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Zwischen Land und Meer, zu Carl Schmitt

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    Zwischen Land und Meer

    Philosophische Bemerkungen zu einer

    Kulturgeschichte der See ausgehend von

    Carl Schmitt

    Scheier, Claus-Artur

    Verffentlicht in:

    Abhandlungen der Braunschweigischen

    Wissenschaftlichen Gesellschaft Band 54, 2004,S.251-263

    J. Cramer Verlag, Braunschweig

    Digitale Bibliothek Braunschweig

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    * (Eingegangen 02.02.2005)1 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke XIV, Frankfurt a. M.

    51972 (London 11948), S. 421 f.

    Abhandlungen der BWG 54: 251263 Braunschweig, Mai 2005

    Zwischen Land und MeerPhilosophische Bemerkungen zu einer

    Kulturgeschichte der See ausgehend von Carl Schmitt*

    CLAUS-ARTURSCHEIER

    Philosophie, Technische Universtit BraunschweigJasperallee 77, D-38102 Braunschweig

    O mer amere, mere la mere damours(Jean de Schlandre)

    1.

    In Das Unbehagen in der Kultur (1930) schreibt Freud, Romain Rolland, demer Die Zukunft einer Illusion geschickt hatte,

    wre mit meinem Urteil ber die Religion ganz einverstanden, bedauerte

    aber, da ich die eigentliche Quelle der Religiositt nicht gewrdigt htte.Diese sei ein besonderes Gefhl, das ihn selbst nie zu verlassen pflege, daser von vielen anderen besttigt gefunden und bei Millionen Menschenvoraussetzen drfe. Ein Gefhl, das er die Empfindung der Ewigkeit nen-nen mchte, ein Gefhl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem,gleichsam Ozeanischem. Dies Gefhl sei eine rein subjektive Tatsache,kein Glaubenssatz; keine Zusicherung persnlicher Fortdauer knpfe sichdaran, aber es sei die Quelle der religisen Energie, die von den verschie-denen Kirchen und Religionssystemen gefat, in bestimmte Kanle gelei-tet und gewi auch aufgezehrt werde. Nur auf Grund dieses ozeanischenGefhls drfe man sich religis heien, auch wenn man jeden Glaubenund jede Illusion ablehne. / [...] Ich selbst kann dies ozeanische Gefhlnicht in mir entdecken.1

    Offenbar hat Freud nicht erkannt oder nicht erkennen wollen, da er selbst diesGefhl als die Polaritt von Eros und Thanatos beschrieben und damit an eineanthropologische Wurzel der Religion gerhrt hatte. Die groen Seeromane des

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    19. Jahrhunderts von Herman Melville, Jules Verne,2Robert Louis Stevenson,Joseph Conrad wissen davon zu erzhlen.

    Ein anderer, in mehrfacher Hinsicht merkwrdiger Ausdruck des RollandschenGefhls ist Carl Schmitts Essay Land und Meer.3Denn genauerer Lektreenthllt er sich als ein perspektivisches Seestck mit Vorder-, Mittel- undHintergrund. Vordergrndig breitet er eine historische These aus: Die Weltge-schichte sei eine Geschichte des Kampfes von Seemchten gegen Landmchteund von Landmchten gegen Seemchte (S. 16). Der Mittelgrund versammeltdiese These, eine konstante Schmittsche Faszination bezeugend,4 auf einenursprnglich biblischen Mythos: Nach mittelalterlichen Deutungen der soge-nannten Kabbalisten, ist die Weltgeschichte ein Kampf zwischen dem mchti-gen Walfisch, dem Leviathan, und dem ebenso starken Landtier, dem Behemoth(S. 16). Und im Hintergrund durchwirkt Schmitt diesen Mythos mit seinem po-litisch-theologischen Grundgedanken: Die spezifische politische Unterschei-dung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurckfhrenlassen, ist die Unterscheidung von Freundund Feind.5Als Zitatenkollage seider Essay in Krze referiert:

    2.

    Die vier klassischen Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer seien Gesamt-

    kennzeichnungen, die auf verschiedene groe Mglichkeiten menschlicherExistenz hinweisen (S. 13). Der Mensch knne whlen und in gewissen ge-schichtlichen Augenblicken sogar das Element whlen, zu dem er sich als einerneuen Gesamtform seiner geschichtlichen Existenz durch eigene Tat und eige-ne Leistung entschliet und dem er sich anorganisiert (S. 14). BedeutendeForscher htten entdeckt, da es neben autochthonen, d. h. landgeborenen,auch autothalassische, d. h. rein vom Meere bestimmte Vlker gegeben hat,die niemals Landtreter gewesen sind und die nichts vom festen Lande wissenwollten, als da es die Grenze ihrer reinen Meeresexistenz war (S. 10). Die Welt

    2 Zu Vernes 1870 erschienenem Roman Vingt mille lieues sous les mers aus philosophi-scher Sicht vgl. die eindringliche Studie von Severin Mller: Sprachlosigkeit des Alls.

