sport und erziehung im wandel

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Berichte 495 Sport und Erziehung im Wandel 8. Kongress der Internationalen Vereinigung für die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports (ISHPES) vom 9. bis 13. Juli 2003 in Urbino (Italien) Kaum ein anderer Ort als die idyllisch gelegene italienische Stadt Urbino in der Provinz Marken wäre idealer gewe- sen, diesen Kongress durchzuführen. Etwa sechs Kilometer außerhalb des von der UNESCO zum Weltkulturerbe ausgezeichneten Orts trafen sich im Kongresszentrum der ortsansässigen Universität um die 130 Sporthistorike- rinnen und -historiker aus über 30 Län- dern, um Fragen zum Zusammenhang zwischen „Sport und Erziehung im his- torischen Wandel" zu erörtern. Leider entsprach die Teilnehmerzahl nicht ganz den Erwartungen der Organisa- toren. Die Folgen von Irak-Krieg und SARS hielten eine Reihe von Teilnehme- rinnen und Teilnehmern, insbesondere aus den asiatischen Ländern, von der Reise ab. Das sehr weit gefasste Tagungsthe- ma, zu dem es leider keine einleitenden Vorträge oder Positionsreferate gab, umfasste acht große Bereiche: Sport und Erziehung an Schulen und Univer- sitäten", „Erziehung, Sportbewegungen und Jugendbewegungen ", „Sport, Erzie- hung und Politik ", „Sport unterrichten ", ,Erziehung und Olympismus" und - nicht zu vergessen - » Sport, Erziehung in der Antike, dem Mittelalter, der Re- naissance und in der Moderne ". Aller- dings ist auch diesmal zu bedauern, dass sich nur wenige der Vorträge mit der Antike befassten. Es gab lediglich ei- ne Session zum griechischen und eine weitere zum römischen Altertum. Bei der letzteren ging Heribert AIGVER (Graz) auf die Iuventus der römischen Kaiserzeit ein, und Rosella FRASCA (Aquila) interpretierte in „Le Ludus" Spielformen der römischen Antike. Dafür präsentierten die auffallend vielen Referentinnen und Referenten aus dem französischen Sprachraum die Vielfalt der in Frankreich bearbeiteten sporthistorischen Themen. Diese reich- ten von der Turnbewegung im Elsaß, dem katholischen Sport in Martinique über den Sportunterricht während des Ersten Weltkriegs und zwischen den Kriegen bis zum Militärsport und ver- schiedenen Aspekten des Alpinismus, um nur einige aufzuführen. Nach den Franzosen stellten wohl die deutschen Kongressbesucher die größ- te Gruppe. Dabei widmete sich ein Re- ferat dem Einfluss der Franzosen auf die Entwicklung des deutschen Sports in der Nachkriegszeit. Stefanie WoiTE- WEHLE (Baden- Württembergisches Insti- tut für Sportgeschichte) referierte über die sportpolitischen Bestimmungen der französischen Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg, die überwie- gend vom Sicherheitsdenken der Besat- zer geleitet gewesen seien. Es sei den Franzosen insbesondere darum gegan- gen, den deutschen Sport zu entmilitari- sieren und zu entpolitisieren. Unter den Deutschen stellten auch zwei Doktoranden Teile ihrer Arbeit vor. Heike VÖLKER (Göttingen) nahm sich der Anfänge der jüdischen Turn- SpW 33. Jg., 2003, Nr. 4

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Berichte

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Sport und Erziehung im Wandel8. Kongress der Internationalen Vereinigung für die Geschichte derLeibeserziehung und des Sports (ISHPES)vom 9. bis 13. Juli 2003 in Urbino (Italien)

Kaum ein anderer Ort als die idyllischgelegene italienische Stadt Urbino inder Provinz Marken wäre idealer gewe-sen, diesen Kongress durchzuführen.Etwa sechs Kilometer außerhalb desvon der UNESCO zum Weltkulturerbeausgezeichneten Orts trafen sich imKongresszentrum der ortsansässigenUniversität um die 130 Sporthistorike-rinnen und -historiker aus über 30 Län-dern, um Fragen zum Zusammenhangzwischen „Sport und Erziehung im his-torischen Wandel" zu erörtern. Leiderentsprach die Teilnehmerzahl nichtganz den Erwartungen der Organisa-toren. Die Folgen von Irak-Krieg undSARS hielten eine Reihe von Teilnehme-rinnen und Teilnehmern, insbesondereaus den asiatischen Ländern, von derReise ab.

