rückblick und ausblick auf die entwicklung und die zukunft der deutschen nervenpathologie

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IQ Riickblick and husblick die Entwicklung and die Zukunft der deutschen 5Tervenpathologie. ). Von Wilhelm Erb~ Heidelberg. Vol" 17 Jahren, als ieh die einfiihrenden Worte zum ersten Bande dieser Zeitsehrift sehrieb (1891), duffle ich hinweisen auf die gewaltige Entwicklung, welche die Nervenpathologie in den vorhergehenden 2--3 Dezennien erfahren hatte~ und ich konnte die Aufgaben etwas n~her ins Auge fassen und umgrenzen, welche im Verlaufe der u~chsten Dezennien ihrer harrten. 34 B~inde unserer Zeitschrif~ sind seither erschienen und geben Zeugnis yon der reichen und umfassenden Arbeit, welche in diesen wenig Jahren geleistet wurde, und doch nur yon einem Tell der- selben! Zahlreiche andere Publikationen stehen im Dienste der Nerven- pathologie: Die neurologische Literatur in Form yon periodischeu Zeitsehriften, yon Zentralbl~ttern, Monographien, Lehr- und Handbiicherp ist in fast beiingstigender Weise angewachsen; nich~ allein bei uns in Deutschland und ()sterreich, sondern auch in Frankreich, England, Amerika, Italien, Skandinavien u. a. L~ndern, und zeug~ yon der tiber- aus grossen Arbei~sfreudigkei~ der ~eurologen in allen Kulturl~indern. Zahlreiche Friichte dieser Arbei~ sind gereif~, und wir haben in diesen ]et z~en 17 Jahren wieder recht erhebliche Fortschritte in den verschiedensten Richtungeu gemachL Ieh habe in jenem einleitenden Aufsatze anzudeuten gesucht, welche Forschungsgebiete wohl in der n~chsten Zei~ bevorzugt werden, welehe Hauptaufgabea sich der Neuropatho]ogie zur LSsung darbieten, welche Probleme am dringendsten der eingehenden ErSr~erung barren mSchten. Blicke ich heute zurfick auf das seither Erreichte, so kann ich mit Befriedigung kons~atieren, dass ein grosser Tell dessen, was ich in Aussicht genommen hatte, der Erftillung und LSsung n~her ge- kommen ist; ja noch welt mehr! Ich will nieht auf Einzelheiten eingehen, sondern nur beispiels- 1) Ausarbeitungeines auf der 33.VersammlungsiidwestdeutscherNeurologen and Irren~rzte in Baden-Baden am 30. 3~ai gehaltenen Vortrags. Deutsche Zeitschrift f. Nervenbeilkunde. ~5. Bd. 1

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Page 1: Rückblick und Ausblick auf die Entwicklung und die Zukunft der deutschen Nervenpathologie

IQ

Riickblick and husblick die Entwicklung and die Zukunft der deutschen 5Tervenpathologie. ).

V o n

Wilhelm Erb~ Heidelberg.

Vol" 17 Jahren, als ieh die einfiihrenden Worte zum ersten Bande dieser Zeitsehrift sehrieb (1891), duffle ich hinweisen auf die gewaltige Entwicklung, welche die Nervenpathologie in den vorhergehenden 2--3 Dezennien erfahren hatte~ und ich konnte die Aufgaben etwas n~her ins Auge fassen und umgrenzen, welche im Verlaufe der u~chsten Dezennien ihrer harrten.

34 B~inde unserer Zeitschrif~ sind seither erschienen und geben Zeugnis yon der reichen und umfassenden Arbeit, welche in diesen wenig Jahren geleistet wurde, und doch nur yon einem Tell der- selben! Zahlreiche andere Publikationen stehen im Dienste der Nerven- pathologie: Die neurologische Literatur in Form yon periodischeu Zeitsehriften, yon Zentralbl~ttern, Monographien, Lehr- und Handbiicherp ist in fast beiingstigender Weise angewachsen; nich~ allein bei uns in Deutschland und ()sterreich, sondern auch in Frankreich, England, Amerika, Italien, Skandinavien u. a. L~ndern, und zeug~ yon der tiber- aus grossen Arbei~sfreudigkei~ der ~eurologen in allen Kulturl~indern.

Zahlreiche Friichte dieser Arbei~ sind gereif~, und wir haben in diesen ]et z~en 17 Jahren wieder recht erhebliche Fortschritte in den verschiedensten Richtungeu gemachL

Ieh habe in jenem einleitenden Aufsatze anzudeuten gesucht, welche Forschungsgebiete wohl in der n~chsten Zei~ bevorzugt werden, welehe Hauptaufgabea sich der Neuropatho]ogie zur LSsung darbieten, welche Probleme am dringendsten der eingehenden ErSr~erung barren mSchten.

Blicke ich heute zurfick auf das seither Erreichte, so kann ich mit Befriedigung kons~atieren, dass ein grosser Tell dessen, was ich in Aussicht genommen hatte, der Erftillung und LSsung n~her ge- kommen ist; ja noch welt mehr!

Ich will nieht auf Einzelheiten eingehen, sondern nur beispiels-

1) Ausarbeitung eines auf der 33. Versammlung siidwestdeutscher Neurologen and Irren~rzte in Baden-Baden am 30. 3~ai gehaltenen Vortrags.

Deutsche Zeitschrift f. Nervenbeilkunde. ~5. Bd. 1

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weise auf dies oder jenes hinweisen: auf die klinischen Fortschritte in der Pathologie des Rfiekenmarks, auf den Ausbau der Pathologie und pathologischen Physiologie der Tabes, auf die sieherere Fundierung der spastischen und syphilitischen Spinall{ihmung, der Syringomyelie und anderer spinaler Erkrankungsformen, auf die seh~rfere Sichtung der vielumfassenden Krankheitsgruppe der Muskelatrophien; auf die erheblich verfelnerte topische Diagnostik der Gehirnkrankheiten, be- sonders der Tumoren, auf die Revision der Lehre "con den Aphasien und Apraxien; auf das vertiefte Studium tier traumatisehen :Neurosen, das eine ganz neue Auffassung derselben angebahnt hat; nicht minder auf die zahlreichen Aufschlfisse, welche die durch neue Methoden verfeinerte anatomische Forschung fiber die Pathologie der Ganglien- zellen und der Grosshirnrinde gelie~ert hat, auf die erneute Besch~f tigung mit der Pathologie des Sympathicus; weiterhin auf die Ein- ffihrung neuer diagnostischer Hilfsmitte], physikalischer, physiologiseher and biologiseher Untersuchungsmethoden (Lumbalpunk~ion, Serodia- gnostik, psyehogalvanisehe Reflexe usw.), auf die sch~rfere Abgrenzung neuer Krankheitsformen (Myasthenie, Myatonie u. a.), auf die Durch- arbeitung der heredit~ren Nervenleiden; vor allem aber auf die wich- tigen Ergebnisse der ~tiologisehen Forsehung, besonders auf die in hervorragendem Ma~e gefSrderte Einsich~ in die Verheerungen, welche allein die Syphilis am ganzen l~ervensystem anrichtet und damit auf die definitive Kli~rung der A_tiologie der Tabes und der Paralyse und - - last not least - - auf die wunderbaren Fortschritte, welche die operative Chirurgie des Gehirns und Rfickenmarks uns beschert hat, ganz zu geschweigen der Errungenschaften ffir die Prophylaxe, ffir die physikalisehe Therapie der Nervenkrankheiten u. a. m.