    Positionen einer Erfahrungsgeschichte Pascal, Diderot, Kant, dHolbach, Kapitn Nemo,in: Ders.: Topographien der Moderne. Philosophische Perspektiven literarische Spiege-lungen, Mnchen 1991, S. 223-249, insb. S. 239-245.

    3 Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Stuttgart 31993 (21954,Leipzig 11942).

    4 Unstreitig ist Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlageines politischen Symbols von 1938 (Stuttgart 21995) ein Schlsselwerk Schmitts.

    5 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und dreiCorollarien. 3. Auflage der Ausgabe von 1963, Berlin 1991, S. 26.

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    der griechischen Antike sei aus Fahrten und Kriegen von Seevlkern entstan-den (S. 17). In der Folge nennt Schmitt Kreta, Athen, Karthago, die Vandalen,Sarazenen, Wikinger, Normannen, Byzanz und Venedig (S. 18 f.), um zu zeigen,was es bedeutet, da ein Volk sich in seiner ganzen geschichtlichen Existenzfr das Meer als ein anderes Element entscheidet (S. 26).

    Den epochalen Schritt zu einer durch und durch thalassischen Existenz ma-che freilich erst das frhneuzeitliche Europa: Seeschumer aller Art, Piraten,Korsaren, Seehandel treibende Abenteurer, bilden, neben den Waljgern undden Seglern, die Aufbruchskolonne der elementaren Wendung zum Meer, diesich im 16. und 17. Jahrhundert vollzieht. (S. 40) In solchen Seeschumernbricht das Element des Meeres durch. (S. 41) Melville schildere in seinemMoby Dick, wie hier eine, man kann sagen persnliche Beziehung und eineinnige, feind-freundschaftliche Bindung zwischen dem Jger und seinem Wildeintritt (S. 33), womit Schmitt auf sein politisch-theologisches Credo kommt,demzufolge sich auch der Zwiespalt von Land und Meer in dem Gegensatz vonLandkrieg und Seekrieg enthlle (S. 87). Der neuzeitliche Reprsentant derthalassisch-leviathanischen Existenz nun sei England. Denn England habe seineExistenz wirklich vom Lande weg in das Element des Meeres verlegt. Es hatdadurch nicht nur viele Seeschlachten und Kriege, sondern etwas ganz anderesund unendlich mehr, nmlich eine Revolution gewonnen, und zwar eine Revo-lution grter Art, eine planetarische Raumrevolution (S. 53 f.).

    Als weltgeschichtliches Faktum ist dies fr den Denker der politischen Theo-

    logie6zugleich ein theologisches Ereignis: Der Beginn unserer Zeitrechnungwar nmlich wirklich eine Zeitenwende, mit der nicht nur das Bewutsein derFlle der Zeit, sondern auch das des erfllten Erdraumes und des planetarischenHorizonts verbunden war. Die Worte Senecas7 seien durch die jahrhunderte-lange Raumverdunkelung und durch die Verlandung des europischen Mittel-alters hindurch weitergetragen worden (S. 60 f.). Zum ersten Male in seinerGeschichte bekam der Mensch den wirklichen, ganzen Erdball wie eine Kugelin seine Hand eine fr das Verfahren Schmitts bezeichnende Anspielung aufdie neuzeitlichen Darstellungen des Jesuskinds mit der Erdkugel. Entschei-dend war die Erweiterung in den Kosmos hinein und die Vorstellung eines un-endlichen leeren Raumes. (S. 64 f.) Diese Entdeckung ist so fundamental undrevolutionr, da man ebensogut umgekehrt sagen kann, die Entdeckung neuer

    Kontinente und die Umseglung der Erde seien nur Erscheinungsweisen und

    6 Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souvernitt, Berlin51990 (11922).

    7 Es handelt sich um die berhmte Prophezeiung des Chors in Senecas Medea, Vv. 301-379. An Horaz erinnernd spricht Seneca hier von der allzu groen Khnheit des erstenSchiffers, von der zu ihrem Heil getrennten Welt und von der schweren Strafe fr dieRuchlosigkeit, sie zusammenzufhren.

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    Folgen tiefer liegender Wandlungen gewesen (S. 67). Allerdings ist dies frSchmitt nicht ein neuer Begriff der Welt, sondern ein neuer Nomos der Erde:8

    Jede Grundordnung ist eine Raumordnung. Man spricht von der Verfassungeines Landes oder eines Erdteils als von seiner Grundordnung, seinem Nomos.(S. 71) Die Weltgeschichte ist eine Geschichte von Landnahmen (S. 73) nicht primr, wie fr Spengler, eine Geschichte von Kulturen , so da mandas Zeitalter der Entdeckungen ebensogut und vielleicht noch richtiger als dasZeitalter der europischen Landnahme bezeichnen kann (S. 75).

