rezension: bursting the limits of time. the reconstruction of geohistory in the age of revolution....

6
DOI: 10.1002/bewi.200901356 Rezensionen Martin Rudwick, Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Chicago, London: The University of Chicago Press 2005. XXIV, 708 S., zahlr. Abb., geb. $ 45.00. ISBN-13: 978-0-226-73113-1. Martin Rudwick, Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform. Chicago, London: The University of Chicago Press 2008. XXII, 614 S., zahlr. Abb., geb. $ 49.00. ISBN-13: 978-0-226-73128-5. Vor Menschengedenken. Martin Rudwicks Untersuchung ɒber die Entdeckung der Erdgeschichte Die ,Sattelzeit der Moderne‘ ist eine bekannte Epochendefinition: Um 1800 wandelten sich die Zeiterfahrung und folglich das Selbstbewusstsein europȨischer und westlicher Gesellschaften. Die in den Artefakten und Verfahren der industriellen Revolution und in den politischen UmwȨlzungen der franzɆsischen Revolution verkɆrperte Idee des Fortschritts stellte unser Denken auf Zukunfts- orientierung um. Die einsetzende Technisierung steigerte im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Tem- po des wirtschaftlichen Lebens. Auch die Zeit selbst schien schneller zu vergehen, denn die Din- ge Ȩnderten sich rascher als bisher. Die maschinelle Standardisierung rhythmisierte den beschleunig- ten Zeitverlauf. Unter großstȨdtischen VerhȨltnis- sen, so der Topos, verdichtete sich diese Erfahrung eines vorwȨrts drȨngenden Zeitenwandels noch. Fortan waren wir modern, denn der Abstand zur eigenen Vergangenheit war ɒberdeutlich. In der Herausarbeitung dieser Epochenschwelle traf sich die bundesdeutsche Sozial- und Wirtschaftsge- schichte mit den von Reinhart Koselleck und an- deren initiierten begriffsgeschichtlichen Studien. Eine zweite MɆglichkeitsbedingung, die es Gesell- schaften um und nach 1800 erlaubte, sich selbst als modern zu begreifen, blieb in dieser Perspektive dagegen fast systematisch ausgeblendet: Die Zeit- rechnungen der Erdwissenschaften des 19. Jahr- hunderts steigerten das gesellschaftliche Bewusst- sein fɒr die eigene Geschichtlichkeit radikal, weil sie die Menschheitsgeschichte ins VerhȨltnis zur Erdentwicklung setzten. Die Ȩußerste Dehnung traditioneller Zeitmaße wie ,Epoche‘, ,Zeitspanne‘ oder ,Vergangenheit‘, die fɒr die Erfassung der Erdentwicklung nɆtig war, kam in den geologi- schen Gedankenexperimenten einer Stillstellung des kollektiven Zeitgefɒhls gleich. Denn gegen die immens langen ZeitrȨume, von denen schon die Naturforscher des spȨten 18. Jahrhunderts ausgin- gen und die im weiteren Forschungsverlauf immer grɆßer wurden, verschwand die gleichzeitig inten- siv untersuchte Geschichte der Menschheit beina- he ganz. Sie reichte schließlich nur ein paar Tau- send Jahre zurɒck. Die Geologen ergȨnzten die oben skizzierte Erfahrung des beschleunigten Wandels also um die Vorstellung einer extremen Verlangsamung. Und es passierte noch mehr. Pa- rallel zur allmȨhlichen Historisierung des politi- schen Denkens an Kosellecks Schwelle zur Neu- zeit begannen die Naturforscher, den Prozess, in dem die ErdoberflȨche ihr aktuelles Profil ausge- formt hatte, als „geschichtlichen“ Prozess zu be- schreiben. Die Erde, so stand Mitte des 19. Jahr- hunderts fest, hatte eine Geschichte. Diese gȨnz- lich neue Rahmung der Erderforschung, die Inte- gration historischer Denkweisen in die Naturwis- senschaften von der Erde, steht im Mittelpunkt der beiden BȨnde von Martin Rudwick, einem Altmeister der Geologiegeschichte. In Bursting the limits of time (BLT) und Worlds before Adam (WBA) erfasst er die kollektiven Leistungen der internationalen, d. h. vornehmlich europȨischen Geologie zwischen 1790 und 1840, wie sie sich in gedruckten und ungedruckten Kor- respondenzen, Notizbɒchern, Skizzen, Gesteins- sammlungen sowie Bɒchern und Zeitschriftenarti- keln niederschlugen. Die Doppelstudie entfaltet ihr Argument in einem Dreischritt. Bursting the limits of time schildert im ersten Teil die Aus- gangssituation der Erdwissenschaften im spȨten 18. Jahrhundert und erlȨutert, warum bestimmte geschichtswissenschaftliche Grundoperationen fɒr die Naturforscher attraktiv wurden. Teil zwei er- zȨhlt davon, wie diese allmȨhlich Eingang in die geologische Praxis fanden. Der Band Worlds before Adam, der die Zeit zwischen 1817 und 1845 abdeckt, bildet den dritten Teil. Wenn zu jener Zeit, wie Rudwick behauptet, die Geologen bereits 193 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 193–203 www.bwg.wiley-vch.de

Upload: andrea-westermann

Post on 06-Jun-2016

214 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Rezension: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform von Martin

DOI: 10.1002/bewi.200901356

Rezensionen

Martin Rudwick, Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory inthe Age of Revolution. Chicago, London: The University of Chicago Press 2005.XXIV, 708 S., zahlr. Abb., geb. $ 45.00. ISBN-13: 978-0-226-73113-1.

