Schor 1991 in DeGra-

ndpre 2002, 65). Laut Bundesamt für Statistik nimmt ausserdem die Scheidungsrate

jährlich zu, wodurch viele Kinder in sogenannten Patchwork-Situationen aufwachsen.

Dies alles führt dazu, dass ein berechenbarer, gleich bleibender Tagesablauf in vielen

Familien nicht mehr stattfinden kann. Strukturen der Selbstorganisation und Selbstkon-

trolle auszubilden, wird für das Kind dadurch fast unmöglich. Struktur meint hier nicht

nur Routine und Ritual, sondern geduldig da zu sein, wenn das Kind Aufmerksamkeit

braucht. Viele Beschäftigungen, welchen Kindern in Ermangelung von festen Familien-

strukturen nachgehen, sind hochintensive Aktivitäten. Wertvolle Erfahrungen, ab und

zu Stille im Haushalt zu kreieren, Musik und Fernseher abzuschalten, die Kinder für

sich alleine spielen zu lassen, ohne akustische Inputs, bleiben aus (Fasser 2011). Dies

kann bedeuten, dass täglich immer mehr Zeit mit passiver Unterhaltung verbracht wird

und immer weniger Zeit für wohltuende Stille und Ruhe zur Verfügung steht. Hier ist

nicht nur die Art von Aktivitäten gemeint, zu denen sich Kinder hingezogen fühlen, wie

Fernsehen, sondern auch die turbulente Lebensweise, in der sie ständig zwischen ver-

schiedenen Betreuern und Terminen hin- und hertransportiert werden. Diese vielfältigen

Aktivitäten lösen oft eine Abscheu gegenüber Strukturiertheit aus, welcher ein noch

grösseres Bedürfnis nach Stimulation entspringt, was schliesslich dazu führt, dass das

Kind in langsamen, stilleren Lebensbezügen – in der Schule, beim Essen, zur Bettgeh-

zeit, beim Hausaufgaben lösen, bei der Hausarbeit oder wenn ihm etwas verboten wird -

völlig „durchdreht“. „Statt die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu lernen, die wir alle brau-

Page 32: Starke Stille - Stille Kraft

32

chen [...], wird Stimulation zu einer Ersatzstruktur für das Kind, und wenn sie wegfällt,

fällt auch das Kind auseinander“ (DeGrandpre 2002, 68).

5.3 Stille und Schule

Die Schule ist der Indikator für die Erwartungen der Gesellschaft

Urs Hunziker (2011)

Im Schulunterricht ist Ordnung eine Grundvoraussetzung, um konzentriert und ausdau-

ernd an einer Sache arbeiten zu können. Es wird erwartet, dass Kinder den Worten der

Lehrperson ruhig folgen und nur nach deren Aufforderung sprechen (Baer &

Barnowski-Geiser 2005).

Der Schulalltag fordert Kindern heute viel Selbstkontrolle ab. Vonseiten des Bildungs-

wesens ist eine vermehrte Forderung nach eigenverantwortlichem Verhalten zu be-

obachten, wahrscheinlich nicht zuletzt um im interkulturellen Vergleich gut abzu-

schneiden. Die Weisungen des Bildungswesens haben bei Lehrpersonen, Eltern und

Schülern, aufgrund einer fast „hyperaktiv“ anmutenden Reformenlust in vergangenen

Jahren verbreitet zu Unmut geführt. In ihren Bemühungen, die Weisungen umzusetzen,

unterrichten Lehrpersonen häufig entgegen ihrer Überzeugungen, was einer gelingenden

Entwicklung der Kinder förderlich wäre. Aus Sicht der Lehrpersonen übernehmen sie

immer mehr Pflichten und bekommen immer weniger öffentliche Anerkennung dafür.

Dies wirkt sich auf die Befindlichkeit sowohl der Kinder als auch der Lehrpersonen

auswirkt. Die Zeit für das einzelne Kind und die Ruhe in der persönlichen Unterwei-

sung schwindet. Zudem können oder wollen heute nur noch wenige Lehrpersonen ein

100%- Pensum bestreiten. Durch das weit verbreitete Job-Sharing findet der Unterricht

mit wechselnden Klassen-Lehrpersonen statt. DaZ-Lehrpersonen, schulische Heilpäda-

gogen und Sozialarbeiter, Logopäden und Psychomotorik-Therapeuten können zu wei-

teren möglichen Bezugspersonen für Schul-Kinder werden. Unbestritten tragen alle

diese Unterstützungs-Angebote zu einer gelungenen ganzheitlichen Entwicklungsförde-

rung bei. Sie tragen jedoch ebenso unbestritten zu noch mehr Unruhe und Wechsel im

schulischen Alltag bei. Ein weiterer Faktor, welcher den Alltag vieler Kinder prägt, sind

die flächendeckend eingeführten Tagesstrukturen. Viele Kinder verbringen die Randzei-

ten vor, zwischen und nach der Schule heute in einem Hort. Wie auch in der Klasse

Page 33: Starke Stille - Stille Kraft

33

finden sie sich dort erneut in einem Gruppenverband, in welchen sie sich einfügen müs-

sen.

Im Wissen um die Wichtigkeit von Ruhephasen und stillen Momenten, versuchen viele

Lehrpersonen, trotz Zeitmangel, ihren Schülern anhand von Achtsamkeitsübungen sol-

che Erlebnisse zu ermöglichen. So kann es dazukommen, dass die Kinder mit lautstar-

ker Stimme dazu aufgefordert werden, endlich ruhig zu sein, damit sie die wohltuende

Stille erfahren können...

Die Aufforderung zum Stillsein oder Ruhigsitzen bedeutet für Kinder wiederum An-

strengung. Da viele Kinder auf die heutige Vielfalt an Sinneseindrücken mit motori-

scher Unruhe reagieren, muss dem Bedürfnis nach Bewegung, welches nicht mit Ruhe

wegmeditiert werden kann, Rechnung getragen werden. Lehrpersonen müssen sich heu-

te der Herausforderung stellen, die Kinder darin zu unterstützen, den Reiz der Ruhe und

der Stille zu erkennen (Fasser 2011).

5.4 Zusammenfassende Reflexion

Erste Erlebnisse mit dem Wechselspiel von Klang, Rhythmus und Stille finden bereits

pränatal statt. Der Herzschlag der Mutter ist neben dem eigenen Puls der elementare

Maßstab. Der Fetus lernt die Qualität von Stille und die Polarität zwischen Ruhe und

Aktivität schon im Mutterleib kennen. Zudem kann sich die Stillzeit durch die körperli-

che und seelische Nähe zur Mutter für den Säugling als innige Stille-Erfahrung erwei-

sen: Stille wird zur Quelle der Kraft und des Kontaktes zu sich selbst und der Mitwelt.

Ob diese Erfahrungen positiv waren, zeigt sich im späteren Umgang mit Stille.

Für die Arbeit mit unruhigen Kindern kann es hilfreich sein, Informationen über die

Schwangerschaft und die Säuglingszeit präsent zu haben, um ihr Empfinden von Stille

vielleicht besser zu verstehen. Was in Pausen, in stillen Momenten jedoch tatsächlich

gehört oder empfunden wird, ist von den individuellen Erfahrungen und Hörgewohnhei-

ten des Kindes und der Therapeutin abhängig. Diesem Umstand muss bei der Anwen-

dung der musiktherapeutischen Methode Stille Beachtung geschenkt werden.

Zeit für wohltuende Stille und Ruhe steht im Alltag von Kindern in Ermangelung von

festen Familienstrukturen heute kaum mehr zur Verfügung. Selbstkontrolle zu entwi-

Page 34: Starke Stille - Stille Kraft

34

ckeln, wird ihnen dadurch fast verunmöglicht. Wie aus Kapitel 3.1 hervorging, sehen

sich Kinder zudem von der Umwelt in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt und

gleichzeitig verlangt der familiäre und schulische Alltag selbstverantwortliches Verhal-

ten. Für gleichbleibende, haltgebende Strukturen (Material-Anordnung im Raum, An-

fang- und Schlussritual, Zeiteinhaltung, klare Regeln) in der Therapie zu sorgen, scheint

eine Notwendigkeit, um unruhige Kinder aus Alltagsstress und -überforderung in die

Ruhe begleiten zu können.

6 Das Phänomen Stille in der Musiktherapie

Stille ist der erste Ausdruck des Patienten. Dadurch wird ihm die Möglichkeit gegeben,

sich zu hören und sich wiederzuerkennen und den anderen zu erkennen.

Benenzon in Smetana (2005, 79)

Das folgende Kapitel beleuchtet das Phänomen der Stille aus Sicht der Musiktherapie.

Stille kann sich in der Musiktherapie vielfältig und auf verschiedenen Ebenen der Mu-

sik, der Sprache und des Körpers zeigen: Musikalisch als Ein- und Ausschwingen, res-

pektive Abbruch sowie Pausen, sprachlich als Pausen oder Sequenzen von Tonlosigkeit,

als Verstummen, Schweigen bis zu Verschweigen und körperlich als zufriedenes Aus-

ruhen, erschöpftes Innehalten oder Erstarren in Bewegungslosigkeit (vgl. Lutz Hochreu-

tener 2009, 150).

Musiktherapie braucht die Stille, weil durch den Kontrast von Musik und Stille, Musik

erst als solche erkennbar wird. Stille bildet Nährboden, Ruheinseln und schöpferische

Pausen, aus denen immer wieder Neues erwachsen kann. Sie ist Anfang und Ende allen

Handelns.

Page 35: Starke Stille - Stille Kraft

35

6.1 Stille und Musik

Klänge sind nur Schaumblasen auf der Oberfläche der Stille.

John Cage in Ruge (2010, 42)

Ohne Stille gibt es keine Musik. Die praktische und konkrete Bedeutung von Stille in

der Musik ist zunächst jene der Pause. Wenn eine Pause, ein kurzes Innehalten das Da-

hingleiten der Musik unterbricht, ist der Hörer für sich alleine, kann reflektieren, das

Gehörte und die dadurch ausgelösten Assoziationen verarbeiten, sich zu eigen machen.

Darüber hinaus ist Stille der Nährboden auf dem Musik entstehen kann. Durch den

Kontrast von Musik und Stille wird Musik erst als solche erkennbar. Stille dient als

Hintergrund, Boden oder Stützgerüst für den Zusammenhang klanglicher Ereignisse.

Gleichsam bildet sie den Rahmen für einen Gesamtklang, der sich in Dynamik, Rhyth-

mus, Melodie und Form von Musik entwickeln und aufbauen kann, welcher dann auch

wieder in Richtung der Stille verklingt (vgl. Smetana 2005, 27f).

Solche aus der Stille erwachsende und dahingleitende Musik konfrontiert den Menschen

mit der Illusion der vermeintlichen Sicherheit, etwas besitzen bzw. festhalten zu können

und wird so zur Metapher für die Vergänglichkeit des Seins. Dadurch weist sie ihn auf

seine Winzigkeit in etwas unfassbar Grösserem hin und stellt ihn vor die Herausforde-

rung, sich mit existenziellen Fragen von Werden, Sein und Vergehen auseinanderzuset-

zen. Dies kann verschiedene Gefühlsqualitäten auslösen, sowohl angenehme als auch

bedrohliche: Berührtheit, Geborgenheit, Langeweile, Orientierungslosigkeit, Verloren-

heit, Abwehr.

Musik, die aus der Stille erwächst, verlangt dem Zuhörer wie auch dem Spieler eine

besondere Aufmerksamkeit ab, eine präsente Hörbereitschaft und Hörhaltung. Sie wer-

den gefordert, ganz Ohr zu sein, sich zu öffnen und das Hören auf den Moment zu kon-

zentrieren. So wird Musik zu einem Übungsfeld der Basiskompetenzen jeder Kommu-

nikation: Aufmerksam zuhören, sich mit dem Gehörten auseinandersetzen und in einem

tieferen Sinn verstehen lernen (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 145).

Page 36: Starke Stille - Stille Kraft

36

Im therapeutischen Rahmen kann es hilfreich sein, sich damit auseinanderzusetzen, was

Stille als Pause vor, in und nach der Musik für den Musiktherapeuten persönlich bedeu-

tet und welche Fragen sich daraus ergeben:

Vor der Musik kann die Stille als Ankommen, Innehalten, Orientieren und eigenen Im-

pulsen Folgen erlebt werden. Auf diese Weise dient sie der Konzentration und erhöht

die Aufmerksamkeit. Was wird dabei empfangen? Spontaneität und Kreativität? Wohin

führen diese?

Auch wenn in musikalischen Pausen kein akustisches Ereignis stattfindet, verweisen sie

auf etwas und sind ebenso von Bedeutung wie die tönende Musik. „Die Pause ist [...]

nicht bloss der Zwischenraum von zwei Ereignissen, sondern selber ein Ereignis. Wer

sie nicht so behandelt, verliert die Energie für die Ereignisse zwischen den Pausen“

(Hegi 1997, 127). Der Kontext, in dem die Pausen stattfinden, ist entscheidend. Ohne

diesen Struktur gebenden Zusammenhang lassen sich Pausen nicht untersuchen. Welche

Empfindung steht vor der Pause, wie verhält es sich mit der inneren Spannung? Symbo-

lisiert die Pause etwas Unsagbares, Unaussprechliches, Unbegreifliches? Wofür oder

wogegen steht die Stille innerhalb der Musik?

Das Ausklingen der Musik bis zur endgültigen Stille hat einen besonderen emotionalen

Gehalt. Die Ruhe danach kann von ganz unterschiedlichen Stimmungen geprägt sein:

Harmonie, Geborgenheit, Schönheit oder Entladung, Katharsis, Abschied (Oerkwitz

2011).

Stille in der Musik ist also relativ: Sie wird von äusseren, akustischen Gegebenheiten

und von innerlichem Empfinden geprägt. Umso spannender ist es, welche Bedeutung

jeder Mensch den Pausen in der Musik gibt. Bewirken Pausen Verständnis füreinander?

Erzeugt Stille Resonanz?

6.2 Stille als musiktherapeutische Methode

Stille ist Teil aller Methoden, Medium des Übergangs und eigenständiges Element.

Sandra Lutz Hochreutener (2009, 138)

Nebst Improvisation, Lied, Komponierter instrumentaler Musik, Hantieren mit Instru-

menten, Körperzentrierter Spiele, Sprache, Rollenspiel, Imaginativem Musikerleben,

gilt auch Stille als eine der musiktherapeutischen Methoden. Wie die Improvisation

kann sie sowohl eigenständig vorkommen als auch in alle anderen Methoden hineinwir-

Page 37: Starke Stille - Stille Kraft

37

ken. Stille ist Anfang und Ende allen Handelns. Sie bildet Ruheinseln, aus denen immer

wieder Neues erwachsen kann (vgl. Lutz Hochreutener 2009, 138).

Das von Smetana (2005) entworfene Kreismodell zur Systematisierung von musikthe-

rapeutischen Stille-Sequenzen bietet eine gute Grundlage, Stille innerhalb Musik und

Sprache als Methode zu erfassen. Das Modell umfasst sechs mögliche Anknüpfungs-

punkte des Phänomens Stille: Prämusikalische Stille (vor der Musik), intramusikalische

Stille (innerhalb der Musik), postmusikalische Stille (nach der Musik), Übergangsstille I

(Brücke von Musik zu Sprache), intraverbale Stille (während des Gesprächs), Über-

gangsstille II (Brücke von Sprache zu Musik).

Da sich das Kreismodell auf Stille innerhalb Musik und Sprache und nicht auf Stille auf

der Körperebene bezieht, bedarf es für die Musiktherapie mit Kindern einigen Ergän-

zungen: Die intraszenische Stille innerhalb von Körperausdruck und Rollenspiel (Stille

auf der Körperebene und im szenischen Gestalten), Sequenzen des stillen Miteinander-

Seins, in welchen Stille nicht nur Übergang, sondern etwas Eigenes ist und alle mögli-

chen Übergänge zwischen den verschiedenen Methoden als weiter gefasstere Formen

von Übergangsstille (Lutz Hochreutener, 2009, 148).

Die Aufgabe der Therapeutin besteht darin, der Stille Raum zu schaffen, achtsam auf sie

zu sein und zu ihr hinzuführen. Im Folgenden wird dies genauer beschrieben.

6.2.1 Der Stille Raum schaffen

Es geht um eine Grundhaltung: Aus der Stille leben. Diese Haltung bewirkt einen

Wechsel vom Tun zum Sein, von Begrenzungen zu neuen Möglichkeiten.

Wolfgang Breithaupt (2010)

Ein gewisses Mass an äusserer Stille muss gewährleistet sein, damit der Patient frei von

Ablenkungen still werden und zu sich kommen kann. Der Therapieraum sollte daher

möglichst frei von Aussenreizen sein, eine weitgehend gleichbleibende Ordnung und

eine gemütliche Einrichtung ohne Überfluss haben, die Spiellust weckt.

Ebenso ist die innere Einstimmung des Therapeuten auf den Patienten wichtig. Die Pau-

se zwischen zwei Patienten kann als stiller Zwischenraum genutzt werden, in welchem

Page 38: Starke Stille - Stille Kraft

38

der Therapeut innehält, die eigene Befindlichkeit wahr- und annimmt, und seine Auf-

merksamkeit auf den erwarteten Patienten ausrichtet (vgl. Smetana 2005, 78).

Ohne ein Programm vorzubereiten oder Instrumente speziell ins Zentrum zu rücken, ist

der Therapeut mit seiner Präsenz einfach da. Offen für das, was entstehen will.

Mit dem Raum der Therapie verhält es sich ähnlich wie mit dem weissen Blatt eines

Malers. Wären Formen und Farben bereits vorhanden, würde er eingeengt und beein-

flusst: „Das Ureigene, für Entwicklung und Wandlung Notwendige, braucht Stille, um

sich entfalten zu können“ (Lutz Hochreutener 2009, 149)

Es ist Aufgabe des Therapeuten, wahrzunehmen, wie viel stiller Raum der Patient aus-

halten und füllen kann. Damit er sich nicht überfordert und in der Leere verloren fühlt,

muss er vom Therapeuten schrittweise damit vertraut gemacht werden.

6.2.2 Achtsamkeit auf Stille

Sich der Bedeutung und dem Sinn von Stille anzunähern und einen entwicklungsförder-

lichen Umgang damit zu pflegen, gelingt am ehesten mit einer Haltung von Achtsam-

keit und Resonanzbereitschaft. Die Therapeutin versucht die Momente der Stille wahr-

zunehmen, nicht sofort darauf zu reagieren, nachzuspüren, was sich atmosphärisch

konstelliert und welche Gefühle bei ihr ausgelöst werden. Vertiefte Auseinandersetzung

damit, wie die Therapeutin selber mit Stille umgeht, bildet die Basis für eine förderliche

Entwicklung der Balance zwischen Aktivität und Ruhe, Spannung und Entspannung,

Ausdruck und Stille. Je mehr sie selbst im Sinne dieses Gleichgewichts Stille zulassen

kann, desto mehr wird dies auch für den Patienten möglich.

Achtsamkeit auf Stille bedeutet für die Therapeutin jedoch nicht nur, manifeste Stille in

ihren vielfältigen Nuancen wahrzunehmen, sondern auch gerade jene Situationen zu

erfassen, in denen sich Stille nicht ereignen kann (Lutz Hochreutener 2009).

Page 39: Starke Stille - Stille Kraft

39

6.2.3 Zu Stille hinführen

Die Stille wird traurig, wenn man sie erzwingt.

Carlos Martinez (2009, 84)

Stille lässt sich nicht herbeizwingen. Hinführen meint, gemeinsam mit dem Patienten

einen Weg zu gehen. Der Therapeut muss die Bereitschaft haben, ihn in seiner Befind-

lichkeit abzuholen, ihn seinem Tempo angemessen aus Unruhe, Blockierung oder Über-

spannung heraus zu begleiten, diesen Prozess mitzugehen und selbst still zu werden. So

kann der Patient äussere Stille zulassen und innerlich zur Ruhe kommen.

Obschon Stille nicht erzwungen werden kann, ist das Erleben und Erüben von Stille

musiktherapeutisch möglich. Die Musiktherapie kennt verschiedene Interventionsmög-

lichkeiten, um Stille-Erfahrungen zu initiieren. Beispielsweise die einfache Anregung,

einem Ton nachzulauschen bis er in (postmusikalischer) Stille verklingt oder vor Be-

ginn des Spielens in die (prämusikalische) Stille zu lauschen und erst dann den ersten

Ton erklingen zu lassen. Körperwahrnehmung anhand stimmlicher Begleitung oder zu

meditativer Musik, therapeutische Berührung zum Beispiel durch einen Massageball

oder stilles Auflegen der Hände, sind weitere Möglichkeiten, Kinder zur Stille hinzu-

führen. Nach bewegten Sequenzen können gestalterische Angebote wie Malen und Kne-

ten ohne Worte und Musik als bewusst stille Kontrapunkte gesetzt werden, um innerlich

und äusserlich zur Ruhe zu kommen. Ist die therapeutische Beziehung bereits von Ver-

trauen geprägt, eignet sich auch das Für-Spiel als Stille initiierend. Dabei spielt der

Therapeut ruhige Klänge, Rhythmen oder Melodien für das Kind, zu denen sich auch

unruhige Kinder, von der Musik auf diese Weise gehalten, niederlassen können (vgl.

Lutz Hochreutener 2009, 153ff).

6.3 Stille in der Musiktherapie mit Kindern

Stille schafft Raum. Sie ist Nährboden für Musik, Sprache, Bewegung.

Harriet Oerkwitz (2011)

In der Musiktherapie mit Kindern kann Stille in verschiedener Form und Bedeutung

vorkommen. Beispielsweise als absichtsloses, zufriedenes Dasein, bei dem sich das

Kind ausruht und auftankt; es muss nichts tun, nicht sprechen, nicht spielen, nichts pla-

Page 40: Starke Stille - Stille Kraft

40

nen. Traut sich das Kind nicht, zu sprechen oder zu spielen, kann Stille zum Ausdruck

von Unsicherheit werden. Lassen sich Kind und Therapeutin offen für gemeinsames

Erleben ganz auf eine Begegnung ein, kann es zu einer Stille kommen, in welcher emo-

tionale Berührung geteilt wird. Oder das Kind ist von einer Musik, einem Wort, einem

Spiel so tief berührt, dass nur Stille sein Empfinden auszudrücken vermag. Nach starker

emotionaler und körperlicher Verausgabung kann es zu einer erschöpften Stille kom-

men, weil das Kind weder sprechen noch weiterspielen mag. Zur Quelle neuer Kreativi-

tät kann Stille werden, wenn das Kind innerlich gesammelt ist und still nachspürt, was

als nächstes dran ist; Stille als schöpferische Pause. Wird das Kind still, weil es in eine

präverbale Erlebensweise (Regression) eintaucht, kann Stille als beglückend und gebor-

gen sein oder als bedrohliche Leere empfunden werden. In depressiven Phasen, in de-

nen das Kind kaum oder keine Gefühle wahrnimmt, wird Stille zum Ausdruck von inne-

rer Bewegungslosigkeit. Zu schambesetzter Stille kann es nach unbefangenen und aus-

gelassenen Spielsequenzen, nach offenbarten schwierigen Erfahrungen oder nach Fehl-

tritten kommen. Verweigert ein Kind jeglichen Ausdruck gegenüber der Therapeutin als

Person oder zeigt sich verbal und nonverbal verstummt, kann sich in der Stille Wider-

stand äussern (Lutz Hochreutener, 2009, 150f). Führt das Kind eine Handlung (Rollen-

oder Bewegungsspiel) schweigend aus, kann sich Stille als fokussierte Konzentration

aufs Tun oder als Weg dorthin äussern.