    Daraus ergibt sich die Bestimmung der Neuzeit, in der die Trennung von Landund Meer und der Zwiespalt der beiden Elemente [...] das Grundgesetz des Pla-neten geworden war (S. 89), als eine neue Art von Krieg, denn nur dieser mani-festiere die tiefsten Gegenstze, die eigentlichen Freund-Feind-Situationenund die letzten elementaren Krfte und Gegenstze (S. 80): So wurde derKampf um die Landnahme der neuen Erde ein Kampf zwischen Reformationund Gegenreformation (S. 78), wenn wir auch hier auf den Gegensatz derElemente und auf die damals beginnende Trennung der Welt des freien Meeresvon der Welt des festen Landes achten (S. 79). Aber der Kampf der welt-nehmenden Mchte hatte den Ausgangsgegensatz von Katholizismus und Pro-testantismus lngst berholt und, weit ber die innerdeutschen Fragen hinweg,den viel tieferen und prziseren Gegensatz von Jesuitismus und Calvinismuserreicht. Das war jetzt die weltpolitisch magebende Freund-Feind-Unterschei-dung (S. 81). Fr den Katholiken Schmitt hatte der Calvinismus, und nur er,

    den geschichtlichen Augenblick fr sich, weil die calvinistische Gewiheit diewar, gerettet zu sein, und Rettung ist nun einmal der gegen jeden Begriff ent-scheidende Sinn aller Weltgeschichte (S. 83). Auch die religisen Frontenund die theologischen Kampfparolen dieser Zeit tragen in ihrem Kern den Ge-gensatz der elementaren Krfte, die eine Verlagerung weltgeschichtlicher Exi-stenz vom festen Lande auf das Meer bewirkt haben. (S. 85) So entspringe auchdas Recht geschichtlicherweise der Differenz von Land und Meer, nmlich denraumhaften Grundtatsachen, aus denen sich das christlich-europische Vlker-recht der letzten dreihundert Jahre entwickelt hat. Das war das Grundgesetz, derNomos der Erde in dieser Epoche (S. 86). Genau genommen hat das Meer sichhier als mythische Gre gegenber dem Element Erde durchgesetzt, so da derMensch eigentlich gar nicht gewhlt hat: Hier kannst du sehen, da der groeLeviathan Macht auch ber die Geister und Gemter der Menschen hat. (S.89)

    Aber die industrielle Revolution fhre einen neuen Nomos der Erde herauf:Der Wandel, der an das Wesen des Leviathan rhrte, war [...] die Folge derindustriellen Revolution. (S. 96 f.) Denn jetzt verwandelte sich der Leviathan

    8 Vgl. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Vlkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 4

    1997 (11950).

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    aus einem groen Fisch in eine Maschine. (S. 98) Wir stellen hier in allerSachlichkeit fest, da die rein maritime Existenz, das Geheimnis der britischenWeltmacht, in ihrem Wesenskern getroffen war. (S. 99) Und dann spekuliertSchmitt noch ber den geschichtlichen Herrschaftsantritt der Elemente Luftund Feuer, kann aber worin, unter anderem, sich das Arbitrre seines Mythoszeigt zu keiner rechten Zuordnung kommen: Stellt man sich auerdem nochvor, da nicht nur Flugzeuge den Luftraum ber Land und Meer durchfliegen,sondern auch ununterbrochen die Funkwellen von Sendern aller Lnder mitSekundenschnelle durch den atmosphrischen Raum um den Erdball kreisen,so liegt es nahe, zu glauben, da jetzt nicht nur eine neue, dritte Dimension

    erreicht, sondern sogar ein drittes Element hinzugetreten ist, die Luft als einneuer Elementarbereich menschlicher Existenz. Zu den beiden mythischen Tie-ren Leviathan und Behemoth wrde dann noch ein drittes, ein groer Vogel,hinzutreten. Aber wir drfen mit solchen folgenreichen Behauptungen nichtvorschnell umgehen. Denkt man nmlich daran, mit welchen technischen-ma-schinellen Mitteln und Energien die menschliche Macht im Lufraum ausgebtwird, und stellt man sich die Explosionsmotoren vor, durch die die Luft-maschinen bewegt werden, so erscheint einem eher das Feuerals das hinzutre-tende, eigentlich neue Element menschlicher Aktivitt. (S. 104 f.)

    3.