Martin Rudwick, Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Ageof Reform. Chicago, London: The University of Chicago Press 2008. XXII, 614 S.,zahlr. Abb., geb. $ 49.00. ISBN-13: 978-0-226-73128-5.

Vor Menschengedenken. Martin RudwicksUntersuchung �ber die Entdeckung derErdgeschichte

Die ,Sattelzeit der Moderne‘ ist eine bekannteEpochendefinition: Um 1800 wandelten sich dieZeiterfahrung und folglich das Selbstbewusstseineurop�ischer und westlicher Gesellschaften. Die inden Artefakten und Verfahren der industriellenRevolution und in den politischen Umw�lzungender franz�sischen Revolution verk�rperte Idee desFortschritts stellte unser Denken auf Zukunfts-orientierung um. Die einsetzende Technisierungsteigerte im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Tem-po des wirtschaftlichen Lebens. Auch die Zeitselbst schien schneller zu vergehen, denn die Din-ge �nderten sich rascher als bisher. Die maschinelleStandardisierung rhythmisierte den beschleunig-ten Zeitverlauf. Unter großst�dtischen Verh�ltnis-sen, so der Topos, verdichtete sich diese Erfahrungeines vorw�rts dr�ngenden Zeitenwandels noch.Fortan waren wir modern, denn der Abstand zureigenen Vergangenheit war �berdeutlich. In derHerausarbeitung dieser Epochenschwelle traf sichdie bundesdeutsche Sozial- und Wirtschaftsge-schichte mit den von Reinhart Koselleck und an-deren initiierten begriffsgeschichtlichen Studien.Eine zweite M�glichkeitsbedingung, die es Gesell-schaften um und nach 1800 erlaubte, sich selbst alsmodern zu begreifen, blieb in dieser Perspektivedagegen fast systematisch ausgeblendet: Die Zeit-rechnungen der Erdwissenschaften des 19. Jahr-hunderts steigerten das gesellschaftliche Bewusst-sein f�r die eigene Geschichtlichkeit radikal, weilsie die Menschheitsgeschichte ins Verh�ltnis zurErdentwicklung setzten. Die �ußerste Dehnungtraditioneller Zeitmaße wie ,Epoche‘, ,Zeitspanne‘oder ,Vergangenheit‘, die f�r die Erfassung derErdentwicklung n�tig war, kam in den geologi-schen Gedankenexperimenten einer Stillstellungdes kollektiven Zeitgef�hls gleich. Denn gegen die

immens langen Zeitr�ume, von denen schon dieNaturforscher des sp�ten 18. Jahrhunderts ausgin-gen und die im weiteren Forschungsverlauf immergr�ßer wurden, verschwand die gleichzeitig inten-siv untersuchte Geschichte der Menschheit beina-he ganz. Sie reichte schließlich nur ein paar Tau-send Jahre zur�ck. Die Geologen erg�nzten dieoben skizzierte Erfahrung des beschleunigtenWandels also um die Vorstellung einer extremenVerlangsamung. Und es passierte noch mehr. Pa-rallel zur allm�hlichen Historisierung des politi-schen Denkens an Kosellecks Schwelle zur Neu-zeit begannen die Naturforscher, den Prozess, indem die Erdoberfl�che ihr aktuelles Profil ausge-formt hatte, als „geschichtlichen“ Prozess zu be-schreiben. Die Erde, so stand Mitte des 19. Jahr-hunderts fest, hatte eine Geschichte. Diese g�nz-lich neue Rahmung der Erderforschung, die Inte-gration historischer Denkweisen in die Naturwis-senschaften von der Erde, steht im Mittelpunktder beiden B�nde von Martin Rudwick, einemAltmeister der Geologiegeschichte.

In Bursting the limits of time (BLT) und Worldsbefore Adam (WBA) erfasst er die kollektivenLeistungen der internationalen, d. h. vornehmlicheurop�ischen Geologie zwischen 1790 und 1840,wie sie sich in gedruckten und ungedruckten Kor-respondenzen, Notizb�chern, Skizzen, Gesteins-sammlungen sowie B�chern und Zeitschriftenarti-keln niederschlugen. Die Doppelstudie entfaltetihr Argument in einem Dreischritt. Bursting thelimits of time schildert im ersten Teil die Aus-gangssituation der Erdwissenschaften im sp�ten18. Jahrhundert und erl�utert, warum bestimmtegeschichtswissenschaftliche Grundoperationen f�rdie Naturforscher attraktiv wurden. Teil zwei er-z�hlt davon, wie diese allm�hlich Eingang in diegeologische Praxis fanden. Der Band Worldsbefore Adam, der die Zeit zwischen 1817 und 1845abdeckt, bildet den dritten Teil. Wenn zu jenerZeit, wie Rudwick behauptet, die Geologen bereits

193i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 193–203 www.bwg.wiley-vch.de

Page 2: Rezension: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform von Martin

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32 (2009): Rezensionen

ganz selbstverst�ndlich mit geschichtlichen Kate-gorien hantierten (WBA, 559), so bleibt zu unter-suchen, wie sich das Verh�ltnis zwischen den geo-historischen Modellierungen der Erdentwicklungund den naturwissenschaftlichen Kausalit�tsvor-stellungen gestaltete, die f�r ihre Erkl�rung ebensokonstitutiv waren.