Es mag erlaubt sein, schon heute wieder den Bliek zurfickzu- lenken auf diese m~chtige Entwicklung, die Konsequenzen zu berlihren, welehe sie fiir die wissensehaftliche Forschung und den Unterrich~ in der l~ervenpathologie mit Notwendigkeit herbeifiihren musste, und einen Blick vorw~r~s zu tun auf die voraussichtlich so viel versprechende kiinftige Entwicklung dieses grSssten Spezialgebietes der innern Medizin.

Wer, wie ich und meine Altersgenossen, auf volle 50 Jahre der Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und des medizinischen Unterrichts zuriickblickt - - ich babe im Oktober 1857 die Universit~t bezogen und stehe jetzt im 102. Semester - - , der hat ein geradezu fiber wiiltigend es Schauspiel vor seinem geistigen Au ge vorfiberziehen sehen.

Vergleich~ man die medizinische Wissenschaft um die Mitre des vorigen Jahrhunderts mit einem schon reeht stattlichen Baume, aus dessen kr~iftigem Stature mit seinen breit ausladenden un~eren Zweigen

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- - den Hilfswissenschaften - - drei m~iehtige Aste, die inhere Medizin, die Chirurgie und die Geburishilfe, hervorragen und seine Gestalt und Gr5sse bestimmen, so haben wir yon jenem Zeitpunkte an ein ganz ersiaunliches und rapides Wachstum des Baumes sieh entwickeln sehen: iiberall sind neue Asie und zahlreiehe Zweige hervorgeirieben und haben herrliehe, segensreiche Friichte getragen!

Zu Beginn meiner Studienzeit war die Gliederung dieses Baumes eine relaiiv sehr einfache und damit auch die Zahl der medizinischen Lehrf~icher und ihrer Hilfswissensehaften eine reeht beschriinkte. Ich babe es in Heidelberg im Jahre 1.857 noch erlebt - - und an den meisten deutschen Hochschulen war es auch nicht anders --, dass Anaiomie und Physiologie in einer Hand vereinigt waren (unter F r i ed r i ch Arnold; He lmho l t z trat erst 1858 ein); die drei klini- schen Hauptfdcher, innere Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe, um- sehlossen e igen t l ieh- abgesehen yon den grundlegenden Hilfsf~ehern: Anatomie, Physiologie, paihologische Anaiomie und Arzneimitiellehre noeh alles, was fiir die eigentlich ~rztliehe Ausbildung erforderIich war; die Augenheilkunde war noch grSsstenieils in den H~inden der Chirurgen, die Syphilis und die Hauikrankheiten, der grSssie Tell der ,,Frauenkrankheiten" geh5rten zur Dom~ne der inneren Klinik, ebenso wie die damals gerade auftauehende Laryngologie und die Piidiatrie; yon der grossen Zahl der iibrigen ,,Spezialwissenschaften", die wir heuie kennen und gebrauehen, war noch nichts oder doeh nur die ersten bescheidenen Anf~inge vorhanden.

Seitdem ist eine lange Reihe yon neuen Disziplinen aufgetaueht, die unter" der Fiihrung hervorragender und genialer M~inner zum Teil geradezu einen umw~ilzenden Einfiuss und eine fiihrende Stellung in der Gesamtmedizin erworben haben: ich brauehe nur an die Augen- und Ohrenheilkunde, die Laryngologie, die experimentelle Paihologie, die Lehre yon den Infektionskrankheiten, die Bakteriologie, die Hy- giene, die Psyehiatrie und Nervenpathologie zu erinnern, nur die Gyn~ikologie, die Or~hop~die, die P~diairie, die Dermalologie und Syphilidologie, die Urologie zu nenneD, ganz zu gesehweigen der Spezialisierung des Studiums der Tuberkulose, der Herzkrankheiien, Verdauungs- und Stoffweehselkrankheiten u. a. m., was jeizt mit Mach~ zum Liehte sirebt, um diese gewaltige Entwicklung in einem Moment- bild vor ]hr geistiges Auge zu fiihren.

Naeh und naeh haben sie sich alle losgelSst von den drei grossen allen Muiterdisziplinen (yon denen freilich troizdem noeh recht viel iibrig geblieben und welter gewaehsen ist); sie sind selbsi~ndig ge- worden oder streben doeh wenigsiens sehr energiseh nach Selbstiindig- keit. Es ging bei dieser ,:Losl5sung" nieht alles glair ab, nich~ ohne

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Kampf und Streit, nich~ ohne ,,Geburtsschmerzen" und gewaltsame ,,operative Eingriffe", nicht ohne z~ihes Festhalten auf der ~ilteren konservativen Seite und nieht ohne rasches und allzuheftiges Vor- w~rtsdr~ngen auf seiten der jugendlichen Fortschrittler.

Aber es ist klar, dass wir bier Zeugen eines so zu sagen natur- gese~zlichen Entwicklungsvorgangs geworden sind, der nicht mit Ge- walt aufzuhalten, sondern hSchstens einzud~mmen, in riehtige Bahnen zu lenken and vor Fehlgriffen zu bewahren sein wird.

Es w~ire ja eine nieht uninteressante Aufgabe fiir den medizini- schen Historiker, diese Entwieklungen, Wandlungen and Ki~mpfe in der 2. H~lfte des verflossenen Jahrhunder~s auf ihren viel verschhngenen Wegen an den einzelnen Pflegest~itten der medizinischen Wissenschaff zu verfo]gen and klarzulegen.

Das liegt mir hier fern. Ieh will mich hier nur darauf be- sehrgnken, einen Blick auf diese Engwicklung in Bezug auf unser eigenes Spezialgebiet, die Neuro log ie , d. h. die P s y c h i a t r i e und N e u r o p a t h o l o g i e zu werfen; speziell ist es meine Aufgabe zu sehildern, wie sich die letztere, die N e r v e n p a t h o l o g i e im engeren Sinne, allmghlich aus der inneren Medizin, ihrer N~ihrmutter, heraus- entwickelt hat und wie sie nun im Begriffe steht, sich yon dieser -- soweit dies mit dem Gesamtinteresse der Medizin vereinbar is~ -- loszul5sen und selbstgndig zu werden.

Uber die P s y c h i a t r i e babe ich hier nich~ viel zu sagen; dutch die Eigenart ihres Krankenmaterials, die unlSsliehe Verbindung ihres Arbeitsgebiets mit psychologischen Fragen, die No~wendigkeit beson- derer and eigenar~ig ausgestalteter Krankenanstalten, ebenso wie einer ganz speziellen Ausbildung der Arzte fiir dieselbe, ihre engen und schwierigen Beziehungen zur Reeh~spfiege haben schon l~ingst ihre Selbsti~ndigkeit unabweisbar gemacht and ihre LoslSsung yon der inneren Medizin bewirkk

Aueh das Bediirfnis eines speziell mit ihr sich beschgftigenden Un~erriehts wurde lgngst empfunden and auch an einzelnen Hoch- schulen, wenn auch in z. T. recht mangelhafter Weise befriedigt; es dauerte lange, bis es zur Entstehung riehtig organisierter, mit den fibrigen Kliniken gleiehgestellter psychiatrischer Kliniken kam. Es wurde psychiatriseher Unterricht erteilt, z. T. nur theoretisch, meist aber mig tteranziehung der vorhandenen grossen Irrenanstalten in den Universitgtsstgdten oder in deren Nghe, so in Miinchen, Er- langen, Wiirzburg, Ziirieh u. a. 0. In Berlin war die Irrenanstalt schon rgumlieh mit den fibrigen klinischen Anstalten vereinigt und so konnte dutch Gr ies ingers energisches Eingreifen dort schon friih eine richtige ,,Irrenklinik" in der neuen Charit6 eingerichtet werden.