    All dies wird in zwanzig kurzen Kapiteln Meiner Tochter Anima erzhlt (Wid-mung S. 5), also einer Seele, die als Tochter fr die Zukunft einsteht - underzhlt, d. h. unmittelbar als Mythos gemeint. Verffentlicht hatte der damalsVierundfnfzigjhrige den Essay 1942, vier Jahre nach dem Leviathan undmitten im zweiten Weltkrieg, der als die Vorbereitung eines neuen Nomos derErde seine ungenannte geschichtliche Folie ist. In einer Nachbemerkung zurdritten Auflage, datiert 10.4.1981, also im Alter von 93 Jahren, zitiert SchmittHegels Rechtsphilosophie und schreibt: Ich berlasse es dem aufmerksamenLeser, in meinen Ausfhrungen den Anfang eines Versuches zu finden, diesen 247 in hnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen, wie die 243-246 imMarxismus zur Entfaltung gebracht worden sind.

    Der Paragraph aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts sei in die-

    sem Sinn aufgenommen und eine, notwendig durchaus flchtige, Skizze einesnicht mythologisierenden Versuchs gegeben, der so auch nicht mit Spekula-tionen ber die Vorgeschichte, etwa autothalassische Vlker beginnt, sondernmit klassischen Zeugnissen. Hegel schreibt:

    Wie fr das Princip des Familienlebens die Erde fester Grund und Boden,Bedingung ist, so ist fr die Industrie das nach Auen sie belebende natr-liche Element, das Meer. In der Sucht des Erwerbs, dadurch, da sie ihn derGefahr aussetzt, erhebt sie sich zugleich ber ihn und versetzt das Fest-

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    werden an der Erdscholle und den begrenzten Kreisen des brgerlichenLebens, seine Gensse und Begierden, mit dem Elemente der Flssigkeit,der Gefahr und des Unterganges. So bringt sie ferner durch die grteMedium der Verbindung entfernte Lnder in die Beziehung des Verkehrs,eines den Vertrag einfhrenden rechtlichen Verhltnisses, in welchem Ver-kehr sich zugleich das grte Bildungsmittel, und der Handel seine welt-historische Bedeutung findet.9

    Es sei ein unrichtiger Gedanke, heit es dann weiter, wenn Horaz sagt deus abscidit/ Prudens Oceano dissociabili / Terras (Oden I.3.21-23). Hier, am Ende der Meta-physik, hat sich die Scheu ihrer ersten und zweiten Epoche der Antike und

    des Mittelalters vor dem Meer in ein Zutrauen verloren, das die frhe griechi-sche Einsicht in der Hegelschen Formulierung, das Meer seifr die Industriedasnach Auen sie belebende natrliche Element, vollends zum Austrag bringt.

    4.

    Interpretieren wir also Schmitts Land-und-Meer-Mythos als eine eigentmlicheManifestation des von Rolland zur Diskussion gestellten ozeanischen Gefhlsund fragen nach dessen Modernitt, dann legt sich eine berblendung derSchmittschen Freund-Feind-Theorie mit Freuds Eros-Thanatos-Axiom nahe. So wenigdiese beiden entgrenzendenTriebe bei Freud, so wenig sind Freund und Feind beiSchmitt zu trennen. Schmitt wei das auch, wenn er sich bei mehr als einer Gelegen-

    heit auf einen Vers des von ihm verehrten Theodor Dubler10beruft:Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt.

    Und er wird uns, wir ihn zum selben Ende hetzen.11

    Der Freund, liee sich im Blick auf Schmitt sagen, ist wohl unsre eigne Frage,aber eben noch nicht als Gestalt, weil erst nur als alter ego.Gestaltoder, miteinem Terminus Schopenhauers, Objektitterhlt diese Frage als eigne eineExistenz-Frage erst als der Feind. So wird verstndlich, warum Schmitt am Ro-man Melvilles die innige, feind-freundschaftliche Bindung zwischen dem Jger

    9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrechtund Staatswissenschaft im Grundrisse, hrsg. von Eduard Gans, in: Werke Bd. 8, Berlin

    1854, 247.1 0 Vgl. Carl Schmitt: Theodor Dublers Nordlicht. Drei Studien ber die Elemente, den

    Geist und die Aktualitt des Werkes, Berlin 1991 (Mnchen 11916).11 Theodor Dubler: Sang an Palermo, in: Hymne an Italien, Leipzig 21919, S. 65. Eine

    kenntnisreiche Analyse von Schmitts Auseinandersetzung mit dem Vers bietet HeinrichMeier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologieund Politischer Philosophie, Stuttgart 1994, eine Untersuchung, der auch sonst entschei-dende Einsichten in das Denken Schmitts zu danken sind.