Zu Beginn des ersten Bands portraitiert Rud-wick vier Wissensgebiete des sp�ten 18. Jahrhun-derts, die im Lauf der Untersuchung neu zur Geo-logie zusammenfanden. Die MuseumswissenschaftMineralogie (inklusive Fossilienkunde), die physi-kalische Geographie, die sich mit der r�umlichenVerteilung und Klassifizierung großfl�chiger Er-scheinungen der Erdkruste wie Gebirge, Meere,Seen oder Vulkane besch�ftigte, und die Geogno-sie mit ihrem zuerst im Bergbau ausgebildetenBlick f�r die dreidimensionalen Schichtungsver-h�ltnisse der Gesteinsmassen waren naturge-schichtliche F�cher. Sie hatten ein ahistorisch be-schreibendes und klassifizierendes Interesse an ih-ren Gegenst�nden. Auch der naturphilosophischausgerichteten Geotheorie und Geophysik fehlteder Sinn f�r Geschichtlichkeit: Beide suchten dieunver�nderlichen Naturgesetze, mit denen sich dieGenese und Entwicklung der Erde im allgemeinenund die vielen mineralogischen, geographischenund geognostischen Ph�nomene im besonderen er-kl�ren ließen. Rudwicks synoptische �bersichtgleicht einer Vierfeldertafel. Sie ahmt das system-atisierende Vorhaben der Naturgeschichte nachund trifft damit die Ausgangslage der Erdwissen-schaften „around the time that Saussure climbedMont Blanc“ ideal (BLT, 99). Mit dieser hartn�ckigwiederholten Formel benennt der Autor den Be-ginn seines Untersuchungszeitraums und kreiertgeschickt eine eigens auf die Geologiegeschichteabgestimmte Epochenbezeichnung (BLT, 21–22und 289). Der Mont Blanc-Tour der zwanzig-k�pfigen Gruppe um den Genfer Horace-B�n�dictde Saussure von 1787 widmen sich die Eingangs-seiten des Buchs. Rudwick schildert den Aufstiegallerdings nicht wie �blich als wissenschaftsge-schichtlichen Meilenstein, d. h. als einen Aufbruchin neue Zeiten der Alpenforschung. Die Gipfel-tour bleibt vielmehr ein Unterfangen im Namender alten Naturgeschichte. Sie unterstreicht, dasses dem zu Ende gehenden Zeitalter um die r�um-lich-taxonomisch verstandene Ordnung der Weltging: Das Bild des Gelehrten auf dem h�chstenGipfel der Alpen, in der formelhaften Epochenbe-zeichnung wieder und wieder aufgerufen, verge-genw�rtigt das Streben nach einem erdumspan-nenden �berblick („a savant on the top of themountain“, BLT, 15); es veranschaulicht, dass dasPanorama innerhalb der physikalischen Geogra-phie als idealtypische Repr�sentation von Voll-

st�ndigkeit galt. Dies ist ein gelungener erz�hleri-scher Kniff: Rudwick stellt so den gr�ßtm�glichenKontrast zur geohistorischen Perspektive her, dieden weiteren Verlauf der Studie bestimmt.

Geschichte und Erdgeschichte („geohistory“),so das im ersten Teil vorgetragene Argument, un-terschieden sich zwar in ihren Gegenst�nden undMethoden, teilten jedoch zunehmend dieselbenPrinzipien von Geschichtlichkeit miteinander. Dienach dem Vorbild der Geschichte von Staaten undV�lkern modellierte, detaillierte und verl�sslichquellengest�tzte historische Erkl�rung wurde all-m�hlich auch in vormenschliche Zeiten hinein aus-geweitet. Dies ist an sich keine neue Beobachtung,wie Rudwick konzediert. Aber, so f�hrt er weiteraus, bisher wurde entweder der Zeitpunkt der An-n�herung zwischen Geschichte und Geologie zusp�t angesetzt oder es wurden die falschen, weilempiriefernen Anschlussstellen benannt. Wederder Historismus des 19. Jahrhunderts noch die ge-schichtsphilosophischen Schriften Voltaires, Mon-tesquieus oder Herders waren die entscheidendenReferenzen, sondern die verschiedenen Arbeitsge-biete einer bereits vor 1800 florierenden Alter-tumskunde und Bibelwissenschaft, seien sie sach-kulturell oder philologisch, also textkritisch orien-tiert (BLT, 181–194). Manche geologischen For-scher machten sich die beiden Grundprinzipienvon Bibelwissenschaft und Chronologie zu Eigen:das Dogma der sorgsamen Quellenkritik und dieIdee, den gerichteten Zeitverlauf mit Hilfe ein-schneidender Ereignisse in Epochen zu untertei-len. In Entsprechung zur Textkritik �bernahmenlaut Rudwick die feldwissenschaftlich arbeitendenNaturforscher von der antiquarisch ausgerichtetenGeschichte und Altertumskunde das Vorgehen,wo immer m�glich den Untersuchungsgegenstandund die zugeh�rigen Sachquellen zu kontextuali-sieren. Damit wurden etwa der Fundort und dieweitere Umgebung von Gesteinsproben und Fos-silien noch wichtiger. Neben der Strukturbeschrei-bung geologischer Aufschl�sse nach Art und Lageder Gesteinsmassen gewannen nun auch die Erfor-schung der vergangenen Umweltbedingungen unddie genauen Umst�nde der Ablagerung („Archi-vierung“) an Bedeutung. Schließlich hielt die Ideevon kontingenten Entwicklungen Einzug ins na-turforschende Denken: Geohistorische Prozessewurden als ebenso undeterminiert begriffen wieder Verlauf der menschlichen Geschichte. Die Zer-st�rung Pompeijs und Herkulaneums durch denVesuvausbruch im Jahr 79, war ein Ereignis, andem geologisches und historisches Interesse zu-sammentrafen. Die Besichtigung der italienischenAusgrabungsst�tten w�hrend der standesgem�ßenBildungsreise f�hrte den Geologen die Unvorher-sehbarkeit von Geschichte und Erdgeschichte vor