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Merkwiirdigerweise str~ubte sich ein Teil der Anstalisdirektoren lange und energisch, mit z. T. recht fadenscheinigen Griinden gegen die Errich~ung yon eigen~lichen ][rreskliniken und gegen die Heran- ziehung der Geis~eskranken zu klinisehen Vors~ellungen und dem klinisehen Unterrieht. Das haben wit in unserer niichsten ;N'~ihe, in Baden, erleb~.

Trotzdem ba~ He ide lbe rg , wo die staatlichen BehSrden dem wohl motivier~en Ddiugen der medizinischen Fakult/it in einsichtsvoller Weise nachgaben, den Ruhm, die ers te p s y e h i a t r i s c h e Unte r - r ieht;sanstalb, eine eigens ftir diesen Zweck errich~ete und den ilbrigen Kliniken gleichgestellte p s y c h i a t r i s e h e Kl in ik zu besitzen (sei~ 1878). - - Ibm sind sei~dem die meisten anderen deutschen Uni- versit~en gefolgt; es wird, schon der neuen Prtifungsordnang zu]iebe, jetzt wohl allenthalben riehtiger psyehiatriseh-kliniseher Unterrich~ erteilt,

Die innere Medizin ha~ hie etwas dagegen einzuwenden gehabt; fiber die volle Selbst~indigkeit dieser Disziplin besteht also schon l~ngs~ kein Zweifel mehr.

Anders mi~; tier Ne rvenpa tho log i e . Langsam und allm~hlich entwiekel~en sich ihre Anfiinge in den Handen der inneren K l in ike r und Po l ik l in ike r . Romberg , dessert berilhmtes Lehrbnch der Ner- venkrankheiten (Mitre des vorigen Jahrhunderts) einen Markstein in der En~wieklung unserer Disziplin bildet, war Polikliniker in Berlin; t t a s se , der etwa ein Dezennium sp/~ter die Nervenkrankhei~en in dem grossen Vir e h o w sehen Handbuch der speziellen Pathologie bearbeitete, Gr ies inger , dessert neurologische Arbeiten yon hervorragender Be- deu~ung waren, F r i ed re i cb , dem die Nervenpa~bologie so mancbe schSne Errungensehaft verdank~ (Geschwtilste in der SehgdelhShle, heredi~gre Ataxie, Muskelatrophien), Kussmau l , der auch in der Nervenpathologie Bedentendes geleistet hat (experimentelle Epilepsie, Seelen]eben des Neugeborenen, SpraehstSrnnges, Bulb/irparalyse usw.), Leyden, dessen bekannte Abhandlung fiber die Tabes aus dem An- fang der seehziger Jahre datiert - - sie waren innere Kliniker. Sie und ihre zahlreiehen Schiller, und auch noch andere Zeitgenossen, be- grfindeten eigen~lieh die deu[sche Nervenpathologie und entzfindet;en das ln~eresse filr dieses bedeu~same nnd umfangreiehe Spezi~lgebiet. Zwelfel- los stehen demnach under den Arbei~;ern auf dem GebieL der Nerven- pathologie die inneren K l in ike r und P o l i k l i n i k e r in erster Reihe.

Als nun der GrSssten einer yon diesen Klinikern, der friiher durch eine psyehiatrische Schule hindurchgegangen war und ein berfihmtes und altgemein verbrei~etes Lehrbueh der Psychia~rie gesehrieben /~a~te, in genialer Vielseitigkeit und Energie es uniernahm, drei Lehrgebiete in e iner Hand zu vereinigen, als Gr ie s inge r i. J. 1865 mit der

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Rombergschen Poliklinik zugleich die psychiatrische Klinik iibernahm und ausserdem in tier Charit5 noeh eine besondere Abteilung ftir l~'ervenkrankheiten begriindete, war ein grosser Schritt vorwKrts getan. Er war der Mann, diese ,Personalunion" merkwtirdiger Art durchzu- fiihren; er trat mit fiir die damalige Zeit durchsehlagenden Griinden fiir die Vereinigung der Psychiatrie mi~ der Nervenpathologie ein; er bezeichnete sie beide als eine zusammengehSrige grosse Disziplin, die alle Erkrankungen des gesamten l~ervensystems, die psychisehen wie die somatisehen, in sich schliessen und bearbeiten solle; ,,Psychiatrie und l~ervenpathologie sind ein Gebiet, wo alles eine Sprache spricht und yon denselben Gesetzen regier~ wird" - - mit diesem kiihnen Aus- spruch se~zte er seine Absiehten fiir die wissenschaftliche Arbeit und den medizinisehen Unterricht in eine bedeutungsvolle und lange nach- wirkende Tat urn, und damit traten nun auch die P s y c h i a t e r in die Reihe der Arbei~er und FSrderer auf dem Gebiet der somatisehen Nervcnkrankheiten ein.

Die Iqervenpathologie verdankt ihnen einen Fiille hervorragender Arbeiten and Fortschritte auf allen Gebieten der Iqeurologie, besonders fiir die Anatomie, Physiologie, Pathologie und Therapie den Gehirns und Riickenmarks, aber auch auf den so wichtigen Grenzgebieten zwischen psychisehen und somatischen Erkrankungen, den sog. l~eu- rosen der verschiedensfen Art. lch brauehe in diesem saehverst~indi- gen Leserkreise ausser Gr ies inger nur die l~amen yon C. Wes tpha l , Meyner t , Rinecker , Gudden, R. Arndt , Jo l ly , Wern icke , v. K r a f f t - E b i n g , F t i r s tner , E. Mendel and Hi tz ig zu nennen - - um nut die bereits Dahingeschiedenen zu erw~hnen! - - und bedarf dann keiner weiteren Beweisfiihrung. Die lange Reihe noeh lebender, fiir die Nervenpathologie arbeitender Psychiater ist allen bekannt und vertraut.

Aber noeh yon einer ganz anderen Seite, yon einer t h e r a p e u t i - sehen Spez ia ld i sz ip l in , erwuchsen der l~ervenpathologie unerwar~ete und bedeutungsvolle Miiarbeiter und F5rderer.

Der Anstoss, welchen der geniale Duehenne-de Boulogne , einer der besten klinisehen Beobaehter unserer Zeit, um die Mitre des vori- gen Jahrhunderts sowohl der Anwendung des faradisehen Stroms wie dem klinischen Ausbau der Nervenpathologie gab, blieb auch in Deutsch- land nich~ ohne Wirkung; die Arbeiten yon Mor. Meyer, E r d m a n n , Ziemssen u. a. bezeugen das.

Wei~ wirksamer noch war aber der Anstoss, den Rob. Remak (i858), dem sieh Ziemssen bald anschloss, in seiner energischen und enthusiastisehen Art, der Anwendung des galvanischen Stromes in der Therapie gab.

Daraus entwiekelte sieh die grosse Schule der deutschen Elek-

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t r o t h e r a p eu ten in den sechziger and siebziger Jahren, angeregt and belebt durch die gleiehzeitig in Bltite stehende Galvanophysiologie der 2qerven and Muskeln.