Page 41: Starke Stille - Stille Kraft

41

7 Die Symmetrie der Stille

Die Auseinandersetzung mit Stille anhand der Literaturrecherche führte zu der Idee, die

Ergebnisse in einem Bild zu einer Verdichtung zu bringen. Beim Versuch, sich der Stil-

le, ihren Teilaspekten, möglichen Wirkungsweisen und -richtungen grafisch anzunähern

und dadurch die theoretischen Zusammenhänge visuell ersichtlich zu machen, ist fol-

gende Symmetrie entstanden:

Abbildung 1: Symmetrie der Stille (Eidenbenz 2012)

Die Pfeile, ausgehend von Körper, Geist und Seele hin zu innerer Stille, zeigen die

Wirk-Richtung von aussen nach innen auf: Musik und Stille, alles, was von aussen auf

Geist, Seele und Körper einwirkt, ist als Eindruck zu verstehen. Dieser kann als psychi-

Page 42: Starke Stille - Stille Kraft

42

scher, physischer, kognitiver, sozialer oder spiritueller Stimulus wirken. Anhand des

weissen Aussenkreises wird angedeutet, dass äussere Stille, welche partiell willentlich

machbar ist, respektive aktiv sein kann, als Eindruck wirkt und dem Weg zu innerer

Stille förderlich zu sein vermag. „Aktiv“ meint hier, sich nicht mehr oder nur langsam

und leise zu bewegen und zu schweigen.

Die Trichterformen, welche ausgehend von Geist, Seele und Körper Richtung Zentrum

zu aderförmigen Linien werden, sollen die Wichtigkeit einer Balance zwischen Aktivi-

tät und Ruhe sichtbar machen: Diese sind im geistig-kognitiven Bereich als Balance

zwischen sprachlichem Ausdruck und Schweigen, im seelischen Bereich als Balance

zwischen aktivem Seelenleben und Gelassenheit, im körperlichen Bereich als Balance

zwischen Aktivität und motorischer Ruhe aufgeführt.

Ebenso wie die Gegenpole einer „gesunden“ Balance, werden auch die möglichen le-

benseinschränkenden Polaritäten innerhalb Geist (Geschwätzigkeit vs. Sprachlosigkeit),

Seele (Unruhe vs. lähmende Angst) und Körper (Rastlosigkeit vs. Regungslosigkeit)

dargestellt. Hier liessen sich manche therapierelevante Begriffe wie beispielsweise Hy-

peraktivität, Apathie, Logorrhö, Mutismus, Depression und Manie hinzufügen. Die Ab-

bildung will jedoch keine Vorlage für ein therapeutisches Manual darstellen und hat

auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll aber aufzeigen, dass sich Unruhe im

geistig-kognitiven, seelischen oder/und körperlichen Bereich zeigen kann, durch welche

das Erfahren und Empfinden von Stille beeinflusst wird. In diesem Sinne definiert sich

auch die Unruhe von Kindern, mit welchen sich diese Arbeit beschäftigt. Ihre Unruhe

wird nicht als Etwas verstanden, das ihrem Ureigenen entspringt. Es wird davon ausge-

gangen, dass die Unruhe der Umwelt von aussen auf die Kinder als Eindruck wirkt,

welche sie mit unruhigem Verhalten darauf reagieren, respektive antworten lässt.

Die farbigen Überschneidungen, welche die sechs inneren weissen Fragmente umfas-

sen, erinnern in ihrer Form an Herzen oder Lungenflügel und verdeutlichen die Kom-

plexität eines lebendigen Organismus, mehr noch der menschlichen Ganzheit. Der Ver-

gleich mit den lebensnotwendigen Organen, Lunge als Lebensmotor und Herz als

„Pumpe“ des Kreislaufsystems, lässt die Bedeutung einer „gesunden“ Balance noch

Page 43: Starke Stille - Stille Kraft

43

deutlicher erahnen. Zudem zeigt er mögliche Wechselwirkungen und das diffizile Zu-

sammenspiel auf, welches bei minimalstem Nicht-Funktionieren ein Ungleichgewicht,

respektive „Unruhe“ im System hervorrufen kann.

Die Linien und Pfeile, die ausgehend von innerer Stille in einen grösseren Zusammen-

hang weisen, zeigen die Wirk-Richtung von innen nach aussen auf. Sie deuten auf den

Fluss hin, welchem sich von Stille erfasste Menschen hingeben und sollen die mensch-

liche Sehnsucht nach eingebunden, verbunden, zugehörig, geborgen, gehalten sein sym-

bolisieren. Geistig-kognitiv „hörend“, seelisch „empfangend“ und körperlich „ruhend“

kann sich innere Stille als Seinszustand zeigen, in welchem keine Handlungen, Leistun-

gen oder Absichten verfolgt werden. Dieser Zustand kann eine Resonanz auslösen, in

der sich der Mensch mit dem Ursprung des Lebens verbunden und geborgen fühlt. Er

kann vertrauensvolle Hingabe bewirken, in der sich der Mensch vom Urvertrauen ins

Leben beschenkt und gestärkt fühlt. Er kann eine Offenheit hervorbringen, in der sich

der Mensch von Zeitlosigkeit berührt und frei von Vergänglichkeit fühlt.

Weiter wollen alle Linien und Pfeile nebst den Wirkrichtungen von aussen nach innen

und von innen nach aussen auch mögliche wechselseitige Wirkungen aufzeigen, welche

miteinander „kommunizieren“ können. Zudem implizieren sie Blockaden, welche den

Fluss verhindern und das Erleben von Stille behindern können.

Die Wirksamkeit von Stille als musiktherapeutische Methode mit unruhigen Kindern,

wird im Folgenden genauer betrachtet und untersucht.

Page 44: Starke Stille - Stille Kraft

44

8 Empirischer Teil

Im empirischen Teil werden die Fragestellungen „Was bewirkt Stille im musiktherapeu-

tischen Setting bei unruhigen Kindern?“ und „Verändert sich die Aufmerksam-

keitsspanne durch Stille-Sequenzen?“ praktisch bearbeitet. Dabei wird der Wirksamkeit

von Stille in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern anhand einer phä-

nomenologischen Untersuchung mit zwei Therapiebuben im Einzelsetting nachgegan-

gen und qualitativ ausgewertet. Der Untersuchung liegt die Hypothese zugrunde, Stille

im musiktherapeutischen Setting bringe unruhige Kinder zur Ruhe und bewirke für das

Kind Wandel im entwicklungsförderlichen Sinn.

8.1 Untersuchungs-Umfeld

Im Rahmen des Projektes „Musiktherapie an der Volksschule“ wird Musiktherapie als

Sondermassnahme integriert in eine Regelschule angeboten. Das Projekt wurde im

Sommer 2011 von der Schulpflege vorerst für ein Jahr bewilligt und in den darauffol-

genden Monaten von der Musiktherapeutin durch Öffentlichkeitsarbeit bekannt ge-

macht. Die Musik- findet im selben Raum wie die Psychomotorik-Therapie statt und

verfügt daher nebst musiktherapeutischem Instrumentarium über vielfältiges Bewe-

gungsmaterial. Innerhalb dieser Struktur fand die Untersuchung mit einem der Thera-

piebuben statt.

Jene mit dem anderen Jungen wurde innerhalb seines stationären Aufenthaltes im Mu-

sik- und Bewegungstherapie-Raum einer psychiatrischen Kinderstation durchgeführt.

Die Aufnahmen stammen aus einer musiktherapeutischen Praktikumszeit.

8.2 Untersuchungsmethode

Als Untersuchungsmethode diente eine audiobasierte teilnehmende Beobachtung von

Einzeltherapiestunden, welche eine Forschungsmöglichkeit der qualitativen Sozialfor-

schung darstellt. Die erhobenen Audiodaten wurden zuerst transkribiert und danach in

Bezug auf die Wirksamkeit von Stille phänomenologisch ausgewertet. Um den Blick-

winkel subjektiven Erlebens und Interpretierens ergänzend, korrigierend zu erweitern

und den Forschungsprozess dadurch abzustützen, wurden zusätzlich Stichproben mit

kontrollierter Intersubjektivität durch fünf weitere Musiktherapeutinnen vorgenommen.

Page 45: Starke Stille - Stille Kraft

45

Sie hörten sich verschiedene Sequenzen aus Therapiestunden beider Kinder an, liessen

diese auf sich wirken und taten ihre Wahrnehmungen davon kund. Zudem wurden die

Audioaufnahmen in einer quantitativen Messung auf die Anzahl und die Dauer von Stil-

le-Momenten untersucht und Diagramme daraus erstellt, um eine Aussage machen zu

können, ob sich diese im Therapieverlauf verändern.

Die Arbeitsweise der audiobasierten Teilnehmenden Beobachtung ermöglichte es der

Therapeutin, sich mit ihrer achtsamen Präsenz in der therapeutischen Beziehung und

ihrer Resonanzbereitschaft im Therapiegeschehen, welche der Umgang mit Stille erfor-

dert, ganz auf das Kind auszurichten. Das Vorkommen, Entstehen und die Auswirkun-

gen von Stille wurden anhand der Audioaufnahmen, deren Auswertung bewusst unter

dem sprachlichen Aspekt der Stille, schweigend und hin-hörend stattfand, ohne visuelle

Ablenkung präzis hörbar.

8.3 Vorgehen

Anhand von Audioaufnahmen wurden 5 respektive 6 musiktherapeutische Sitzungen,

welche jeweils in einem Zeitraum von drei Monaten stattgefunden haben, mit zwei un-

ruhigen Kindern im Einzelsetting beschreibend untersucht. Der Fokus lag dabei auf der

therapeutischen Wirksamkeit von Stille und auf allfälligen Veränderungen der Auf-

merksamkeitsspanne, sprich der Ausdauer bei einer Handlung.

Aufgrund des Untersuchungsmediums definierte sich die auszuwertende Stille wie

folgt: Momente, in denen auf der Aufnahme 7 Sekunden oder länger nichts zu hören ist.

Da es sich um Kindertherapien handelte, wurden auch jene Sequenzen mit intraszeni-

scher Stille ausgewertet, in welchen Bewegungs- und Materialgeräusche zwar vorhan-

den sind, dabei jedoch geschwiegen wird.

Page 46: Starke Stille - Stille Kraft

46

8.4 Dokumentation und Beobachtungskriterien

Die Therapiestunden wurden anhand der Audioaufnahmen in folgendes, erstelltes Pro-

tokollraster transkribiert:

Tabelle 1: Verwendetes Protokoll-Raster zur phänomenologischen Untersuchung `Die Wirksamkeit von

Stille in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern`

In einem zweiten Schritt wurden die Stille-Sequenzen gemessen und ausgewertet. Da

der Kontext, in dem die Stille stattfindet, entscheidend ist, wurde jede Sequenz auf die

drei Kriterien vorher, während und nachher untersucht.

Im Anhang ist von jedem Therapiekind jeweils ein ausgefülltes Beispiel eines Proto-

koll-Rasters zu finden.

Um Aussagen betreffend Veränderungen durch Stille machen zu können, bedarf es wei-

terer Kriterien, an welchen diese ersichtlich werden. Für die Auswertung wurde daher

zusätzlich folgendes Raster erstellt, in welches die Stille-Sequenzen des Protokollrasters

übertragen und auf mögliche Veränderungen untersucht wurden:

1

Protokoll für phänomenologische Untersuchung `Die Bedeutung von Stille in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern`

Alter: Std.

Verlauf

Prozess

Zeitangabe

Stille

Forschungsspalte

Selbstreflexion

(common factors)

Was wird als Thema

angesprochen?

Was ereignet sich?

Welche Interventionen

werden gemacht?

Was wird als Thema

spürbar?

Wie verläuft der Prozess?

Wie spielt, spricht, bewegt

sich das Kind?

Falls Stille-Sequenzen vorkommen,

beschreiben:

VORHER: Wie entsteht Stille?

Wird sie von Therapeutin initiiert oder

entsteht sie von selbst?

WÄHREND: Worin besteht Stille?

Wie lässt sie sich im Therapieprozess

definieren?

NACHHER: Was entsteht nach Stille?

Löst sie etwas aus?

Was löst das Kind bei mir

aus?

Was löst sein Thema bei

mir aus?

Was empfinde ich während

des Prozesses?

Page 47: Starke Stille - Stille Kraft

47

Abbildung 2: Verwendetes Auswertungsrasters zur phänomenologischen Untersuchung `Die Wirksamkeit

von Stille in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern`

Motorik gilt ebenfalls als Kriterium, muss hier aufgrund des gewählten Untersu-

chungsmediums der Audioaufnahmen jedoch vernachlässigt werden.

Im Anhang findet sich von jedem Therapiekind jeweils ein ausgefülltes Beispiel eines

Auswertungsrasters.

Anhand der Protokolle und der Auswertungsraster werden darauffolgend Therapiever-

läufe beschrieben. Der Fokus liegt dabei auf möglichen Veränderungen, welche durch

Stille ausgelöst werden und es werden Interpretationen betreffend Wirksamkeit von

Stille dazu gemacht. Die Herangehensweise dabei ist folgende: Die atmosphärischen

Eindrücke und der therapeutische Zusammenhang der Sequenzen (was kommt vorher -

was nachher) werden mit den anamnestischen Informationen bezüglich Biografie und

Thematik des Kindes verknüpft sowie die Gegenübertragungsgefühle analysiert. Die

Interpretationen und Deutungen sind als Annäherungen, ohne Anspruch auf Absolut-

heit, zu verstehen.

Da der ältere der beiden Therapiebuben in seinem Handeln und in der Bewegung jede

Stunde ähnliche Tätigkeiten zeigt und weniger szenische Handlungen vorkommen als

beim anderen Jungen, gestaltet sich die Verlaufsbeschreibung des jüngeren Knaben

1

Auswertungsraster für phänomenologische Untersuchung `Die Bedeutung von Stille in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern`

Alter: Std.

Kriterien, welche Veränderungen, ausgelöst durch Stille, beim Kind ersichtlich machen können

Zeitangabe

Stille

Forschungsspalte

Aufmerksamkeitsspanne

Musik

Thema

Stille-Sequenz beschreiben:

VORHER:

Wie entsteht Stille?

WÄHREND:

Worin besteht Stille?

NACHHER:

Was entsteht nach Stille?

Bleibt Kind an einer Handlung

Fokussiert es

Konzentration

Neuheiten, Erweiterungen in

Ausdruck, Spielweise,

Komponenten- und

Instrumentenwahl

Neuheiten, Erweiterungen,

Vertiefung in Thematik,

Symbolik, Emotionalität

Page 48: Starke Stille - Stille Kraft

48

dementsprechend ausführlicher. Die Erkenntnisse werden anschliessend miteinander

verglichen und Interpretationen betreffend Wirksamkeit von Stille gemacht.

In den folgenden Therapieverläufen werden für die beiden Therapiekinder fingierte

Namen verwendet.

8.5 Simon

Zum Verständnis des Therapieverlaufs von Simon folgen Informationen zur Ausgangs-

lage. Darin wird über seinen Hergang informiert, auslösende Faktoren, Therapieziele

und das Setting beschrieben.

8.5.1 Ausgangslage

Informationen zum Hergang: Simon zeigte als Kleinkind in allen Bereichen ausser Mo-

torik Entwicklungsverzögerungen. Die Eingewöhnung in den Kindergarten gestaltete

sich schwierig. Es dauerte fast ein Jahr bis er alleine dort blieb. Die anderen Kinder irri-

tierten ihn. Beziehung zu Erwachsenen stand im Vordergrund. Im 1. Kindergartenjahr

wurde bei einer Entwicklungsstandabklärung ein ADHS diagnostiziert, wie auch ein

Verdacht auf eine Autismus-Spektrums-Störung, welcher sich jedoch nicht bestätigte.

Seit Mitte des 1. Kindergartenjahres besucht Simon einmal wöchentlich eine Kinder-

Psychotherapie. Der Versuch einer Ritalin-Medikation zeigte sich als kontraproduktiv;

Simon zeigte depressives Verhalten und verweigert seither jegliche Medikamenten-

Einnahme.

Am Ende der Kindergartenzeit konnte er die erforderten Leistungen erbringen. Der

Schul-Übertritt im Sommer 2010 bereitete Simon Mühe. Er zeigte nicht dieselbe Reife

wie seine Altersgenossen und formulierte, er verstehe diese nicht. Zurzeit repetiert er

die 1.Klasse. Seit Herbst 2011 finden die psychotherapeutischen Sitzungen alle zwei

Wochen alternierend zu Musiktherapie statt. Bei Beginn der Musiktherapie ist Simon

8,6 Jahre alt. Die Psychotherapie wird Ende März 2012 abgeschlossen. Die Musikthera-

pie wird bis Sommer 2012 weitergeführt, ist zum Zeitpunkt des Untersuchungsendes

also noch nicht abgeschlossen.

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Auslösende Faktoren für die Therapie sind Ablösungsprobleme, Ängste, Entwicklungs-

verzögerungen und Schwierigkeiten im Umgang mit Kindern. Seine Symptomatik zeigt

sich in Konzentrationsschwierigkeiten, motorischer Unruhe, Verträumtheit (Imaginär-

bereich im Vordergrund) und Schwierigkeiten mit der Zeitdimension.

Therapieziele sind vertiefende Bearbeitung seiner Thematik (Ablösung, Ängste, Selbst-

vertrauen), Verbesserung der Fokussierungs- und Konzentrationsfähigkeit, Ausleben

und Entdecken von Stärken und Ressourcen, sich selber besser kennenlernen.

Setting: Im Rahmen des Projektes „Musiktherapie an der Volksschule“ findet die Ein-

zeltherapie als Sondermassnahme integriert in eine Regelschule statt. Die Therapie fin-

det alle zwei Wochen im Psychomotorik- und Musiktherapieraum, alternierend zu Psy-

chotherapie, statt und wird von den Eltern privat bezahlt.

8.5.2 Therapieverlauf Simon

Zum besseren Verständnis erscheinen jeweils...

... die Inhalte der Therapiestunde kursiv.

... Wahrnehmungen, Reflexionen und Interpretationen in Block-Schrift.

... das Vorkommen, die Anzahl und die Dauer von Stille-Sequenzen zu Beginn

jeder Therapiestunden-Beschreibung eingerahmt.

... Szenen in denen Stille für den therapeutischen Prozess von Bedeutung sind, in blauer

Schrift.

Erstkontakt: Bildung einer Vertrauensbasis

Stille-Sequenzen: 7

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 61, 14, 28, 7, 7, 14, 7

Gesamtstille in Sekunden: 138

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Simon stürmt in den Raum und beginnt sogleich an der Sprossenwand hochzuklettern.

Er hüpft wieder runter, setzt sich ans Schlagzeug, um einige Male auf die Pauke zu

schlagen. Während er erzählt, er spiele zuhause oft mit seinem Vater Schlagzeug,

schweift sein Blick zu weiteren Instrumenten. Er steht auf, um mehrere davon kurz an-

zuspielen. Simon stellt viele Fragen zu den einzelnen Instrumenten, die Antwort wartet

er jedoch meist nicht ab. Alles, was er sieht und tut, scheint eine Erinnerung an etwas

Bekanntes in ihm wachzurufen, die er mir unmittelbar mitteilt.

Simon zeigt sich in dieser ersten Begegnung interessiert, erzähl- und bewegungsfreudig,

kreativ und fantasievoll. Seine Mimik wirkt wie ein offenes Buch. Die motorische Un-

ruhe und die Schwierigkeit, zu fokussieren, zeigen sich schon in den ersten Minuten der

Stunde. Laut Mutter freue er sich seit Tagen auf seine erste Musiktherapiestunde und

platze fast vor Neugierde.

Er lässt sich darauf ein, sich mir fürs Begrüssungslied in der Sitzecke gegenüber zu

setzen. Während ich singe, schaut er mich an und bringt danach bereits eigene Ideen

zur Erweiterung des Liedes ein.

Seine ruhenden Augen auf mir strahlen eine Sensibilität aus, die mich tief berührt. Nach

den stürmischen ersten Minuten erstaunt es, wie er ruhig abwarten kann bis das Lied zu

Ende gesungen ist.

In einer ersten Rhythmus-Improvisation wählt er das Schlagzeug und ich das Cajon.

Simon zeigt sich rhythmisch versiert. Sein Spiel ist eher laut. Zwischendurch stimmt er

sich dynamisch auf mein Spiel ab. Er erfindet Spielvorschläge, welche er mir in klaren

Anweisungen erklärt, sodass sie durchführbar sind. Den Vorschlag, der Improvisation

einen Spannungsbogen zu geben (Stille, leise, lauter werden, laut, leiser werden, leise,

Stille), nimmt er auf und modifiziert diesen: Das Spiel soll in drei Teilen stattfinden,

welche er jeweils beginnt und mit einem lauten Stop-Ruf beendet.

Währendem er spielt, wirkt seine Motorik koordiniert und geschickt. Es ist hörbar, dass

er bereits über rhythmische Erfahrungen verfügt. Es scheint ihm wichtig, den Ablauf

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mit-, bzw. selber bestimmen zu können. Ein grosses Bedürfnis nach Selbstständigkeit

und -bestimmung ist wahrnehmbar. Solange er das Geschehen mitgestalten kann, bleibt

er konzentriert. Obschon er mehrere Spielvorschläge am Schlagzeug einleitet und auf-

nimmt, gelingt es ihm, seine Aufmerksamkeit 15 min. lang aufs Spiel an diesem einen

Instrument zu richten. Diese hat nichts mit einer vorangehenden Stille zu tun. Hier

scheinen viel mehr die Selbstbestimmung und die Bewegung zum Musik machen eine

Rolle zu spielen.

Simon geht danach auf die Intervention Ruhepause in der Hängematte ein. Er lässt sich

mit geschlossenen Augen schaukeln. Es entsteht eine Stille-Sequenz von 61 Sekunden,

welche eine Assoziation beim Kind bewirkt: „Das ist wie in den Wellen zu tanzen“.

Noch immer in der Hängematte, lässt er sich von mir an der Oceandrum bespielen und

entwickelt eine rhythmische Spielidee, welche Körpereinsatz und Koordination erfor-

dert: Jedes Mal wenn er hochschwingt, berührt er die Oceandrum, zählt und steigert

die Anzahl Schläge.

Nach der Rhythmus-Improvisation ist eine Verringerung seines Tempos im Handeln, im

Reden und im Bedürfnis nach motorischer Bewegung wahrnehmbar. Da ich selber eine

zufriedene Müdigkeit verspüre, möchte ich Simon und auch mir eine Ruhephase ermög-

lichen und bin freudig gespannt, ob er sich gar zu Stille hinführen lässt. Ich spüre eine

innere Präsenz und beginne ihn zu schaukeln. Zu Beginn lacht er bei jedem neuen An-

schwingen, wird wenig später dann ganz still. 61 Sek. lang herrscht schweigende Stille

in der schwingenden Hängematte. Der Raum scheint erfüllt von Zeitlosigkeit. Während

er sich vertrauensvoll schaukeln lässt, fühle ich mich verbunden, empfinde mütterliche

Gefühle und Offenheit für das, was entstehen will. Simon ruht sich körperlich aus und

scheint ganz bei sich zu sein. Er beginnt zu assoziieren: „Tanz in den Wellen“. Aus ei-

nem Flow-Gefühl erwächst ein gemeinsamer Impuls. Ich hole die Oceandrum, kurz

darauf initiiert Simon eine rhythmische Spielidee und verbindet die Komponente Klang

mit Rhythmus. Es hört sich an wie ein Versuch, zwei Welten verbinden zu wollen: Ima-

ginär- und Realbereich, weiblich/mütterliche und männlich/väterliche Anteile, magi-

sches und rationales Denken.

