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43 WAS IST WIRKLICH? „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS M1 Rene Magritte (1898-1967), Schlüssel der Felder, 1933 Betrachten Sie das Bild zunächst für sich allein: Widerstehen Sie der Versuchung, gleich in die Deutung zu verfallen. Nehmen Sie möglichst genau alle Einzelheiten wahr. Sprechen Sie jetzt gemeinsam über dieses Bild: Was sehe ich? Benennen Sie die Dinge, die Sie sehen. Achte Sie auf Einzelheiten, die Ihnen auffallen. Wie ist das Bild komponiert? Aufbau, Gliederung – Vordergrund, Hintergrund – Farbe, Formen. Wie wirkt das Bild auf mich? Welche Gefühle löst es aus, welche Gedanken? Was ist die Aussage des Bildes? Stellen Sie Vermutungen darüber an, was Magritte mit diesem Bild ausdrücken will. Bietet der Kontext anderer Bilder von Magritte einen Anhaltspunkt? Sehen wir die Wirklichkeit so, wie sie wirklich ist? – Wie würde der Künstler diese Frage beantworten? Und wie antworten Sie?

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M1Rene Magritte (1898­1967), Schlüssel der Felder, 1933

Betrachten Sie das Bild zunächst für sich allein: Widerstehen Sie der Versuchung, gleich in die Deutung zu verfallen.

Nehmen Sie möglichst genau alle Einzelheiten wahr.

Sprechen Sie jetzt gemeinsam über dieses Bild:Was sehe ich? Benennen Sie die Dinge, die Sie sehen. Achte Sie auf Einzelheiten, die Ihnen auffallen.

Wie ist das Bild komponiert? Aufbau, Gliederung – Vordergrund, Hintergrund – Farbe, Formen.Wie wirkt das Bild auf mich? Welche Gefühle löst es aus, welche Gedanken?

Was ist die Aussage des Bildes? Stellen Sie Vermutungen darüber an, was Magritte mit diesem Bild ausdrücken will. Bietet der Kontext anderer Bilder von Magritte einen Anhaltspunkt?

Sehen wir die Wirklichkeit so, wie sie wirklich ist? – Wie würde der Künstler diese Frage beantworten? Und wie antworten Sie?

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M2 Hoimar v. Ditfurth: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist

Vor einigen Jahren stellte mir jemand die Frage, ob es eigentlich dunkel im Kosmos würde, wenn alle Augen ver­schwänden. Fragen dieser Art stehen am Anfang aller erkenntnistheoretischen Überlegungen. „Hell“ und „dunkel“ sind, wie jeder feststellen kann, der sich die Mühe macht, darüber nachzudenken, nicht Eigenschaften der Welt, sondern „Seherlebnisse“: Wahrnehmungen, die entstehen, wenn elektromagnetische Wellen bestimmter Länge – zwischen 400 und 700 millionstel Millimetern – auf die Netzhaut von Augen fallen. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass das auch für tierische Augen gilt, und wir wissen sogar, dass die Länge der den Eindruck „hell“ hervorrufenden Wellen bei manchen Tieren von den Frequenzen abweicht, die für menschliche Augen gelten. [...]

Der wirklichen Situation wird man nur dann gerecht, wenn man annimmt, dass in der Außenwelt elektromagneti­sche Wellen der verschiedensten Längen (oder „Frequenzen“) existieren, dass unsere Augen auf einen (vergleichs­weise außerordentlich kleinen) Ausschnitt dieses „Frequenzbandes“ ansprechen und dass unser Gehirn, genauer: der „Sehrinde“ genannte Teil unseres Großhirns, die durch das Ansprechen der Netzhaut ausgelösten Signale dann auf irgendeine, absolut rätselhaft bleibende Weise in optische Erlebnisse übersetzt, die wir mit den Worten „hell“ oder „dunkel“, mit verschiedenen Farbbezeichnungen usw. beschreiben. [...]