Naturgem~ss wandte sich das Interesse der Elektrotherapeuten in erster Linie den ~ervenkrankheiten, den L~hmungen, Aniisthesien, Neuralgien and Kr~mpfen, den Riickenmarks- und mancheu Hirn- krankheiten und zahlreichen sog. l~Ieurosen zu; zahllose interessante Beobachtungen flossen ihnen zu; neue Krankheitsformen wurden auf- gestellt, sch~irfere diagnostische Unterscheidungen ermSglicht, die hSchst bedeutungsvolle Elektrodiagnostik entwickelt and die Therapie vieler Nervenkrankheiten m~ichtig gefdrder&

So erwuchs vielen Elektrotherapeuten die Anregung zu weiteren, tiefer eindringenden Studien auf zahlreichen Gebieten der l~Ieurologie, tier Pathologie sowohl wie der Anatomie, Physiologie and pathologi- schen Anatomie m Studien, deren Frtlchte in den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts in grosser Zahl reiften. Es ist nicht un- inleressant, den Entwicklungsgang aller der M~inner, die yon verschie- denen Ausgangspunkten her und oft ia mehr zufi~lliger Weise der Elektrotherapie zugefiihrt und dadurch zu Nervenpathologen warden, im einzelnen zu ver fo lgen . Doch kann ich das hier nur streifen; Genaueres wfirde zu welt fiihren.

Viele sind wohl geleitet yon ihrem Interesse an Nervenkrankheiten direkt aus der Praxis heraus, oder als Dozenten ftir innere Medizin der Elek~rotherapie zugeftihrt worden, dies mag fiir Rud. B renne r , Bened ik t , Mot. R o s e n t h a l , Hi tz ig , J. Al thaus , A. E u l e n b u r g , Gg. F i scher , O. Berger , W. Miiller, P. J. MSbius u. a. gelten; andere wurzelten direkt noch in der inneren Klinik und warden aus verschiedenen Anregungen Elek~rotherapeuien, so z. ]3. ich selbst, Fr iedr . Schul tze , Kast , Rumpf , J. Hof fmann , E i sen lohr ; wieder andere kamen als Assistenten yon 2~erven- und Irrenkliniken oder yon Elektrotherapeuten in engere und bleibende Verbindung mi~ der Elektrotherapie und Nerven- pathologie, so z. ]3. Seel igmii l ler , B e r n h a r d t , E. Remak, H. Oppenheim, L. Laquer , z. T. aueh MSbius, der allerdings eincn ganz eigenartigen Entwicklungsgang durchmaehte. )Iatiirlich sind nicht alle hier crw~hn&

Es war eine naturgemiisse, durch die Besch~iftigung mit ihrem wichtigsten ]3eobachtungsmaterial bedingte ~otwendigkeit, dass die meisten Elektroiherapeuten sich zu eigentlichen ~Terven~rzten ent- wickelten, sich nicht a l le in auf ihre Spezialitiit konzentrierten, son- dern alle Hilfsmitte] der Therapie far ihre Kranken heranzogen und verwendeten. Man darf wohl sagen, dass sie eine Zeit lang die wirk- lichen ,,Neuropathologen im engeren Sinne", die Nervenspezialisten

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geworden sind, so dass sie durch ihre klinischen, histologischen, expe- rimentell-pathologischen Arbeiten ausserordentlich viel zur wissenschaft- lichen Entwicklung der }~ervenpathologie beigetragen haben, darin eine fiihrende Rolle spielten.

In ~ihnlicher Weise, wenn auch wissensehaftlich weniger hervor- tretend, hat noch eine andere therapeutische Spezialit~t, die Hydro - the rap ie , die sich ebenfalls viel mit ~ervenkrankheiten zu besch~f- tigen haste, befruchtend und fSrdernd auf die Nervenpathologie gewirkt, z. B. durch Runge, Cordes, R ich te r (Sonneberg), W i n t e r n i t z u.a.; auch hier hat sieh die Entwicklung so vollzogen, dass die friiheren ,,Wasserheilanstalten" ganz allmiihlieh fast alle zu ,,Nervenheilanstalten" geworden sind.

Nur nebenher sei erwiihnt, dass auch das Aufbltihen der Nerven- physiologie um die Mitre des vorigen Jahrhunderts ebenso wie die experimentelle Pathologie nicht ohne grossen fSrdernden Einfluss auf die Nervenpathologie geblieben sind; ebenso wie diese selbst aber auch durch ihre Beob~ehtungen am lebenden Menschen hSufig befruchtend auf jene Wissenszweige zuriickgewirkt hat.

So sind drei StrSme won reichem Wissen, umfassender Erfahrung und erfolgreieher wissenschaftlicher Arbeit zusammengefiossen, um den zu gewaltiger M~ichtigkeit angewachsenen Strom der heutigen Nerven- pathologie zu bilden: yon der inneren Klinik her, yon der Psyehiatrie und won den therapeutischen Disziplinen der Elektrotherapie und Hydr 9- therapie. Welcher yon diesen Zufltissen der miiehtigere und bedeut- samere ist, liisst sich im einzelnen nieht ermitteln, lhre Quellgebiete greifen vielfach ineinander und haben mancherlei verbindende Kan~le und Nebenarme; wit wissen, dass manche inneren Kliniker Psychiater geworden sind, dass zahlreiche Schiller der inneren Klinik zur Elektro- therapie und Nervenpathologie tibergingen, dass Nerveniirzte, Elek~ro- therapeuten und sogar Hirnphysiologen psychiatrische Lehrstiihle ein- nahmen, dass ~ervenpathologen medizinisehe Kliniken iibernahmen oder Ober~rzte an allgemeinen Krankenh~iusern wurden, dass viele inneren Kliniker ihr besonderes Interesse der Nervenpathologie zu- wandten, class dies in gleicher Weise won vielen Psychiatern geschieht usw.

Wie sollte es da mSglich sein zu entscheiden, weleher Teil des breiten Stromes im einzelnen diesem oder jenem Quellgebiet, dem einen oder anderen yon den drei Hauptzufiiissen angehSrt? Das w{ire vergebliches :Bemtihen!

Um so mehr, als doch auch noch ganz andere, yon aussen kom- mende Anregungen -- iNebenfliisse - - vorhanden und yon nicht ge- ringem Einfiuss auf die deutsche Nervenpathologie waren!

Es w~ire in der Tat undankbar, wollte ich bier nicht der grossen

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und tiefgehenden Einwirkung gedenken, die nach der Mitre des vorigen Jahrhunderts, yon den 60er und 70er Jahren ab der Neuropathologie yon Frankreieh her erwuchs. INach den hervorragenden Leistungen, die yon ~Iteren franzSsischen Klin~kern, yon Ol l iv ie r , T r o u s s e a u u. a., zuletzt yon D u c h e n n e de Boul . vorausgegangen waren, trug die grosse Schule der Salpd~ri~re, mit C h a r c o t u. Vu lp ian an der Spitze, mit ihren zahlreichen, begabten und arbeitsfrohen Schiilern, mit~ ihrem Riesenmaterial, mit ihren gl~inzenden klinischen und pathologisch- anatomischen Arbeiten ganz miichtig zur Entwicklung der Nerven- pathologie als Spezialdisziplin bet. Das im einzelnen auszufiihren, ist heute nicht meine Absieht. - - Auch aus England und Amerika end aus zahlreiehen kleineren wissenschaftlichen Zentren in anderen L~n- dern, die ich nicht alle anfiihren kann, kamen tiberaus wertvolle wissen- schaftliche Arbeiten und Entdeckungen. Ja, in mehreren yon diesen L~ndera ist es friiher als bet uns zur Grtindung besonderer Kranken- h~iuser ffir Nervenleidende und eigener neurologischer Gesellsehaffen gekommen. So vereinigte sich alles, um die klinische Entwicklung der Nervenpathologie zu fSrdern und ihre grSssere Selbst~indigkeit vor- zubereiten. Es is~ wohl nicht unbescheiden zu sagen, dass Deutsch- land dabei mit in der vordersten Reihe steht.