194 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 193–203

Page 3: Rezension: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform von Martin

Rezensionen

Augen. Die mit der Zerst�rung einhergehendejahrhundertelange Konservierung der beiden St�d-te illustrierte zudem die Zuf�lligkeit jeder Quel-len�berlieferung.

Das freigelegte Alltagsleben in Pompeij zeugtef�r die Zeitgenossen um 1800 davon, dass sie derklassischen Antike kulturell nahe standen. Dieseimaginierte kulturelle N�he zu ihrem Untersu-chungsgegenstand verweist auf die identit�tsstif-tende Funktion der Geschichtswissenschaften(BLT, 189). Sie erkl�rt die Attraktivit�t der Ge-schichtswissenschaft f�r gebildete Kreise undstaatspolitische Projekte in Europa mithin aufeiner mentalit�tsgeschichtlichen Ebene. Woher je-doch nahmen Geologen zwischen 1789 und 1823,dem Zeitraum der im zweiten Teil vorangetriebe-nen Erz�hlung, ihre praktische Vertrautheit mithistorischen Methoden? Rudwick f�hrt an, dasseine ganze Reihe von ihnen zeitweilig selbst Erfah-rungen in historischen Forschungsprojekten sam-melte. Ganz �hnlich also wie die handwerklichenHerkunftsmilieus von Wissenschaftlern ihre Theo-riebildung und Laborarbeit kreativ mitbestimmten(vgl. Otto Sibum, Les gestes de la mesure: Joule, lespratiques de la brasserie et la science, Annales: Hi-stoire, Sciences Sociales 53 (1998), 745–774), vermu-tet und belegt Rudwick, dass es bei Georges Cu-vier, Alexandre Brongniart, Johann Friedrich Blu-menbach oder Karl Ernst Adolf von Hoff zu Inter-ferenzen zwischen den naturwissenschaftlichenund den geschichtswissenschaftlichen oder philo-logischen Arbeiten kam. Brongniart beispielsweisefiel als Direktor der staatlichen Porzellanmanufak-tur S�vres s�mtliches von den franz�sischen Revo-lution�ren konfiszierte Porzellan aus adligen undklerikalen Haushalten in die H�nde, ein Umstand,den er f�r den Aufbau eines Keramikmuseumsnutzte (BLT, 472). Blumenbach und von Hoff be-teiligten sich an der schulbildenden staats- und ge-schichtswissenschaftlichen Forschung der G�ttin-ger Universit�t (BLT, 425; vgl. John Cascoigne,Blumenbach, Banks, and the Beginnings of An-thropology at G�ttingen, in: Rupke, Nicolaas(Hg.), G�ttingen and the Development of the Na-tural Sciences, G�ttingen 2002, 86–98; BLT, 91–96).In diesem Zusammenhang stellt Rudwick auch diegeotheoretischen Arbeiten des Genfers Jean-An-dr� de Luc gegen die besser bekannten zeitgen�ssi-schen Theorien eines James Hutton oder eines Ge-orges Louis Marie Leclerc Comte de Buffon he-raus. De Luc, der Sch�pfer des Begriffs „Geologie“(BLT, 151), war deutlich mehr als Buffon oderHutton an der Rekonstruktion und Datierung dereinzelnen Epochen interessiert, in deren Verlaufdie Erde ihr aktuelles Erscheinungsbild erhaltenhatte, als an der Erkl�rungskraft eines globalen Er-kl�rungsmodells. Laut Rudwick brachte ihn gerade

