sachverstand und verantwortung gefragt

2
451 Bautechnik 83 (2006), Heft 6 Berichte Sachverstand und Verantwortung gefragt Diskussionsbeitrag zu: El-Mossallamy, Y., Löschner, J.: Beitrag zur Standsicherheit von Böschungen nach DIN 1054 – Januar 2005. Bautechnik 83 (2006), S. 288–289. In ihrem Beitrag untersuchen die Autoren Diskrepanzen zwischen alten und neuen DIN-Normen hinsichtlich des Standsicherheitsniveaus bei Böschungen und Gelände- sprüngen. Dabei kommen sie zu dem Schluß, daß entge- gen der Absicht, bei der Umstellung des globalen Sicher- heitskonzeptes auf das Konzept der Teilsicherheiten das Sicherheitsniveau zu erhalten, dies im Falle der Böschungs- und Geländebruchsicherheit nicht gelungen sei. Hier sei nach dem neuen Sicherheitskonzept das Sicherheitsni- veau geringer als zuvor. Dies wird anhand von Vergleichs- berechnungen für einen Deich nach DIN 4084:07-1984 und DIN 1054:01-2005 belegt. Vergleichsberechnungen hierzu sind im Zusammen- hang mit der Erarbeitung der DIN V 4084-100 durchgeführt und beispielsweise bei Schulz/Goldscheider (1997), Teil 1, publiziert worden, wobei sich herausgestellt hat, daß die Ab- sicht, das Sicherheitsniveau – unter der weiter unten darge- stellten Vorgabe – zu erhalten, mit den damals durch DIN V 1054-100 vorgegebenen Teilsicherheitsbeiwerten y f = 1,25 und y c = 1,6 im wesentlichen gelungen war. Diese Ver- gleichsberechnungen ergaben, daß ohne Berücksichtigung von veränderlichen Einwirkungen das Sicherheitsniveau nach dem Konzept der Teilsicherheiten nach DIN V ENV 1054-100 etwas höherwar als nach dem globalen Kon- zept. Da für veränderliche Einwirkungen im neuen Konzept höhere Teilsicherheitsbeiwerte zugrunde zu legen sind als für ständige Einwirkungen, werden Vergleiche immer pro- blematisch sein. In der Regel sind aber die veränderlichen Einwirkungen bei Nachweisen der Böschungs- und Gelän- debruchsicherheit im Vergleich zu den ständigen Einwir- kungen gering 1 . Gegenüber den Teilsicherheitsbeiwerten der DIN V ENV 1054-100 ist allerdings in der späteren DIN 1054:01-2005 der Teilsicherheitsbeiwert für die Kohä- sion des Bodens deutlich niedriger angesetzt worden, was formal gegenüber DIN V ENV 1054-100 und den früheren Normen zu einem geringeren Sicherheitsniveau führt. Die angesprochene Problematik spiegelt durchaus die historische Entwicklung in der geotechnischen Praxis und Normung der letzten Jahrzehnte wider. Die noch aus zwei Teilen – Blatt 1 Geländebruchberechnungen bei Stützbau- werken und Blatt 2 Berechnung der Standsicherheit von 1 Ausnahmen hierzu stellen z. B. Eisenbahnböschungen gerin- ger Höhe dar, wo die veränderlichen Einwirkungen durchaus dazu führen können, daß nach dem Konzept der Teilsicher- heitsbeiwerte flachere Böschungen ausgeführt werden müssen (freundl. Mitteilung von Prof. Vogt, München).

Upload: sachverstaendiger-fuer-erd-und-grundbau-hartmut-schulz

Post on 06-Jun-2016

212 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Sachverstand und Verantwortung gefragt

451Bautechnik 83 (2006), Heft 6

Berichte

Sachverstand und Verantwortung gefragt

Diskussionsbeitrag zu:El-Mossallamy, Y., Löschner, J.: BBeeiittrraagg zzuurr SSttaannddssiicchheerrhheeiitt vvoonn BBöösscchhuunnggeenn nnaacchh DDIINN 11005544 –– JJaannuuaarr 22000055.. Bautechnik 83 (2006), S. 288–289.