Und diese Entwick]ung ist in der Tat eine staunenswer~e; blicke ich zuriick auf die Zeit, d a i c h reich mit der Nervenpathologie zu be- sch~ftigen begann, etwa yore Jahre 1865 ab, so sehe ieh, wie verh~lt- nism~issig einfach noch alles lag; es war die Zeit, da man a]le ,grauen Degenerationen" des Rfickenmarks, auch die Myelitis, die spastischen Formen u. dgl. mi~ tier Tabes zusammenwarf, wo die spastischen Spinal- liihmungen noch nicht abgesondert waren, wo man yon der Atiologie tier Tabes noch keine Ahnung hatte, die Lehre yon den peripheren Nervenkrankheiten, besonders den Liihmungen, noch in den Kinder- schuhen s~eekte, wo die Elektrodiagnostik noch ]mum angedeutet, die Sehnenreflexe noeh unbekannt waren; die Zeit., daes noch keine mul- tiple Sklerose, keine Syringomyelie, keine Thomsensche Krankheit, keine Myasthenie u. dgl. gab, wo die Muskelatrophie eine noch unge- kl~rte Krankheitsgruppe war, wo die Neurasthenie noch nicht in die Wissenschaft und Praxis eingefiihrt war, wo man yon der Hysterie noeh sehr 'unk]are und verworrene Vorstellungen hatte; die Zeit, wo die Gehirnkrankheiten noch in wenig Kapiteln abzuhandeln waren, ihre topische Diagnostik sich noch in den leisesten Anf~ngen befand, die Lehre yon der Aphasie und ihren zah]reiehen Formen noch unent- wickelt war, wo man yon ether motorischen Region und tier tibrigen Topographie der Hirnrinde noch keine Ahnung butte, wo man die unheilvollen Wirkungen der Syphilis auf das ~Nervensystem noch nicht

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zu wiirdigen wusste, w o e s noch keine ,,traumatischen •eurosen" gab usw. usw . . . . . . . ich sage, wenn man sich dessen erinnert und den heutigen Umfang der ~ervenpathologie vor Augen hat, wie er in den neuesten Lehr- und Handbiichern zum Ausdruck komnxt, so wird man in der Tat yon Staunen und Bewunderung erfiillt fiber die wissen- schaftliche und praktische Entwicklung dieses Teilgebietes der inneren Medizin in den wenigen Jahrzehnten. 1oh brauche vor diesem Leser- kreis dabei nicht l~nger zu verweilen.

Immer aber blieb dabei die h'ervenpathologie ein Teil der inneren Medizin und gehSr~e zur Dom~ne der inneren Klinik; jedoch nicht an alien deutschen Kliniken wurde sie in gleicher Weise gepflegt, nur an wenlgen hat sie eine hervorragende Stelle eingenommen; ich glaube sagen zu diirfen, dass dies am meisten an der Heidelberger medizini- schen Klinik der Fall war, wo ich - - den Traditionen F r i e d r e i c h s und meiner eigenen Neigung folgend -- der INervenpathologie eine weitgehende Beriicksichtigung, auch im Unterricht, angedeihen liess. Mich leitete dabei die l~berzeugung, dass dieses Gebiet gerade in un- serer Zeit yon grosser praktischer Wichtigkeit und yon hohem In~eresse auch fttr die Studierenden und _~rzte sei. In ann~hernd ~hnlicher Weise ist dies auch an den Kliniken yon S t r f impe l l , Fr. Schu l t ze , L i c h t h e i m , z. T. wohl auch bei N o t h n a g e l , S t i n t z i n g , BKumler , K a s t , K a h l e r u. a. geschehen.

Wi t haben uns dabei wohl alle nicht verhehlt, dass dies bei der kolossalen Entwickhng der ~ervenpathologie in der neuesten Zeit nicht auf die Dauer mSglich sein kSnne, ohne die zahlreichea anderen Arbeitsgebiete der inneren Medizin etwas in den tiintergrund treten zu lassen; ich spreche da aus reicher eigener Erfahrung.

Haben doch auf auf d i e s e n Cxebieten die Verh~ltnisse sich ganz gewaltig eatwickelt! (]anz neue Forschungsgebiete, z. T. yon bedeu- tendem Umfang, neue Arbeits- and Untersuchungsmethoden, neue grosse Aufgaben fiir die klinische Forschung und den Unterricht sind der medizinischen Klinik erwachsen.

Und so sehen wir jetzt, dass fas~ alleuthalben in den inneren Kliniken neue und neueste Forschungsgebiete bevorzugt werden, dass die Infektionskrankheiten, die Stoffwechselerkrankungen, die bakterio- logischen, biologischen and biochemischen, serologischen und sero- therapeutischen, organotoxischen und organotherapeutischen Unter- suchungen, dass die Krankheiten des Zirkulationsapparates (des Iterzens und der Arterien), die Tuberkulose, die Syphilis u. a .m.im Vordergrunde stehen; dass die Grenzgebiete der Medizin und Chirurgie (man denke nur an die Appendicitis, die Cholelithiasis, die b~ierenchirurgie!) sich einer be- sonderen Pflege erfreuen und mit steigender Intensit~it bearbeitet werden.

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Rfickblick u.Ausblick aufd.Entwicklg.u.d.Zukunf~ d. deut. bTervenpathologie. 11

Dabei muss natiirlieh die Nervenpathologie zuriicktreten und zu kurz kommen; und so berei~et sich langsam, aber sicher, die LoslSsung dieses umfangreichsten, die volle Kraft des Einzelnen fiir sich in An- spruch nehmenden Spezialgebietes der inneren Medizin yon seiner al~en N~ihrmutter, der inneren Klinik, vor. Es war lange vorauszusehen, dass dies so kommen musste, trotz schwerer Bedenken, die dieser Trennung entgegens~ehen.

~un maehen aber neuerlich die Psychiater, wenigstens ein Tell der- selben, den Versuch, die Nervenpathologie an sich zu reissen und mit der psychiatrisehen Klinik zu verschmelzen. Sie stiitzen sich dabei auf den vor 40 Jahren yon Griesin ger getanen und vorhin yon mir zitierten Ausspruch, dass die Psychiatric and die Nervenpathologie nur ein ein- heitliches Gebiet fiir die wissenschaftliche Bearbeitung und fiir den Unterrich~ bilden und in einer Hand vereinig~ werden sollten.