Auf dem ganzen Weg, der zwischen Netzhaut und Sehrinde liegt, wird es nicht hell, auch nicht in der „Endstation“. „Hell“ ist erst das optische Erlebnis hinter jener rätselhaft bleibenden Grenze, die körperliche Vorgänge und psychi­sche Erlebnisse für unser Begriffsvermögen voneinander trennt. Hell ist es daher auch nicht in der Außenwelt, nicht im Kosmos, und zwar ganz unabhängig davon, ob es Augen gibt oder nicht. Ist der Kosmos in Wahrheit also dun­kel? Diese Möglichkeit hatte die Frage ja vorausgesetzt. Auch das aber scheidet aus. Das Eigenschaftswort „dun­kel“ nämlich bezieht sich aus den gleichen Gründen nicht auf eine Eigenschaft der Außenwelt, sondern beschreibt ebenfalls ausschließlich ein Seherlebnis. Man könnte auch sagen: Da der Kosmos nicht hell sein kann, kann er auch nicht dunkel sein, denn das eine ist nur als das Gegenteil des anderen denkbar. [...]

Man sieht, die scheinbar so simple Frage, ob es in der Welt ohne Augen dunkel wäre, hat es in sich. Wie beiläufig sind wir bei ihrer Erörterung auf alle wesentlichen Voraussetzungen der Problematik der sogenannten Erkennt­nistheorie gestoßen. Wir haben, erstens, angenommen, dass es außerhalb des Erlebens eine reale Außenwelt tatsächlich gibt. Wir stellten, zweitens, fest, dass das, was wir erleben, nicht ohne weiteres als reale Eigenschaft dieser Außenwelt anzusehen ist. Und schließlich hat sich auch bereits gezeigt, dass es allem Anschein nach reale Eigenschaften dieser von uns vorausgesetzten Außenwelt gibt, die wir, wie zum Beispiel die außerhalb des engen Empfindlichkeitsbereichs unserer Netzhaut liegenden Frequenzen elektromagnetischer Wellen, gar nicht wahrneh­men können. [...]

Und als ob das alles noch nicht genug wäre: Selbst der – aller Wahrscheinlichkeit nach also nur winzige – Ausschnitt der Außenwelt, den wir überhaupt erfassen können, wird uns von unseren Sinnesorganen und unserem Gehirn nun keineswegs etwa so vermittelt, „wie er ist“. In keinem Falle ist das, was in unserem Erleben schließlich auftaucht, etwa ein getreues „Abbild“. Auch das wenige, was wir überhaupt wahrnehmen, gelangt vielmehr nicht ohne kompli­zierte und im Einzelnen völlig undurchschaubar bleibende Verarbeitung in unser Bewusstsein. Unsere Sinnesorgane bilden die Welt nicht etwa für uns ab. Sie legen sie für uns aus. Der Unterschied ist fundamental.

Aufgaben

1. Ist der Kosmos dunkel? Ist es in Frankfurt tagsüber hell? Erläutern Sie die Antwort, die v. Ditfurth auf diese Fragen gibt.

2. Am Schluss des Textes formuliert der Autor, dass unsere Sinnesorgane die Welt nicht für uns abbilden, sondern sie auslegen. Entwickeln Sie zu beiden Erkenntnismodellen eine (beschriftete) Grafik: „Erkenntnis als Abbildung der Welt“ – „Erkenntnis als Auslegung der Welt“.

3. Nehmen Sie Stellung zur Überschrift des Textes!

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M3Harry G. Frankfurt: Die Wirklichkeit ist keine „Erfindung“

Im folgenden Text argumentiert der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt (geb. 1929) dafür, dass Menschen die Welt – trotz aller subjektiven und gesellschaftlichen Einflüsse – in wichtigen Aspekten erkennen können und dass wir uns im Alltag auf diese Erkenntnisse verlassen.