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    und seinem Wild hervorhebt. Im Feind wird das schlechthin Vorgestaltliche, dieExistenz als solche, das Dasein, mit Heidegger nher das Sein im Unterschied zumSeienden, selber Gestalt. Die berlegung erbringt dreierlei:

    Erstenserlaubt sie, den psychoanalytisch-anthropologischen (Freud) bzw. mythisch-ideologischen Kontext (Schmitt) zu verlassen und jenes ozeanische Gefhl inden Fragehorizont des modernen Denkens zu bersetzen, wo dies Denken reinesund d. h. in der Moderne nicht lnger metaphysisch-prinzipielles, sondern ursprng-lichesDenken ist. Der Feind, ursprnglicher gedacht der Freund-Feind erweist sichdann als die charakteristisch moderne Denkfigur desAnderen, wie sie namentlich in

    der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts bestimmend geworden ist.Zweitens ist das Andere als die Existenz gegen alles Existierende, als das Seingegen alles Seiende, dies schlechthin Vorgestaltige selber als Gestalt, das Seinselber als Seiendes da.12Das luft genau auf die Verkehrung des Seins in Sei-endes oder die Seinsvergessenheit hinaus, in der Heidegger die Signatur allerMetaphysik sieht: Im mit Schmitt gedachten Anderen und man kann seinemDenken exemplarisch die fr alle Spielarten von Ideologie13 charakteristischeAllophobie ansehen14 kehrt die berwunden geglaubte Metaphysik zurckin der Gestalt der radikalen Verkehrung eigentlicher Existenz, daher politischauch nicht in der ursprnglicheren Freund-Feind-Dyade, sondern im entschie-denen Diastema als der Feind. Das unausgesprochene politische Motiv vonLand und Meer war 1942 zweifellos die Naherwartung einer neuen (deut-

    schen) Raumordnung durch berwindung der (historisch bereits widerleg-ten) Seemacht England.

    12 Dies ist ein ideologisch zu nennender, kein genuin phnomenologischer Sachverhalt. Diephnomenologisc he Best immung des Ande ren gab, wegweisend fr die spteren Entwick-lungen der Phnomenologie, Edmund Husserl in seinen Cartesianischen Meditationen( 52): Was je original prsentierbar und ausweisbar ist, das bin ich selbst bzw. gehrt zumir selbst als Eigenes. Was dadurch in [der] fundierten Weise einer primordial unerfllba-ren Erfahrung, einer nicht original selbstgebenden, aber Indiziertes konsequent bewhren-den, erfahren ist, ist Fremdes. Es ist also nur denkbar als Analogon von Eigenheitlichem.No tw endig tr it t es verm ge se iner Sinneskons ti tu ti on al s i nten ti onale Mo di fi ka ti on meines erst objektivierten Ich, meiner primordialen Welt auf: der Andere phnomenolo-gisch als Modifikation meines Selbst [...]. Mit anderen Worten, es konstituiert sichapprsentativ in meiner Monade eine andere. [Hervorhebungen von mir]

    13 Zum philosophischen Aspekt der Ideologisierung des zeitgenssischen Bewutseins imbergang vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. Ecce auctor. Zwischen ursprnglichemDenken und Ideologie, in: Friedrich Nietzsche. Ecce auctor. Die Vorreden von 1886,hrsg. u. eing. von Claus-Artur Scheier, Hamburg 1990, S. XI-XXXII, sowie Claus-ArturScheier: sthetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert,Hamburg 2000.

    14 Daher auch sein, gar nicht primr rassisch, sondern politisch-theologisch zu verstehenderAntisemitismus.

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    Drit tensaber kommt in der mythischen Vermittlung der das politische DenkenSchmitts konstituierenden Differenz jene ursprngliche Zweideutigkeit derExistenz zum Durchbruch nicht als der, sondern als das Andere die andereoder genauer veranderte Existenz als Raumordnung oder Nomos der Erdeund d. h. in Bezug auf England als das Meer.

    5.

    Wenn sonach das mit Schmitt vorgestellte Meer als die moderne Existenz in der

    Gestalt ihrer von ihm selber als an sichvergangen diagnostizierten Verkehrung,d. h. als das (zu destruierende) Hereinstehen der vergangenen Metaphysik in diegeschichtliche Gegenwart, der Essay aber eben darum nicht nur als Akt mythi-scher Neubegrndung, sondern zugleich als, nicht minder mythische, Mnemo-syne zu verstehen ist, bleibt zu fragen, wie das Meer in der Metaphysik selbstzur Sprache kam. Dafr ist noch einmal an Hegels bis in deren Anfnge zurck-reichende Einsicht zu erinnern, es sei fr die Industrie das nach Auen siebelebende natrliche Element. Erscheint nun seit der Frhzeit der Metaphysikdas Wesen der Industrie als der materiellen Produktivitt untrennbar vomBegriff des Geldes,15dann lt das Zusammendenken der Termini Geld, Indu-strie und Meer sehen, da das Meer den verschiedenen Epochen der Metaphy-sik jeweils als das Andere in konomischer Gestalt erschien.

    6.