In ihrem Beitrag untersuchen die Autoren Diskrepanzenzwischen alten und neuen DIN-Normen hinsichtlich desStandsicherheitsniveaus bei Böschungen und Gelände-sprüngen. Dabei kommen sie zu dem Schluß, daß entge-gen der Absicht, bei der Umstellung des globalen Sicher-heitskonzeptes auf das Konzept der Teilsicherheiten dasSicherheitsniveau zu erhalten, dies im Falle der Böschungs-und Geländebruchsicherheit nicht gelungen sei. Hier seinach dem neuen Sicherheitskonzept das Sicherheitsni-veau geringer als zuvor. Dies wird anhand von Vergleichs-berechnungen für einen Deich nach DIN 4084:07-1984und DIN 1054:01-2005 belegt.

Vergleichsberechnungen hierzu sind im Zusammen-hang mit der Erarbeitung der DIN V 4084-100 durchgeführtund beispielsweise bei Schulz/Goldscheider (1997), Teil 1,publiziert worden, wobei sich herausgestellt hat, daß die Ab-sicht, das Sicherheitsniveau – unter der weiter unten darge-stellten Vorgabe – zu erhalten, mit den damals durch DINV 1054-100 vorgegebenen Teilsicherheitsbeiwerten yf = 1,25und yc = 1,6 im wesentlichen gelungen war. Diese Ver-gleichsberechnungen ergaben, daß ohne Berücksichtigungvon veränderlichen Einwirkungen das Sicherheitsniveaunach dem Konzept der Teilsicherheiten nach DIN V

ENV 1054-100 etwas höherwar als nach dem globalen Kon-zept. Da für veränderliche Einwirkungen im neuen Konzepthöhere Teilsicherheitsbeiwerte zugrunde zu legen sind alsfür ständige Einwirkungen, werden Vergleiche immer pro-blematisch sein. In der Regel sind aber die veränderlichenEinwirkungen bei Nachweisen der Böschungs- und Gelän-debruchsicherheit im Vergleich zu den ständigen Einwir-kungen gering1. Gegenüber den Teilsicherheitsbeiwerten derDIN V ENV 1054-100 ist allerdings in der späterenDIN 1054:01-2005 der Teilsicherheitsbeiwert für die Kohä-sion des Bodens deutlich niedriger angesetzt worden, wasformal gegenüber DIN V ENV 1054-100 und den früherenNormen zu einem geringeren Sicherheitsniveau führt.

Die angesprochene Problematik spiegelt durchaus diehistorische Entwicklung in der geotechnischen Praxis undNormung der letzten Jahrzehnte wider. Die noch aus zweiTeilen – Blatt 1 Geländebruchberechnungen bei Stützbau-werken und Blatt 2 Berechnung der Standsicherheit von

1 Ausnahmen hierzu stellen z. B. Eisenbahnböschungen gerin-ger Höhe dar, wo die veränderlichen Einwirkungen durchausdazu führen können, daß nach dem Konzept der Teilsicher-heitsbeiwerte flachere Böschungen ausgeführt werden müssen(freundl. Mitteilung von Prof. Vogt, München).

Page 2: Sachverstand und Verantwortung gefragt

Böschungen – bestehende DIN 4084 entstand Anfang der1970er Jahre, zu einer Zeit, in der noch keine weitgehen-den Anforderungen für die Baugrunduntersuchung erlas-sen waren. Die DIN 19700, Teil 10/1986 verlangte, ebensowie bereits die Fassung von 1965, für die wesentlich an-spruchsvolleren und risikoträchtigen Staudämme für nor-male Lastfälle den Sicherheitsbeiwert von h = 1,3. DerGrund für diese äußerliche Diskrepanz waren die höherenAnforderungen an die geotechnischen Untersuchungen,Nachweisverfahren und Baukontrollen bei Staudämmengegenüber sonstigen Böschungen und Geländesprüngen.Bei Stauhaltungsdämmen, zum Teil auch bei Flußdeichen,lehnte man sich häufig an die DIN 19700 an.