Der Punkt, auf den sich postmoderne Denker besonders stützen, ist folgender: Was ein Mensch als wahr an-sieht, ist entweder lediglich eine Funktion des individuellen Standpunkts dieses Menschen, oder es ist durch das bestimmt, was der Mensch durch verschiedene komplexe und unentrinnbare gesellschaftliche Zwänge als wahr anzusehen gezwungen ist. Dieser Standpunkt kommt mir ziemlich beschränkt vor. Gewiss steht außer Frage, dass beispielsweise Ingenieure und Architekten ohne Rücksicht auf das, was postmoderne Denker oder irgendwelche anderen Leute sagen, bestrebt sein müssen, echte Objektivität zu erzielen – und dass es ihnen manchmal tat­sächlich gelingt, dies zu tun. Viele von ihnen sind außerordentlich geschickt darin, mit normalerweise zuverlässiger Exaktheit sowohl die Hindernisse, die der Ausführung ihrer Pläne entgegenstehen, als auch die Mittel, die sie zur Überwindung dieser Hindernisse zur Verfügung haben, einzuschätzen. [...]

Nehmen wir an, eine Brücke stürzt unter einer Belastung ein, die den Normalwert nicht überschreitet. Was würde uns das lehren? Es würde uns zumindest lehren, dass diejenigen, die die Brücke entworfen oder gebaut haben, irgendwelche ziemlich groben Fehler gemacht haben. Uns wäre klar, dass zumindest einige der Lösungen, die sie bei der Behandlung der vielfältigen Probleme, mit denen sie es zu tun hatten, gefunden haben, auf verhängnisvolle Weise unrichtig waren. Gleiches gilt natürlich in der Medizin. Ärzte müssen danach streben, begründete Urteile da­rüber zu fällen, wie man mit Krankheit und Verletzung umgeht. Dementsprechend müssen sie wissen, von welchen Medikamenten und Vorgehensweisen sich zuversichtlich erwarten lässt, dass sie ihren Patienten helfen werden; sie müssen wissen, bei welchen es eher unwahrscheinlich ist, dass sie auf irgendeine Weise nützen, und sie müssen wissen, welche wahrscheinlich schädlich sein werden. Niemand, der bei Sinnen ist, würde sich auf einen Baumeis­ter verlassen oder sich der Behandlung eines Arztes anvertrauen, der sich nicht um die Wahrheit kümmert. [...]

In allen diesen Kontexten besteht ein klarer Unterschied zwischen der Alternative, Dinge richtig zu machen, und derjenigen, Dinge falsch zu machen, und somit ein klarer Unterschied zwischen Wahr und Falsch. Zwar wird häufig behauptet, dass die Situation eine andere sei, wenn es um historische Analysen und um Ausführungen zu gesell­schaftlichen Fragen geht, und besonders, wenn Bewertungen von Menschen und Grundsätzen zur Debatte stehen, die in solchen Analysen und Ausführungen gewöhnlich enthalten sind. Das Argument, das üblicherweise diese Behauptung stützen soll, lautet, dass derartige Bewertungen immer stark von den persönlichen Lebensverhältnis­sen und Einstellungen der Menschen beeinflusst sind, die sie abgeben, und dass wir deshalb von historischen und sozialwissenschaftlichen Werken keine strenge Objektivität oder Unparteilichkeit erwarten können.

Zugegebenermaßen ist das Element der Subjektivität in solchen Fragen unvermeidlich. Für das, was dieses Zuge­ständnis im Blick auf die Variationsbreite bei der Interpretation der Fakten impliziert, die man bei seriösen Historikern erwarten kann, gibt es jedoch wichtige Grenzen. Es existiert eine Dimension der Realität, in die selbst die kühnste – oder die faulste – Zügellosigkeit der Subjektivität nicht wagen kann einzugreifen. Dies ist der Geist der berühmten Ant­wort, die Georges Clemenceau gab, als man ihn aufforderte, Mutmaßungen darüber anzustellen, was künftige Histori­ker über den Ersten Weltkrieg sagen würden: „Sie werden nicht sagen, dass Belgien in Deutschland einmarschiert ist“.

Aufgaben

1. Erläutern Sie, wie Harry G. Frankfurt die in der Überschrift formulierte These begründet.

2. „Fakten“, z. B. über den Verlauf des Ersten Weltkriegs, können nach Frankfurt unterschiedlich gedeutet werden, nicht aber beliebig. Wie groß ist die „Variationsbreite bei der Interpretation der Fakten“? Diskutieren Sie diese Frage anhand der aktuellen Debatte über den Klimawandel.