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Wieder aus der Hängematte geht Simon erneut in ein rhythmisches Spiel. Er entdeckt

die Boomwhackers und schlägt sie kraftvoll mit freudiger Miene an eine Säule. Plötz-

lich hält er inne und sagt: „ Die arme Säule...“

Nun ist seine motorische Unruhe wieder zu spüren. Er bleibt nicht lange beim Spiel.

Die Stärke mit der er die Boomwhackers an die Säule schlägt, löst die Frage aus, ob er

damit „etwas“ loswerden will. Es scheint als würde er allen Ärger „rausschlagen“. In

der Empathie, welche er kurz darauf der Säule gegenüber ausspricht, schwingt eine Be-

troffenheit des Kindes mit. Vielleicht fühlt er sich manchmal in seinem Alltag auch „ge-

schlagen“ - durch Worte, Unverständnis, Leistungsforderungen,...

Simon entdeckt die Stofftiere und erkundet den Raum mit einer kleinen weissen Katze.

„Weil Tiger meine Lieblingstiere sind“, fügt er erklärend hinzu.

Simon führt das Explorieren des Raumes in koordinierter, langsamer Bewegung aus und

wechselt zwischen Schweigen und Tönen. Er scheint sich damit ein sinnvolles Übungs-

feld zu schaffen, der motorischen Unruhe entgegenzuwirken und dem rhythmischen

Faktor der Balance zwischen Schweigen und Sprechen Raum zu geben.

Ich untermale die Entdeckungstour musikalisch am Klavier. Die Katze macht allerlei

Streiche. Simon fordert mich auf, mitzuspielen. Ich wähle den kleinen schwarzen Hund

und es kommt zu einer Verfolgungsjagd. S. erfindet den Handlungsverlauf des Rollen-

spiels fliessend: Der schwarze Hund will die weisse Katze fangen und fressen. Die Kat-

ze kann fliegen. Simon erfindet einen Zauberspruch, sodass der Hund ebenfalls fliegen

kann, der Katze aber dennoch unterlegen bleibt.

Meine Augen wandern über die Auswahl der Tiere und bleiben intuitiv beim kleinen

Hund hängen. In der Verfolgungsjagd wird die Unterlegenheit des kleinen Hundes deut-

lich. Es liegt eine Spannung in der Luft.

Es zeigt sich, dass Simon einen leichten Zugang zu seinen Kreativitätsressourcen hat

und erneut kommt sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung zum Tragen; ich lasse mich

funktionalisieren.

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Nach der Verfolgungsjagd initiiert Simon eine Ruhephase. Die kleine Katze klettert mir

auf den Rücken und „chräbbelet“ mich sanft. Die Berührung findet im Schweigen statt,

worauf er das Rollenspiel wieder aufnimmt und in einen Kampf wandelt.

Eine wohlige Müdigkeit ist wahrnehmbar und ich staune über die Fähigkeit des Kindes,

seine Befindlichkeit wahrzunehmen und sich Ruheinseln innerhalb der Rollenspiel-

Handlung zu schaffen. Die 14 Sekunden der Stille berühren mein Innerstes. Alles

scheint im Fluss. Noch meinen Rücken streichelnd, entsteht bei ihm ein neuer Impuls.

Er wandelt das Rollenspiel und betitelt es: Kampf zwischen weisser und schwarzer Ma-

gie, zwischen Gut und Böse. Simon erklärt klar, dass die weisse Magie stärker sei und

siege. Er zeigt bis zum Schluss der Stunde Durchhaltevermögen und konzentrierte

Aufmerksamkeit auf die Handlung. In seinen Bewegungen ist keine Unruhe, sondern

ein klarer Fokus. Dieser ist auf sein selbsterklärtes Ziel „Sieg über die schwarze Magie“

gerichtet. Zum Schluss erfindet er das ewige Feuer, in welches das „Böse“ hinein ge-

worfen wird.

Im Rollenspiel zeigt sich, dass sein Denken überwiegend im magischen Bereich statt-

findet. Der Imaginärbereich steht im Vordergrund. Er scheint die Quelle der Fantasie

leicht „anzapfen“ zu können, sich im Imaginären wohl zu fühlen und Kraft daraus zu

schöpfen. Das Bedürfnis, eine Brücke zum Realbereich, einen unterstützenden Transfer

in den Alltag schaffen zu wollen, ist ebenfalls spürbar.

Bei mir löst die Handlung des Rollenspiels die Fragen aus, welche innerpsychischen

Themen er dadurch bearbeitet, welche inneren Anteile wohl im Streit liegen. Eine mög-

liche Konstruktion könnte sein, dass er dadurch ein Beziehungsmuster zum Ausdruck

bringt, welches in Zusammenhang mit seinen Ablösungsproblemen steht.

Fazit

In dieser Stunde zeigen sich Stille, Rollenspiel und Bewegung sowohl für den Hand-

lungsverlauf als auch für die Veränderungen der Aufmerksamkeit, gleichbedeutend re-

levant.

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2. Stunde: Vertrauensaufbau

Stille-Sequenzen: 13

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 9, 11, 9, 11, 10, 29, 8, 13,

10, 20, 12, 11, 8

Gesamtstille in Sekunden: 161 Sekunden

Simon stürmt herein, klettert sogleich an der Sprossenwand hoch und hängt sich wie ein

Äffchen an die oberste Sprosse. Meiner Aufforderung, in der Sitzecke zu beginnen, geht

er nach, lässt sich jedoch auf dem Weg dorthin von den Instrumenten ablenken. Er

spielt mehrere kurz an, stellt Fragen dazu, wartet die Antwort jedoch nicht ab.

Nach den Erfahrungen der ersten Stunde sind bewusst weniger Instrumente vorhanden.

Seine Spiellust wirkt dennoch überreizt. Er scheint getrieben von Tatendrang und zeigt

ein grosses Bedürfnis nach Bewegung. Die motorische Unruhe zeigt sich als vertraute

Strategie, den vielen Eindrücken die er pausenlos aufzunehmen scheint, entgegen zu

wirken.

Während dem Begrüssungslied schaut er mich mit grossen Augen an und singt die letzte

Zeile „ Jetzt ist meine Zeit“ mit.

Das Anfangsritual des Begrüssungsliedes scheint ihm die Struktur zu geben, die er

braucht, um sich den Reizen zu entziehen, die ihn - kaum im Raum - überfluten. Laut

Mutter berühre ihn meine Sing-Stimme, was hier deutlich spürbar wird. Sobald sein

Name gesungen wird, fühlt er sich angesprochen, wirkt ruhiger und gelöst. Dies zeigt,

dass er sich wahrgenommen fühlt und sich auf der Grundlage der therapeutischen Be-

ziehung auf eine neue Strategie einlassen kann. Ihn seinen anfänglichen Bewegungs-

drang unkontrolliert ausleben zu lassen, könnte er als Gleichgültigkeit oder im Stich

gelassen werden empfinden.

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Auf die Frage, wie seine Woche war, reagiert er mit strahlendem Gesicht. Er habe den

schönsten Traum seines Lebens gehabt. Mit lebhafter Mimik berichtet er in verständli-

cher Sprache, was er geträumt hat: „Da war ein Abhang, ein Turm und ein Fussball-

feld. Danach bin ich übers Wasser gegangen, durch die Wolken geflogen und zu einer

Ferien-Anlage am Meer mit Palmen gekommen.“

Simon lässt sich auf ein Gespräch im Sitzen ein. Seine Freude und Begeisterung über

den Traum ist ansteckend. Auf die Nachfragen zwecks Überprüfung, ob ich die Inhalte

des Traums richtig verstehe, reagiert er mit Blick an die Decke. Kurz darauf erklärt er

den Traum mit anderen Worten noch detaillierter. Dabei scheint ihm wichtig zu sein,

dass seine Befindlichkeit während dem Traum für mich genau vorstellbar wird. Er

nimmt mich in seine Welt hinein. Die verbale Formulierung des Traums macht seine

Fantasie und Denkweise sichtbar.

Auf das Angebot, den Traum zu inszenieren, reagiert er mit Blick in die Ferne. In einer

intraverbalen Stille überlegt er 9 Sek. lang, ob, was und wie er seinen Traum spielen

möchte. Es entsteht eine klare Vorstellung über eine Inszenierung. Simon gibt Anwei-

sungen, was er dazu braucht.

Der Raum scheint erfüllt vom Glanz seiner Traum- und Fantasiewelt. Seinen Traum zu

spielen, liegt bereits in der Luft, bevor das Angebot gemacht wird. Die intraverbale Stil-

le zeigt sich als schöpferische Pause, in welcher Simon seinen Bedürfnissen nachspürt,

sich mit dem Unbewussten verbindet und fokussiert, um danach eine klare Vorstellung

zur spielerischen Umsetzung des Traumes aussprechen zu können. Die verbale Formu-

lierung zeigt sich als Übersetzung seiner Fantasie. Das heisst, die Sprache schafft hier

eine Brücke zwischen Imaginär- und Realbereich. Er scheint zu beginnen, die beiden

Bereiche miteinander zu verbinden.

Das gemeinsame Aufbauen der Traumszenerie findet mehrheitlich schweigend statt. Er

spricht lediglich, um genaue Anweisungen zu geben. Ich durchbreche das schweigende

Tun, um nachzufragen oder zu kommentieren.

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Kaum ist alles aufgebaut, geht Simon wider Erwarten nicht in die spielerische Umset-

zung des Traumes, sondern nimmt das Rollenspiel der vergangenen Stunde wieder auf:

Kampf zwischen Gut und Böse.

Die Aufbau-Phase enthält sieben Stille-Sequenzen (10, 29, 8, 13, 10, 20 und 12 Sek.).

Simon konzentriert sich schweigend auf seine Tätigkeit und sucht nach eigenen Lösun-

gen beim Konstruieren. Im Suchen, Ausprobieren und Anpassen von Lösungswegen,

zeigt sich ein Bedürfnis nach Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Dies könnte

ein Ausdruck für den Wunsch nach Ablösung sein.

Er richtet seine Aufmerksamkeit beim Aufbau auch auf spielerische Aspekte des Bewe-

gungsmaterials und übt sich dabei in koordinativen Fähigkeiten.

Das jeweilige Durchbrechen der Stille tut dem Fluss des Geschehens keinen Abbruch.

Das gemeinsame Tun im Schweigen scheint Simon gedanklich an das Thema der letz-

ten Stunde heranzuführen: Obschon - oder vielleicht gerade weil - unerwartet, zeigt sich

sein Impuls, das Kampf-Rollenspiel wieder aufzunehmen, als stimmig.

Nach der Rollenverteilung und Klärung der Handlung initiiert Simon das Rollenspiel

mit einer Kampfansage an den kleinen schwarzen Hund. Die Ansage löst eine span-

nungsvolle Stille (11 Sek.) aus, welcher ein lustvoller, hochkonzentrierter Kampf folgt.

Im Handlungsverlauf und in der Rollenverteilung zeigt sich im Vergleich zur letzten

Stunde eine Veränderung: Zwei „Böse“ gegen eine „Gute“. Simon weist mir die Rolle

der weissen Katze (gut) und jene des schwarzen Hundes (böse) zu. Er selber übernimmt

die Rolle des kleinen Flugsauriers (böse), der den Hund unterstützt. Diesmal soll die

Katze sterben.

Es scheint, dass Simon durch die äussere Stille während der Aufbauphase der Entfal-

tung von etwas Ureigenem Raum geben kann. In seiner emotionalen Kampfansage

drückt sich das Bedürfnis aus, den inneren Kampf-Prozess nach Aussen zu holen und zu

bearbeiten. Die Stille zwischen Ansage und Kampf ist dementsprechend von einer

Spannung erfüllt, welche sein inneres Empfinden erahnen lässt. Die Spannung entlädt

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sich im darauffolgenden Kampf in geballter Energie und Spiellust. Die Katze wird er-

barmungslos gejagt und getötet.

Nun übernimmt Simon die Rolle des re-inkarnierten „Guten“ (grosser Papagei) und

kämpft gegen das „Böse“. Sowohl die Handlung wie auch die Rollenfigur-Wahl drü-

cken einen inneren Wandel aus. Er lässt etwas Altes sterben, das in grösserer Form und

neuer Stärke wieder aufersteht. Interessant scheint auch, dass die Katze, welche in der

ersten Stunde durch Zauberkraft fliegen konnte, nun als Papagei, der real fliegen kann,

zu neuem Leben erweckt wird. Dies könnte auf den Übergang vom magischen zum ra-

tionalen Denken hinweisen und Ausdruck dafür sein, dass er Vertrauen in diesseitige

Fähigkeiten aufbaut.

Zum Schluss kommt der grosse Hund (böse) dazu, um gegen den Papagei zu kämpfen.

Es scheint, als wolle er die neuen Figuren auf ihre Standhaftigkeit überprüfen.

Er geht auf den Vorschlag einer Improvisation für den grossen bösen Hund am Schlag-

zeug ein. Anfänglich bricht die Musik immer wieder ab, wandelt sich dann jedoch in ein

energievolles, dynamisches Musikspiel, welches er ausklingen lässt und nachlauscht.

Die Musik-Abbrüche finden aus technischen Gründen statt, da das Hi-Hat wiederholt

auseinander fällt. Diese Zufälle lösen die Frage aus, ob Simon mit einem inneren Verbot

kämpft, auch mal „böse“ sein zu dürfen und sich „dennoch“ geliebt zu fühlen.

Nachdem das Hi-Hat wieder ganz funktionstüchtig ist, tobt er sich auf dem Schlagzeug

aus. Die Erfahrung, lustvoll „böse“ sein zu dürfen, scheint für ihn von grosser Bedeu-

tung zu sein. Während er nachlauscht, ist eine deutliche Entspannung wahrnehmbar.

Fliessend entsteht der Übergang zu einer Begräbnis-Musik für die kleine Katze. Simon

spielt die Leier und ich spiele die Shruttibox. Die Improvisation ist klangerfüllt. Sie hört

sich gefühlvoll, tröstlich an und wandelt sich zu einer sphärischen Musik, welche laut

Simon alle Bösen zu Fall bringt.

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In dem Moment als die Begräbnis-Musik beginnt, bricht die Audioaufnahme ab. Es

scheint im Wesen individuell wichtiger Entwicklungsprozesse zu liegen, dass sie nicht

festzuhalten und dem betroffenen Menschen vorbehalten sind. Dies ist lediglich als eine

mögliche Konstruktion und als subjektive Deutung zu verstehen, da mir dieses Phäno-

men schon öfters begegnet ist.

Fazit

In dieser Stunde bewirkt die Struktur (Ritual Begrüssungslied), die Beziehung (fühlt

sich durch meine Stimme wahrgenommen), die Bewegung, das Mit- und Selbstbestim-

mungsrecht eine Veränderung seiner motorischen Unruhe und Aufmerksamkeit. Die

Stille hingegen zeigt sich als Hinführung zu seinem Thema und macht eine Bearbeitung

möglich.

3. Stunde: 1.Wendepunkt `Öffnung`

Stille-Sequenzen: 10

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 11, 9, 24, 11, 12, 9, 13,10, 8, 25

Gesamtstille in Sekunden: 126

Simon kommt herein, geht zu den Stofftieren, nimmt den schwarzen Panther in den Arm

und kommt auf direktem Weg zur Sitzecke. Er geht auf das Angebot ein, das Advents-

licht gemeinsam anzuzünden. Er hört dem Begrüssungslied still zu und hält dabei den

Tiger auf seinem Schoss.

Er wirkt heute zu Beginn ruhiger als in den vergangenen Stunden. Es ist keine motori-

sche Unruhe ersichtlich. Ich selber fühle mich gehetzt während die Kerze angezündet

wird. Das stille Zuhören, ohne Eigenes reinzubringen, ist neu.

Er berichtet ausführlich von der Advents-Projektwoche an der Primarschule. Dabei

streichelt er den Panther und äussert danach den Wunsch, selber auf dem Rücken ge-

streichelt zu werden. Innerhalb der Berührung entsteht ein Stille-Moment (11 Sek), wel-

Page 59: Starke Stille - Stille Kraft

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chen Simon auflöst, um seine Idee für das heutige Rollenspiel bekannt zu geben: Aus-

bruch der Tiere aus dem Zoo

Das sorgfältige Streicheln des Panthers scheint sich auf seine Sprache zu übertragen. Er

spricht ungewohnt ruhig und langsam. Er wirkt präsent und bei sich. In seinem Wunsch

nach Berührung zeigt sich, dass er Bedürfnisse wahrnehmen und einfordern kann und

Vertrauen in die therapeutische Beziehung hat.

Während dem berührenden Stille-Moment ist ein Verbundenheitsgefühl wahrnehmbar,

welches an eine Mutter-Kind-Beziehung erinnert. In der Verbindung von sanfter Berüh-

rung und Stille scheint ein für ihn angemessenes Mittelmass zwischen Über- und Unter-

stimulierung zu liegen. Dies bewirkt, dass seine Kreativität angeregt wird. Sein Fokus

ist gegen innen gerichtet. Er scheint die Antennen offen zu haben für das, was heute

nach aussen kommen will und formuliert eine klare Idee für ein Rollenspiel.

Simon erklärt, was aufgebaut werden muss und gibt klare Anweisungen fürs Aufstellen.

Gemeinsam wird geplant, wer welche Aufgaben dabei übernimmt. Die Aufbau-Phase

findet mehrheitlich schweigend statt.

Simon wirkt lebendig und erfreut über seine Idee. Die Stille-Sequenzen (9, 24 und 11

Sek.) während der Aufbau-Phase bestehen aus konzentrierter Aufmerksamkeit auf die

Tätigkeit. In seinem Tun und in der Rollenspiel-Idee kommt sein Bestreben nach Selb-

ständigkeit und Eigenverantwortung zum Ausdruck. Im Bedürfnis nach verbaler Ab-

stimmung mit ihm nehme ich eine Gegenübertragung wahr: Mutter. Sein Bedürfnis

nach Ablösung ist wiederholt spürbar. Es scheint wichtig, ihn dabei förderlich zu unter-

stützen.

Simon erklärt den genauen Handlungsablauf des Rollenspiels: Während der Zoowärter

schläft, brechen alle Tiere unter Anführung der Schlange aus dem Zoo aus. Er über-

nimmt die Rollen der Tiere, mir weist er jene des Zoowärters zu. Auf den Vorschlag, das

Schlafen des Wärters musikalisch umzusetzen, steigt er ein, will den Moment des Erwa-

chens jedoch selber bestimmen.

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Das Spiel ist lebhaft, erfüllt von Spannung und kindlicher Freude. Simon lacht und zeigt

begeisterte Schadenfreude, als der Zoowärter den Ausbruch entdeckt. Die Schlange

zeigt sich als gefährliche Anführerin. Die Versuche des Zoowärters, sie mit Flötenmusik

zu beschwören, machen sie noch wilder. Darin ist erneut das deutliche Bedürfnis nach

Selbstständigkeit wahrnehmbar. Sein Widerstand gegen die Beschwörungsversuche

könnte ein Ausdruck für Auflehnung gegen ein bekanntes Muster sein: Versuche seines

Umfeldes, ihn zur Ruhe zu bringen, um Harmonie herzustellen?

Simon initiiert einen zweiten Ausbruch und bestimmt, dass die Schlange diesmal einen

Einzelkäfig bekommt. Sie bricht dennoch aus, bewegt sich wild im ganzen Raum und

versteckt sich in der Schlagzeug-Pauke, um den Wärter zu erschrecken. Während der

Wärter sich behutsam nähert, herrscht eine spannungsvolle Stille (9 Sek.). Indem er den

Wärter mit einem ohrenbetäubenden Paukenschlag in die Flucht schlägt, löst Simon die

Höchstspannung auf und nimmt sogleich die wilde Bewegung im Raum wieder auf.

Im zweiten Ausbruch mit erschwerten Bedingungen (Schlange im Einzelkäfig) wie

auch im Sich-Verstecken sind übende Wiederholungen zu erkennen: „Etwas“ will aus-

brechen, will oder muss sich lösen, um sich neu finden und entdecken zu können. Seine

Bewegungen sind lebhaft, wirken extrem. Er setzt auch seine Stimme ein, welche sich

teilweise überschlägt. Im Zusammenhang mit der Interpretation „Ablösung“ zeigt sich

dieses Übertreiben als entwicklungsförderlich und wichtig für den therapeutischen Pro-

zess. Die Stille vor dem Paukenschlag enthält dazu passende Gefühlsqualitäten wie Be-

drohung, Spannung, Angst, Freude. Die Auflösung zeigt sich als Erlösung, welche Si-

mon in seinem Bewegungsdrang ausdrückt.

Unter der musikalischen Begleitung am Djémbe wandeln sich seine Bewegungen zu

einem Schlangen-Tanz. Simon bewegt sich im Rhythmus und strahlt dabei. Kurz darauf

initiiert er eine kurze Ruhepause. Er legt sich mit der Schlange hin, woraus eine Stille-

Sequenz (13 Sek.) erwächst: Simon ruht sich körperlich aus. Ich kommentiere seine Be-

findlichkeit und er nimmt den Tanz wieder auf.

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Dass seine wilden, unkontrollierten Bewegungen fliessend in rhythmisches, koordinier-

tes Tanzen übergehen, zeigt sich als Folge der Rhythmus-Begleitung, welche ihn zu

zentrieren scheint. Zudem wirkt er durch die wiederholten erfolgreichen Ausbrüche

gelöster. Darauf ist auch die von ihm initiierte Ruhepause zurückzuführen. Er spürt,

dass er nach der inneren und äusseren Anstrengung Erholung braucht. Die Stille zeigt

sich hier als zufriedenes Ausruhen. Die Ergebnisse kontrollierter Intersubjektivität be-

stätigen, dass eine befreite, erschöpfte, entspannte Stimmung deutlich spürbar ist. Wei-

ter nehmen die fünf Musiktherapeutinnen beim Anhören der Sequenz sein Bedürfnis

wahr, gesehen und erkannt zu werden wie auch meine Unruhe, welche eine Ausdeh-

nung der Stille-Sequenz verhindert. Mein Kommentieren holt ihn dann auch aus der

körperlichen Ruhe. Ich scheine die Stille in diesem Moment nicht auszuhalten und die

schnelle, laute Welt, die keine langen Pausen zulässt, zu repräsentieren. Er reagiert

prompt und geht gleich wieder in Aktion.

Tanzend geht er zur Kalimba und es entsteht eine gemeinsame Improvisation. Das Mu-

sikspiel ist dynamisch und rhythmisch. Er nimmt Bezug zu meinem Djémbe-Spiel. In

post-musikalischer Stille (10 Sek.) lauscht er der Musik nach. Danach initiiert er eine

neue Handlungsidee für das Rollenspiel: Kampf.

Es erstaunt, dass er seine Aufmerksamkeit im Fluss der Handlung behält, nachdem ihm

sein Bedürfnis nach Ruhe nicht gewährt wurde. Mit seiner Wahl des Instrumentes

schafft er eine Verbindung zwischen zwei Rollen: Er spielt zeitgleich die Schlange, die

ausbruchwillig ist und den Zoowärter, der sie davon abhalten will. Es ist eine Ambiva-

lenz wahrnehmbar. Es könnte jedoch auch ein Hinweis darauf sein, dass eine Neuord-

nung im Sinne einer inneren Erlaubnis am entstehen ist.

In seiner heutigen Bereitschaft, sich wiederholt auf Stille einzulassen, bzw. sie zu su-

chen, zeigt sich sein Bedürfnis, etwas Neues zu entdecken, entstehen zu lassen. Er

scheint intuitiv zu spüren, dass die Stille ihm als Brücke zur Erlangung von Selbstbe-

stimmung und Mündigkeit dienen kann.