Durch die Einführung der DIN 4020 und zahlreicherVersuchsnormen verbesserte sich bereits in den 1980erJahren der Standard der geotechnischen Bearbeitung soweit, daß im DIN-Ausschuß „Baugrund/Berechnungsver-fahren“ eine Herabsetzung der in der DIN 4084 geforder-ten Werte um 0,1 beschlossen wurde. In der in Verbindungmit der Umstellung des Sicherheitskonzepts entstandenenFassung DIN V 4084-100 (1996) waren keine Zahlenwertefür die neuen Teilsicherheiten angegeben, jedoch schriebdie DIN V 1054-100 (ebenfalls von 1996) im Lastfall 1 fürden Reibungsbeiwert yf = 1,25 und für die Kohäsion yc =1,60 vor, Werte, die der ENV 1997-1 entstammten und seitJahrzehnten in Dänemark üblich waren.

Die Teilsicherheitsbeiwerte sind jedoch auf die charak-teristischen Werte der Bodenkenngrößen anzuwenden, dielaut DIN EN 1971-1:2004, Abs. 2.4.5.2 (2P) „als vorsichtigeSchätzung desjenigen Wertes festzulegen sind, der im Grenz-zustand wirkt“. Bei dieser Schätzung sind zahlreiche Krite-rien einzuhalten und Randbedingungen zu berücksichtigen,die in Abschnitt 2.4.3 und in den weiteren Absätzen des Ab-schnittes 2.4.5.2 derselben DIN EN aufgelistet sind. Darausist ersichtlich, daß der charakteristische Wert der Scher-festigkeit von Böden bereits mit Sicherheiten zu versehen ist;dieselben Bestimmungen stellen aber auch dem Sachver-ständigen für Geotechnik einen erheblichen Spielraum be-reit, um entsprechend seinen Kenntnissen und Fähigkeitenauch höhere Scherfestigkeiten zu vertreten, als es früher un-ter den Maßgaben der DIN 1055, Teil 2 üblich war, z. B.durch Berücksichtigung der Spannungsabhängigkeit desWinkels der inneren Reibung bei einigen Bodenarten. Fer-ner verlangt § 2.4.5.2 (3P), die größere Streuung von c’ imVergleich zu tan j’ bei der Festlegung des charakteristischenWertes zu berücksichtigen. Die Folge davon ist die Anglei-chung derTeilsicherheiten für beide Teile der Scherfestigkeit.Ob sich die „vorsichtige Schätzung“ auf einen Mittelwert be-zieht oder z. B. für verschiedene Versagensmechanismenunterschiedliche charakteristische Werte anzunehmen sind,wird von Fall zu Fall zu entscheiden sein. Bei flachenBöschungskreisen in als homogen eingestuften Böden z. B.wäre von vorsichtigen, d. h. auf der sicheren Seite liegendenMittelwerten für geringe Normalspannungen auszugehen.Für höhere Böschungen und tiefliegende Gleitkreise wäreeine Mittelung sowohl über einzelne Versuchsergebnisse alsauch über die Normalspannungen angemessen, wenn nichteine Unterteilung in Schichten vorgenommen wird.

Die Kommentare zur ENV 1997-1 und EN 1997-1 vonSadgorski/Smoltczyk, Smoltczyk/Vogt und Simpson/Discollsetzten sich weiter mit dem Wesen und der Problematik dercharakteristischen Werte für Bodenkenngrößen auseinander.