Dass die innere Klinik diesen Anspruch energiseh zurtickwies, ist selbstvers~iindlieh. Die Streitfrage is~ schon mehrfaeh in 5ffentlieher Diskussion verhandelt worden, so auf der Jahresversammlung der deut- sehen Psychiater in GSttingen (1904, Referat yon Ffirstner) und auf der 29. Versammlung der siidwestdeutschen Neurologen and lrrenKrzte in Baden-Baden (1904, Vortrag yon Fr. Schultze). Bei dieser Gelegen- heir babe ich reich schon ausftihrlich zur Diskussion fiber diese Frage ge~ussert and dann in meiner ErSffnungsrede zum Kongress fiir innere Medizin in Wiesbaden (19(}5) in eingehender Weise die Griinde zu- sammengefasst, welehe reich n5tigen, diesen Anspriichen tier Psychiater ganz energisch entgegenzutreten and fiir die yon jeher bestehende Ver- bindung der Nervenpathologie mit der inneren Medizin zu plaidieren. Bei aller Anerkennung des Gewichts der yon den Psyehiatern vorge- brachten Griinde fiir die Heranziehung der Nervenpatholo~e zu ihrer Disziplin muss jeder objektiv Denkende doeh zugeben, dass ganz ~hn- ]iche und noeh viel st~rkere Griinde gegen die LoslSsung derselben yon der inneren Medizin sprechen, welehe doch viel ~l~ere und welt b esser fundierte Rechte ~uf sie hat, als die Psychiatrie.

Eswiirde zu wei~ fiihren, diese Griinde bier noch einmal ausftihr- lich zu entwickeln; ich miiss~e alles wiederholen, was ich bereits in Wiesbaden gesagt babe, und ich miisste auch heute noch -- freilich nur unter der Voraussetzung, dass die Nervenpathologie noch keine vSllige Selbst~indigkeit erreicht - - die damals ausgesproehenen S/itze mit fester Betonung aussprechen: ,,Die Nervenpathologie den inneren Klinikern!" und ,,die Psyehiatrie - - a n d nu t diese - - den Psyehiatern !" -- Daher diirften abet doeh alle die Konzessionen, die ieh bereits in Baden- Baden and Wiesbaden gern zugegeben babe, ohne weiteres gemacht werden: richtige Verteilung der zahlreiehen Grenzf~ille auf die beiden

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Interessen~en, die inneren Kliniker (bezw. Nervenpathologen) und die Psychiater; Errichtung yon kleinen offenen Abteilungen bei den psy- chiatrischen Kliniken, die zur Aufnahme solcher Grenzfiille, der Hystero- und Neuropsychosen, der somatischen Erkrankungen mit sehr promi- nen~en psychischen Symptomen, tier leichten, nicht anstal~sf~ihigen psychischen StSrungen, Hypochondrien, Zwangsvorstellungen und dergl. bestimmt sind - - auf der anderen Seite aber auch die Errichtung be- soaderer neurologischer Abteilungen und Ambula~orien bei den inneren Kliniken, besonders an den kleineren Hochseh'ulen.

Aber es scheint mir fast, dass die Diskussion fiber diese Frage bereits iiberflfissig zu werden beginnt, dass diese Entwicklung schon jetzt bis zu einem gewissen Grade fiberhol~ ist, well die mehr oder weniger vollst~ndige Selbst~ndigkeit der Nervenpathologie, ihre Los- 15sung yon der inneren Klinik sowohl wie yon der Psychiatrie, schon in greifbare N~he gerfick~ erseheint.

Die yon mir schon in meiner Antrittsrede in Leipzig (1880) aus- gesprochene Erwartung, dass es allm~hlich fiberall zur Entstehung yon speziellen Nervenabteilungen und Nervenkliniken kommen und dass die Nervenpathologie damit zu einer selbstSndigen Spezialdisziplin werden wfirde, beginnt sieh zu erfiillen, nnd es erSffnet sich dami~ schonjet~zt ein erfreulicher Ausblick auf die weitere Entwicklung der Nervenpathologie.

]hre Vereinigung mit tier Psyehiatrie in einer Hand erscheint mir ftir die Zukunf~ unausfiihrbar oder mindestens nicht zweckm~issig. W'ls vor 40 Jahren noch m5glich war, ist heute bei dem gewaltigen An- schwellen der beiden Disziplinen nicht mehr m5glieh. Kein Einzelner kunn mehr die ihm aus beiden Disziplinen erwaehsenden Aufgaben in Forsehung und Unterrieht und in ihren praktischen Konsequenzen be- w~ltigen; fiberall, wo diese Vereinigung besteht, wird die eine oder andere der beiden Disziplinen in den Hintergrund treten oder gewiss nicht so gefSrdert werden, wie sie es beanspruchen muss.

Die ganze neuere Entwickluug tier klinischen F~icher dr~ngt~ na~ur- gem~iss auf Trennung, auf LoslSsung yon den grossen Mutterdisziplinen hin, gerade wegen der ungeheuren Entwicklung des Arbeitsstoffes, der immer sehwerer zu fibersehen und zu beherrschen is& Und angesichts dessert sollte die Vereinigung yon zwei so grossen Arbeitsgebieten in unsereu Tagen zweekm~ssig sein?

Der PsychiaLer hat eine solche Ftille rein psychiatri'scher Aufgaben in Forsehung und Unterricht, in der Ausgestaltung der klinischen Krank- heitsbilder und Untersuchungsmethoden, in der Bearbeitung der patho- logisehen Anatomie, in der so wiehtigen forensisehen T~tigkeit, in der Ftihrung und Lei~ung tier Ans~alt, in dem S~udium der Grenzgebiete usw., dass die volle Arbei~skraft selbst eines ungewShnlich leistungs-

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f~higen Mannes davon in Anspruch genommen wird; fiir ihn is~ die Nervenpathologie, die er selbstverst~indlich beherrsehen soll, nur eine unerl~issliehe, freilieh sehr umfangreiche Hilfswissensehaft, an der er sieh in ertblgreicher, selbst~indiger Arbeit nicht wohl bet~tigen kann, ohne die Interessen seines eigentlichen Faches etwas in den Hintergrund zu rtieken.

Und ebenso kann kein innerer Kliniker mehr heutzutage die Auf- gabe einer vSlligen Beherrschung und Durchdringung der Nervenpatho- logie neben seinen iibrigen Verpfliehtungen erfiillen; das ist un- mSglieh - - daraber sind die inneren Kliniker, die es bis in unsere Tage versucht haben, wohl unter sich einig. Das is~ nur mit Heran- ziehung sehr tiichtiger Hilfskr~fie mSglich, und auch so kommt es sehliesslich darauf hinaus, dass die Nervenpathologie aueh als Teilgebie~ der inneren Klinik in Forsehung und Unterrieht ei~e gewisse Selb- st~ndigkeit erlangt.