Die post-musikalische Stille bringt schliesslich die Idee des Kampf-Rollenspiels hervor,

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welches das für die Wandlung Notwendige zu beinhalten scheint.

Simon spielt die Schlange und den kleinen Drachen, welchen er zu deren Unterstützung

ins Spiel bringt. Wider Erwarten werden zuerst die Schlange und dann ich vom Dra-

chen durch drei Bisse getötet. In diesem Moment ertönt das Signal, eine Natel-Musik,

welches das baldige Ende der Stunde anzeigt.

In seiner Spiellust zeigt er begeisterte Freude daran, auch mal regelwidrig, nicht lieb zu

sein. Das wiederkehrende Bedürfnis nach Kampfszenen und Kräftemessen erinnert an

ein Abwägen von inneren Anteilen und scheint das Thema der Ablösung zu bestätigen.

In der Wahl der Figuren Schlange und Drache, welche als Symbol oft austauschbar

sind, bringt Simon zudem eine Ambivalenz zum Ausdruck: „Etwas“ scheint innerlich

zusammenkommen zu wollen.

Das Signal holt ihn schlagartig in die Realität zurück. Er wirkt erschrocken und ent-

täuscht. Es ist ihm anzusehen, dass er unzufrieden ist.

Im Gespräch erklärt Simon, der Drache bekämpfe alle, weil er das ganze Land böse

machen wolle. Den Drachen könne man nur mit Musik töten: Die Natel-Musik habe den

Drachen getötet.

Das technische Signal, um den Schluss anzuzeigen, scheint hier zum Repräsentant der

Härte und des Tempos der reellen Welt zu werden. Angenommen der Drache stehe

symbolisch für eine aufwallende Lebenskraft und für das Uranfängliche zu dem Simon

einen leichten Zugang zu haben scheint, erstaunt seine jetzige Befindlichkeit nicht. Es

wird eindrücklich ersichtlich, wie wichtig es ist, ihn in seinem prozesshaften Spiel sein

eigenes Tempo bestimmen zu lassen und ihn gleichzeitig auch behutsam in die öffentli-

che Zeit, die äussere Realität zurückzuholen.

Er geht auf den Vorschlag ein, eine Schluss-Improvisation mit dem Titel „Sieg über den

Drachen“ zu spielen. Er wählt die Cantele und ich die Gitarre. Das dynamische Musik-

spiel wandelt sich in ein frei erfundenes Lied „Wer isch stärcher“. Simon singt, die

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Schlange lebe wieder und werde erneut vom Drachen getötet, worauf sich ein trauern-

der Singsang ergibt.

Auch wenn nicht klar ersichtlich ist, wofür die Schlange und der Drache stehen, so lässt

sich dennoch sagen, dass Simon einen inneren Konflikt emotional und musikalisch zum

Ausdruck bringt. Sein Gesang enthält eine Kraft, welche eine Spur zu bilden scheint,

die er intuitiv verfolgt, da sie in eine hoffnungsvolle Zukunft zeigt.

Beim Schlusslied singt er: „Die Schlange hat nicht gewonnen, ich hoffe, es ist beim

nächsten Mal anders!“ Beim Aufstehen entdeckt er die Batacas und will gleich wieder

in einen Kampf einsteigen.

In seinem Begehren, den Kampf auch noch real ausfechten zu wollen, ist eine Entwick-

lung ersichtlich. Er scheint die Bearbeitung seiner Thematik auf eine andere Ebene zu

holen.

Es fällt ihm folglich schwer, einen Abschluss zu finden. Darin erschliesst sich die ge-

samte Thematik, welche er in den bisher drei Stunden zum Ausdruck gebracht hat. Ihn

dabei zu unterstützen, Übergänge förderlich zu gestalten, sich zu lösen, altersentspre-

chende Selbstbestimmung und Mündigkeit zu erlangen, innere und äussere Verbindun-

gen und Brücken zu schaffen, sind anzustrebende Ziele.

Fazit

Anfangs dieser Stunde ist keine Unruhe vorhanden. Er zeigt eine grosse Bereitschaft,

sich auf Stille einzulassen. In Verbindung mit Berührung ebnet sie ihm erneut den Zu-

gang zu inneren Themen und trägt in Form von Spannungsaufbau zu vertiefter Bearbei-

tung bei. Mein Nichtzulassen-Können einer längeren Ruhephase integriert Simon ins

Spiel und lässt sich kurz darauf auf eine post-musikalische Stille ein, welche das für die

Wandlung notwendige Thema des Rollenspiels hervorbringt.

Page 64: Starke Stille - Stille Kraft

64

4. Stunde: Krise `Selbstvertrauen`

Stille-Sequenzen: 8

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 15, 8, 7, 8, 12, 7, 18, 12

Gesamtstille in Sekunden: 87

Nach gemeinsamem Anzünden der Adventskerze, setzt er sich mir in der Sitzecke gegen-

über. Da er den Klang der Shruttibox zum Begrüssungslied als komisch befindet, setzt

er den Impuls, die Kalimba dazu zu nehmen.

Seiner Motorik ist heute weder grosse Unruhe noch Gelöstheit zu entnehmen.

Im Gespräch stellt sich heraus, dass er sich bereits im Vorhinein eine Spielidee ausge-

dacht hat: Mut-Parcours mit der Schlange. Er äussert klare Vorstellungen, wie die ver-

schiedenen Bewegungsposten des Parcours aussehen sollen. Beim Aufstellen gibt er

genaue Anweisungen und sucht stets nach eigenen Lösungen. Erst bei einem techni-

schen Problem nimmt er meine Hilfe an, wonach er im weiteren Verlauf jede seiner

Ideen bei mir absichert.

Während dem Aufstellen ist erneut das Bedürfnis nach Selbstständigkeit im Handeln

wahrnehmbar. Er sucht nach eigenen Lösungswegen. Dabei verliert er sich teilweise in

seinen Vorstellungen. Lässt sich eine Idee nicht umsetzen, ist eine enttäuschte Hilflo-

sigkeit zu spüren. Ich nehme den Drang wahr, schnell eine Lösung anbieten zu können

und Struktur zu schaffen, was eine Gegenübertragung sein könnte (z.B. Mutter, die so-

fort zu Hilfe eilt, um Frust und Chaos zu verhindern) und seine Emotionen (Interpretati-

on, was in ihm vorgehen könnte: „Wenn Du mir hilfst, bedeutet das, dass ich es nicht

kann. Ich will es aber selber können und überhaupt will/muss ich mich von Dir lösen“)

erklären würde. Hier wird die Wichtigkeit des rhythmischen Faktors deutlich: Die „lan-

ge Weile“ aus der sich Neues entwickeln könnte, auszuhalten, ihn ausprobieren zu las-

sen, ohne mich einzumischen, gelingt mir in diesem Moment nicht.

Page 65: Starke Stille - Stille Kraft

65

Die aufgezwungene Hilfe verunsichert ihn in seinem Selbstvertrauen und löst regressiv

anmutendes, kleinkindliches Verhalten aus.

Gemeinsam werden verschiedene Posten aufgebaut. Einer zum Rutschen, einer zum Seil

Schwingen und einer zum Balancieren. Der vierte Posten ist die Tarzan-Liane. Simon

will daran schwingen und hält sich ängstlich an der Holzstange fest. Er fordert mich

auf, es ihm vorzumachen. „Wenn Du es kannst, kann ich es auch“, erklärt er. Nachdem

er sieht, dass es mir gelingt, traut er sich auch. Er schwingt mehrmals. Das Angebot,

Mut-Musik für ihn zu spielen, lehnt er mit der Begründung ab, er könne sich zu Musik

nicht konzentrieren.

Gegen Ende der Aufbauphase fasst er neuen Mut. Auf der Basis der therapeutischen

Beziehung gewinnt er wieder mehr Vertrauen in sich selber. Sobald er sich als Gegen-

über auf Augenhöhe empfindet, ist das Bedürfnis nach Eigenständigkeit spürbar. Dies

zeigt sich dann auch in der Ablehnung des Musik-Angebotes.

Simon initiiert, den Parcours mit einem Rollenspiel „Mann, der gut klettern kann“ zu

verbinden und wünscht, gemeinsam auf der Liane zu schwingen.

In seinem Wunsch scheint sich ein Vertrauensbeweis, ein Versöhnungsangebot und das

Bedürfnis nach (emotionaler) Sicherheit zu vereinen.

Plötzlich verwandelt er sich in einen Affen. Es entsteht ein lustvolles, ausdauerndes

Fangspiel mit Affengebrüll, stimmlich und motorisch ausgelassen. Dabei akzeptiert er

die Regel, nichts kaputt zu machen.

Die motorische Ausgelassenheit beim Fangspiel zeigt sich als Ventil für die Anspan-

nung während der vorgängigen Unsicherheit. Er bleibt ca.15 Min. beim Spiel. Seine

Ausdauer lässt sich nicht mit einer vorangehenden Stille in Zusammenhang bringen.

Dass er den emotionalen Stress der Verunsicherung abbauen kann, hat hier vorwiegend

mit Bewegung und stimmlichem Ausdruck zu tun.

Page 66: Starke Stille - Stille Kraft

66

Simon geht auf den Vorschlag ein, eine Bravo-Musik für den mutigen Affen zu spielen.

Er spielt die Indianerflöte, ich die Oceandrum. Er setzt das Start-Signal auf der Klang-

schale. Animiert vom rhythmischen Spiel der Oceandrum, entsteht ein synchrones Zu-

sammenspiel, welches fliessend in einen musikalischen Dialog übergeht. Zu akzeptie-

ren, das Schluss-Signal nicht selber machen zu können, fällt ihm danach schwer: „Es

geht zu lang, die Musik ist jetzt fertig“, meldet er sich zu Wort.

Die Anwendung der Komponente Melodie beim Flötenspiel könnte ein Ausdruck für

das Bedürfnis nach Verbindung innerer Anteile sein.

Das Bedürfnis, mitzugestalten, das Tempo selber zu bestimmen, kommt hier deutlich

zum Ausdruck.

Nach der Improvisation experimentiert er mit der Klangschale. Er lauscht den Klängen

in post-musikalischer Stille (12 Sek.) nach und will die Schwingung danach auf seinem

Körper spüren.

Obschon die Stunde mehrere Stille-Sequenzen enthält, scheint lediglich die hiermit er-

wähnte von Bedeutung. Die Klangschale, welche als Strukturgebung eingesetzt wird,

weckt sein Interesse. Daraus lässt sich schliessen, dass er innerhalb einer sicheren

Struktur Neues zulassen kann. Er lässt sich darauf ein, im Klang abzutauchen. Die at-

mosphärische Stille weckt die Neugierde, den Klang zu spüren. Im Klang-Körper-

Experiment scheint sich ähnlich wie bereits in der vergangenen Stunde die Verbindung

von Stille und Berührung als angemessenes Mittelmass zwischen Über- und Untersti-

mulierung zu zeigen. Berührt kommt er zur Ruhe.

Schluss-Improvisation: Simon spielt die Indianerflöte und singt danach zusammenfas-

send, was in der Stunde gespielt wurde. Zum Schluss macht er einen singenden Aus-

blick: „Ich bin nach Weihnachten wieder hier, dann machen wir Musik, was das Zeug

hält.“

Page 67: Starke Stille - Stille Kraft

67

Obschon anfangs erwähnt, kommt die Schlange die ganze Stunde nicht zum Einsatz.

Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass er die Bearbeitung seiner Thematik auf eine

persönlichere, (eigen-)körperliche Ebene holt.

Fazit

Emotionale Unterstützung, Bewegung und Mitbestimmung sind in dieser Stunde von

Bedeutung. Die Stille zeigt sich insofern für den Therapieprozess relevant, dass sie ihm

einen ruhigen Schluss ermöglicht. Er kommt zur Ruhe und kann die Stunde gelöst ab-

schliessen.

5. Stunde: 2.Wendepunkt Katharsis und Regression

Stille-Sequenzen: 8

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 10, 12, 25, 7, 7, 9, 11, 9

Gesamtstille in Sekunden: 90

Von dieser Stunde sind im Anhang Protokoll- und Auswertungsraster zu finden (siehe

S.102-108).

Nach einer kurzen Begrüssung geht Simon schnurstracks auf die Instrumente zu. Er

hantiert, fragt nach und zeigt Ausdauer beim Probieren. Er wünscht, beim Begrüs-

sungslied mit der Flöte mitspielen zu dürfen und setzt sich in die Sitzecke.

Obschon er motorisch unruhig wirkt, bleibt er mit seiner Aufmerksamkeit ausdauernd

beim Ausprobieren der Instrumente. Das Anfangsritual scheint integriert und gibt ihm

den nötigen Halt und die Struktur, sich trotz offensichtlichem Bewegungsdrang vorläu-

fig hinzusetzen. Dieselbe Flöte, deren Klang in der vorletzten Stunde Ablehnung gefun-

den und in der letzten Stunde sein Interesse geweckt hat, kommt wiederholt zum Ein-

satz. Darin ist eine Entwicklung ersichtlich: Wie schon im Gesang der dritten Therapie-

Page 68: Starke Stille - Stille Kraft

68

stunde, ist in seiner Spielweise erneut die Kraft jener Spur hörbar, die in eine hoff-

nungsvolle Zukunft weist.

Er hat sich eine Spielidee ausgedacht, welche er heute durchführen möchte: Parcours

aus Sitzelementen. Nach kurzer Erklärung, wird dieser gemeinsam aufgebaut. Dabei

kommt es zu 2 Stille-Sequenzen (12 und 25 Sek.), welche aus schweigender Konzentra-

tion aufs Tun bestehen. Danach stellt er die Regeln auf, dass der Boden nicht berührt

werden darf und dass er 10 Leben hat.

Den Impuls, zu versuchen, ihn anhand verschiedener Klänge aus der Balance zu brin-

gen, nimmt er auf. Der Rhythmus der Djémbe scheint ihn zu animieren. Er hüpft freudig

von einem Sitzelement zum nächsten. Die Lautstärke der Oceandrum überrascht ihn,

dennoch berührt er den Boden nicht. Simon initiiert einen Rollenwechsel und imitiert

meine vorherige Spielweise auf den Instrumenten.

Er ist voll Tatendrang und scheint begeistert über sein Selbstbestimmungsrecht. Er traut

sich koordinativ schwierige Bewegungen auszuprobieren, ohne wie in der vorherigen

Stunde nachzufragen, ob es sicher sei. Darin kommt Mut und Selbstvertrauen zum Aus-

druck. Dass er selber bestimmen und seinem Bewegungsbedürfnis nachgehen kann,

wirkt sich positiv auf die Aufmerksamkeit und den Fokus auf die Handlung aus.

Ohne Absprache wandelt sich das Spiel fliessend in einen Kräfte- und Stimmenkampf.

Es wird gequietscht, gekreischt und gebrüllt. Simon wirkt belebt und ausgelassen. Er

wird verbal „frech“, was schliesslich zu einem „Non-sense“- Dialog führt.

In der stimmlichen und motorischen Ausgelassenheit ist eine kathartisch wirkende Kraft

spürbar. Mit der vielfältigen und ungehemmten Anwendung seiner Stimme zeigt er Ver-

trauen in die therapeutische Beziehung. Er spielt mit der Dynamik seiner Stimme. Dass

sein „Frech-Sein“ keine Zurechtweisung erfährt, sondern „Non-sense“-Sprache zur

Antwort bekommt, löst Überraschung bei ihm aus. Er wird kreativ und erfindet eine

eigene Sprache.

Page 69: Starke Stille - Stille Kraft

69

Als ich durch seine Pistolen-Hand getroffen werde und in der Folge nicht mehr aufste-

he, hält er inne und erfindet eine Regel: Mehrere Leben.

Er will noch weiter kämpfen und passt die Regeln entsprechend an. Dies erinnert an

Pippi Langstrumpf, die sich ihre Welt bekanntlich so macht wie sie ihr gefällt. Seine

Energie scheint noch lang nicht erschöpft.

Nach ausdauerndem Kampf geht Simon auf das Angebot einer Ruhepause ein. Er baut

sich „Non sense“- sprachlich kommentierend ein Nest und wählt drei Instrumente, an-

hand deren Klänge er „geduscht“ werden möchte, aus: Indianerflöte, Kalimba, Kinder-

Panflöte. Dann legt er sich in sein Nest und wünscht, mit einer Decke zugedeckt zu

werden. Schweigend horcht er der Klangdusche und lauscht den Klängen in post-

musikalischer Stille (9 Sek.) nach. Danach initiiert er einen Rollenwechsel, überlässt

mir sein Nest und duscht mich mit Kalimba-Klängen.

Nach dem Kampf ist eine Müdigkeit und emotionale Betroffenheit spürbar. Die Klang-

dusche scheint ihn in seiner Befindlichkeit abzuholen. Er kommt sowohl sprachlich als

auch körperlich zur Ruhe und lässt sich auf die Stille ein. Die emotionale Betroffenheit

scheint einem wohligen Berührt-Sein zu weichen. In der Stille ist eine Verbundenheit

wahrnehmbar, welche an eine symbiotische Mutterbeziehung erinnert. Im Vergleich

zum regressiv anmutenden Verhalten der vergangenen Stunde ist hier eine deutlich an-

dere Stimmung bei ihm wahrnehmbar. Dies löst die Frage aus, ob er sich hier auf eine

Regression im Dienste eines Entwicklungsschrittes einlässt.

Sein darauffolgender Wunsch, einen Rollenwechsel zu machen, zeigt eine Entwicklung

hin zu Intersubjektivität; er macht also einen Schritt vom Ich zum Du. Er spielt dyna-

misch auf der Kalimba, zeigt dabei Ausdauer, Vorsicht, Konzentration und Empathie.

Das Musikspiel ist dynamisch. Er scheint bewusst Pausen einzubauen und drückt

dadurch ein intuitives Wissen um die Wichtigkeit der Balance zwischen Aktivität und

Ruhe aus.

Page 70: Starke Stille - Stille Kraft

70

Simon organisiert das Aufräumen. Während er die Sitzelemente wegräumt, entwickelt er

neue Spielideen, welche kein Gehör finden. Er traut sich darauf nicht alleine vom

Schrank runterzuhüpfen wo sich die Sitzelemente befinden und nimmt Hilfe an.

Seine Kreativität ist unerschöpflich. Sein (Zeit-)Empfinden scheint in diesem Moment

keine Verbindung mit der reellen Welt zu haben. Erneut stellt es sich als schwierig her-

aus, die Stunde so abzurunden, dass er den Schluss als gelungenen Übergang erlebt.

Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit, bekommen seine kreativen Impulse kein Gehör.

Dies scheint Frustration und Verunsicherung auszulösen. Seine Reaktion erinnert an das

beeinträchtigte Selbstvertrauen in der vierten Therapiestunde und macht seine Verletz-

barkeit spürbar. Einen Transfer in den Alltag möglich zu machen, scheint elementar.

Beim Schlusslied fasst er singend zusammen, was in der Stunde passiert ist und be-

schliesst, Mami zu erschrecken. Auf leisen Sohlen schleicht er zur Tür hinaus.

Sein stimmlicher Ausdruck ist emotional berührend und macht seine Welt hörbar. Das

Erlebnis der wohltuenden Stille-Momente und Pausen während der Klangdusche scheint

eine nachhaltige Wirkung zu haben: Mit seinem Beschluss, ganz leise aus dem Raum zu

schleichen, findet er die Lösung für einen gelungenen Übergang.

Fazit

Selbstbestimmungsrecht, eigenes Tempo, Bewegung, Animation, stimmlicher Ausdruck

und mein Mitgehen führen ihn durch die bewegte Stunde hin bis zum Stille-Moment

nach der Klang-Dusche. Die Stille scheint hier einen entscheidenden Entwicklungs-

schritt in Richtung Intersubjektivität zu unterstützen. Da die Ablösung zu seiner Thema-

tik gehört, ist dieser Schritt für den Therapieprozess von grosser Bedeutung.

Page 71: Starke Stille - Stille Kraft

71

6. Stunde: 3.Wendepunkt `Ansätze von Integration`

Stille-Sequenzen: 4

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 8, 7, 9, 12

Gesamtstille in Sekunden: 36

Bereits beim Eintreten in den Raum, beginnt er über ein Kind zu berichten, das seine

Lehrerin gebissen habe. Erzählend geht er zur Sitzecke.

Die Wichtigkeit, ihn dieses Erlebnis erzählen zu lassen, wird spürbar. Das regelwidrige

Verhalten jenes Kindes scheint ihn zu empören und etwas in ihm auszulösen.

Simon entscheidet, das Begrüssungslied mit der Stimme zu begleiten. Er macht das

Start- und Schlusssignal mit der Klangschale. Der gemeinsame Gesang wird mit Body-

percussion ergänzt, welche er sogleich übernimmt und mir ein Lied aus der Schule bei-

bringt, welches ebenfalls Bodypercussion enthält.

In seinem gezielten Start- und Schlusssignal zeigt sich erneut, wie gut er auf jegliche

Form von Struktur anspricht. Er scheint es zu geniessen, mir etwas beibringen zu kön-

nen. Er zeigt Selbstvertrauen und Klarheit während er mich das Lied aus der Schule

lehrt. Die Verbindung von Gesang und Rhythmus auf dem Körper lässt ihn konzentriert

und aufmerksam dran bleiben.

Er initiiert einen Bataca-Kampf. Die Abstand- und Stoppregeln werden geklärt, worauf

er eine eigene Spielregel erfindet: Wem die Bataca runterfällt, hat verloren.

Als er verliert, ändert er die Regel: Er hat mehrere Leben. Sein Kampfeinsatz wird

kraftvoller.

Erstmalig bringt er das Thema Kampf gleich zu Stundenbeginn rein. Darin ist eine Ver-

änderung ersichtlich. Ansonsten hat sich jeweils erst gegen Ende der Stunde ein Kampf-

spiel herauskristallisiert. Neu ist ebenfalls, dass es sich dabei um offensichtliches

Page 72: Starke Stille - Stille Kraft

72

Kämpfen und kein Rollenspiel handelt. Dies könnte eine Bestätigung dafür sein, dass er

seine Thematik nun tatsächlich auf einer persönlicheren, (eigen)körperlichen Ebene

bearbeitet.

Auf die Frage, was er tun könnte, wenn er jemandem kräftemässig unterlegen ist, rea-

giert er mit noch kraftvollerem Einsatz. Er schlägt um sich und setzt dabei seine Stimme

unterstützend ein.

Seiner Schlagtechnik ist eine motorische Unruhe zu entnehmen. Es ist spürbar, dass er

neben sich steht und den Konflikt mit körperlicher Kraft lösen will. Er scheint Wut zu

verspüren. Er ist nicht bereit, sich auf der kognitiven Ebene mit dem Thema auseinan-

derzusetzen.

Das Schlagzeug wird ins Spiel miteinbezogen. Es entsteht eine lustvolle, laute, gemein-

same Schlagzeug-Improvisation. Dieser folgt eine post-musikalische Stille (8 Sek.), in

welcher dem verklingendem Spiel nachgelauscht wird. Danach verschiebt sich das

Kampf-Spiel fliessend zum Klavier. Beide versuchen, dem anderen mit den Batacas den

Weg zu den Tasten zu versperren.

Durch den Einsatz des Schlagzeuges werden seine Bewegungen ruhiger. Seine Wut

bekommt anhand der rhythmischen, lauten Töne eine Resonanz. Die erlebbare Selbst-

wirksamkeit dabei scheint sich positiv auf seine Befindlichkeit auszuwirken. Er setzt

seine Kraft koordinierter ein. Das Nachlauschen in der Stille erinnert an „Wut verrau-

chen“ lassen. Dieser kurze Moment des gemeinsamen Innehaltens zeigt sich als Wohl-

tat.