die intensive Besch�ftigung mit theologischen Fra-gen und religi�sen Glaubenss�tzen zu geohistori-schen Annahmen: „In taking the Creation story inGenesis as his model, he committed himself kno-wingly to an understanding of history that was ra-dically contingent because it was perceived asbeing dependent on divine sovereignty“ (BLT,234). Rudwick ist hier wie in der gesamten Studiedem ,practice turn‘ der neueren Wissenschaftsge-schichte verpflichtet. So kommt es ihm darauf an,die auff�lligen metaphorischen �bertragungen ausden Feldern der Altertumskunde und der textwis-senschaftlichen Bibelkritik in die Geologie (Vulka-ne oder Gebirge als Monumente, Gesteinsschich-ten als Archive, Fossilien als Quellen oder Medail-len) nicht allein schon f�r ein geohistorisches Ar-gument zu halten, sondern die Wirkung der Meta-phern f�r die Denk- und Arbeitsweisen dieser fr�-hen Erdwissenschaftler auch konkret festzuma-chen. Der Autor streicht etwa die mehrstufige�bersetzungsarbeit heraus, die zu leisten war, umdie r�umlich-strukturellen Tabellen und Profilevon Gesteinsformationen in zeitliche, mithin chro-nologische Begriffe zu fassen und diese in einemweiteren Schritt mit historischen Deutungen zuversehen, also Daten �ber vergangene Landschaf-ten oder fr�here Lebensbedingungen mitzuliefern.Georges Cuvier, der vergleichende Anatom am Pa-riser Naturkundemuseum, der in Bursting thelimits of time zum eigentlichen Protagonisten auf-steigt (von ihm ist auch der Buchtitel entliehen),„turned a pile of formations into geohistory“, als erdie verschiedenen aufeinanderfolgenden Fossilien-ensembles des Pariser Beckens als Spuren mehrfa-cher katastrophischer Wechsel zwischen S�ßwas-serbedingungen und marinen Bedingungen inter-pretierte (BLT, 557). Zusammen mit AlexandreBrongniart legte er wegweisende Profile und Kar-ten dieser noch kaum durchforschten j�ngsten Se-kund�rformationen vor, bald Terti�rformationengenannt. Ihren Namen erhielten die Terti�rschich-ten in Anklang an das geotheoretische Standar-dmodell (BLT, Kap. 3.5), das bislang unterschiedzwischen aus einem „Urmeer“ sedimentierten Se-kund�rformationen und nichtsedimentierten,durch geophysikalische Prozesse im Erdinnernentstandenen „�ltesten“ Prim�rgesteinen wie Gra-nit und Gneis. Die Terti�rformationen repr�sen-tierten f�r Cuvier die Periode, die der jetzigen amn�chsten lag, da die darin eingeschlossenen Fossi-lien, darunter einige seiner wichtigsten S�ugetier-fossilien, den lebenden Tieren und Pflanzen amwenigsten fremd waren (BLT, 469).

Die folgende jahrelange wissenschaftliche Kon-zentration auf diese Formationen ist Rudwickszweites wichtiges Argument f�r die dauerhafteVerankerung historischer Denkweisen in der Geo-

Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 193–203 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 195

Page 4: Rezension: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform von Martin

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32 (2009): Rezensionen

logie. Er deutet die Terti�rschichten als „gatewaysto the deep past“ (BLT, 135). Die N�he zur ,gegen-w�rtigen‘, d. h. historisch dokumentierten Erdepo-che machte ihre Erforschung attraktiv; es ließ sichdie pragmatische Strategie verfolgen, vom Bekann-ten zum Unbekannten vorzudringen. Diese Bewe-gung stimmte dann, wenn man wie Cuvier der�berzeugung anhing, dass Geschichts- und Erd-geschichtsverlauf gerichtete, sogar progressiveProzesse waren. Die ,aufsteigende‘ Komplexit�tder bislang gefundenen Fossilien von den �ltestenzu den j�ngsten Formationen schien dies ja zu be-legen: Reptilien waren vor den nichtmenschlichenS�ugetieren aufgetaucht und diese vor den Men-schen (BLT, 123). Aus demselben pragmatischenGrund, vom Bekannten zum Unbekannten zukommen, waren Geologen �berhaupt an m�gli-chen „interfaces between past and present“ inter-essiert (BLT, 548-557). Teil zwei schließt mit derRekonstruktion einer weiteren solchen Schnitt-stelle, der g�ngigen Vorstellung einer letzten gro-ßen Erdrevolution, welcher die Erdoberfl�che ihraktuelles Aussehen verdankte. Cuvier hielt einebesonders radikale Abgrenzung der vergangenenWelt von der jetzigen f�r wahrscheinlich, er pl�-dierte f�r einen glatten Schnitt zwischen fossilerund lebender Fauna. Die vergangene Tierwelt warseiner Ansicht nach komplett vernichtet worden.F�r ein solches epochemachendes katastrophi-sches Ereignis schien es einige Anhaltspunkte zugeben: die Skelett�berreste eines einst gefrorenenMammuts aus Sibirien, die der russische BotanikerMikhail Ivanovich Adams nach St. Petersburgbrachte und die laut Cuvier mit der Anatomie le-bender Elefanten nichts zu tun hatten; die errati-schen Bl�cke oder Findlinge, die auf ungekl�rteWeise ins Alpenvorland gelangt waren; und Wil-liam Bucklands H�hlenfunde. GeohistorischesDenken war aber noch in den 1820er Jahren keinMuss. So eminente Forscher wie Alexander vonHumboldt oder Leopold von Buch konnten auchzu dieser Zeit ein vor allem strukturelles Interessean der geognostischen Korrelation von Gesteins-schichten in weit voneinander entfernten Regio-nen bekunden (WBA, 36–39).