    Die Griechen hatten vier Worte fr das Meer: keans,etymologisch ungeklrt,die Grenze der festen Erde berhaupt;16thlassa oder attischthlatta, wohl vor-griechisch, ebenfalls ungeklrt; plagos, die offene See, eigentlich Meeresober-flche (vgl. Od. 5.335), und pntos, ursprnglich soviel wie Pfad. Heraklit, derVater der europischen Logik, denkt den lgosin Analogie zum Geldumlauf:17

    Tausch fr das Feuer ist alles und das Feuer fr alles, wie fr das Gold die Warenund fr die Waren das Gold. (B 90) Zugleich ist die Weltordnung ein Verhltnisvon (himmlischem) Feuer, Meer und Erde: Des Feuers Wenden: zuerst Meer, vomMeer der eine Teil Erde, der andre heier Glast; die Erde zergeht zu Meer undbemit sich nach demselben Logos, der war, bevor Erde wurde. (B 31) Ein ent-

    15 Vgl. zum Folgenden Claus-Artur Scheier: Die Logik das Geld des Geistes. Philosophi-sche Bemerkungen zum Geld, in: kultuRRevolution. zeitschrift fr angewandte diskurstheorie43, 2001, S. 83-90.

    16peiron , das Grenzenlose, war nicht, wie man unmittelbar erwarten knnte, eine Bezeich-nung fr das offene Meer, sondern gerade fr das Land.

    17 Das Mnzgeld wurde nur ungefhr anderthalb Jahrhunderte zuvor in Lydien erfunden.

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    sprechend nchternes, logisches, d. h. immer zugleich auch rechnendes Ver-hltnis zum Meer hat schon der ltere Hesiod (Werke und Tage 618-694):

    So ist taugliche Seefahrt [sc. im Frhling], ich selber liebe sie aberNicht, denn meinem Geschmack liegt solche Eile nur wenig,Fortgerissen; nur schwer entgeht man dem Unheil, doch pflegenSo die Menschen zu handeln im Unverstande des Herzens;Sind doch Gter die Seele der elenden, sterblichen Menschen.(chrmata gar psych peletai deiloisi brotoisi.)(682-686, bs. Thassilo von Scheffer)

    7.

    Die von Hegel im 247 der Rechtsphilosophie kritisch zitierten Verse vonHoraz verweisen bereits auf ein anderes, religises Verhltnis zum Meer ber-haupt. Horaz nmlich schreibt im Propemptikon fr Vergil:

    Ganz umsonst hat ein weiser GottDes ungastlichen Meers Fluten vom Land getrennt,Wenn die Barke mit keckem Hohn (inpiae [...] rates)Wagt verwegen den Sprung auf dem verbotnen Pfad.(bs. Hans Frber)

    Und er vergleicht die Schiffahrt mit den drei Freveln (scelera) des Feuerraubs

    (Prometheus), des Flugs (Daedalus) und des Eindringens in die Unterwelt (Hera-kles), woran dann Seneca anknpfen wird. Wohl zeichnen sich der Hellenismusund das Imperium Romanum durch erhebliche technische Verbesserungen inder Seefahrt aus so wird die Technik des Kreuzens entwickelt - und erschlie-en die europische Atlantikkste, jedoch ist die Seefahrt metaphysisch sozu-sagen nicht gedeckt. Waren die klassischen pleis zwar fr sich autonom,aber schon ihrer Kleinheit wegen gleichwohl nach allen Seiten hin offen, wiedie griechische Sprachgemeinschaft ohnehin nach allen vier Himmelsrichtun-gen an die Barbaren grenzte, dann ist es dem Imperium Romanum, der Herr-schaft ber die gesamte oikoymn,um Sicherung seiner Grenzen als einer Tota-littzu tun.18Damit hngt zusammen, da das konomische Prinzip nicht mehrwie im klassischen Griechenland das Mnzgeld als solches, sondern ein Ver-hltnis

    : der Zins ist, als dessen gesellschaftliche Wirklichkeit sich in der spte-ren Kaiserzeit das Lehenswesen, der, wesentlich bodenstndige, Feudalismusentwickelt. Schmitt kann deshalb von der Verlandung des europischen Mit-telalters (S. 61) sprechen, die freilich nicht als Raumverdunkelung (ebd.)mideutet werden darf.