3. Ist der Mensch mehr ein „Entdecker“ oder ein „Erfinder“ der Wirklichkeit? Nehmen Sie Stellung!

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M4 Drei Modelle, wie die menschliche Erkenntnis funktioniert:

Naiver Realismus – radikaler Konstruktivismus – kritischer Realismus

Naiver RealismusIn der Welt finden sich Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände. Alle existieren unabhängig von uns in Raum und Zeit. Wir nehmen sie mit unseren Sinnesorganen so wahr, wie sie tatsächlich sind. Wir erlangen unser Wissen über die Welt durch Beobachtung und Erfahrung. Dabei wird die Realität durch die Sinne in unseren Geist übertragen, ähnlich wie beim Photogra­phien Bilder aus der Wirklichkeit auf eine Speicherkarte projiziert werden. Im Erkenntnisvorgang nimmt der Mensch ein passive, die Gegenstände der Umgebung nehmen eine aktive Rolle ein.

Radikaler KonstruktivismusWir haben kein direktes Wissen von der Welt, sondern nur unsere Sinneseindrücke. Aus ihnen konstruiert oder erschafft sich jeder von uns sein eigenes Bild von der Welt. Ob dies ein wahres Bild ist, kann man nicht feststellen. Etwas zu wissen bedeutet deshalb nicht, dass sich in diesem Wissen die Wirklichkeit abbildet oder wiederspiegelt. Wissen ist immer nur ein möglicher Weg, um mit den „Gegenständen“ und Gegebenheiten klarzukommen und sich im Leben so zurechtzufinden, dass es für den Einzelnen irgendwie „passt“.

Kritischer RealismusEs existiert eine reale Welt, die von uns unabhängig ist. Wir nehmen sie mit unseren Sinnen wahr, allerdings nicht unmittelbar und direkt, sondern immer schon vermittelt durch Begriffe, Modelle und Vergleiche, die unser Denken und Erkennen prägen. Deshalb ist es nötig (aber auch möglich!), Vorstellungen von der Welt kritisch zu hinterfragen und zu überprüfen. Die Wirklichkeit ist nicht immer so, wie es zunächst scheint. Durch dieses Hinterfragen können wir der Wirklichkeit schrittweise näherkommen.

Erkenntnis­subjekte

(primär aktiv)

KONSTRUKTIVISMUSKonstruierenindividuell

?

„Wirklich­keit“

1 „Wirklich­keit“

3„Wirklich­

keit“ 2 usw.

Erkenntnis­subjekt(primär passiv)

NAIVER REALISMUS

wirkt aktiv ein

bildet ab, spiegelt

Wirklichkeit(unabhängig

vom Erkenntnis ­ subjekt)

Erkenntnis­subjekt(passiv + aktiv)

KRITISCHER REALISMUS

wirkt ein

nimmt auf und verabeitet rational­

konstruktiv

Wirklichkeit(unabhängig

vom Erkenntnis ­ subjekt)

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

Wie es zu naturwissenschaftlichen Aussagen kommt

Verifikation

Verifikation

Gesetz

Experiment

Hypothese

Falsifikation

Deduktion

Induktion

Sammlung von Daten

D1 D2 D3 D4 D5

D.

M5aPeter Kliemann: Wie arbeiten die Naturwissenschaften?

Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung sind natürliche Erscheinungen, die gemessen werden können, die kausal erklärbar, wiederholbar und vorhersagbar sind, und die deshalb auch unter bestimmten Versuchsbedingungen grundsätzlich von jedermann jederzeit überprüft werden können.

Methodisch geht die moderne Naturwissenschaft bei der Erforschung ihres Gegen­standes folgendermaßen vor:

1. Zunächst werden durch gezielte Beobachtungen, Experimente oder Tests Daten gesammelt (also z. B. dass ein Objekt mit dem Gewicht 1 kg zu einem bestimmten Zeitpunkt unter bestimmten Bedingungen in 0,3 Sekunden senkrecht zu Boden gefallen ist).