Die Nervenpathologie ftir sich allein hat sehon je~z~ eine solehe Fiille der Aufgaben, dass auch sie sehon kaum mehr yon einem Ein- zelaen in all ihren Teilen beherrseh~ werden kann. Das lehrt sehon ein Blick auf ihre m~ichtig anschwellende Literatur, die Zahl und den Umfang ihrer periodischen Publikationsorgane, ihrer Hand-und Lehr- b~ieher und sons~iger Monographien. H. Oppenhe im hat auf der 1. Jahresversammlung der ,,Gesellsehaft deutscher :Nerven~irzte" kurz, aber sehr treffend ausgeffihr~, welehen umfassenden Aufgaben der too- derne Nervenpathologe gegeniibersteh~, dass er nicht bloss in der klinischen Beobachtung, Diagnostik und Therapie das HSchste leisten soll, sondern auch die schwierigen Hilfswissenschaften, die Anatomie und Physiologie des Gehirnsund gesam~en Nervensystems zu beherrsehen, die pathologische Anatom~e und Histologie des Nervenapparats selbst~ndig zu bearbei~en, physikalische, physiologische, elektrisehe, radiologische, chemisehe, mikro- skopische, biologische und psyehologisehe Forschungsmethoden zu ~iben, dass er auch mi~ bakteriologischen und serodiagnostischen Unter- suchungen sieh abzugeben hat; er soll ausserdem gewisse Gebie~e der Augenheilkunde (und neuerdings aueh der Ohrenheilkunde) theoretisch und praktisch beherrsehen nnd vor allem auf dem Gebiete der inneren Medizin und ihrer Untersuchungsmethoden so weit~ zu Hause sein, um sich vor schweren diagnostischen Irrtiimern zu schiitzen, u n d e r muss endlich auch geniigende Kenntnisse in der Psyehiatrie besitzen, um sich sowohl auf den Grenzgebie~en, wie iiberhaup~ gegeniiber so vielen psychischen Symptomen bei zahlreichen Nervenerkrankungen hinreichend sicher zu fahlen; ja, die neueste Entwicklung fordert sogar noeh eine enge Fiihhng mi~ der Chirurgie und Orthop~idie.

Und so wirft Oppenhe im gewiss mit Rech~ die Frage auf, ob

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fiberhaupt schon jetzt ein einzelner noch ein ,idealer Vertreter der gesamten ~ervenheilkunde sein kSnne". Man m5chte diese ~rage fast verneinen, und in tier Tat sind auch jetzt sehon Andeutungen einer ge- wissen Spezialisierung unter den einzelnen Vertretern der ~ervenpatho- logie vorhanden. Das geht abet in allen grSsseren Disziplinen so, ohne ihrer Einheitlichkeit Eintrag zu tun.

Alles dies verlangt dringend die Zusammenfassung tier Nerven- pathologie zu einem einheitliehen Ganzen and die Herbeifiihrung ihrer grSsseren Selbsti~ndigkeit, wenn auch mi~ gewissen Einsehr~nkungen.

Es ist nieht zu verwundern, dass aus diesem Bediirfnis heraus be- felts an nicht wenigeu Often Nervenabteilungen, Nervenkliniken and Nervenambulatorien - - allerdings fast nur an bereits bestehende psy- chiatrische Kliniken angegliedert - - entstanden sind; dass fiir die Zwecke tier wissenschaftliehen Forschung an verschiedenen 0r~en eigene, gut~ ausgestattete ,,neurologisehe Institute" (so z. B. sehon liingst in Wien dutch Prof. 0 b e r s t e i n e r , in Zfirieh dutch Prof. v. Monakow, in Berlin dutch Dr. Vogt , in Frankfurt a/M. dutch Prof. Edinger) ge- schaffen warden, die reiche Friichte ihrer Arbeit geliefert haben und in Zukunf~ verspreehen. Undes wird, wie wit hoffen, auch die Erriehtung eigener, mehr oder weniger selbst~ndiger, sowohl yon der inneren wie yon der psychiatrischen Klinik mehr oder weniger unabh~ingiger Nerven- stationen, die unter der spezialistisehen Leitung hervorragender Nerven- pathologen stehen, nachfolgen.

Auch hierzu ist in Heidelberg, das damit den fibrigen deutschen I=loehschulen vorausgeht, jetzt der Anfang gemaeht; auf Antrag meines zNachfolgers, Prof. v. Kl"ehl, der in weiser Beur~eilung der Verb~l~- nisse und in dankenswerter Rfieksieht auf die ]nteressen der Hoch- schule und des Unterrichts diese Entwicklung fSrderte, ist unter Zu- stimmung der gesamten Fakult~it, speziell aueh des Psyehiaters (Prof. Nissl) ein L e h r a u f t r a g fiir iNervenpa tho log ie bei der Regierung erbeten und yon ihr an Prof. J. H o f f m a n n erteil~ worden. Damit ist die yon mir an der medizinisehen Klinik schon lgngst begrfindete Nervenabteilung and Nervenambulanz bis zu einem gewissen Grade selbst~ndig geworden und berufen, den Interessen der Nervenpathologie in weitgehendem Mal~e zu dienen. Und wenn dies aueh zun~ehst nur ein ,,Versueh" sein sollte, so zweifle ich nieht an seinem Gelingen; die anderen Universit~ten werdeu naehfolgen, sobald sie fiber die ge- eigneten Lehrkr~fte verftigen.

Aber ich muss bier ausdriicklich be~onen, dass dabei der inneren Klinik ihr berechtigter and unverlierbarer Anteil an dem neuropatho- logisehen Material, soweit sie desselben ftir ihre Zweeke, fiir die all- gemeine Ausbildung in der inneren Medizin, d. h. also auch in den

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Nervenkrankheiten bedarf, durchaus nicht verloren gehen soll. Es wird Sache der inneren Kliniker sein, dafiir Sorge zu tragen. Aber for die umfassende und vertiefte wissenschaftliehe Arbeit und fiir die Erteihng eines spezialistisehen Unterrichts an die zahlreiehen desselben bediirfen- den jungen Arzte hat die Nervenklinik aufzukommen; ihr f/ill~ damit eine sehSne und vielverspreehende Aufgabe zu. ~)ber diese und andere hierher gehSrige Fragen und Probleme werden in der 2. Jahresver- sammlung der ,,Gesellschaft deutscher Nerven/irzte" (0ktober d. J.) unter der Ffihrung yon It. Oppenheim eingehende ErSrterungen stattfinden.

Diese Gesellschaft wuchs aus dem gleichen Bediirfnis heraus, wie die Creierung eigener Nervenabteilungen; der Initiative yon H. Opp en- heim entsprungen und yon ihm in umfassender und sorgf~iltiger Weise vorbereitet, ist sie im vorigen September (1907) in Dresden begriinde~ und organisiert worden; sie bedeutet einen grossen Sehritt vorw~irts in dem Selbst~ndigwerden der Nervenpathologie und wird zweifellos zu deren Gedeihen nicht wenig beitragen.

Schon l~ngst haben die deutschen Psychiater allenthalben das Be- dtirfnis gefiihl~ und befriedigt, sich zu Vereinen, Gesellschaften und regelm~ssigen Versammlungen zusammen zu schliessen, ~llgemeinen so- wohl wie lokalen, auf einzelne deutsche L~nder und Provinzen oder grosse Stiidte beschr~nkten.

Dann wurde zuers~ in Siidwestdeutschland~), im Verfolg der Grie- s ingerschen Gedanken und auf Anregung unseres verehrten Altmeisters L u d w i g-tteppenheim, unter lebhaf~er Beteiligung der Heidelberger, Frei- burger, Strassburger, Wiirzburger, Giessener, Baseler usw. Kliniker und Neurologen ebenso wie der in dieser Gegend ansiissigen Irren~irzte i. J. 1874 eine ,,Versammlung yon Neurologen und Irren~rzten" begrtindet, die vor- bildlich fiir alle folgenden ~hDlichen Griindungen in ganz Deutschland geworden ist und sich in hSehst erfreulicher Weise entwickelte. Sie vereinigt uns jetzt schon zum 35. Male bier in Baden-Baden und wird hoffentlich noch ungez~hlte Jahre welter bliihen. Sie hat zweifel]os sehr viel dazu beigetragen, die enge Verblndung zwisehen der Neuro- logie einerseits, der inneren Klinik und tier Psychiatrie andererseifs in diesem Teile Deutschlands zu pflegen und aufreeht zu erhalten.