    18 Bezeichnenderweise setzt Horaz emphatisch Oceanus fr mare.

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    War das Meer schon in der Epoche der klassischen griechischen Philosophieunbeschadet seiner bleibenden mythischen Dimension wesentlich das kono-mische Andere, dann wird mit ihm nunmehr die alte Bestimmung des Okeanoszusammengedacht: Seefahrt ist an sich Grenzverletzung der menschlichen Exi-stenz, eine religise Erfahrung, die der Verfasser der Confessiones frh zueiner differenzierten Existenzmetapher ausfaltet:

    Fhrte zum Hafen der Philosophie, durch den man Zugang hat zum Fest-land des Glcks, ein von Vernunft bestimmter Kurs und reiner Wille, ichwei nicht, ob ich dann ohne weiteres sagen drfte, da weit weniger Men-schen dort ankmen, gelangen doch auch jetzt, wie wir sehen, nur ganzwenige ans Ziel. Hat uns aber Gott oder Natur, Notwendigkeit oder Nei-gung, etwas davon miteinander oder alles zugleich [...] in diese Welt wie inein strmisches Meer geworfen zufllig gleichsam und aufs Geratewohl, wie wenige knnten da erkennen, woran sie sich halten und auf wel-chem Wege sie zurckkehren mssen, verschlge nicht irgendwann einSturm den Toren scheinbar ein Unglck die unkundigen Irrfahrer ge-gen Willen und Widerstand ins heiersehnte Land?19

    Augustinus unterscheidet in der Folge drei Arten von Seefahrern unter denMenschen, denen die Philosophie Aufnahme gewhren kann: die Jungen, diedies mhelos vermgen, die Alten, die erst Schicksalsschlge ntig haben, unddiejenigen, die auf ihrer Fahrt, obwohl auch sie getuscht von der sehr trgeri-schen Oberflche und scheinbar gnstigem Wind, doch gewisse Zeichen

    sehen und die seste Heimat nicht vergessen, aber an rascher Heimkehr ge-hindert werden von tobendem Sturm und Gegenwind, weil sie bei schlechterSicht vom Kurs abkommen oder sich an sinkenden Gestirnen orientieren oder,von so mancher Verlockung gefangen, die Zeiten guter Fahrt verstreichen las-sen [...]. Auch diese verschlgt in den Wogen des Schicksals hufig irgendeinMigeschick, ein Sturm gleichsam, der all ihrer Anstrengungen spottet, in dasheiersehnte ruhevolle Leben.

    8.

    Hier kann zu Beginn der Neuzeit Dante anknpfen mit seiner Odysseus-Ge-schichte (Inf. XXVI.90-141):

    Da ich mich losgemacht von Kirke [...]da fesselte mich nichts mehr. Vaterglckund Sohnesdankbarkeit und Gattenliebe,[...] ward alles aufgezehrt in meiner Brust

    19Augustinus: De beata vita 1, bs. von Ingeborg Schwarz-Kirchenbauer und Willi Schwarz,Stuttgart 1982 (Zrich 11972).

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    vom heien Drang, durch alle Lnder hinder Menschen Wert und Narrheit zu erfahren.Ich fuhr hinaus ins offne hohe Meer [...].[...] Wir wurden alte Mnner, bis wir endlichan jene enge Wasserstrae kamen,wo Herkules die Warnungszeichen setzte,auf da der Mensch sich hier nicht weiter wage.[...] und Brder, sprach ich, die durch hunderttausendGefahren nach dem Westen seid gelangt,entziehet nicht dem kurzen Lebensabend,der uns noch bleibt, die sinnliche Erfahrungder unbewohnten Welt dort nach der Sonne!Bedenkt, wes hohen Samens Kind ihr seidund nicht gemacht, um wie das Vieh zu leben!Erkenntnis suchet auf und Tchtigkeit.[...] Die Lust war bald zunichte,denn von dem fernen Lande kam ein Wirbel,der fate an der Spitze gleich das Schiffund dreht es dreimal um im Strudelkreise,beim vierten hob ers hinten auf und kpflings,wie fremde Macht es wollte, fuhrs hinab.Dann schlo sich langsam ber uns das Wasser. (bs. Karl Vossler)

    Im achten Graben des achten Hllenkreises, wo die bsen Ratgeber ben,

    tritt hier im Bereich der Flammenkugeln, die fast mehr als eine Vorform derLichthllen der seligen Geister denn als Peinigung erscheinen, Odysseusals der groe Abenteurer des Geistes hervor, dem zum Gelingen nur derGlaube und die Gnade fehlten. [...] Es steckt in Dantes Odysseus unend-lich viel von seinem eigenen Schicksal, der ganze Traum seiner kosmi-schen Reise, [...] und es steckt in ihm ein Vorfahre des Kolumbus, der ohnejede Scheu als Renaissancemensch die Entdeckung neuer Welten ers treb-te. Ja, Dante lt in ihm die Haltung des modernen Entdeckers in solchemGlanze erstrahlen, da der Leser eine Zeitlang benommen bleibt und erstin den Schluversen, im Schiffbruch des Helden, seine tragische Hybriserkennt [...].20

    Im bergang nmlich vom Mittelalter bzw. genauer von der mittleren Epoche

    des metaphysischen Denkens wird in dessen konomischer Logik das Zins-Prinzip abgelst vom Kredit-Prinzip, und damit erst erhlt die Seefahrt, undnicht mehr nur die mittelmeerische, sondern die ozeanische Seefahrt ihre meta-

    20 Dante Alighieri: Die Gttliche Komdie. Italienisch und deutsch. bersetzt und kommen-tiert von Hermann Gmelin. Band IV, Kommentar, Erster Teil, Die Hlle, Mnchen 1988(Stuttgart 11954), S. 381 f.