Der Fortsetzungsband Worlds before Adamnimmt den Faden bei Cuvier auf. Sein Fokus liegtauf den Jahren zwischen 1820 und 1840. Noch vorMitte des 19. Jahrhunderts, so Rudwick, lag nichtnur eine erste �bersicht �ber die Erdgeschichtevor; f�r viele ihrer Aspekte hatten sich auch plau-sible Ursachen gefunden. Es war Constant Pr�-vost, der die geohistorische Dimension der Terti�r-formationen entscheidend ausbaute und zwarnicht im Namen einer progressiv verlaufendenErdgeschichte wie Cuvier, sondern im Namen derzeitgen�ssisch �blichen aktualistischen Methode.

Diese lehnte katastrophische Wendungen in derErdentwicklung als vorschnelle Hilfskonstruktio-nen ab und ließ nur aktuell beobachtbare Ursa-chen und Wirkungsgrade als Erkl�rung vergange-ner geologischer Prozesse gelten. Auch aus dieserSicht waren die Terti�rschichten der beste Ort, ummit den Untersuchungen zu beginnen. H�tte man,so erl�utert Rudwick die dahinterstehende Idee,das Wirken geologischer Prozesse erst einmal anden Terti�rschichten empirisch belegt, ließe sichihr Geltungsbereich wohl sukzessive weiter in diegeologische Tiefenzeit hinein ausdehnen (WBA,135). Pr�vost �berzeugte zwar Cuviers Unter-scheidung von S�ß- und Salzwasserfossilien, nichtaber die Begr�ndung des Wechsels: seine Ideemehrfacher Revolutionen, die zum Ansteigen undFallen der Meeresh�he gef�hrt hatten. Durch de-taillierte Arbeit an den Grenzschichten konnte ernachweisen, dass die S�ßwasserablagerungen �berFl�sse aus dem Landesinneren ins Meer gesp�ltworden waren. Laut Pr�vost mussten Fossilienalso auf zwei Arten interpretiert werden. Sie gabennicht nur �ber das relative Alter der Gesteinsfor-mationen Auskunft, in denen sie gefunden wur-den, sondern dokumentierten auch die Umweltbe-dingungen dieser Zeit. Und diese wiederum um-fassten nicht nur die konkreten Lebensbedingun-gen der Organismen, sondern auch die Bedingun-gen ihrer Ablagerung (WBA, 138).

Erst in Worlds before Adam bindet Rudwick dieneu etablierten geohistorischen Standards wiederenger an die parallel unternommene geophysikali-sche Ursachenforschung. Er entfaltet diese Proble-matik an der Figur und dem Werk des LondonerGeologieprofessors Charles Lyell. Lyells Arbeiten,besonders die zuerst zwischen 1830 und 1833 er-schienenen Principles of geology, being an attemptto explain the former changes of the earth’s surface,by reference to causes now in operation, wurdenzur obligatorischen Referenz der neuen DisziplinGeologie. Lyell stieß mit seiner geohistorischenSkepsis und der Forderung, die Erdgeschichte mitden naturwissenschaftlichen Ans�tzen der Erder-forschung zu vers�hnen, einen lebhaften Aus-handlungsprozess �ber die Verallgemeinerbarkeitgeologischer Erkl�rungen an (WBA, 300). Die in-ternationale Wissenschaftsgemeinde arbeitete sichdaran ab, dass Lyell die eigentlich durchweg ak-zeptierte aktualistische Regel verabsolutierte, nachder besondere Hypothesen zur Erkl�rung fr�hererVorg�nge nur dann herangezogen werden d�rften,wenn heute beobachtbare Prozesse dazu nicht aus-reichten. Und sie widersprach immer deutlicherseinem ahistorischen Modell einer Erde im dyna-mischen Gleichgewicht (steady-state), aus demauch sein Zweifel an einer progressiven Geschichtedes Lebens folgte. Es ist reizvoll, die Rezeption

196 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 193–203

Page 5: Rezension: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform von Martin

Rezensionen

Lyells in aller Ausf�hrlichkeit verfolgen zu k�n-nen. Denn die Historisierung der Erde machte nurden Anfang; Forscher dehnten die Idee von Ge-schichtlichkeit bald auch auf andere Teile der Na-tur aus. Vor allem die Geschichte ihrer Anver-wandlung durch Charles Darwin ist bekannt, nichtzuletzt weil sie eine musterg�ltige Integration vonErdgeschichte und naturwissenschaftlichen Kau-salerkl�rungen darstellte. Rudwick ist es ein Anlie-gen, die Bedeutung in Erinnerung zu rufen, die dasgeohistorische Denken f�r Darwins Evolutions-theorie hatte. Darwin war, wie Rudwick hervor-hebt, zuerst Geologe (WBA, 489; vgl. Sandra Her-bert, Charles Darwin, geologist, Ithaca 2005). Erpl�diert daf�r, die Historisierung des geologischenDenkens endlich selbst in die Reihe der klassi-schen wissenschaftlichen Revolutionen aufzuneh-men (BLT, 1 und WBA, 553). Teil drei endet mitder Geschichte der vom Neuch�teler Pal�ontolo-gen Louis Agassiz vorangetriebenen und popul�rgemachten Gletscher- und Eiszeittheorie. Sie standam Ende der langen Debatten dar�ber, welchesMedium wohl die granitischen Findlinge aus denAlpen bis zum Jura transportiert hatte. In der Er-z�hlung Rudwicks �berzeugt sie als Fallstudie f�reine geologische Interpretation, die physikalischeund geohistorische Deutungen gleichermaßen be-r�cksichtigt. Auch die Erdwissenschaften muss-ten, so die geohistorische Einsicht, mit kontingen-ten Ereignissen wie der Eiszeit rechnen. In der Be-gr�ndung Rudwicks: „The story culminates in theformulation of the glacial theory, and the utterlyunexpected inference of an exceptional and drastic,Ice Age‘ in the geologically recent past. It wasthis, more than any other single development, thatforced geologists to recognize the contingent cha-racter of geohistory as a whole“ (WBA, 7).