2. Um den Zusammenhang zwischen diesen Daten (so z. B. zwischen dem Gewicht und der Fallgeschwindigkeit des Objekts) zu klären, formuliert der Naturwissen­schaftler nun eine Hypothese, d. h. eine begründete Vermutung (also z. B., dass das Gewicht der Objekte sich umgekehrt proportional zur Fallzeit verhält, wie Aristoteles meinte). Diesen Schluss vom Einzelfall auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit bezeich­net man als Induktion.

3. Die Hypothese wird nun in einer großen, aber begrenzten Anzahl von Versuchen überprüft. Diese Anwendung einer allge­meinen Behauptung auf Einzelfälle nennt man Deduktion.

4. Erweist sich die zu überprüfende Hypothese auch nur in einem Fall als falsch (sogenannte Falsifikation; also z. B., wenn zwei Körper trotz gleichen Gewichts in ein und demselben Medium unterschiedlich schnell fallen – so die Beobachtung Galileo Galileis), dann muss die Hypothese zurückgenommen, modifiziert oder auch eine ganz neue Hypothese aufgestellt werden (so z. B. die Hypothese des Galilei, dass alle Körper unabhängig von ihrem Gewicht im Vakuum gleich schnell fallen). Die neue Hypothese muss dann ihrerseits auf dem Weg der Deduktion experimentell überprüft werden. Erweist sich die zu überprüfen­de Hypothese hingegen immer wieder als richtig (sogenannte Verifikation), dann kann sie in den Status eines Naturgesetzes erhoben werden, wobei es sich natürlich immer wieder gezeigt hat, dass auch vermeintliche Naturgesetze noch einmal modi­fiziert werden müssen. – Dieses Verfahren der modernen Naturwissenschaft hat sich [...] als äußerst erfolgreich erwiesen. Ihm verdanken wir vom Kühlschrank bis zum Smartphone alle technischen Errungenschaften unserer Industriegesellschaft.

M5b

Grafik nach: Evangelisch verstehen, 2016, Verlag Europa-Lehrmittel

Peter Kliemann: Wo liegen Grenzen eines naturwissenschaftlichen Zugangs zur Welt?

Der naturwissenschaftliche Zugang hat jedoch auch seine nicht zu übersehenden Grenzen:

a) So sagen naturwissenschaftliche Sätze nichts über die Beziehung des Wissenschaftlers zu seinem Gegenstand aus, also z. B., aus welchen biographischen Gründen sich Galilei mit den Fallgesetzen beschäftigte, [...] welche Folgen seine Forschun­gen für sein weiteres Leben hatten, etc.

b) Naturwissenschaftliche Erkenntnisse helfen auch bei ethischen und politischen Fragestellungen, die sich aus den Ergeb­nissen naturwissenschaftlicher Forschung ergeben, nicht weiter: Dürfen und sollen Atomkraftwerke gebaut werden? Ist es erlaubt, biologische und chemische Kampfstoffe herzustellen? Dürfen und sollen Experimente mit menschlichen Genen ange­stellt werden?

c) Naturwissenschaftliche Erkenntnisse versagen außerdem bei der Erklärung von Sachverhalten, die einmalig und nicht wie­derholbar sind: Der Tod meiner Mutter, der Streit mit meinem Chef, [...] meine Freude über den Sonnenaufgang im Gebirge ... All das ereignet sich natürlich unter Umständen in vergleichbarer Weise in vielen Menschenleben, unterliegt deshalb auch bestimmten Gesetzmäßigkeiten, letztlich handelt es sich aber doch um jeweils einzigartige menschliche Erfahrungen, die in ihrer Erlebnisqualität nicht messbar sind und auch nicht von jedermann jederzeit überprüft werden können.

d) Welchen Sinn mein Leben eigentlich hat, warum ich ehrlich und hilfsbereit sein soll, [...] wie ich mit meiner Arbeitslosigkeit fertig werde – all das sind Probleme und Fragen, die Menschen umtreiben, bei denen der naturwissenschaftliche Zugang zur Wirklichkeit jedoch keine Hilfe bieten kann.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M6a Peter C. Hägele: Naturbild und Weltbild