Simon hat eine neue Spielidee: Stopp-Spiel mit Batacas und Schlagzeug. Gelingt es je-

mandem, einen Paukenschlag zu machen, verliert der andere seine Bataca.

Er geht auf den Vorschlag einer Modulation des Spiels ein: Musik-Kampf. Simon am

Schlagzeug, ich am Klavier. Auf die Frage, ob es eine Regel gebe, antwortet er: „Die

einzige Regel ist, dass es keine Regeln gibt.“ Anfänglich überspielt das Schlagzeug das

Page 73: Starke Stille - Stille Kraft

73

Klavier lautstark. In der Folge kommt das Klavier nur jeweils dann zum Einsatz, wann

immer das Schlagzeug Pause hat. Simon lässt sich auf das musikalisch intervenierte

„Frage-Antwort“- Spiel ein, woraus ein synchrones Zusammenspiel entsteht: Er über-

nimmt auf dem Schlagzeug den Rhythmus und die Dynamik des Klaviers.

Im Gespräch danach denkt er aktiv mit, was zu tun ist, wenn man sich unterlegen fühlt.

Aufgrund der Unterlegenheit am Klavier lässt sich ein Bezug zum Bataca-Kampf her-

stellen. Ich berichte, keine Chance gegen das starke Schlagzeug gehabt zu haben. Daher

hätte ich auf dem Klavier einfach ganz anders gespielt als er: leise und während seinen

Pausen. Er hört mit grossen Augen zu. Dass sich auch Erwachsene unterlegen fühlen

und nach Lösungen suchen müssen, scheint ihn zu überraschen und ein Gefühl von Ver-

standen werden zu bewirken.

Er habe eigentlich von Anfang an mit dem Klavier mitspielen wollen, aber ein einziger

Paukenschlag übertöne dessen Klang bereits. Auf die Frage, ob es dafür eine Lösung

geben könnte, antwortet er: „ Ja, wenn man leiser spielt.“ Er macht es vor, indem er

vorsichtig und sanft auf dem Schlagzeug spielt. Seinem Lösungsvorschlag ist ein Wis-

sen um Beziehungsdynamik zu entnehmen.

Simon initiiert ein Rollenspiel: Kampf gegen die böse Schlange, die sich für die Beste

hält und immer ihre Versprechen bricht. Er erklärt den Handlungsablauf. Die Schlange

beisst alle Tiere zu Tode, zwei Panther und der kleine Drachen besiegen sie und retten

alle. Mir weist er die Rolle der Schlange zu. Er übernimmt die Sieger-Rollen.

Es findet ein unerbittlicher Kampf gegen die Schlange statt. Als diese um Gnade fleht,

geht Simon vorerst darauf ein, erklärt dann aber, die Schlange halte ihre Versprechen

nie, daher müsse sie getötet werden. Auf deren Tod folgt ein Schweige-Moment (7 Sek.),

in welchem die tote Schlange eingehend betrachtet wird. Die Schlange wird in der Fol-

ge zu einem Schal umfunktioniert. Während er aufräumt, singt er: „Diä arm Schlange.“

Page 74: Starke Stille - Stille Kraft

74

In der Rollenzuteilung zeigt sich eine Veränderung. Die Schlange wird erstmalig nicht

von ihm selber gespielt. Unverändert ist jedoch, dass er die Sieger-Rolle innehat, wel-

che sich durch Kraft, Stärke und Überlegenheit auszeichnet. Darin drückt sich das Be-

dürfnis aus, seine Kraft spüren zu wollen und seinen Stärken im realen Leben auf die

Spur zu kommen.

Beim Kampf setzt er seine Stimme drohend und laut als emotionale Hilfe ein. Darin ist

eine Angespanntheit zu hören. Als seine Stimme während dem Aufräumen erneut zum

Einsatz kommt, klingt sie gelöst und innerlich zufrieden.

Im Gespräch wird ein Transfer zum Alltag hergestellt. Auf die Frage, ob es Menschen

gebe, die so sind wie die Schlange, entsteht eine intraverbale Stille (9 Sek.). Schweigend

schaut er an die Decke und überlegt. Danach erzählt er von zwei Kindern, deren regel-

widriges Verhalten ihm nicht gefällt. Diese empfinde er wie die Schlange.

In der Stille scheint auf eindrückliche Weise eine Verbindung zwischen Imaginär- und

Realbereich stattzufinden. Er verbalisiert, welche Menschen ihm Mühe machen: Jene,

die andere verletzen, sich für die Besten halten, obschon sie sich regelwidrig verhalten.

In seiner Stimme schwingt jedoch eine Ambivalenz mit, welcher eine Verbindung zu

seinem oben erwähnten Wunsch, „einzige Regel = keine Regeln“ innewohnt. Insgeheim

scheint er jene Kinder auf eine gewisse Weise um ihre Unbedarftheit zu beneiden.

Fürs Schlusslied wählt er die Leier und gibt mir die Shruttibox. Er singt zusammenfas-

send: „Wir haben die Schlange besiegt, schön ist es gewesen. Leider ist jetzt Mami

schon da, obwohl ich noch viel länger Musik machen möchte.“ Währenddessen scheint

ihm die Sonne ins Gesicht:„Die Sonne findet unsere Musik auch schön“, kommentiert

er. Als ich ihn abschliessend als Sieger der Stunde besinge, der von der Sonne bescheint

wird, erklärt er: „Beim Bataca-Kampf hab ich aber nicht gewonnen.“ Den Einwand,

der Sieg über die Schlange sei wohl wichtiger gewesen, hört er sich aufmerksam an und

strahlt. Er verabschiedet sich, geht langsam und ruhig zur Türe hinaus.

Page 75: Starke Stille - Stille Kraft

75

Dass der Sonne die Musik gefällt, zeigt seinen Bezug zu seiner Fantasiewelt, in welcher

er sich wahrscheinlich mehr zuhause fühlt als im Realen. Seine Stärke, das magische

Denken im Hier und Jetzt einzubringen, ist berührend.

Es kommt erstmalig zu einem gelungen abgerundeten Schluss, welcher einen Übergang

in Ruhe möglich macht.

Fazit

Veränderungen bezüglich Aufmerksamkeitsspanne und Konzentration hängen in dieser

Stunde mit motorischem und musikalischem Erleben und sehr wenig mit Stille zusam-

men. Beim kognitiven Transfer in den Alltag ist der intraverbalen Stille jedoch eine

bedeutende Rolle zuzuschreiben, da sie eine Verbindung zwischen imaginärem und

realen Leben möglich macht.

Rück- und Ausblick

Im Therapieprozess von Simon hat eine Entwicklung stattgefunden. Bei ihm zeigt sich

einschränkende Unruhe vor allem im seelischen Bereich. Er bringt sich und seine The-

men emotional beteiligt ein. Die Bearbeitung seiner Themen findet auf einer persönli-

cheren Ebene statt als zu Beginn der Therapie, was auf Veränderungen der Fokussie-

rungs- und Konzentrationsfähigkeit schliessen lassen könnte. Er übt sich in der Balance

zwischen Aktivität und Ruhe und lässt sich durch Stille-Momente an die Bearbeitung

seiner Thematik heranführen. Weiter hat er ein Empfinden dafür entwickelt, dass er

über viele Stärken und Ressourcen verfügt, welche er für sich nutzen kann. Zudem be-

ginnt er, das musiktherapeutisch Erlebte vermehrt zu verbalisieren und einen Transfer in

den Alltag zu machen.

Simon kann seinem Bewegungsbedürfnis, seiner Fantasie und seinem schöpferischen

Ausdruck Raum geben und das musiktherapeutische Angebot für sich nutzen. Für die

vertiefte Bearbeitung seiner Themen und die Stabilisierung des neugewonnenen Selbst-

vertrauens scheint die Weiterführung der musiktherapeutischen Begleitung bis im

Sommer 2012 oder auch länger sinnvoll.

Page 76: Starke Stille - Stille Kraft

76

8.6 David

Für einen späteren Vergleich der Wirksamkeit von Stille bei beiden Therapiekindern

und zum Verständnis des Therapieverlaufs von David folgen Informationen zu seiner

Ausgangslage.

8.6.1 Ausgangslage

Informationen zum Hergang: Aufgrund von aggressivem Verhalten gegenüber anderen

Kindern, Konzentrationsschwierigkeiten und hohem Bewegungsbedürfnis fand im 2.

Kindergarten eine Entwicklungsabklärung statt. Infolgedessen wurde eine Ritalinmedi-

kation eingeleitet, welche bis dato besteht. 3 Jahre Unterstufe verliefen gut. Ende 3.

Klasse fiel er durch `störendes` Verhalten im Unterricht auf, was zu einem Schulhaus-

und Lehrerwechsel und zu sozialer Vereinsamung führte. Ende 4. Klasse spitzte sich die

Situation zu. David brach seine Hobbies ab und verweigerte die Hausaufgaben. Bevor

es im September 2010 zum Eintritt in die psychiatrische Kinderstation kam, besuchte

David über 4 Monate einmal wöchentlich eine psychiatrische Behandlung. Bei Thera-

piebeginn ist er 11,9 Jahre alt.

Auslösende Faktoren für die stationäre Behandlung sind Schwierigkeiten im Sozialver-

halten aufgrund von diagnostiziertem ADHS. Die Symptomatik zeigt sich bei David

durch Unaufmerksamkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Mühe mit der Impulskontrol-

le, Aggressivität, unglücklich Sein, Frustration, mangelndes Selbstvertrauen und oppo-

sitionellem Verhalten. Er zeigt Mühe, Gefühle anderer wahrzunehmen und darauf ein-

zugehen. Er spricht wenig über sein Befinden und kann seine Emotionen schlecht aus-

drücken.

Therapieziele sind Stärkung des Selbstwertgefühls, der Körperwahrnehmung und der

Eigeninitiative sowie die Sensibilisierung für die eigene Befindlichkeit und den Zugang

zu den Gefühlen.

Setting: Innerhalb des stationären Aufenthaltes in einer psychiatrischen Kinderstation

findet während 3 Monaten einmal wöchentlich musiktherapeutische Einzeltherapie à 50

Page 77: Starke Stille - Stille Kraft

77

min. im Musik- und Bewegungstherapie-Raum statt. Zusätzlich erhält David eine Stun-

de Psychotherapie pro Woche.

8.6.2 Therapieverlauf David

Zum besseren Verständnis gelten dieselben Angaben wie schon im Therapieverlauf von

Simon (siehe S.49).

Erstkontakt

Von dieser Stunde existiert keine Audioaufnahme.

David sucht wenig Blickkontakt. Seiner Mimik sind kaum Affekte zu entnehmen. Er äus-

sert sich verbal sparsam, beantwortet Fragen meist einsilbig. Seine häufigste Antwort

ist „Böh, weiss nicht“. Er steigt auf Spielvorschläge ein, setzt dabei wenig bis keine

eigenen Impulse

2. Stunde: Vertrauensbasis schaffen

Stille-Sequenzen: 25

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 7, 10, 10, 20, 22, 16, 7, 9, 7, 12,

14, 7, 76, 33, 20, 9, 8, 7, 8, 14,

17, 9, 14, 8, 17

Gesamtstille in Sekunden: 381

David zeigt sich verbal zurückhaltend. Er wünscht das Bewegungsspiel Diabolo, wel-

ches mehrheitlich schweigend stattfindet und steigt danach auf musikalische Spielvor-

schläge mit den Surdos (Trommeln) ein. Dabei bringt er sich ein, indem er das Spiel

moduliert.

Er wirkt in der Begegnung emotional wenig beteiligt. Sein Schweigen scheint eine klare

Absicht zu haben. Er konzentriert sich auf die Bewegung und grenzt sich ab, indem er

nicht viel von sich preisgibt. Auch wenn er scheinbar eine innere Leere ausdrückt, ist in

der schweigenden Handlung innerliches Empfinden wahrnehmbar, welches Traurigkeit

Page 78: Starke Stille - Stille Kraft

78

und unterschwellige Wut zu transportieren scheint. So gesehen, lässt sich sein Schwei-

gen auch als Abwehr und vielleicht als „gesundes“ Misstrauen interpretieren.

Seine anfängliche motorische Unruhe scheint sich während dem Bewegungsspiel und

dem Spiel an den Surdos zu verringern.

Er lässt sich auf eine 10-minütige Improvisation am Gong ein. Er spielt laut, setzt wie-

derkehrend kraftvolle Schläge zwischen denen kaum Pausen auszumachen sind. Mein

Spiel am Klavier wird vom Gong übertönt. Gegen Ende der Improvisation wandelt sich

die Dynamik seines Spiels; er lässt die Töne ausklingen, horcht den leisen Klängen und

lässt das Spiel zum Schluss bis in die Stille nachklingen.

Die überschwemmend wirkende Spielweise, könnte ein Hinweis auf seinen Umgang mit

Grenzen und Emotionen sein. Die wiederkehrend heftigen Schläge geben ihm Reso-

nanz. Sie zeigen seine Wirksamkeit, welche eine kraftvolle Emotionalität hörbar macht

und gleichzeitig ein Gefühl von Machtlosigkeit zu verbreiten scheint. Das nicht zulas-

sen können von Pausen könnte auf innere Unruhe hinweisen. Die Schläge scheinen zu

sagen: Ich will etwas spüren, hört mich denn niemand. Er wirkt lange Zeit in sich ver-

sunken, etwas verloren bis er auch Pausen dazwischen Raum geben kann. Jetzt scheint

er mich wahrzunehmen und nimmt dynamisch Bezug zu meinem Spiel. Es stellt sich ein

Verbundenheitsgefühl ein, welches in der ausklingenden Musik bis in die Stille (9 Sek.)

anzudauern scheint. Das Schlusssignal der Klangschale führt zu einer Übergangsstille

(14 Sek.) woraus ein Gespräch erwächst, in welchem er nicht selber assoziiert, meiner

Assoziation „Gewitter“ jedoch schmunzelnd zustimmt.

Fazit

Bezüglich Aufmerksamkeitsspanne und an einer Handlung bleiben, zeigen sich in dieser

Stunde Bewegung und der sprachliche Aspekt von Stille als gleichbedeutend wirksam.

Sein Schweigen scheint Abgrenzung und vielleicht auch Widerstand zu signalisieren.

Die Improvisation macht seine Emotionalität hörbar und bietet ihm die Möglichkeit,

auszudrücken, was er nicht in Worte fassen kann. Die intra- und postmusikalische Stille

gegen Schluss ermöglicht in Bezug zu seinem Gefühl der sozialen Vereinsamung eine

Page 79: Starke Stille - Stille Kraft

79

Veränderung indem sie eine Kontaktaufnahme bewirkt, welche zu einem Verbunden-

heitsgefühl führt.

3. Stunde: Vertrauensaufbau

Stille-Sequenzen: 15

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 16, 24, 10, 7, 11, 7, 8, 19, 7, 7,

7,10, 7, 7, 7

Gesamtstille in Sekunden: 154 Sekunden

Von dieser Stunde sind im Anhang Protokoll- und Auswertungsraster zu finden (siehe

S. 110-118).

Gemeinsam wird entschieden, dass wir mit Surdo-Ball beginnen. Dabei werfen wir ei-

nander den Ball mit Treffer auf der Trommel dazwischen zu. Anfänglich findet das Spiel

schweigend statt. Im Verlauf des Spiels beginnt David von seinen Hobbies zu erzählen

und erfindet neue Spielformen.

Das erneute Schweigen zu Beginn könnte einen Zusammenhang mit dem Selbstbe-

stimmungsrecht haben; im vorhandenen (Therapie-) Raum für Stille scheint er anhand

schweigender Abgrenzung seine Selbstwirksamkeit wahrzunehmen. Vielleicht bahnt

sich hier ein Weg hin zu Selbstvertrauen und Vertrauen in die therapeutische Beziehung

an. Er wirkt alsdann auch verbal offener, emotional beteiligter und zeigt Interesse am

Spiel mit der Dynamik der Surdos. Dies könnte ausdrücken, dass er sich in Beziehungs-

dynamik, welches zu seiner Thematik gehört, üben will. Er bleibt ca. 20 Minuten beim

Spiel. Dies zeigt, dass seinem Bewegungsbedürfnis Rechnung getragen werden muss.

Nach 6-minütigem mehrheitlich schweigendem Hantieren mit den Instrumenten, ent-

deckt er den Schlegel für die grossen hängenden Klangröhren. Er spielt mit der Dyna-

mik und horcht den Klängen bis in die Stille nach, worauf er erstmalig assoziiert:

„Kirchenglocken“. Er lässt sich auf eine gemeinsame Improvisation ein. David spielt

Page 80: Starke Stille - Stille Kraft

80

die Klangröhren, ich spiele die Schlitztrommel. Er baut viele Pausen ein, in denen er

die Vibration der Röhren mit den Händen fühlt und den ausklingenden Tönen manch-

mal bis in die Stille nachlauscht.

Die Instrumentenauswahl scheint sich reizüberflutend auf David auszuwirken. Er wirkt

gehetzt und getrieben. Das Schweigen während dem Hantieren könnte Ausdruck von

Abwehr oder ein Versuch, sich zu zentrieren, sein. Sobald er den Fokus auf etwas ein-

zelnes, die Klangröhren, richtet, wird er ruhiger. Er wirkt vertieft beim Experimentieren

und scheint mich kaum wahrzunehmen. Ich nehme eine Verunsicherung wahr, ob seine

Pausen musikalischen Boden brauchen oder gemeinsamer Stille bedürfen. Da er keinen

Bezug zu meinem Spiel nimmt, könnte meine Anwesenheit die Mutter repräsentieren,

die da ist, ohne in Interaktion zu sein. Nebst den stillen Pausen (7, 7 und 7 Sekunden),

in denen er den Klängen nachhorcht, ist immer etwas „atmosphärisch Schwingendes“

zu hören. Die Atmosphäre erinnert an die von Tomatis (2007) beschriebene „lebendige

Ruhe“ in der Gebärmutter. Die Stimmung im Raum hat etwas Heiliges an sich. David

scheint den Wechsel zwischen „Lärm“ und Stille zu inszenieren und sich dabei erholen

zu können. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass er sich der Stille ohne Angst da-

vor anvertrauen kann.

Fazit

In dieser Stunde zeigt sich das körperzentrierte Spiel in Verbindung mit den Trommeln

als relevant für sein Dranbleiben können an der Handlung. Das partielle Schweigen da-

bei, scheint die Aufmerksamkeit und das Selbstbestimmungsrecht zu unterstützen. Wei-

ter trägt das Schweigen während dem Hantieren mit den Instrumenten dazu bei, dass er

sich fokussieren kann. Die Improvisation scheint ihn in einen Flow-Zustand zu verset-

zen. Die daraus erwachsende Stille enthält eine tiefe emotionale Berührung, welche

aufgrund seiner Thematik für den Therapieprozess relevant ist.

Page 81: Starke Stille - Stille Kraft

81

4. Stunde: 1.Wendepunkt `Öffnung`

Stille-Sequenzen: 17

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 14, 10, 8, 8, 14, 26, 50, 8, 55,

20, 44, 37, 31, 17, 14, 21, 8

Gesamtstille in Sekunden: 385

Das Anfangs-Bewegungsspiel (Fussball) findet mehrheitlich schweigend statt. Im Ver-

lauf des gemeinsamen Spielens beginnt David über seine Freunde zu berichten.

Das Fussball-Spiel kommt seinem Bewegungsbedürfnis entgegen. Sein Schweigen da-

bei scheint ihn in der Bewegungskoordination zu unterstützen und ihn innerlich bereit

zu machen, Persönliches von sich preiszugeben. Im Erzählen wirkt er offener und emo-

tional beteiligter als zu Beginn der Stunde.

Danach lässt er sich auf eine ausdauernde Improvisation mit den Surdos (Trommel)

ein. Er spielt rhythmisch versiert, macht häufige Rhythmuswechsel, baut keine Pausen

ein und spielt mehrheitlich unbezogen, Die Improvisation wandelt sich darauf zu einem

lautstarken, synchronen Spiel. Zwischendurch steigt David aus und kehrt dann wieder

zum gemeinsamem Rhythmus zurück. Die Improvisation mündet in eine Stille, welche

ohne Absprache in schweigendes Aufräumen und Hinsetzen zum Gespräch überleitet:

Er gibt der Musik den Titel „We are the champions“.

David zeigt erstmalig während einer Improvisation eine Aufmerksamkeitsspanne von

20 Minuten. Seine musikalische Präsenz hat etwas Ehrwürdiges, fast Heiliges an sich.

Zeitdimensionen scheinen aufgehoben. Es entsteht keine einzige Pause. In dieser Se-

quenz kann Stille bis zum Schluss nicht stattfinden. In seinem pausenlosen Spiel bahnen

sich möglicherweise nicht verbalisierte Gefühle einen Weg: Getriebenheit, Wut, Kraft

ausleben, Suche nach einem ebenbürtigen Gegenüber. Es fällt mir schwer, auszuhalten,

dass wir uns rhythmisch und dynamisch anfänglich nicht finden. Gerade diesen reso-

nanzbereiten Weg des „einander Suchen und Finden“ mit ihm zusammen auszuhalten

Page 82: Starke Stille - Stille Kraft

82

und zu gehen, scheint für seinen Prozess jedoch erheblich wichtig. Sein Ausbrechen aus

dem gemeinsamen Rhythmus beim darauffolgenden Synchron-Spiel könnte dann auch

ein neu gewonnenes Vertrauen in sich und in die therapeutische Beziehung ausdrücken.

Er scheint auszuprobieren, ob der „Boden“ bestehen bleibt, wenn er ausbricht.

Die Stille (14 Sek.), welche sich am Schluss ergibt, hat eine entspannende, wohltuende

Wirkung. Ohne Absprache entsteht fliessend bedächtiges Wegräumen der Trommeln

und es kommt erneut zu einer Stille (21 Sek.), welche aus gemeinsam schweigendem

Aufräumen besteht und eine stimmige Überleitung zum Gespräch ermöglicht. David

nennt erstmalig einen Titel für eine Improvisation. Danach entsteht eine schweigende

Atempause (8 Sek.), in welcher die Atmosphäre der Improvisation und der gemeinsam

begangene Weg nachzuklingen scheinen.

Fazit

In dieser Stunde zeigen die Methoden körperzentriertes Spiel und Improvisation, beide

in Verbindung mit Stille Wirksamkeit bezüglich Ausdauer, Aufmerksamkeit und

Selbstbestimmungsrecht.

5. Stunde: 2.Wendepunkt Regression

Von dieser Stunde existiert leider keine Audioaufnahme.

David lacht, hält Blickkontakt und wirkt offen im Ausdruck. Er setzt Eigenimpulse, be-

stimmt die Regeln und geht in Interaktion. Er wünscht eine Ballschlacht zu machen und

baut für sich und mich Wehrmauern (Sitzwürfel) auf. David spielt ausdauernd mit viel

Krafteinsatz. Danach baut er sich eine Burg und legt sich hinein. Er hört einem Für-

spiel zu und wirkt dabei ruhig. Er kommt zur Ruhe.

6. Stunde: Autonomie

Diese Stunde wird durch eine Vertretung geführt und nicht aufgenommen.

David ordnet musikalische Qualitäten Gefühlen zu, setzt diese selber nicht musikalisch

um. Er formuliert, dass der Umgang mit Gefühlen in zwischenmenschlichen Kontakten

wichtig ist.

Page 83: Starke Stille - Stille Kraft

83

Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass er seine Thematik der Impulskontrolle, der

Wahrnehmung von und den Umgang mit Gefühlen erkennt.