Das geohistorische Denken sickerte nur lang-sam in die Erdwissenschaften ein. Der kaum merk-liche Wandel erkl�rt zum großen Teil die L�ngeder ersten Studie, in der auf 650 Seiten akribischalle noch so verstreuten Indizien f�r die allm�hli-che historische Ausrichtung der erdwissenschaftli-chen Forschung um 1800 gesammelt werden, umdie Tendenz sichtbar zu machen. Angesichts derso zustande gekommenen Materialf�lle ist Rud-wick freilich immer wieder gezwungen, an die an-f�ngliche Unwahrscheinlichkeit und Randst�ndig-keit geohistorischer Ideen zu erinnern. Die Neu-ausrichtung der geologischen Forschung an ge-schichtlichen Kategorien wurde zeitgen�ssischnicht notwendig auch als solche erkannt, ge-schweige denn aufgegriffen, weil die Gelehrten ihrgeohistorisches Vorgehen oft beil�ufig oder un-systematisch anwandten und ihre geohistorischenSchlussfolgerungen keineswegs immer als Innova-tion herausstrichen.

Bursting the limits of time wurde zu Recht zueinem Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte er-kl�rt – man vergleiche etwa das in Metascience 16(2007), 359–395 dokumentierte Review Sympo-sium. Worlds before Adam ist die souver�ne Fort-setzung. Der Band dokumentiert nicht wenigerausf�hrlich, was die Geologen entdeckten, als sieerst einmal in geschichtlichen Kategorien �ber dieErde nachdachten. Rudwick l�st m. E. ein, was ereinleitend ank�ndigt. Er liefert ein facettenreichesBild der europ�ischen Geologie im fr�hen 19.Jahrhundert und vernachl�ssigt weder die franz�-sischen, schweizerischen noch preußischen zeitge-n�ssischen Beitr�ge. Wenn zuweilen trotzdem derEindruck entsteht, der angels�chsischen Geologiewerde �berproportional viel Platz einger�umt,dann liegt dies weniger an Rudwicks Quellenaus-wahl als an der internationalen Forschungslage.Denn die Geologiegeschichte ist kein bl�hendesFach: Anschluss an die neuere Wissenschafts- undTechnikgeschichte hat sie bisher vor allem in denUSA und in Britannien gefunden. Sie ist dort ei-nerseits in die kultur- und mediengeschichtlich in-formierte Erforschung der ,Victorian Sciences‘ und,Imperial Sciences‘ eingebunden, andererseits wer-den die Erdwissenschaften als Schl�sseldisziplinder ,Cold War Sciences‘ (Ozeanographie, Seismo-logie) untersucht. Im genannten Review Sympo-sium wurde angemerkt, die einsch�chternde L�ngeund argumentative �berzeugungskraft der Studiek�nnte einen glauben machen, zur allm�hlichenHistorisierung der Geologie sei nun auf Jahre hinalles gesagt. Ist solcher Schreck erst einmal verflo-gen, kann Rudwicks inspirierendes Standardwerkgerade als Aufruf zu einer erneuerten Geologiege-schichtsforschung gelten. Die B�nde mitsamt denausladend eingeflochtenen Text- und Bildquellenleisten dann auch als Nachschlagewerk großeDienste; und dies, obwohl ihre Argumentationvoraussetzungsreich und im geologischen Detailnicht immer auf Anhieb nachzuvollziehen ist. Dieregelm�ßigen Querverweise auf die vorg�ngigenAnschlussstellen helfen aber bei der Einordnungder unz�hligen Episoden und verzweigten Neben-argumente. Zwei k�nftige Untersuchungsfelder er-geben sich auf Anhieb. Rudwick betont immerwieder, dass Chronologie ein durchaus ahistori-sches Gesch�ft sein kann: Die Arbeit an der Datie-rung von Gesteinsformationen, zu der etwa diedeutschsprachige Geognosie viel beigetragen hat,ist allein noch kein Beleg f�r den Einzug des mo-dernen geschichtlichen Denkens in die Geologie.Wie aber arbeiteten und dachten die Geschichts-und Altertumswissenschaften Anfang, Mitte undEnde des 19. Jahrhunderts? Die Interferenzenzwischen historischen und geologischen For-schungspraktiken m�ssen weiter nachgewiesen,

Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 193–203 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 197

Page 6: Rezension: Bursting the Limits of Time. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution. Worlds before Adam. The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform von Martin