Das sehr weit gefasste Tagungsthe-ma, zu dem es leider keine einleitendenVorträge oder Positionsreferate gab,umfasste acht große Bereiche: Sportund Erziehung an Schulen und Univer-sitäten", „Erziehung, Sportbewegungenund Jugendbewegungen", „Sport, Erzie-hung und Politik", „Sport unterrichten ",,Erziehung und Olympismus" und -nicht zu vergessen - »Sport, Erziehungin der Antike, dem Mittelalter, der Re-naissance und in der Moderne". Aller-dings ist auch diesmal zu bedauern,dass sich nur wenige der Vorträge mitder Antike befassten. Es gab lediglich ei-ne Session zum griechischen und eineweitere zum römischen Altertum. Bei

der letzteren ging Heribert AIGVER(Graz) auf die Iuventus der römischenKaiserzeit ein, und Rosella FRASCA(Aquila) interpretierte in „Le Ludus"Spielformen der römischen Antike.

Dafür präsentierten die auffallendvielen Referentinnen und Referentenaus dem französischen Sprachraum dieVielfalt der in Frankreich bearbeitetensporthistorischen Themen. Diese reich-ten von der Turnbewegung im Elsaß,dem katholischen Sport in Martiniqueüber den Sportunterricht während desErsten Weltkriegs und zwischen denKriegen bis zum Militärsport und ver-schiedenen Aspekten des Alpinismus,um nur einige aufzuführen.

Nach den Franzosen stellten wohl diedeutschen Kongressbesucher die größ-te Gruppe. Dabei widmete sich ein Re-ferat dem Einfluss der Franzosen aufdie Entwicklung des deutschen Sportsin der Nachkriegszeit. Stefanie WoiTE-WEHLE (Baden-Württembergisches Insti-tut für Sportgeschichte) referierte überdie sportpolitischen Bestimmungen derfranzösischen Besatzungsmacht nachdem Zweiten Weltkrieg, die überwie-gend vom Sicherheitsdenken der Besat-zer geleitet gewesen seien. Es sei denFranzosen insbesondere darum gegan-gen, den deutschen Sport zu entmilitari-sieren und zu entpolitisieren.

Unter den Deutschen stellten auchzwei Doktoranden Teile ihrer Arbeitvor. Heike VÖLKER (Göttingen) nahmsich der Anfänge der jüdischen Turn-

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und Sportbewegung und deren erzie-herischen Beitrags in Deutschland undPalästina in der Herausbildung des„neuen Juden" Ende des 19. Jh.s an. KaiREINHART (Münster) gab einen Einblickin "Die Funktion von Körperkultur undSport in der DDR". Er übertrug die amKörper ansetzende Philosophie desfranzösischen Philosophen Michel Fou-cnuLT, der sich selbst nicht mit dem Phä-nomen Sport auseinandergesetzt hat,auf den DDR-Sport, der bekanntlichvon großer politischer Bedeutung war.Damit zeigte REINHART einen neuen wis-senschaftlichen Ansatz in der Aufarbei-tung des DDR-Sports auf, der einenneuen Blick - jenseits deutsch-deut-scher Querelen - ermöglicht. Wie lei-denschaftlich dieses Thema auch überzehn Jahre nach der Wende noch disku-tiert wird, zeigte sich auch bei seinenVorrednern, Hans Joachim TEICHLER(Potsdam) und Wolfgang Buss (Göttin-gen), die sich insbesondere mit denKinder- und Jugend-Sportschulen (KJS)auseinandersetzten.

Die Themen der anderen deutschenTagungsgäste umfassten ein weites Ge-biet. Karl LENNARTZ (Köln) z. B. referier-te über „Olympische Siege. Medaillen -Diplome - Preise". Werner KUHN (Ber-lin) konzentrierte sich auf die Talent-förderung im deutschen Fußball undGertrud PFISTER (Kopenhagen) auf diehistorischen Aspekte der Koedukation.Dass selbst Harry Potter etwas mit Sportund Erziehung zu tun hat, arbeitete An-nette HOFMANN (Münster) in einem Ver-gleich zwischen zwei englischen Ju

-gendromanen, Tom Brown's SchoolDays" (1857) und dem gegenwärtigeninternationalen Bestseller „Harry Pot-ter" von Joanne K. ROWLING, heraus, indem das Sportspiel Quidditch eine zen

-trale Rolle einnimmt. Last but not leastklärte Arnd KRÜGER (Göttingen), demdie Ehre zu Teil wurde, eine Keynote Ad-

dress zu halten, darüber auf, Was dieGeschichte des Körpers und die Ge-schichte der schulischen Leibesübun-gen voneinander lernen können".