7. Stunde: Wendepunkt Regression

Stille-Sequenzen: 44

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 8, 12, 10, 17, 18, 8, 18, 9, 8, 25,

7, 10, 33, 10, 14, 16, 13, 15, 15,

11, 26, 7, 7, 9, 7, 7, 11, 8, 10, 7,

15, 10, 17, 14, 34, 31, 45, 80, 8,

70, 82, 8, 18, 9

Gesamtstille in Sekunden: 809

David zeigt sich zu Beginn der Stunde verbal kurz angebunden. Er wählt Fussball-Spiel

auf Zeit. Erneut findet dieses anfängliche Bewegungsspiel mehrheitlich schweigend

statt. Aufgrund seines Sieges, über den er sich kaum merklich freut, entsteht ein Ge-

spräch über Gefühle.

Während dem Fussball-Spiel scheint sich seine motorische Nervosität hin zu kontrol-

lierten Bewegungen zu verändern. Anfänglich bin ich für spontanes Durchbrechen des

schweigenden Spiels verantwortlich. Im Verlauf der Stunde scheint er aus sich heraus-

zukommen und bricht sein Schweigen. Er lacht sogar über eigenes „Versagen“. Beim

Gespräch über Gefühle zeigt sich, dass er über wenig Erfahrung im Verbalisieren von

Gefühlen zu verfügt.

Auf den Vorschlag, ein Gefühle-Rate-Spiel zu machen, reagiert er mit: „Nein, Verste-

ckis!“ Abwechselnd wird ein Chiffon-Tuch versteckt. David will zuerst verstecken.

Während ich suche, setzt er sich ans Klavier und spielt. Gemeinsam wird aus seinem

Impuls eine Spielregel entwickelt: Klavier als Suchhilfe, langsame Töne = weit weg/

Page 84: Starke Stille - Stille Kraft

84

schnelle Töne = nah am Ziel. Im Wechsel wird versteckt und gesucht. Während das

Tuch jeweils versteckt wird, herrscht Stille, welche sich mit jedem Mal verlängert. Er

bleibt ca.26 Minuten mit seiner Aufmerksamkeit beim Spiel. Im darauffolgenden Ge-

spräch äussert er sich verbal nicht zum Erlebtem.

Sein ansonsten affektarmer Ausdruck zeigt sich während dem Spiel verändert: Er lacht

herzhaft und wirkt emotional beteiligt. Während er versteckt, sind, wie die Stichproben

kontrollierter Intersubjektivität ergaben, ein Geborgenheitsgefühl, ein aufgehoben Sein,

ein zu sich Kommen, Ruhe und viel Raum wahrnehmbar. Die Gefühlsqualität, welche

dabei transportiert wird, erinnert an eine frühe Mutter-/Kindbeziehung, welche von Ver-

trauen geprägt ist. Die stillen Zeiten, in denen David versteckt (14, 31, 80 und 82 Sek.)

unterscheiden sich von jenen in denen ich verstecke (17, 34, 45 und 70 Sek.): Fokus-

sierte Spannung, Herzklopfen und Lachreiz sind spürbar; belebende Gefühle eines Kin-

des beim spannenden Spiel.

Die stetige Verlängerung der Stille-Sequenzen zeigt, dass hier ein gemeinsamer Weg

hin zu gehaltvoller Stille stattfinden kann, welche eine Nachnährung zu beinhalten

scheint. Die Stille führt ihn an Gefühlsqualitäten heran, die er zu geniessen scheint.

Fazit

In dieser Stunde ist eine ausgewogenere Balance zwischen schweigendem und sprachli-

chem Ausdruck erkennbar. Das Schweigen wandelt sich hin zu vertrauensvollen Ge-

sprächen. Die gleichbleibende Struktur (Bewegungsspiel zu Beginn), die Bewegung und

die therapeutische Beziehung scheinen Sicherheit und Vertrauen zu bewirken, auf deren

Basis er sich der Stille hingeben kann. Die Stille zeigt sich ihm als Möglichkeit in frühe,

präverbale Entwicklungsphasen einzutauchen, bewirkt Gefühlsqualitäten und lässt eine

Nachnährung zu.

Page 85: Starke Stille - Stille Kraft

85

8. Stunde: Neuordnung

Stille-Sequenzen: 29

Dauer der Sequenzen in Sekunden: 25, 58, 10, 13, 19, 21, 16, 10,

12, 10, 70, 13, 9, 10, 15, 46, 10,

11, 7, 7, 7, 9, 34, 10, 29, 53, 63,

10, 10

Gesamtstille in Sekunden: 617

Das Bewegungsspiel zum Beginn zeigt sich in seiner Dauer deutlich kürzer und findet

weniger schweigend statt als in anderen Stunden. Er berichtet von Erlebnissen der Wo-

che, die ihm wichtig waren.

Er wirkt gelassen, fröhlich und offen. Er erzählt ungewohnt persönlich und emotional

bezogen.

Er will erneut Versteckis spielen und gibt dabei deutlich präzisere Suchhilfe am Klavier

als in der vergangenen Stunde.

Im kindlichen Versteckis-Spiel drückt sich sein Vertrauen in die therapeutische Bezie-

hung aus. Die Stille-Sequenzen verlängern sich zwar nicht so deutlich wie in der voran-

gegangenen Stunde, enthalten jedoch dieselben Gefühlsqualitäten.

Danach geht er auf den Vorschlag Gefühle-Ratespiel ein: Er kann Gefühle Wut, Trauer,

Angst, Nervosität benennen und gibt an, es sei ihm wichtig, eigene Gefühle zeigen zu

können.

Er scheint seine Thematik der Wahrnehmung seiner Befindlichkeit und den Zugang zu

den Gefühlen erkannt zu haben.

Page 86: Starke Stille - Stille Kraft

86

Fazit

Es scheint eine Wiederholung des in der vergangenen Stunde Erlebten zwecks Stabili-

sierung stattzufinden. Erneut taucht er in frühe, präverbale Entwicklungsphasen ein, was

auf dem Nährboden der Stille in Beziehung zur Therapeutin eine Bearbeitung seiner

Thematik „Emotionen wahrnehmen lernen“ ermöglicht.

Rück- und Ausblick

Es hat eine förderliche Entwicklung stattgefunden. Seine Unruhe lässt sich im seeli-

schen und körperlichen Bereich ansiedeln. David zeigt deutlich mehr Eigeninitiative als

zu Beginn der Therapie. Seine emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten sind vielfältiger

geworden, er bringt sich und seine Themen emotional beteiligt ein. Weiter hat er ein

Empfinden dafür entwickelt, dass er in seinen zwischenmenschlichen Kontakten teil-

weise eingeschränkt ist und äussert das Bedürfnis, sich darin üben zu wollen, seinen

eigenen Gefühlen Ausdruck geben zu können. Bis zum Abschluss der Therapie konnte

er dieses Ziel erreichen und teilweise einen Transfer in den Alltag schaffen. Aus Zeit-

gründen konnte eine Regression jedoch nur angetönt werden. Für die vertiefte Bearbei-

tung seiner Themen scheint eine weiterführende Begleitung im Bereich der Bewegungs-

Musik- und/ oder Psychotherapie sinnvoll.

8.7 Therapeutische Wirksamkeit von Stille

Die Untersuchung ergab, dass beide Buben Stille individuell für sich nutzen können. Sie

zeigt bei beiden eine Wirksamkeit, lässt sich jedoch nicht eindeutig mit einer Verände-

rung der Aufmerksamkeitsspanne in Verbindung bringen.

8.7.1 Simon und David im Vergleich

Bezüglich Veränderungen der Aufmerksamkeitsspanne und der Konzentration bei einer

Handlung lässt sich Stille, im Therapieverlauf von Simon, nicht eindeutig als wirksame

Methode erkennen. Die Methoden körperzentrierte Spiele, Rollenspiel und Improvisati-

on stellen sich als gleichbedeutend, teilweise als relevanter heraus. Da Simon über eine

gute Wahrnehmung seiner Bedürfnisse verfügt, zeigen sich diese drei Methoden im

Sinne einer Balance zwischen Aktivität und Ruhe einerseits als Gegenpole, andererseits

als Verbündete der Stille. Und sie werden zu wichtigen Wegbereitern, welche der Stille

Page 87: Starke Stille - Stille Kraft

87

eine Plattform bieten, auf der sich ihre Wirksamkeit entfalten kann: In der Hinführung

zu vertiefter Bearbeitung seiner Thematik zeigt sich die Stille dann als ausschlagge-

bend. Es lässt sich sagen, dass Stille das für den Wandel Notwendige bei Simon bereit-

stellt. Hier muss erwähnt werden, dass die Verbindung von Berührung und Stille auf ihn

eine ganz besondere Wirkung hat. Mit Berührung ist nicht nur die körperliche Nähe der

Therapeutin gemeint, sondern jegliche Art von in Beziehung sein: Interaktion, Animati-

on, emotionale Unterstützung, Mitgehen. Dies alles sind Eindrücke, welche sich als

psychischer, physischer, kognitiver und sozialer Stimulus auf Simon`s vorwiegend see-

lische Unruhe auswirken und ihn sowohl an die zu bearbeitenden Themen wie auch an

seine Kreativitätsressource heranführen. Wider Erwarten sind es nicht die längsten Stil-

le-Momente, sondern vielmehr die kurzen Momente des Innehaltens, welche dies bei

ihm bewirken. Er nutzt die Stille vorwiegend als schöpferische Pause, als Übergangs-

medium, als Brücke hin zu etwas Neuem. Sie bildet jeweils den Entstehungsmoment

von Impulsen, welche zu Rollenspielen führen, die danach mit vollem Einsatz und ohne

viel Stille stattfinden. Den Rollenspielen wohnt gar eine Unruhe bei, deren Qualität sich

jedoch klar von jener seines ansonsten unruhigen Verhaltens unterscheidet: Diese Un-

ruhe ist fokussiert und entwicklungsförderlich.

Zudem spielt das Selbstbestimmungsrecht, dessen Einschränkung durch die heutige

Nicht-Stille aufgrund von Dauerberieselung in Kapitel 3.1 beschrieben ist, im Prozess

von Simon eine erhebliche Rolle. Auch wenn auf den Aufnahmen nicht offensichtlich

als Stille hörbar, empfindet er im Therapieraum scheinbar jene Form von Stille, welche

ihm Selbstbestimmung ermöglicht. Nebst dem vorhandenen Raum für Stille trägt bei

ihm wohl auch die Strukturgebung durch Rituale wie Begrüssungs-, Abschiedslieder,

klare Regeln dazu bei, dass er sich gehalten und dennoch nicht fremdbestimmt fühlt.

Auch bei David zeigt sich Stille nicht als eindeutig wirksam in Bezug auf Aufmerksam-

keitsspanne und Konzentration, da er diese während den körperzentrierten Spielen zu

Beginn der Stunde bereits teilweise zeigt. Bevor er sich jeweils auf Improvisationen

einlassen kann, muss sein Bewegungsbedürfnis gestillt werden. Allerdings finden diese

Bewegungsspiele mehrheitlich schweigend statt. Daraus lässt sich der Schluss ziehen,

dass die Kombination der Methoden körperzentrierte Spiele und Stille (sprachlicher

Page 88: Starke Stille - Stille Kraft

88

Aspekt Schweigen) bei ihm Wirksamkeit zeigt. Durch das gemeinsame Tun im Schwei-

gen, entsteht eine äussere Stille im Therapieraum, welche sich als psychischer, physi-

scher und sozialer Stimulus auf seine seelische und motorische Unruhe auswirkt. Die

Dauer der Bewegungsspiele verkürzt sich gegen Ende des Therapieverlaufs, was bedeu-

tet, dass er besser zur Ruhe findet. Dies ermöglicht eine vertiefte Bearbeitung seiner

Thematik, welche vor allem in den zwei letzten Therapiestunden beim „Versteckis“-

Spiel (siehe Kapitel 8.6.2) klar mit Stille in Zusammenhang gebracht werden kann. Er

scheint die Stille geniessen und sich ihr anvertrauen zu können. Während bei Simon die

kurzen stillen Momente des Innehaltens „initialzündend“ für Wandel sind und danach

das Notwendige passiert, findet bei David das zum Wandel Notwendige in den längeren

Stille-Momenten, also innerhalb der Stille selber statt. Er nutzt sie als Nährboden der

Nachnährung und kommt auf diese Weise an seine Thematik „Verbesserung des Wahr-

nehmens seiner Emotionen“ heran.

8.7.2 Anzahl von Stille-Momenten im Vergleich

Wie folgendes Diagramm sichtbar macht, unterscheiden sich die beiden Buben betref-

fend Anzahl von Stille-Momenten deutlich. Bei Simon (Kind 1) kommt es zu weniger

Stille-Momenten als bei David (Kind 2).

Diagramm 1: Anzahl Stille-Momente innerhalb Therapiestunden

Bei Simon liegt die maximale Anzahl Stille-Momente bei 13 und die minimale bei 4.

Mögliche Faktoren, die zu den Unterschieden in der Anzahl beitragen könnten, sind

0 5

10 15 20 25 30 35 40 45 50

1 2 3 4 5 6

Anz

ahl S

tille

-Mom

ente

Therapiestunde

Kind1

Kind2

Page 89: Starke Stille - Stille Kraft

89

sein jüngeres Alter, welches wahrscheinlich ein `sich noch weniger zurücknehmen kön-

nen` mit sich bringt. Weiter scheint sich die Nicht-Medikation auf seine Lebendigkeit

auszuwirken und weniger ruhige Momente zuzulassen. Bei ihm steht szenisches Gestal-

ten im Vordergrund. Zudem zeigt er eine emotionalere Wachheit und grössere Sprech-

freudigkeit als David.

Bei David liegt die maximale Anzahl Stille-Momente bei 44 und die minimale bei 15.

Er wird schon bald ein Teenager sein, ist also älter als Simon, dementsprechend viel-

leicht gehemmter im Ausdruck. Bei ihm steht das körperzentrierte Spiel im Vorder-

grund. Verbal ist er zurückhaltender, was zu vielen Stille-Momenten führt, welche aus

schweigender Handlung bestehen. Zudem könnte die Ritalin-Medikation eine Rolle

spielen, welche seine Impulskontrolle regulierend unterstützt.

8.7.3 Dauer von Stille-Momenten im Therapieverlauf

Wie sich die Dauer von Stille-Momenten im gesamten Therapieverlauf von Simon ver-

ändert, zeigt folgendes Diagramm:

Diagramm 2: Dauer von Stille-Momenten im Therapieverlauf von Simon

Die Dauer nimmt nicht zu, sondern verhält sich wellenartig. Dies lässt sich anhand der

kurzen, immer wieder vorkommenden Ruhephasen dazwischen erklären. Es zeigt, dass

er über eine gute Balance zwischen Aktivität und Ruhe verfügt, die es ihm ermöglicht

die Energie stets aufrechtzuhalten. Tendenziell ist eine Abnahme von längeren Stille-

0

10

20

30

40

50

60

70

1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 39 41 43 45 47 49

Dau

er v

on S

tille

-Mom

ente

n

(in S

ekun

den)

Stillemomente im Therapieverlauf von Simon

Page 90: Starke Stille - Stille Kraft

90

Momenten zu erkennen. Aufgrund der Erfahrung, dass die kürzeren Stille-Momente ihn

an das Notwendige heranzuführen vermögen, lässt sich dies als positiver Ausblick wer-

ten. Allerdings widerlegt es die Annahme, dass sich die Dauer der Stille im Therapie-

verlauf verlängern könnte.

Diagramm 3: Dauer von Stille-Momenten im Therapieverlauf von David

Bei David zeigt sich ein anderes Bild: Bei ihm ist eine Tendenz einer Verlängerung der

Dauer von Stille-Momenten zu verzeichnen. Diese scheinen sich sowohl zeitlich als

auch qualitativ zu verändern. Anfang der Therapie sind die Stille-Momente geprägt von

schweigender Konzentration auf Bewegung und verbaler Zurückhaltung. Oft scheint er

dadurch auch Abwehr und Abgrenzung zu signalisieren. Gegen Ende der Therapie zei-

gen sich die Stille-Momente als Ausdruck einer vertrauensvollen Beziehung zur Thera-

peutin, auf deren Basis er sich auf die Bearbeitung seiner Thematik einlässt und Nach-

nährung stattfinden kann.

9 Folgerungen für die musiktherapeutische Arbeit mit

unruhigen Kindern in der heutigen Gesellschaft

Aus der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Stille im Rahmen dieser Arbeit, lassen

sich für die Musiktherapie mit unruhigen Kindern verschiedene Schlüsse ziehen. Da die

Eliminierung von Stilleräumen in der westlichen Gesellschaft (siehe Kapitel 3.1) hier

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

1 6 11

16

21

26

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51

56

61

66

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76

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86

91

96

101

106

111

116

121

126

131

Dau

er v

on S

tille

-Mom

ente

n

(in S

ekun

den)

Stillemomente im Therapieverlauf von David

Page 91: Starke Stille - Stille Kraft

91

ganz allgemein gesprochen als Ursache für Unruhe verstanden wird, werden die Folge-

rungen für die musiktherapeutische Arbeit bewusst als Räume beschrieben; Räume,

welche die Therapeutin durch achtsames „Sich-bewusst-Sein“ schaffen kann.

In der Arbeit mit den beiden Buben hat sich folgendes gezeigt: Je mehr sich die Thera-

peutin der eigenen Balance zwischen Aktivität und Ruhe gewahr ist, desto intuitiver

wird sie den folgenden Räumen in der Arbeit mit unruhigen Kindern Raum geben kön-

nen.

Zudem werden geeignete Ideen für musiktherapeutische Spiele mit Stille erwähnt.

Raum für Bewegung

Dem Bewegungsbedürfnis, welches unruhige Kinder oft als Strategie gegen Unruhe

aufgrund von Reizüberflutung zeigen (siehe Kapitel 3.5, 4.4 und 7.), muss in jedem Fall

Rechnung getragen werden. Es gilt, das Kind seinem Tempo angepasst, die mitgebrach-

ten Eindrücke und Unruhe durch Bewegung `loswerden` zu lassen. Es hat sich bewährt,

die Bewegungen des Kindes dabei musikalisch, stimmlich oder schweigend zu beglei-

ten, um ihm Resonanz und haltende Sicherheit zu geben.

Körperzentrierte Spielformen mit Stille

Klangdusche: Nach Bewegungsspiel wird das Kind mit Klängen, Tönen, Rhythmen

seiner Wahl geduscht, gebadet. Es kann dabei bereits liegen oder aber sich erst während

der Dusche auf den Boden fallen lassen, um dann liegen zu bleiben

Puls-Spiele: Nach konzentrierter Bewegung still die Pulsschläge zählen und beobach-

ten, was mit dem Atem geschieht

Raum für Struktur

Noch mehr als andere sind unruhige Kinder auf klare äussere Strukturen angewiesen.

Wird im therapeutischen Setting für gleichbleibende Regeln, Rituale und Ordnung im

Raum gesorgt, können Therapiekinder im Idealfall jene feste Struktur erleben, welche

ihnen im schulischen und familiären Umfeld nicht oder zu wenig zur Verfügung steht

infolgedessen ihnen kaum Zeit für stille Ruhephasen gewährt wird (siehe Kapitel 5.2

und 5.3). Durch gleichbleibende, klare Struktur bietet sich dem Kind die Möglichkeit,

Selbstkontrolle zu entwickeln. Hier sei auch die Verlässlichkeit der Therapeutin er-

Page 92: Starke Stille - Stille Kraft

92

wähnt, welche ihrerseits dazu beiträgt, dass sich das Kind gehalten und strukturiert

fühlt.

Raum für „ gesunde“ Balance

Dem Kind kann die Chance geboten werden, auf spielerische Weise, beispielsweise

anhand von Polaritätsspielen (laut-leise, schnell-langsam) mit Stille vertraut zu werden.

Dies ermöglicht eine Annäherung ans Erleben einer Balance im körperlichen, geistig-

kognitiven und seelischen Bereich, woraus schliesslich ein Weg hin zu innerer Stille

erwachsen kann. Um spielerisches Erleben des rhythmischen Faktors (siehe Kapitel 3.1,

3.5 und 7.) zu ermöglichen, eignen sich Spiele, welche Abmachungen zur Form enthal-

ten.

Abmachungen zur Form

Stille-Musik-Stille oder Musik-Stille-Musik

So leise wie möglich spielen

Mit Stille beginnen, Einzeltöne einweben, Töne allmählich verdichten, Lautstärke und

Tempo steigern, furioser Schluss

Leise/ langsam aus der Stille beginnen, danach Lautstärke/ Tempo steigern bis Höhe-

punkt erreicht ist, um wieder langsamer/ leiser zu werden und Musik in der Stille aus-

klingen zu lassen

Raum für Beziehung

Wie der neurobiologische Exkurs (siehe Kapitel 4.5.2) deutlich macht, ist das Mitgehen

und Begleiten auf der Basis einer sicheren therapeutischen Beziehung von höchster Pri-

orität. Sieht sich das Kind in der Beziehung zur Therapeutin mit seinem individuellen

Temperament und seinen persönlichen Eigenschaften gespiegelt, kann sich ein stabiles

Selbstgefühl entwickeln. Dadurch entsteht beim Kind die Offenheit, neue Erfahrungen,

wie beispielsweise Stille, im Sinne von Destabilisierung des Vorhandenen (Strategie der

Unruhe) zulassen zu können. Die Vorbildfunktion der Therapeutin ist eine entscheiden-

de Komponente beim Begehen solcher neuer Wege. Verspürt das Kind jedoch einen

Zwang zu Stille, wird sich mit grösster Wahrscheinlichkeit keine Stille ereignen kön-

Page 93: Starke Stille - Stille Kraft

93

nen. Dies verlangt von der Therapeutin wahrzunehmen, was beim Kind und bei ihr sel-

ber passiert und offen dafür zu sein, was entstehen will. Um aktiv etwas dazu beizutra-

gen, erweisen sich die Merkmale von äusserer Stille, „nicht eingreifen“, „nicht reagie-

ren“ und „innehalten“, welche die Symmetrie der Stille (siehe Kapitel 7.) ersichtlich

macht, als hilfreich.

Beziehungsorientierte Spielregeln

Einzeltonspiel: Wechselweise einen Ton in die Stille spielen, bzw. nachlauschen (später

evtl. mehrere Töne oder Melodiemotiv)

Wachsfigurenspiel: Sich bewegen solange Musik ertönt, bei Musik-Stopp in Bewegung

innehalten, setzt Musik wieder ein, weiter bewegen

Führen-Folgen: Einer spielt Musik-Pause-Musik. Der andere spiegelt das Spiel in der

Dynamik und versucht die Pausen genau zu treffen

Dirigentenspiel: Mit vereinbarten Zeichen laut, mittel, leise und Stille dirigieren

Stille aushalten: Wer kann am längsten mit Spielen warten?

Überraschungen in der Stille: Sich in die Stille hinein mit Klängen, Tönen überraschen

Anreiz für Stille: Wer hält Stille am längsten aus?

Raum für Selbstbestimmung

Da die gewohnte Dauerberieselung der Umwelt (siehe Kapitel 3.1) im Therapieraum

nicht vorhanden ist, können Kinder im Therapieraum äussere Stille erleben, welche das

Empfinden von Selbstbestimmung bewirken kann. Ist sich die Therapeutin dessen be-

wusst, wird sie vielleicht innehalten bevor sie vorschnell interveniert und das Kind

nachspüren lassen, welche Entscheidung dran ist. Wie die Untersuchung zeigt, kann aus

solcher langen „Weile“ eine Stille entstehen, welche die für den Wandel notwendigen

Themen bereitstellt und kreative Impulse zur effektiven Bearbeitung auslöst. Da diese

dem Inneren des Kindes entspringen (siehe Kapitel 8.7.1) und nicht von der Therapeutin

„übergestülpt“ werden, besteht die Chance für nachhaltige Wirkung.