Nun, ebenso wie die inhere Medizin sehon seit mehreren Jahr- zebnten in ihrem grossen Kongress die Arzte yon ganz Deutschland um ihre Fahne schart, wie die Psychiatrie sich seit ]ange ~n dem , ,Deutschen Verein fiir P s y c h i a t r i e " einen allj~ihrlichen grossen

1) Die Berliner medizinisch-psychologische Gesellschaft" hat erst im Jahre 1879 den Namen ,,Gesellschaft fiir Psychiatrie und ~Nervenkrankheiten" ange- nommen.

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Sammelpunkt geschaffen hat, soil je~z~ neben diesen auch eine ganz Deutschland umfassende , ,Gesellsch'aft D e u t s e h e r Nerven~rz te" bestehen und wirken. Sic hat ja in gewissem Sinne, wenn auch in anderer 0rganisation, Analoga und Vorhilder in den grossen ueuro- logischen Gesellschaften in 1New-York, London und Paris.

l~eben ihrer ~ornehmsten Aufgsbe - - der wissensehaf~lichen und prak~ischen Pflege and Entwieklung der Nearologie - - will sic dabei die Verbindung mit der inneren Klinik, uus der sie erwachsen ist, keineswegs 15sen, sondern in weitgehendem Ma~e aufreeht erhalten. Ohne eine genaue Durchbildung in der inneren Medizin ist ein tiich- tiger •ervenarzt gut night denkbar; er muss die nStige Sieherheit in tier inneren Diagnostik und in z~hlreichen klinischen Symptomenbildern besi~zen, um vor diagnostischen Fehlgriffen geschiitzt zu sein; bei den innigen Beziehungen des Nervensystems zu allen inneren Organen muss er die viel verschlungenen F~den, welche die ,~eurosen" zshl- reieher innerer Organe, z. B. des ]=Ierzens, des Verdauungs-, Harn- and Gesehleehtsapparat usw., mit orgsnischen Erkrankungen derselben verbinden, zu entwirren imstande sein; ebenso wie auch der kein ttichtiger innerer Arz~ sein kann, der nicht eine weitgehende Kenntnis nerv5ser St5rungen, wie iiberhaupt der Nervenpathologie besitzt. So darf such alas wichtige Material an ~ervenkrsnkheiten, das die inneren Kliniken und Krankenhausstationen besitzen, der wissenschaftlichen Verwertung night verloren gehen.

Iqicht minder abet wird die neue Gesellsehaf~ aueh die engsten Beziehungen zur Psychiatric aufreeht erhalten: abgesehen yon den zahlreichen psyehischen Symptomen bei ,delen orgsnischen und funk- tionellen ~crvenleiden, besitzt sic ja doch mit dieser ein grosses ge- meinsames Arbeitsfeld, dus Grenzgebiet zwisehen Psychosen and l~leu- rosen, "~on ganz gewaltigem Umfsng; ein Arbeitsfeld, uuf dem wit uns, hoffentlich ohne Kampf und Streit, vielmehr in freundlichem Zusammenwirken, geniigend betiitigen und tummeln kSnnen.

Es ist bekannt, dass such ich selbst reich an der Griindung dieser neuen Gesellschaft der Nervengrz~e beteiligt babe und dass man mir die grosse Ehre erwiesen bat, reich fiir die ngchste Zeit an die Spitze derselben zu stellen. - - 0bgleich innerer Kliniker, babe ieh es getan, well ich das Bedtirfnis fiir diese Griindung anerkennen musste und in den letzten Jahren immer sicherer zu der Uberzengung gekommen war, class die Entwicklung tier Nervenpathologie immer entsehiedener zu ihrer grSsseren Selbstgndigkeit hindr~ngte. Ich glaube, dass die Griin- dung unserer Gesellschaft dieser Entwicklung nur fSrderlieh sein kann and dass ihre riehtige Leitung auch zu einer harmonischen Einftigung in die vorhandenen grossen Spezialdisziplinen, speziell

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Rtickblick u.Ausblick aufd. Entwicklg.u.d.Zukunft d. deut.Nervenpathologie. 17

zwischen innere Medizin .und Psychiatrie f'dhren ~ird. Die Nerven- pathologie ist -- um in dem eingangs gebrauchten Bilde zu bleiben, ein neuer kr~ftiger und reiche Friichte versprechender Zweig, der dem miich~igsten Aste an dem Baume der medizinischen Wissenschaft, der inueren Medizin, entsprossen ist.

Ich halte es aber fiir meine Pflicht, hler ausdrficklich zu betonen, class diese Griindung keineswegs gegen die bestehenden kleineren und nieht rein neuropathologischen Gesellschaften, und vor allem nicht gegen unsere nun sehon seit mehreren Jahrzehnten bliihende :Badener Versammlung sttdwestdeutscher ~Neurologen und Irren~rzte gerichtet is~, dass sie dieselben in keiner Weise beeintr~chtigen will und wird. Wi~re dies der Fall, so wiirde ich nicht an die Spitze der neuen grSsseren Gesellschaft getreten sein; um keinen Preis mSchte ich die Beziehungen zu tier mir so lieb gewordenen Badener Versammhng, zu deren MRgriindern und anhiinglichsten, dankbarsten und treuesten Besuchern ich seR 34 Jahren geh5re, irgendwie lockern.

Ich bin tier Uberzeugung, dass alle diese wissenschaftlichen Ver- einigungen und Versammlungen sehr wohl neben einander bestehen und sich in glticklicher Weise erg~nzen werden.

W~ihrend die Gesellschaft deutscher Nerveniirzte ganz Deutschland und die deutschredenden Nachbarl~nder umfassen soll und das ganze Gebiet tier Nervenpathologie im engeren Sinne als ihr Arbeitsfeld an- sehen wird, haben die kleineren, aus Neurologen, inneren Klinikern und Psychiatern zusammengefiigten Versammlungen ihr spezielles, auch geographisch enger begrenztes Wirkungsgebiet; es wird zu ihren dankbarsten Aufgaben gehSren, den engeren Zusammenhang der drei •aehbargebiete aufrecht zu erhalten, die Grenzgebiete zu pflegen, Ubergriffen yon irgend einer Seite entgegenzutreten, etwa hervor- tretende Gegens~tze und Unebenheiten naeh Tunlichkeit auszugleiehen und abzuschleifen. Wie sehr diese Aufgabe durch den persSnlichen Verkehr in engerem Kreise erleichter~, wird, haben wir ja gerade in dem unvergleiehliehen Milieu der alten B~derstadt im Oostal so oft erfahren.

Und so sollen auch, wie ich hoffe, Teilnahme und Interesse an den kleineren Versammlungen, die ja in den betreffenden Landesteilen leichter erreichbar sind, nicht leiden unter tier Mitgliedschaft der Ge- sellschaft deutseher Nerven~rzte; und ich darf deshalb auch ohne Be- denken alle die Kollegen, die sieh fiir die weitere Entwicklung und Ausges~altung unserer Spezialdisziplin interessieren, bitten, tier neuen Gesellschaft beizutreten. Ihr Bliihen und Gedeihen wird dem hoffnungs- reichen Ausblick auf die Zukunf~ der Nervenpathologie, der sieh aus dem yon mir versuehten ausfiihrlichen Rtickblick auf ihre seitherige Entwicklung erSffnet, eine neue Grundlage verleihen.

Deutsche Zei tschr i f t f. Nervenhei lkunde. 35. Bd. 2