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32 (2009): Rezensionen

ihre Analyse kann verfeinert werden (vgl. z. B.Ernst Hamm, Bureaucratic Statistik or actualism?K. E. A. von Hoff’s ,History‘ and the history ofscience, History of Science 31 (1993), 151–176;Anne O’Connor, Finding Time for the Old StoneAge: A History of Palaeolithic Archaeology andQuaternary Geology in Britain, 1860–1960, Ox-ford 2007). So lohnt es sich wohl, die Funktionvon historischen Argumentationsmustern f�r diegeologische Wissensvalidierung genauer zu be-schreiben. Auch dem Untersuchungszeitraum derStudie nachgelagerte Entwicklungen m�ssen in

den Blick genommen werden. Was passierte gegenEnde des 19. Jahrhunderts, als tektonische Fragengegen�ber stratigraphischen Problemen an Bedeu-tung gewannen und damit die geophysikalischeUrsachenforschung erstarkte? Wie arrangierte sichdas geohistorische Denken – �ber das Beispiel derEiszeittheorie hinaus – mit geophysikalischenForschungsans�tzen? Martin Rudwicks Untersu-chung beantwortet nicht nur viele Fragen, sie wirftauch neue auf.

Andrea Westermann (Z�rich)

198 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 193–203

DOI: 10.1002/bewi.200901412

Myles W. Jackson, Harmonious Triads. Physicists, Musicians and Instrument Makersin Nineteenth-Century Germany. (Transformations. Studies in the History ofScience and Technology). Cambridge, Mass., London: The MIT Press 2006. 395S., zahlr. Abb., £ 25.95. ISBN-13: 978-0-262-10116-5.

Die Beziehung zwischen Naturwissenschaft undMusik ist bereits vielfach untersucht worden. Seitden 1960er Jahren erscheinen in der wissenschafts-geschichtlichen wie auch in der musikwissen-schaftlichen Forschung immer wieder Studien, diesich mit historischen Aspekten der physikalisch-physiologischen Akustik und ihrer Bedeutung f�rdie Musikgeschichte besch�ftigen. Charakteri-stisch f�r diese Untersuchungen ist, dass sie sich inihrer Methodik an den disziplin�ren Grenzen ent-weder der Wissenschaftsgeschichte oder der Mu-sikgeschichte orientieren. Diese Trennung zwi-schen ,Musik‘ und ,Naturwissenschaften‘ f�hrtdazu, dass die enge Verwobenheit zwischen natur-wissenschaftlich-experimenteller Forschung undder allt�glichen Praxis von Instrumentenbauernund Musikern bisher im blinden Fleck der Ge-schichtsschreibung geblieben ist. Dem Wissen-schaftshistoriker Myles W. Jackson ist es zu ver-danken, dass nun eine Studie vorliegt, die ein diffe-renzierteres Bild der Beziehungen zwischen Phy-sik, Instrumentenbau und musikalischer Praxiszeichnet, indem sie wissenschaftsgeschichtlicheund musikwissenschaftliche Forschung zusam-menf�hrt. Weil seine Untersuchung sich nicht nurauf die Laboratorien von Forscherpers�nlichkei-ten wie Ernst Florens Friedrich Chladni, WilhelmWeber oder Hermann von Helmholtz beschr�nkt,sonder auch die Werkst�tten von Instrumenten-bauern und die Musizierzimmer von Instrumen-talp�dagogen mit einbezieht, gelingt es ihm, dieWechselwirkungen zwischen physikalischer For-schung und musikalischer Praxis des 19. Jahrhun-derts offenzulegen. Seine Untersuchung stellt da-

mit nicht nur einen wichtigen Beitrag f�r die Wis-senschaftsgeschichte dar, sondern schließt gleich-zeitig auch eine L�cke in der musikwissenschaftli-chen Forschung zur Musik des 19. Jahrhunderts.

Seine These von der engen Verkn�pfung zwi-schen Naturwissenschaft und Musik belegt derAutor anhand zahlreicher Quellen, wie u. a. natur-wissenschaftliche und musikalische Fachzeitschrif-ten, Lehrb�cher, Lexika und Briefe. Das Spektrumseiner Untersuchung reicht dabei von ChladnisArbeiten zur Akustik und zum Instrumentenbau�ber die identit�tsstiftende Bedeutung des Gesangsin der Versammlung Deutscher Naturforscher und�rzte bis hin zur Standardisierung der Tonh�hedurch Johann Heinrich Scheibler und der techni-sierten Instrumentalp�dagogik Johann BernhardLogiers.

Im Fokus seiner Untersuchung steht die Frage,inwiefern die Musik im 19. Jahrhundert durch na-turwissenschaftliche und �konomische Konzeptewie Pr�zision und Standardisierung gepr�gt wur-de. Am Beispiel der Debatte �ber den �sthetischenWert mechanischer Pr�zision macht er deutlich,wie kontrovers im 19. Jahrhundert dar�ber gestrit-ten wurde, ob die Maschine als Sinnbild einer auf-strebenden Industriegesellschaft auch f�r die Mu-sik�sthetik tonangebend sein sollte. Anhand derEinf�hrung eines standardisierten Stimmtones vona99 = 440 Hertz und der numerischen Festlegungvon Tempoangaben mittels Metronom zeigt er,wie die Idee der Standardisierung aus der industri-ellen Produktion in die Musik einwanderte. DerTuchfabrikant und Klangforscher Scheibler �ber-trug beispielsweise seine �konomisch und natur-