Page 94: Starke Stille - Stille Kraft

94

Um Stille intermodal und neurobiologisch förderlich (siehe Kapitel 4.5.2) erlebbar zu

machen, kann mit dem Kind ein Bild ausgewählt oder erfunden werden, welches in ei-

ner themenzentrierten Improvisation umgesetzt wird.

Themenzentrierte Improvisation

Morgenerwachen: Das Leben beginnt mit Tönen und Geräuschen langsam aus der Stille

der Nacht zu erwachen

Wasserlauf: Aus der Stille beginnt mit wenigen Tönen das Plätschern der Quelle, wird

zu einem Bach, mündet in einen Fluss und bahnt sich den Weg ins Meer

Sternenhimmel: Stille als das dunkle Blau des Nachthimmels, Sterne als einzelne Töne/

Klänge, die erklingen und wieder vergehen

Klangspuren: Stille als weisses Blatt, auf welches mit Tönen farbige Spuren gemalt

werden

10 Schlussbetrachtung, Diskussion

Im Folgenden werden die Erkenntnisse beschrieben, welche aus der Untersuchung und

den gemachten Erfahrungen im Rahmen dieser Arbeit resultieren, Bezug zu den Frage-

stellungen und Hypothesen genommen und abschliessende Gedanken formuliert.

10.1 Zusammenfassung der Erkenntnisse

Aus der phänomenologischen Untersuchung mit den zwei Therapiebuben haben sich

sechs Erkenntnisse ergeben, welche sich folgendermassen zusammenfassen lassen:

Therapeutin und Stille

Es hat sich gezeigt, dass die Therapeutin in ihrer Resonanzbereitschaft - ohne es sich im

Moment immer bewusst zu sein - für das Kind die Unruhe der Gesellschaft repräsentie-

ren kann. Jenen Momenten, in denen sie selber die Stille innerhalb der Therapiestunde

nicht aushält, keine Stille zulassen oder entstehen lassen kann, gehört in der Nachberei-

tung besonderes Augenmerk. Es wurde sehr deutlich, dass der eigene Umgang mit Stille

vonseiten der Therapeutin, ihre Achtsamkeit auf Stille wie auch auf Unruhe und wie sie

die Balance zwischen Aktivität und Stille selber (er-)lebt, für die Arbeit mit unruhigen

Page 95: Starke Stille - Stille Kraft

95

Kindern von höchster Relevanz sind. Noch still bleiben, wo vorschnell kommentiert,

gehandelt oder interveniert werden will, um nachzuspüren, was ist, ist eine Haltung,

welche sich für musiktherapeutische Prozesse als hilfreich erweist.

Vertrauen

Die Hinführung zu Stille setzt eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung voraus,

auf deren Basis das Kind darin unterstützt werden kann, den Reiz der Ruhe und der Stil-

le zu erkennen.

Setting und Selbstbestimmung

Die Therapeutin trägt die Verantwortung, das Setting so zu gestalten, dass Raum für

Stille vorhanden ist, das Kind darin nicht verloren geht und sich aus dem Gefühl der

Fremdbestimmtheit lösen kann. Es hat sich gezeigt, dass der Therapie-Raum, in wel-

chem Stille Raum gegeben wird, unruhigen Kindern das Empfinden, Erüben und Aus-

leben von Selbstbestimmung, welche heute oft durch die Dominanz der lärmigen Um-

welt eingeschränkt wird, ermöglicht.

Relevante Methode

Stille lässt sich nicht offenkundig mit einer Veränderung der Aufmerksamkeitsspanne

und der Konzentration bei einer Handlung in Verbindung bringen. Anhand der Untersu-

chung lässt sich Stille diesbezüglich nicht eindeutig als wirksame Methode erkennen.

Stille zeigt sich jedoch als wichtiger Teil in der Ganzheit der musiktherapeutischen Me-

thoden und erweist sich in der Hinführung an zu bearbeitende Themen als relevant.

Wandel

Stille führt die beiden Therapie-Kinder an die zu bearbeitenden Themen heran und be-

reitet das für den Wandel Notwendige. Die Dauer der Stille spielt dabei keine Rolle,

sondern vielmehr das Vertrauen in die therapeutische Beziehung, das individuelle Erle-

ben und die Bereitschaft des Kindes und der Therapeutin.

Page 96: Starke Stille - Stille Kraft

96

Einschränkende Unruhe vs. entwicklungsförderliche Unruhe

Die Arbeit mit den beiden Kindern hat deutlich gemacht, dass zwischen zwei Qualitäten

von Unruhe unterschieden werden muss. In der Unruhe der Umwelt von aussen, welche

auf die Kinder als Eindruck wirkt und sie mit unruhigem Verhalten darauf reagieren

lässt, zeigt sich eine einschränkende Qualität von Fremdbestimmtheit. Dieser kann bei-

spielsweise durch gezielte Bewegungsspiele Ausdruck gegeben werden, um motorisch

zur Ruhe zu kommen. Die Unruhe, welche sich als Folge von Stille im Inneren des

Kindes konstellieren kann, ist auf das für den Wandel Notwendige gerichtet und zeigt

eine entwicklungsförderliche Qualität.

10.2 Bezugnahme zu Fragen und Hypothesen

Die Untersuchung zeigte, dass sich die Fragen anhand der Hypothese beantworten las-

sen. Zum besseren Verständnis werden die Fragestellungen als Titel aufgeführt und in

Bezug zu den Hypothesen beschrieben.

Frage: Was bewirkt Stille im musiktherapeutischen Setting bei unruhigen Kindern?

Stille bewirkt Wandel. Dies wurde bei beiden Therapiekindern deutlich. Bei Simon wa-

ren es die kurzen stillen Momente des Innehaltens, in denen sich Wandel ankündigte,

ein Zugang zu den kreativen Ressourcen geschaffen wurde und danach das Notwendige

passierte. Bei David fand das zum Wandel Notwendige in den längeren Stille-

Momenten, also innerhalb der Stille selber statt. Es lässt sich daher sagen, dass Stille die

Bearbeitung ihrer persönlichen Thematik unterstützte und Emotionen auslöste, welche

für die Therapieprozesse relevant waren. Die Hypothese „Stille bewirkt für das Kind

Wandel im entwicklungsförderlichen Sinn.“ hat sich bestätigt.

Um den Vergleich der Metamorphose (siehe Kapitel 1) in der Einleitung erneut aufzu-

nehmen, fanden bei beiden Kindern wohl Häutungen hin zur Verpuppung statt: Viel-

leicht verspürt die Raupe aufgrund der Erfahrung, die alte, zur Last gewordene Haut ab

dem Moment, in welchem die innere Bereitschaft dazu vorhanden ist, ablegen zu kön-

nen, eine stetig wachsende, innere Ruhe bezüglich ihrer (Selbst-)Bestimmung und ihres

Lebensweges. Solche wachsende Ruhe war in den „Versteckis“-Spiel-Sequenzen bei

David wahrzunehmen. Er konnte sich der Stille eindrücklich anvertrauen und wirkte

innerlich zunehmend ruhiger.

Page 97: Starke Stille - Stille Kraft

97

Da die Raupe sogleich wieder auf Nahrungssuche geht, ist sie nach einer Häutung aber

nicht zwingend ruhiger. Vielleicht wird die Unruhe gar grösser, weil sie es kaum erwar-

ten kann, dem Wunsch, sich in einen Schmetterling zu verwandeln, näher zu kommen.

Sie wird von einer inneren Unruhe motiviert, welche sie auf dem Weg hin zu ihrer Be-

stimmung leitet. Solche Unruhe hat im Vergleich zu unruhigem Verhalten, mit welchem

Kinder auf die Unruhe der Umwelt reagieren, eine ganz andere Qualität: Sie ist Aus-

druck eines inneren Empfindens und auf ein Ziel gerichtet. In den Rollenspielen von

Simon zeigte sich solche Unruhe als Folge von Stille mit entwicklungsförderlicher Qua-

lität. Dies bedeutet, dass Stille im musiktherapeutischen Setting unruhige Kinder zur

Ruhe bringen oder aber noch mehr Unruhe auslösen kann. Die Hypothese „Stille im

musiktherapeutischen Setting bringt unruhige Kinder zur Ruhe.“ müsste demnach fol-

gendermassen erweitert werden:

„Stille im musiktherapeutischen Setting bringt unruhige Kinder zur Ruhe und/oder zu

entwicklungsförderlicher Unruhe.“

Die Spiegelneurone (siehe Kapitel 4.5) entfalten gerade in der Arbeit mit unruhigen

Kindern ihre Wirkung. Die Hypothese, Stille bringe unruhige Kinder zur Ruhe, muss

aufgrund dessen auch in Zusammenhang mit dem Therapeuten und dessen eigenem

Umgang mit Stille betrachtet werden. Im selben Masse wie seine Unruhe vermag auch

seine Ruhe als Eindruck auf das Kind zu wirken und Resonanz auszulösen. Da sich je-

doch weder die Bereitschaft dazu, noch Stille selber willentlich erzeugen lassen, gibt es

auch trotz Achtsamkeit auf äussere Stille keine Garantie, dass sich Stille ereignen wird.

Genau wie Gras durch Ziehen daran nicht schneller wächst, so lässt sich auch das

Wachsen der Bereitschaft zu Stille nicht erzwingen.

Frage: Verändert sich die Aufmerksamkeitsspanne durch Stille-Sequenzen?

Obschon sich die Stille-Sequenzen teilweise auf die Aufmerksamkeit der beiden Buben

auswirkten, zeigte die Untersuchung, dass sich eine Veränderung der Aufmerksam-

keitsspanne nicht eindeutig mit der Wirksamkeit von Stille in Verbindung bringen lässt.

In Verbindung mit den musiktherapeutischen Methoden Körperzentriertes Spiel, Rol-

lenspiel, Sprache und Improvisation trugen die Stille-Sequenzen jedoch dazu bei, dass

die beiden Buben an einer Handlung bleiben konnten.

Page 98: Starke Stille - Stille Kraft

98

10.3 Weiterführende und abschliessende Gedanken

Nimm Dir Zeit, die Stille zu hören.

Anonym

Im Folgenden werden einige rück- und ausblickende Gedanken formuliert. Um diesen

eine Struktur zu geben, erscheinen sie jeweils unter einem oberbegrifflichen Titel.

Sterbeprozess und Still-Stand

Das anfängliche Beispiel der Metamorphose impliziert einen Fluss, in welchem Wandel

und Veränderung geschehen kann. Dem einleitenden Nachdenken über Stille in Verbin-

dung mit Sterben im Sinne von Form-Verwandlung und Still-Stand in Zusammenhang

mit gesellschaftlichen Verhältnissen hätte als Ausgangsüberlegung zu einem späteren

Zeitpunkt vertieft nachgegangen werden können. Es hätte beispielsweise ein Vergleich

zwischen dem Fluss, welchem sich von Stille erfasste Menschen hingeben, und der Er-

starrung, welche Stille bedeuten kann, stattfinden können.

Symmetrie der Stille

Chronologisch wurde das Kapitel 7 (Symmetrie der Stille) nach der Fertigstellung der

Therapieverläufe vertieft bearbeitet, um auch die praktisch gemachten Erfahrungen da-

rin einfliessen lassen zu können. Dies bewirkte manches Aha-Erlebnis und Hinterfragen

von gemachten Interventionen und Deutungen. Es wäre deshalb wünschenswert gewe-

sen, die Therapiestunden danach einer erneuten Analyse zu unterziehen, um sie in Zu-

sammenhang mit der Symmetrie der Stille zu bringen.

Die angedachten Überlegungen und Aspekte, welche in Kapitel 7 beschrieben sind,

könnten auf dem Hintergrund verschiedener wissenschaftlicher Zugänge vertieft be-

leuchtet werden, um dadurch zu erweiterbaren Erkenntnissen für musiktherapeutische

Prozesse zu gelangen. Beispielsweise könnten die Wirkrichtungen von aussen nach in-

nen, von innen nach aussen und wechselseitig mit den therapeutische Funktionen der

Musik und des Musikspiels verglichen und genauer beschrieben werden.

Obschon ein Versuch, daraus ein Manual zu erstellen, dem Gedanken dieser Arbeit wi-

derspricht, scheinen Tendenz-Aussagen bezüglich günstigen Interventionen hin zu Stille

bei körperlicher, geistig-kognitiver oder seelischer Unruhe im Bereich des Möglichen

Page 99: Starke Stille - Stille Kraft

99

zu liegen. Diesen nachzugehen, könnte zu besserem Verständnis von Therapieprozessen

beitragen und sich auf das therapeutische Handeln im Umgang mit unruhigen Kindern

auswirken.

Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit

Beide Buben haben im Therapieprozess das Bedürfnis gezeigt, in der Selbstbestimmung

und Selbstwirksamkeit unterstützt und gefördert zu werden. Im theoretischen Teil wur-

de das Thema lediglich in Zusammenhang mit der akustischen und visuellen Dauerbe-

rieselung in Kapitel 3.1.angetönt. Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit hätte in

einer vertieften Auseinandersetzung mit den motivationalen Systemen mehr Beachtung

geschenkt werden können. Dadurch hätten sich das Verständnis und die möglichen

Deutungen der Therapieprozesse erweitert. Insbesondere das Thema „Kampf“, welches

bei Simon wiederholt auftauchte, hätte dadurch erweitert gedeutet und verstanden wer-

den können.

Stille-Bezug

Da die therapeutische Wirksamkeit von Stille im Vergleich der beiden Therapieverläufe

(Kapitel 8.7.1) ausführlich beschrieben wurde, fiel die Bezugnahme zu Stille in den

Rückblicken auf die Therapieprozesse eher marginal aus. Dies hätte formal anders ge-

löst und noch vertiefter angegangen werden können.

Tendenzangaben

Zur genaueren Tendenzangabe bezüglich Dauer und Anzahl von Stille-Momenten im

Therapieverlauf, müssten mehrere Kinder miteinander verglichen werden können. Zu-

dem wäre es interessant, herauszufinden, ob sich bei vielen verschiedenen Kindern die-

selben Erkenntnisse bezüglich Wandel und entwicklungsförderlicher Unruhe zeigen

würden. Die Forschung liesse sich insbesondere durch Einbezug von Mädchen erwei-

tern, da sich die Frage stellt, ob sie wohl „anders“ reagieren als die beiden Therapie-

Buben, ob sie die Stille eher suchen oder vermeiden, wie sie die Stille gestalten oder

nutzen.

Page 100: Starke Stille - Stille Kraft

100

Veränderung der Aufmerksamkeitsspanne

Die Bezugnahme zur Frage „Verändert sich die Aufmerksamkeitsspanne durch Stille-

Sequenzen“ ist knapp ausgefallen. In Zusammenhang mit einzelnen Therapiestunden

und Prozessschritten der beiden Buben gebracht, hätten diesbezüglich genauere Aussa-

gen und ausführlichere Beschreibungen gemacht werden können.

Persönliche Erkenntnis

Die Auseinandersetzung mit Stille im Rahmen dieser Arbeit hat sich unmittelbar auf

den Arbeitsprozess ausgewirkt. Insbesondere das neu bewusst gewordene Wissen um

die Wichtigkeit des rhythmischen Faktors im Sinne einer „gesunden“ Balance zwischen

Ruhe und Aktivität, hat sich psychohygienisch als wertvoll herausgestellt. Dadurch hat

sich bei mir eine innere Erlaubnis zu mehr Mut zur Lücke, Mut zu Pausen entwickelt.

Zu Beginn des Arbeitsprozesses war die Versuchung gross, jede freie Minute zum

Schreiben zu nutzen und weit über meine Kräfte hinauszuarbeiten. Der darin enthaltene

Anspruch auf Aufmerksamkeit, Tempo und Leistung machte die Prägung und Verinner-

lichung der beschleunigten Gesellschaft deutlich erlebbar und die eigene innere Unruhe

spürbar. Dies löste grosses Verständnis für die Befindlichkeit von unruhigen Kindern in

der heutigen Gesellschaft aus und bewirkte ein Verbundenheitsgefühl, welches sich

unmittelbar auf den Umgang mit den Therapiekindern auswirkte und nachhaltig in die

musiktherapeutische Arbeit einfloss.

Abschliessend ist Folgendes zu sagen: In der Stille die Umwelt zu hören, nachzuden-

ken, kreative Impulse zu empfangen, zu sich zu kommen, das Leben und seinen Ur-

sprung intensiv zu spüren, sind Erfahrungen, welche diese Arbeit für mich persönlich

möglich gemacht hat.... Um es poetisch auszudrücken und einen Bogen zum Titel dieser

Arbeit zu schlagen, schliesse ich mit der persönlichen Quintessenz: Stille entfaltet im

Verborgenen leise ihre Kraft. Die Stärke der Stille erweist im Stillen ihre Kraft.

Page 101: Starke Stille - Stille Kraft

101

11 Anhänge

Hier findet sich von beiden Therapiekindern je ein ausgefülltes Protokoll- und Auswer-

tungsraster zur phänomenologischen Untersuchung „Die Wirksamkeit von Stille in der

musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern“ und Dokumente zur quantitativen

Messung der Anzahl und Dauer von Stille-Momenten der dazugehörigen Therapiestun-

de (handschriftlich).

Page 102: Starke Stille - Stille Kraft

102

Protokoll für phänomenologische Untersuchung „Die Wirksamkeit von Stille in der

musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern“

Name: Simon Alter: 8 5.Stunde

Verlauf

Prozess

Zeitangabe

Stille

Forschungsspalte

VORHER

WÄHREND

NACHHER

Selbstreflexion

(common factors)

Hantieren mit

Instrumenten

Exploriert, fragt

nach

2:39-2:49

= 10 Sek.

Instrumente animieren

Kind zum ausprobieren

Schöpferische Pause:

Betrachtet Instrumente,

überlegt, welches er

noch ausprobieren

könnte

Dabei stellt sich heraus,

dass er mit Flöte beim

Begrüssungslied mit-

spielen wird

Begrüssungslied

Gespräch Kind hat Idee

mitgebracht.

Möchte Parcours

aus Sitzelemen-

ten machen

Parcours aufstel-

len

Kind schubst alle

Sitzelemente

vom Schrank

5:25-5:37

= 12 Sek.

5:48-6:13

= 25 Sek.

Kind klettert auf

Schrank

Intraszenische Stille

während es Sitzele-

mente runterschubst

Intraszenische Stille

während Aufstellen

Geniesse die Ruhe

beim gemeinsamen

Tun

Parcours Start

Th. versucht Kind

mit verschiedenen

Kind klettert auf

Sitzelementen,

darf nach eigener

Regel Boden

dabei nicht be-

9:45-9:25

= 7 Sek.

Vor Spielstart werden

Regeln gemeinsam

geklärt

Intraszenische Stille:

Volle Konzentration

Page 103: Starke Stille - Stille Kraft

103

Klängen aus dem

Konzept zu brin-

gen: Djembé

Ocean drum

Rollenwechsel

Kind spielt Ocean

drum

rühren und hat 10

Leben.

Animiert

Überrascht

Imitiert Spiel der

Th.

beim Klettern

Spiel wandelt sich

in Kräfte- und

Stimmen-Kampf

Th. wird erschos-

sen

Quietscht, brüllt,

kreischt...

Kathartisch?

Wirkt belebt,

wird `frech`

scheint über-

rascht, dass Th.

nicht zurecht-

weist, sondern

mit „Non Sense“-

Sprache reagiert

Bleibt verdutzt

über Th. stehen,

da diese nicht

mehr aufsteht.

Kind ändert die

Regeln: Th. hat

mehrere Leben

27:23-27:30

= 7 Sek.

Dem ausgelassenen

Kampf folgt eine

betroffene Stille über

den `Tod` der Th.

Daraus entsteht eine

Modulation des Spiels,

vom Kind initiiert:

Kampf mit Sitzwürfeln

Müdigkeit!

Ausruhen nach

Kampf:

Klang-Dusche

Th. duscht Kind

Kind baut sich

Nest, spricht

dabei erneut in

„Non Sense“-

Sprache und

wählt Instrumen-

te: Indianerflöte

Kalimba

Kinder-Panflöte

scheint ihn zu

beruhigen

31:06-31:15

Th. initiiert eine Ruhe-

pause, da Kind körper-

lich müde und noch

immer emotional be-

troffen wirkt. Kind

wünscht mit Decke

zugedeckt zu werden in

seinem Nest und

lauscht der Klangdu-

sche

Körperliche Ruhe: Es

Muttergefühle

Verbundenheitsgefühl

Page 104: Starke Stille - Stille Kraft

104

Kind duscht Th.

Spielt auf

Wunsch der Th.

Kalimba

ausdauernd,

vorsichtig, kon-

zentriert

= 9 Sek.

lauscht den Klängen

der Dusche in der Stille

nach

Danach wünscht es, der

Th. ebenfalls eine

Klangdusche zu geben.

Bin emotional berührt

Fühle mich beschenkt

Aufräumen

Kind bestimmt,

wer, was weg-

räumt

42:29-42:40

= 11 Sek.

44:49-44:58

= 9 Sek.

Verbale Aufträge be-

treffend Aufräumen

Intraszenische Stille:

Kind räumt schweigend

auf.

Da es dabei neue

Spielidee entwickelt,

bzw. Neues hervorholt,

durchbricht die Th. die

Stille

Kind steht auf Schrank

und traut sich nicht

runterzuhüpfen

Intraszenische Stille:

Th. hilft ihm bei der

Bewegung

Danach räumen beide

fertig auf

Fühle mich gedrängt,

rechtzeitig fertig zu

sein,

Spüre Verletzbarkeit

des Kindes

Schluss-Lied

Fasst singend

zusammen, was

in der Std. pas-

siert ist

stimmlich

reifer und emoti-

onaler Ausdruck

Auf leisen Sohlen

gelingt es dem

Kind, Mami zu

erschrecken

Page 105: Starke Stille - Stille Kraft

105

Auswertungsraster für phänomenologische Untersuchung „Die Wirksamkeit von Stille

in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern“

Name: Simon Alter: 8 5.Stunde Kriterien, welche Veränderungen, ausgelöst durch Stille, beim

Kind ersichtlich machen können

Zeitangabe

Stille

Forschungsspalte

Aufmerksamkeitsspanne

Musik

Thema

2:39-2:49

= 10 Sek.

Instrumente ani-

mieren Kind zum

ausprobieren

Schöpferische

Pause: Betrachtet

Instrumente, über-

legt, welches er

noch ausprobieren

könnte

Dabei stellt sich

heraus, dass er mit

Flöte beim Be-

grüssungslied

mitspielen wird

Zeigt Interesse an feinmo-

torischen Abläufen, pro-

biert bis es geht

Klang und Melo-

die dominieren

Probiert Spieldo-

sen, Vogelinstru-

mente, Flöten aus;

ansonsten steuert

es immer sofort

aufs Schlagzeug

zu

Ausdauer

Drückt Bedürfnis

nach Selbständig-

keit, nach Entde-

ckung seiner

Individualität

ausserhalb El-

ternhauses aus?

5:25-5:37

= 12 Sek.

5:48-6:13

= 25 Sek.

Spielidee des

Kindes: Parcours

mit Sitzelementen

Kind klettert auf

Schrank

Intraszenische

Stille während es

Sitzelemente run-

terzschubst

Intraszenische

Stille während

Aufstellen

Klettert auf Sitzwürfeln

herum, zeigt koordinati-

ves Geschick

Zeigt konzentrierte Auf-

merksamkeit. Stille

scheint Kind zu unterstüt-

zen.

Zeigt Selbstver-

trauen: Traut sich

auszuprobieren,

ohne wie in vor-

heriger Stunde bei

Th. nachzufragen,

ob es sicher sei.