Der Physiker P. Hägele setzt sich intensiv mit Fragen nach der Tragweite und den Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auseinander. Er weist darauf hin, dass in den Naturwissenschaften „nicht die Natur an sich abgebildet wird, sondern eine Natur, wie sie sich durch die Filter unserer Sinnesorgane, unserer Messgeräte und Apparate und unserer experimentellen Anordnungen zeigt“. Der Naturwissenschaftler hat es immer schon mit einer durch diese und andere Filter „präparierten Natur“ zu tun; er kann nur das erkennen, was mit Hilfe jener speziellen Methodik ‚eingefangen‘ werden kann. Darüber hinaus enthalten naturwissenschaftliche Theorien „keine Werte oder Wertun-gen – weder ethische noch ästhetische Fragen werden beantwortet“, ebenso wenig wie „Fragen nach Sinn und Ziel“ natürlicher Prozesse. Um die Eigenart und Reichweite naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu verdeutlichen, unterscheidet Hägele zwischen „Naturbild“ und „Weltbild“. Dies wird im Folgenden erläutert.

Die Gesamtheit der Erkenntnisse, welche aus der Methodik und Arbeitsweise der Naturwissenschaften folgen, wird gerne als das (natur­)wissenschaftliche Weltbild bezeichnet. Dieses beschreibt jedoch nur bestimmte Aspekte der Welt, nicht aber die Welt als Ganze. Der Begriff des Weltbildes (oder der Wel­tanschauung) sollte deshalb für die umfassendere Weltsicht reserviert bleiben. Anstelle des Begriffs des wissenschaftlichen Weltbildes wird von manchen auch die etwas bescheidenere Bezeichnung Naturbild vorgezogen. […] In einer pauschalen Definition ist das Naturbild der mit (natur­)wissenschaftlicher Methodik gewonnene Anteil oder Aspekt eines Weltbildes. Es fasst die allgemein akzeptierten naturwissenschaftlichen Modelle zusammen. Das Weltbild geht darüber hinaus: es ist das Bild, das sich jemand von der Gesamtwirklichkeit um ihn herum und in ihm macht und beinhaltet auch Fragen nach Sinn und Bedeutung des Lebens, nach Gott oder einem letz­ten Grund des Seins sowie nach ethischen Werten, an denen sich Menschen orientieren können. Wir treffen somit die Unter­scheidung und Abgrenzung: Naturbild – Weltbild.

In Anlehnung an die Wissenschaftler COULSON und RHODES kann man die Welt mit einem Haus vergleichen. Während ein Weltbild das ganze Haus mit allen seinen Seiten und Aspekten im Blick hat, ist das Naturbild lediglich ein bestimmter Schnitt durch dieses Haus, z. B. ein Grundriss des ersten Stockwer­kes. Der Aspekt, der durch diesen Schnitt ins Blickfeld kommt, ist durch die Methodik der Naturwissenschaften vorgegeben. Innerhalb dieser Ebene, dieses Schnittes, können die wissen­schaftlichen Einsichten immer weiter fortschreiten. Mit der Verfeinerung der Methodik werden immer detailliertere Ergeb­nisse möglich (Fläche der Zimmer, Starke der Wände usw.). Grenzen sind nicht in Sicht und brauchen auch nicht postuliert zu werden. Allerdings kommen andere vorhandene Ebenen oder gar das ganze Haus nicht in den Blick. So findet sich z. B. auch keine Abbildung des Architekten des Hauses im gewähl­ten Schnitt. Aus diesem Grund die Existenz eines Architekten zu leugnen, wäre allerdings ein grobes Missverständnis.

Der Schnitt gibt zwar einige Hinweise auf Eigenschaften des ganzen Hauses (man kann z. B. aus den gemessenen Wand­stärken Schlüsse ziehen über die mögliche Zahl der Stockwer­ke), er kann aber dennoch zu ganz verschiedenen Häusern passen. [...] Ohne Bild gesprochen bedeutet dies, dass aus ei­

nem Naturbild nicht zwangsläufig und eindeutig ein bestimm­tes Weltbild folgt. Dies wird auch durch die Erfahrung bestä­tigt, dass Naturwissenschaftler, welche als Zeitgenossen etwa dasselbe Naturbild haben, dennoch oft ganz unterschiedliche Weltbilder vertreten.