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    physische Legitimation, wie es Schmitt auf seine Weise ganz richtig gesehenhat.21

    9.

    Durch die industrielle Revolution wird die Natur, unter den Bedingungen hand-werklicher Produktion Grund (arch) und Umgreifendes (perichon), nunmehrzum bloen Material und Medium der Produktion. Jene drei Horazischen Fre-vel, der prometheische Feuerraub, der ddalische Flug und das herakleische

    Eindringen in die Unterwelt waren schon den achtziger Jahren des 18. Jahrhun-derts ins Technisch-Positive gewendet worden mit der Erfindung des Motorsdurch Watt, des freien Flugs durch die Gebrder Montgolfier und mit der Be-grndung der Chemie als Wissenschaft durch Lavoisier. Gedanklich wird dasMeer dadurch zum Ort der Bewhrung wie des Scheiterns des industriell-moder-nen als des ursprnglich-produktiven Menschenwesens, d. h. der Kampf mitihm wird, angefangen mit Coleridges Rime of the Ancient Mariner (1797) undPoes Adventures of Arthur Gordon Pym (1838) dmonisiert und heroisiert.22

    Ein Jahr nach dem Erscheinen des modernen Epos vom Zorn des KapitnAhab (1851) bringt Baudelaire die Bestimmung des Meers als das nunmehrexistenzielle Andere auch auf den lyrischen Begriff:

    Freier mensch! das meer ist dir teuer allzeit .

    Es ist dein spiegel

    .

    das meer

    .

    du kannst dich beschauenIn seiner wellen unendlichem rollendem grauen.

    In deinem Geist ist ein abgrund nicht minder weit.

    Gerne versenkest du dich tief in dein bild.Ziehst es an dich mit auge und hand deine sinneHalten manchmal im eigenen tosen inneBei dem gerusch dieser klage unzhmbar und wild.

    Beide lebt ihr in finstrer und heimlicher flucht.Mensch noch sind unerforscht deine innersten grnde!Meer noch sind unentdeckt deine kostbarsten schlnde!Euer geheimnis bewahrt ihr mit eifersucht.

    21Reichstes Material bietet Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-syste-matische Darstellung des gesamteuropischen Wirtschaftslebens von seinen Anfngen biszur Gegenwart. Zweiter Band. Das europische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frhka-pi ta lismu s, vor nehml ich im 16., 17. und 18. Jahrhunde rt (in zwei Halbb nden) , Berl in1969.

    22 Zu erinnern ist auch an den Untergang der Trinidada im zweiten Gesang von Byrons DonJuan (1819) und selbstverstndlich an Thodore Gricaults Flo der Medusa im selbenJahr.

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    Und seit unzhligen jahren rollet ihr weiterOhne mitleid ohne reuegefhl .

    So sehr liebet ihr blut und totengewhl Unvershnliche brder! ewige streiter!23

    Freilich wird mit dem technischen Fortschritt im 20. Jahrhundert auch das Meerzum Material der Produktion und d. h. zugleich zum Gegenstand wissen-schaftlicher Erforschung wie zum Medium der Freizeitindustrie , womit es dieAura einer existenziellen Metapher verliert. In The Mirror of the Sea (1906)kann Joseph Conrad vom Dampfschiff sagen, sein Leben sei not so much acontest as the disdainful ignoring of the sea (XIX), und: The machinery, the

    steel, the fire, the steam have stepped in beween the man and the sea. A modernfleet of ships does not so much make use of the sea as exploit a highway (XXII).War das Meer in der klassischen Antike schon das konomische Andere ber-haupt, in der mittleren Epoche die nur frevelnd zu berschreitende Grenze derkumene, in der neueren das Element unendlichen Kredits, dann ist es in derModerne zuerst Restnatur als, mit dem Schmittschen Terminus, Feind desproduktiven Menschenwesens, sodann aber, in einer neuerlich, diesmal glo-bal, sich schlieenden Welt ein Ort unter anderen Orten, nicht durch einenUnterschied schlechthin ausgezeichnet.

    23Charles Baudelaire: Lhomme et la mer (Les Fleurs du Mal Nr. XIV) in der Umdichtung vonStefan George (Baudelaire. Die Blumen des Bsen. Umdichtungen, Smtliche Werke, BandXIII/XIV, Stuttgart 1983, S. 26).

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