Vor Spielstart

werden Regeln

Lässt sich erstma-

lig auf gemeinsa-

Page 106: Starke Stille - Stille Kraft

106

9:45-9:25

= 7 Sek.

gemeinsam ge-

klärt

Intraszenische

Stille: Volle Kon-

zentration beim

klettern

Bleibt ca. 15 min auf-

merksam bei Spiel

me Absprache

ein, ansonsten

möchte er gerne

selber bestimmen

können

27:23-

27:30

= 7 Sek.

Dem ausgelasse-

nen Kampf folgt

eine

betroffene Stille

über den `Tod` der

Th.

Daraus entsteht

eine Modulation

des Spiels, vom

Kind initiiert:

Kampf mit Sitz-

würfeln

Ausdauerndes Parcours-

Spiel wandelt sich zu

Stimmen-Kampf

Lustvoller, fanta-

sievoller

Stimmeinsatz

(Non sense Spra-

che). Spielt mit

Dynamik der

Stimme

Zeigt Mitgefühl,

Reue, fühlt sich

verantwortlich,

zeigt soziale

Kompetenz und

bringt Lösungs-

vorschlag

31:06-

31:15

= 9 Sek.

Th. initiiert eine

Ruhepause, da

Kind körperlich

müde und noch

immer emotional

betroffen wirkt.

Kind wünscht mit

Decke zugedeckt

zu werden in sei-

nem Nest und

lauscht der

Klangdusche

Körperliche Ruhe:

Es lauscht den

Klängen der Du-

sche in der Stille

nach

Danach wünscht

Scheint die Klangdusche

in Ruhe zu geniessen;

Instrument Ka-

limba

Komponente

Klang, Rhythmus

und Dynamik

Zeigt Vertrauen in

Vorschlag der

Therapeutin

Äussert seine

Bedürfnisse

Sozial ausgerich-

tet, spielt für

Therapeutin

Page 107: Starke Stille - Stille Kraft

107

es, der Th. eben-

falls eine Klang-

dusche zu geben.

kann zur Ruhe kommen,

lässt sich in Stille führen

Spielt danach ausdauernd

auf Kalimba, dynamisch,

baut Pausen ein

Imitiert Spiel der

Therapeutin

Zeigt Interesse

sich in Balance

zwischen Aktivität

und Ruhe zu

üben?

42:29-

42:40

= 11 Sek.

44:49-

44:58

= 9 Sek.

Verbale Aufträge

betreffend Auf-

räumen

Intraszenische

Stille: Kind räumt

schweigend auf.

Da es dabei neue

Spielidee entwi-

ckelt, bzw. Neues

hervorholt, durch-

bricht die Th. die

Stille

Kind steht auf

Schrank und traut

sich nicht, runter-

zuhüpfen

Intraszenische

Stille: Th. hilft

ihm bei der Be-

wegung

Danach räumen

beide fertig auf

Hat während Ruhephase

neue Kraft geschöpft,

Impulse wurden angeregt

Ist bei sich

Thema `Übergän-

ge scheint sich zu

zeigen

Bekommen seine

Impulse kein

Gehör, scheint er

mit Verunsiche-

rung zu reagieren:

Muster?

Fazit:

Längere Konzentration

auf feinmotorische Abläu-

fe und Koordination

(ca.15min.)

Fokussierte Aufmerksam-

keit beim Aufstellen

Fazit:

Klang dominiert

Probiert verschie-

dene ihm unbe-

kannte Instrumen-

te aus

Stimm-Einsatz,

Fazit:

Zeigt Mut und

mehr Selbstver-

trauen

Lässt sich auf

gemeinsame Ab-

sprache ein

Page 108: Starke Stille - Stille Kraft

108

Kann Ruhe als schöpferi-

sche Pause annehmen,

lässt sich in Stille führen

Non sense Spra-

che

Kalimba; verbin-

det Rhythmus,

Klang und Dyna-

mik

Zeigt soziale

Kompetenz

und äussert eigene

Bedürfnisse

Themen Über-

gänge und Verun-

sicherung

Page 109: Starke Stille - Stille Kraft

109

5.Stunde von Simon: 8 Stille-Sequenzen

Vorher = Zeit der Aktivität vor der Stille-Sequenz

Nachher = Zeit der Aktivität nach der Stille-Sequenz

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Page 110: Starke Stille - Stille Kraft

110

Protokoll für phänomenologische Untersuchung „Die Wirksamkeit von Stille in der

musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern“

Name: David Alter: 11 3.Stunde Verlauf

Prozess Zeitanga-

be

Stille

Forschungsspalte

VORHER

WÄHREND

NACHHER

Selbstreflexion

(common fac-

tors)

Begrüssungs-

lied:„Vielleicht

tönt Musik

auch mal gruu-

sig...“

Lacht

0:46-1:02

= 16 Sek.

Einstimmen mit

Begrüssungslied

Postmusikalische

Stille: Nachklingen

lassen des Liedes in

der Stille

Th. leitet Gespräch

ein

Seine Augen

lösen mütterli-

che Gefühle aus

Gespräch über

Wohnort des

Kindes

Frage: Was

möchtest Du

heute tun?

Hantieren mit

Instrumenten

Zeigt Interesse, Mimik wirkt

beteiligter, erzählt von Mit-

tagstischGefühlsäusserung

Keine Idee

Betrachtet Instrumente, pro-

biert einzelne aus, entscheidet

sich für keines möchte nicht

bestimmen; hat er keine Lust,

weiss er nicht, was er möchte,

meint er, er könnte `falsch`

entscheiden?

3:42-4:06

= 24 Sek.

4:30-4:40

= 10 Sek.

Instrumente-Kasten

öffnen

Gemeinsames

Schweigen beim

Betrachten und Be-

rühren der Instru-

mente

Kind probiert Tem-

pelblock aus

Legt Tempelblock

zurück

Gemeinsames

Schweigen beim

Betrachten der In-

strumente

Kind probiert Cynel-

len aus

Verbunden-

heitsgefühl

Gelassen und

gespannt, ob

ein Vorschlag

kommt

Friedvoll

Unruhige

Spannung

Page 111: Starke Stille - Stille Kraft

111

Spielvorschlag

Th: Surdo-Ball

Einander mit

Zwischenstopp

auf Surdo zu-

werfen

Vorschlag Th:

zweite Surdo

Th. nimmt

Trommel-Töne

auf; summend,

pfeifend

Nimmt Vorschlag auf

Wählt kleinste Surdo und

grössten Ball aus.

Gibt eigenen Impuls

Zeigt seine Fähigkeiten, wird

gesprächig, erzählt von frühe-

ren Fussballtrainings 3mal pro

Woche

Ist sofort einverstanden

Bringt neue Formen ein, ord-

net Trommeln neu an

Spielt ausdauernd, erfinde-

risch

Keine Reaktion

Kind schlägt vor, dritte

Trommel dazuzunehmen

Hochkonzentriert

Kind weist darauf hin, wo der

Ball hingezielt werden muss,

dass er über alle 3 Surdos

6:00-6:07

= 7 Sek.

9:39-9:50

= 11 Sek.

10:10-

10:17

= 7 Sek.

10:32-

10:40

= 8 Sek.

Absprache, welches

Spiel gespielt wird

Schweigend beim

Gemeinsamen Auf-

stellen der Surdos

Kind entdeckt dabei

Stimmschlüssel und

zeigt diesen der Th.

Ball trifft Gitarre

Schweigend holt

Kind den Ball

Wieder Aufnahme

des Spiels

Th. lobt Technik des

Kindes

Kind schweigt,

scheint sich zu freu-

en

Wieder Aufnahme

des Spiels

Ball rollt davon

Schweigend holt

Kind den Ball

Wieder Aufnahme

des Spiels

Gute Stimmung

Gelassenheit

Berührt

Spass am ge-

meinsamen

Spiel und expe-

rimentieren mit

Tönen

Flow

Überrascht über

Initiative des

Kindes

Im Moment, da

Page 112: Starke Stille - Stille Kraft

112

Th. pfeift Töne

der Trommel

mit

Spielende:

Noch 5mal,

dann Schlägel

dazunehmen

(Vorschlag Th.)

hüpft Beobachtungsfähig-

keit

Kind trommelt mit Händen

dazu

17:38-

17:45

= 19 Sek.

Ideen des Kindes

werden ins Spiel

integriert

Stille Konzentration

auf Bewegung

Kind spielt ausdau-

ernd (ca.8 min. lang)

Hantieren mit

Instrumenten in

Kasten

Vorschlag

Flötenmusik

Experimentiert

an Klangröhre

Kasten offen D. ist abgelenkt;

interessiert an Flöten

Geht nicht darauf ein

Unruhiges Ausprobieren ver-

schiedener Instrumente

Kind findet Schlägel für gros-

se Klangröhren, experimen-

tiert

Assoziiert: Kirchenglocken

26:08-

26:15

= 7 Sek.

32:01-

32:08

= 7 Sek.

33:30-

33:37

= 7 Sek.

Nach Wegräumen

der Trommeln

`Unruhiges`

Schweigen beim

Hantieren mit In-

strumenten

Probiert verschiede-

ne Flöten aus

Kind experimentiert

an Klangröhren

Intramusikalische

Stille: Klang in Stille

nachlauschen

Experimentiert wei-

ter mit Klang

Intramusikalische

Stille: Klang in Stille

nachlauschen

Experimentiert wei-

ter mit Klang

Ärger über

mich selber:

wieso bleibe ich

nicht bei

Trommeln?

Erleichtert, dass

Kind zur Ruhe

kommt

Berührt

Page 113: Starke Stille - Stille Kraft

113

Improvisation:

Kind: Klang-

röhren

Th: Schlitz-

trommel

Vertieft, bei sich, hört Klang

nach, fühlt mit Händen die

Schwingung, stoppt, beginnt

wieder, experimentiert und

exploriert

37:07-

37:17

= 10 Sek.

39:02-

39:09

= 7 Sek.

39:30-

39:37

= 7 Sek.

Vertieftes Spiel mit

Klang

Innehalten um Klang

nachzuhören

Wieder Aufnehmen

des Spiels

Innehalten um Klang

nachzuhören

Wieder Aufnehmen

des Spiels

Übergangsstille II:

Innehalten um Klang

nachzuhören

Übergehen zu Ge-

spräch

Verunsichert,

ob Pausen mu-

sikalischen

Boden von mir

brauchen oder

Stille bedürfen

Zeit für kurzes

Schlussspiel:

Fussball

Wünscht Fussball, lacht, taut

auf, will Goalie sein

Hilft beim Aufstellen

39:30-

39:37

= 7 Sek.

Nach Absprache,

was Spiel sein soll

Schweigend beim

gemeinsamen Auf-

stellen des Goals

Spiel beginnt

Unzufrieden

über Entscheid,

Kind Spiel

gewählt lassen

zu haben, an-

statt Gespräch

zu führen

Adieu sagen

Abruptes Ende,

Std. wäre schön

abgerundet

gewesen nach

der Impro, hätte

Raum gelassen

fürs Gespräch

Page 114: Starke Stille - Stille Kraft

114

Auswertungsraster für phänomenologische Untersuchung „Die Wirksamkeit von Stille

in der musiktherapeutischen Arbeit mit unruhigen Kindern“

Name: David Alter: 11 3.Stunde Kriterien, welche Veränderungen, ausgelöst durch Stille, beim Kind

ersichtlich machen können

Zeitan-

gabe

Stille

Forschungs-

spalte

Aufmerksamkeits-

spanne

Musik

Thema

0:46-1:02

= 16 Sek.

Einstimmen mit

Begrüssungs-

lied, lacht

Postmusikali-

sche Stille:

Nachklingen

lassen des Lie-

des in der Stille

Th. leitet Ge-

spräch ein

Hört sich das Lied

schweigend an, lacht

bei Musik kann auch

mal `gruusig` tönen

Zeigt Veränderung in Mi-

mik, lacht.

Klingt im Nachwirken in

der Stille etwas in seiner

Seele an?

Vertrauensbasis der thera-

peutischen Beziehung

wächst

3:42-4:06

= 24 Sek.

4:30-4:40

= 10 Sek.

Instrumente-

Kasten öffnen

Gemeinsames

Schweigen beim

Betrachten und

Berühren der

Instrumente

Kind probiert

Tempelblock

aus

Legt Tempel-

block zurück

Gemeinsames

Schweigen beim

Betrachten der

Instrumente

Kind probiert

Cynellen aus

Zeigt wenig Ausdau-

er, das neue Instru-

ment auszuprobieren

Entscheidet sich nicht

für ein Instrument.

Zu viele Reize?

Stille als Reizberuhi-

gung?

Wählt ein ihm

unbekanntes

Instrument,

Komponente

Rhythmus

Komponente

Klang

Diese Stille hört sich ver-

legen an. Verdrängung,

Widerstand?

Neugierde an Neuem

scheint dennoch angeregt,

zeigt Mut

Page 115: Starke Stille - Stille Kraft

115

6:00-6:07

= 7 Sek.

9:39-9:50

= 11 Sek.

10:10-

10:17

= 7 Sek.

10:32-

10:40

= 8 Sek.

Absprache,

welches Spiel

gespielt wird:

Surdo-Ball

Schweigend

beim Gemein-

samen Aufstel-

len der Trom-

meln

Kind entdeckt

dabei Stimm-

schlüssel und

zeigt diesen der

Th.

Ball trifft Gitar-

re

Schweigend

holt Kind den

Ball

Wieder Auf-

nahme des

Spiels

Th. lobt Tech-

nik des Kindes

Kind schweigt,

scheint sich zu

freuen

Wieder Auf-

nahme des

Spiels

Ball rollt davon

Schweigend

holt Kind den

Ball

Bleibt bei Handlung.

Unterbrüche seiner-

seits sind lediglich

Impulse, das Spiel zu

erweitern, bzw. zu

erschweren.

Interesse an

Dynamikspiel

der Surdos:

Wählt kleinste

Surdo und gröss-

ten Ball

will sich in

Beziehungsdy-

namik üben?

Keine Antriebslosigkeit:

Bringt Idee, wählt Spiel

Geht in Kontakt, will zei-

gen, was er entdeckt hat

(Mutter/ Kind-Beziehung,

nachnähren?)

Zum ersten Mal entsteht

ein persönliches Gespräch:

Erzählt von Freunden

Bewegungsspiel ohne

Worte:

Schweigende Konzentrati-

on, scheint Kind zu fokus-

sieren.

Übungsfeld, Unaufmerk-

samkeit und Konzentrati-

onsschwierigkeiten zu

verbessern?

Page 116: Starke Stille - Stille Kraft

116

17:38-

17:45

= 19 Sek.

Wieder Auf-

nahme des

Spiels

Ideen des Kin-

des werden ins

Spiel integriert

Intraszenische

Stille: Grosse

Konzentration

auf Bewegung

Kind spielt

ausdauernd

Kind bleibt insgesamt

ca.20 min. beim

Trommelball-Spiel

Konzentration, Fokus auf

etwas einzelnes gelingt

26:08-

26:15

= 7 Sek.

32:01-

32:08

= 7 Sek.

Nach Wegräu-

men der Surdos

`Unruhiges`

Schweigen beim

Hantieren mit

Instrumenten

Probiert ver-

schiedene Flö-

ten aus

Findet Schlegel

für Klangröh-

ren, experimen-

tiert daran

Intramusikali-

sche Stille:

Klang in Stille

nachlauschen

Experimentiert

weiter mit

Klang

Offener Instrumente-

Kasten beim Weg-

räumen scheint reiz-

überflutend

Versuch sich zu zent-

rieren durch Schwei-

gen?

Probiert ca. 6 min.

verschiedene Instru-

mente aus, wirkt

getrieben und gehetzt

Sobald Fokus auf

etwas einzelnes ge-

richtet ist, kommt

Kind zur Ruhe, lässt

sich wieder auf Stille-

Momente ein

Th. initiiert Mu-

sik machen

fühlt sich

Kind genötigt,

drückt es Wider-

stand aus?

Probiert zum

zweiten Mal

Melodie-

Instrumente aus

Erneut ist Klang

die Komponente

seiner Wahl.

Anzeichen, seine Melodie

zu entdecken, sich selber zu

suchen?

Assoziiert unaufgefordert:

Kirchenglocken

„Welt explorieren“

Therapeutin spielt daneben.

Nachnähren, Mutter ist da,

jedoch nicht in Interakti-

on?

Holt er Ruhe-/ Aktivitäts-

Page 117: Starke Stille - Stille Kraft

117

33:30-

33:37

= 7 Sek.

Intramusikali-

sche Stille:

Klang in Stille

nachlauschen

Experimentiert

weiter mit

Klang

momente aus frühester

Kindheit nach, bzw. erlebt

sie nochmals

Regressiv?

37:07-

37:17

= 10 Sek.

39:02-

39:09

= 7 Sek.

39:30-

39:37

= 7 Sek.

Improvisation:

Vertieftes Spiel

mit Klang

Innehalten, um

Klang nachzu-

hören

Wieder Auf-

nehmen des

Spiels

Innehalten um

Klang nachzu-

hören

Wieder Auf-

nehmen des

Spiels

Übergangsstille

II: Innehalten,

um Klang nach-

zuhören

Übergehen zu

Gespräch

Spielt ca. 7 min.

vertieft an Klangröh-

ren

Polaritätenspiel:

Musik erinnert an

Gebärmutter

Atmosphäre...

Nebst kurzen

stillen Momenten

dazwischen, ist

immer etwas

`atmosphärisch

Schwingendes`

zu hören

Eintauchen in frühste Erle-

bens- und Emotionswelten?

39:30-

39:37

= 7 Sek.

Nach Abspra-

che, was Spiel

sein soll

Schweigend

beim gemein-

samen Aufstel-

len des Goals

Spiel beginnt

Transfer in Realbereich

findet nicht statt

Page 118: Starke Stille - Stille Kraft

118

Fazit:

Wenig Ausdauer,

neue Instrumente

auszuprobieren, abge-

lenkt durch grosse

Auswahl

Zeigt in Zusammen-

hang mit Bewegung

grosse Aufmerksam-

keitsspanne und Kon-

zentration (ca.20

min.)

Bleibt dran, wird

erfinderisch.

Stille-Momente

scheinen ihm zu

helfen, sich zu fokus-

sieren.

Lässt sich ca. 7 min.

lang auf Spiel an

Klangröhren ein.

Fazit:

Wählt Melodie-

Instrument

Klang; explorie-

rend und experi-

mentell, wenig

überschwem-

mend, baut viele

Pausen ein. Ba-

lance-Übungen

durch Polaritä-

tenspiel?

Fazit:

Geht in Kontakt, Vertrau-

ensbasis wächst

Veränderung der Mimik

(Emotionalität)

Regressiv anmutende Mo-

mente (pränatal?), Nach-

nährung

Übungsfeld: Zeigt eigene

Motivation, Fokus auf

etwas zu richten. Sucht

nach Lösungen, bzw. Ver-

besserung seiner Aufmerk-

samkeit

Freies Assoziieren:

Unaufgefordert, nur ohne

Leistungsdruck möglich?

Page 119: Starke Stille - Stille Kraft

119

5.Stunde von David: 15 Stille-Sequenzen

Vorher = Zeit der Aktivität vor der Stille-Sequenz

Nachher = Zeit der Aktivität nach der Stille-Sequenz

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Page 120: Starke Stille - Stille Kraft

120

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122

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Taschenbuch Verlag.

Page 123: Starke Stille - Stille Kraft

123

13 Abbildungsverzeichnis

Titelbild: Quelle der Kraft (Eidenbenz 2007) Abbildung 1: Symmetrie der Stille (Eidenbenz 2012) Tabelle 1: Protokoll-Raster zur phänomenologischen Untersuchung „Die

Wirksamkeit von Stille in der musiktherapeutischen Arbeit

mit unruhigen Kindern“ (Eidenbenz & Lutz Hochreutener 2012)

Tabelle 2: Auswertungsraster zur phänomenologischen Untersuchung „Die

Wirksamkeit von Stille in der musiktherapeutischen Arbeit

mit unruhigen Kindern“ (Eidenbenz & Lutz Hochreutener 2012)

Diagramm 1: Anzahl Stille-Momente innerhalb Therapiestunden

Diagramm 2: Dauer von Stille-Momente im Therapieverlauf von Simon

Diagramm 3: Dauer von Stille-Momente im Therapieverlauf von David

Page 124: Starke Stille - Stille Kraft

124

Erklärung zur Urheberschaft

Hiermit bestätige ich, dass ich die Arbeit selbständig und in eigener Verantwortung oh-ne fremde Schreibhilfe verfasst habe.

Page 125: Starke Stille - Stille Kraft

125

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Personen bedanken, die mich bei der Erstel-

lung dieser Arbeit unterstützt haben.

Ein besonderer Dank gilt meiner Mentorin Sandra Lutz Hochreutener, die meine Mas-

terarbeit mit Interesse, Zuverlässigkeit und viel Engagement wohlwollend betreut und

mir die Freiheit gelassen hat, die Arbeit nach eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Ihre

Lebens- und Berufserfahrung, ihr scharfer Verstand und ihre Fähigkeit, ganzheitlich zu

Denken waren mir eine wertvolle Hilfe.

Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei meinem Zweitgutachter Meinrad Benz, der mit

seinem Fachwissen, seiner ganzheitlichen Sichtweise des Lebens und seinem reichen

Erfahrungsschatz zur Vertiefung, Erweiterung und Vervollständigung mancher Gedan-

kengänge beigetragen hat.

Von Herzen bedanke ich mich bei den beiden Therapiekindern und ihren Familien für

ihr Vertrauen und Einverständnis, die berührenden Prozesse verwenden und analysieren

zu dürfen. Es war mir eine Ehre, die beiden Buben ein Stück auf ihrem Weg begleiten

zu können.

Ein grosser Dank geht auch an die Schulgemeinde in der ich arbeite, insbesondere an

die Schulpflege-Mitglieder und den Schulleiter, welche mir das Projekt „Musiktherapie

an der Volksschule“ bewilligt und mir sowohl Unterstützung als auch Wertschätzung

entgegen gebracht haben. Ein besonderer Dank geht an meine liebe Stellenpartnerin,

welche mich in Wort und Tat auf meinem Weg ermutigt, begleitet und unterstützt hat.

Weiter bedanke ich mich bei meiner geschätzten schulischen Heilpädagogin, welche

mich stets aufgebaut hat und mir mit praktischen Tips weiterhelfen konnte. Und ich

danke meiner tollen Arbeitskollegin, welche durch ihr Dasein und ihr Zuhören manche

Krise leichter gemacht hat.

Besonders großer Dank gebührt meiner Familie und meinen Freunden, die während des

letzten Jahres auf viel gemeinsame Zeit verzichtet haben. Ich bedanke mich für ihr Ver-

Page 126: Starke Stille - Stille Kraft

126

ständnis und ihr offenes Ohr, das bedingungslose Mitgehen, das einfühlsame Zuhören

und Dasein, die emotionale und gedankliche Hilfe, die hilfreiche Unterstützung in tech-

nischen Fragen, das Interesse und den Austausch.

Ein Dank in liebevoller Erinnerung geht an meinen Vater, welcher vor einem Jahr in die

ewige Heimat gezogen ist und massgeblich zur Entscheidungsfindung des Themas Stille

beigetragen hat, indem er mir vorgelebt und gezeigt hat, wie friedvoll, natürlich und still

Sterben sein kann.

Abschliessend bedanke ich mich bei meinem Schöpfer für das Geschenk der Musik und

der Stille, für die Fähigkeit zu hören und für sein perfektes Timing, gerade im vergan-

genen Jahr Menschen in mein Leben zu bringen, die mich auf meinem Weg im richtigen

Mass herauszufordern und zu ermutigen vermochten.