Auch aus Brasilien war eine kleineGruppe von Teilnehmerinnen und Teil-nehmern gekommen. Im Zentrum ihrerAusführungen stand das Deutsche Tur-nen. Sowohl Leomar TESCHE als auchArthur Balsco RAMM bezogen sich inihren Vorträgen auf die deutsche Ein

-wanderung und den Allgemeinen deut-schen Lehrerverein in Rio Grande DoSul. Das Turnen wurde dabei als kultu-relles Element zur Wahrung einer ethni-schen Identität herausgestellt. ClaudiaM. GUEDES und Carmen Lücia SOARESdagegen widmeten sich der Rolle derLeibeserziehung in der brasilianischenGeschichte und an der Universität vonSäo Paulo.

Auch die Sokol- und YMCA-Bewegun-gen wurden nicht vernachlässigt. Diebeiden polnischen Sporthistoriker Bern-hard WOLTMANN und Miroslaw PONCZEKgingen in aufeinander aufbauenden Re-feraten auf die polnische YMCA wäh-rend und nach dem Zweiten Weltkriegein, und Thierry TERRET (Lyon) zeigtedie Versuche der amerikanischen YMCAauf, zwischen 1922 und 1924 in Frank-reich Fuß zu fassen. Trotz dieser Bemü-hungen bleibe sie aber immer nur einekleine, unscheinbare Organisation.

Wie bei jedem ISHPES-Kongress gabes auch dieses Mal zwei Auszeichnun-gen. Der Young Scholar Award ging anden Franzosen Timothée JOBERT. DerISHPES Award wurde Else TRANGBAEK(Kopenhagen) für ihre umfangreichenwissenschaftlichen Arbeiten im Rah-men der Sportgeschichte überreicht.Den Anwesenden präsentierte sie ei-nen Einblick in verschiedene Aspekteder Schwedischen Gymnastik.

Es ist unmöglich, hier auf alle 35 Ses-sionen einzugehen. Vor allem war die

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Qual der Wahl bei bis zu sechs parallellaufenden Arbeitskreisen recht schwer.Man hätte das wissenschaftliche Pro-gramm vielleicht ein wenig entzerrenund das gesellige dafür ein wenig kür

-zen können. Die Organisatorin GigliolaGOR] und ihr Team waren in ihrer sym-pathischen italienischen Art darum be-müht, den Teilnehmerinnen und Teil

-nehmern aus aller Welt auch ein Stückitalienische Geschichte und Kultur na

-hezubringen. Von Besuchen verschie-dener historischer Städte bis zu einem

Konzertbesuch und abendlichem Tanzstand alles auf dem Programm. Selbstder mit Touristen dicht gedrängteStrand der italienischen Adria wurdenicht vergessen. Keine leichte Heraus-forderung für den Kongressort Köln2005! Doch zuvor wird im Sommer2004 im Vorfeld der Olympischen Spie-le mit der TAFISA ein ISHPES-Seminarin Montreal durchgeführt werden.

ANNETTE R. HOFMANN

(Universität Münster)

Vorschau

Folgende Beiträge wurden nach Prüfungdurch die Gutachterinnen und Gutachterzur Publikationangenommen und stehen zur Veröffentlichungin den nächsten Heften an

Jürgen Beckmann/Birgit Szymanski/Anne Marie Elbe

Lars Dzikus

Annette R. Hofmann

Joseph Maguire

Alexander Priebe

Erziehen Verbundsysteme zur Unselbständigkeit?Entwicklung von Sporttalenten an einer Eliteschuledes Sports

American Football, Deutschland und der Unternehmer.Amerika in unseren Köpfen und Stadien

E Pluribus Unum? Zur Rolle des Sportsim amerikanischen Nation-building-Prozess

Globalisation and the Making of Modern Sport

Olympische Kämpfe - Carl Diem und Otto Peltzer