452 Bautechnik 83 (2006), Heft 6

Insbesondere die letzteren gehen auf die wesentlichen Unter-schiede zwischen den charakteristischen Werten des kon-struktiven Ingenieurbaus und der Geotechnik ein. Sie beto-nen, daß der Kenntnisstand des geotechnischen Mitplaners(bzw. Sachverständigen für Geotechnik) über die örtlichenVerhältnisse stets höher ist als derjenige der Verfasser derNormen. Die EN 1997-1verlange vom erstgenannten, diesenKenntnisstand in die Wahl und Begründung der charakteri-stischen Werte einfließen zu lassen. Diese, durchaus briti-sche, Formulierung eines bekannten Sachverhaltes führt er-neut die Verantwortung der Beteiligten, insbesondere unterden Bedingungen weitgehender Gewerbefreiheit, vorAugen.

So gesehen, wäre die Sicherheit gegen Böschungs- undGeländebruch nach den neuen Kriterien nicht geringer,sondern eher höher als bisher, eine kompetente und pro-funde geotechnische Bearbeitung vorausgesetzt, die von derNormung auch imperativ verlangt wird (DIN 4020, Ab-schnitt 5.2). Die „neue“ Sicherheit scheint allerdings einenHauch der Subjektivität zu enthalten, wodurch eine bishernur in Sonderfällen übliche, kritische Prüfung der geotech-nischen Annahmen und Festlegungen einen höheren Stel-lenwert erhalten muß. Andererseits ist hinreichend be-kannt, daß die verschiedenen gängigen – vereinfachten undgenaueren – Verfahren zur Ermittlung der Standsicherheitvon Böschungen schon bisher zu recht unterschiedlichenglobalen Sicherheitsbeiwerten führten, siehe z. B. Bishop(1954), Franke (1967), ein Umstand, der bei der Gesamtbe-urteilung der Sicherheit berücksichtigt werden sollte, auchwenn nach der DIN 4084 vorgegangen wird.

Literatur

Bishop, A. W.: The use of slip circle in the stability analysis ofslopes. Proc.Europ.Conf. on stability of slopes in Stockholm,1954, Vol. 1, Session 1/1.

Franke, E.: Einige Bemerkungen zur Definition der Standsicher-heit von Böschungen und der Geländebruchsicherheit beimLamellenverfahren. Die Bautechnik 12 (1967), S. 415—419.

Sadgorsky, W., Smoltczyk, U.: Sicherheitsnachweise im Erd-und Grundbau. Kommentar u. a. zu DIN V ENV 1997-1: Eu-rocode 7. Beuth Verlag Berlin 1996.

Schulz, H., Goldscheider, M.: Vergleiche zur Standsicherheitvon Böschungen zwischen altem und neuem Sicherheitskon-zept, Eurocode 7, Entwurf, Berechnung und Bemessung inder Geotechnik, Beispiele, Herausgeber: DIN Deutsches In-stitut für Normung, 1. Auflage 1997.

Simpson, B., Driscoll, R.: Eurocode 7, a commentary. Construc-tion Research Communications Ltd. Watford, GB 1998.

Smoltczyk, U., Vogt, N.: Entwurf, Berechnung und Bemessungin der Geotechnik, Teil 1: Allgemeine Regeln. Kommentar zuDIN EN 1997-1: Eurocode 7. Beuth Verlag Berlin 2005.

Thurnbull, W. J., Hvorslev, M. J.: Special Problems in Slope Sta-bility. Journ. of Soil Mechanics and Foundations Division,Proc. ASCE, SM4, (1967) S. 499—527.

Vollenweider, U.: Standsicherheit von Böschungen, Anwendungdes neuen Bemessungskonzeptes. In „Neue Normen für Geo-technik (CEN und SIA), Referate der Studientagung vom 2.November 1995 in Zürich. SBGF/ SIA.

Autoren dieses Beitrages:Prof. Dr.-Ing. Hartmut Schulz, Sachverständiger für Erd- und Grundbau,Laurentiusstraße 24, 76477 Elchesheim-Illingen, Prof. Dr.-Ing. Thomas Richter, Sachverständiger für Bodenmechanik, Dudenstraße 78, 10965 BerlinDr.-Ing. Welin Sadgorski, Rotbuchenstraße 73, 81547 München

Berichte