Die Abbildung fasst dies zusammen: Aus der generellen Me­thodik von Experiment, Beobachtung und Modellentwurf fol­gen zusammen mit den spezielleren Methoden der einzelnen Disziplinen die Modelle (Theorien), welche gemeinsam das Naturbild ausmachen. Dieses ist lediglich Teil eines Weltbil­des, welches zusätzlich von ganz unterschiedlichen außer­wissenschaftlichen Elementen geprägt ist. [...] Der Biophysiker A. GIERER spricht in diesem Zusammenhang von der Mehr­deutigkeit der Welt: „Man kann eben die Welt – in Überein­stimmung mit wissenschaftlicher Erkenntnis und logischem Denken – zum Beispiel atheistisch oder im Glauben an Gott interpretieren, [...] dem Geist oder der Materie die Priorität für das Verständnis der Welt zuschreiben, [...] dem einzelnen Leben und der Geschichte den einen, anderen oder gar kei­nen Sinn unterlegen, den Menschen als [von Gott gewolltes] Ziel oder Zufallsprodukt der Evolution ansehen. Da gibt es ein weites Spektrum von Möglichkeiten für die Interpretation des Menschen und der Welt. In jedem Fall aber ist die Wissen­schaft, die ihre eigenen Voraussetzungen reflektiert, mit ver­schiedenen Interpretationen und daher auch mit verschiede­nen Religionen, Kulturen und Lebensformen vereinbar“.

Natur- bild

außerwissen-

schaftlicheElemente

generelle Methode: Experiment, Beobachtung,

Modellentwurf

Weltbild

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4

spezielle Methoden der Einzelwissenschaften

(Physik, Chemie, Biologie etc.)

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M6bAufgaben zu: Peter C. Hägele, Naturbild und Weltbild

Gehen Sie den Text in Partnergruppen zunächst Abschnitt für Abschnitt durch, markieren Sie jeweils Kernbegriffe und ­aussa­gen und stellen Sie sich diese gegenseitig vor, klären Sie unverständliche Passagen (ggf. mit Hilfe der Lehrkraft).

1. Was ist nach Hägele ein „Naturbild“ und was ein „Weltbild“? Worin unterscheiden sich beide? Klären Sie gemeinsam die Bedeutung der Begriffe und versuchen Sie anschließend, das Verhältnis von Naturbild und Weltbild in einer (beschrifteten) Grafik darzustellen!

2. Zur Erklärung des Unterschieds zwischen Naturbild und Weltbild greift Hägele auf das Bild eines mehrstöckigen Hauses zurück. Erläutern Sie dieses Bild und seine Bedeutung!

3. Nehmen Sie Stellung zu der Aussage Hägeles, dass „aus einem Naturbild nicht zwangsläufig und eindeutig ein bestimmtes Weltbild folgt“ und die Welt deshalb „mehrdeutig“ ist. Berücksichtigen Sie dabei auch das Zitat von A. Gierer am Ende des Textes.

Zusatzaufgabe

Der Elementarteilchenphysiker H. FRITZSCH schreibt im Prolog seines Buches „Vom Urknall zum Zerfall“ (1983): „Am Anfang war das Nichts, weder Zeit noch Raum, weder Sterne noch Planeten, weder Gestein noch Pflanzen, Tiere und Menschen. Alles entstand aus dem Nichts, zuerst ein sehr heißes Plasma aus Quarks, Elektronen und anderen Teilchen, zusammen mit Raum und Zeit. Schnell kühlte dieses Plasma ab; es bildeten sich Protonen, Neutronen, Atomkerne, Atome, Sterne, Galaxien und Planeten. Schließlich entstand das Leben in vielen Sonnensystemen des Alls, darunter auch auf einem Planeten eines ganz gewöhnlichen Sterns in einem der Spiralarme einer Galaxie, die sich zufällig am Rande einer großen Ansammlung von Gala-xien befand. Aus einfachsten Organismen entwickelten sich dort im Laufe von vier Milliarden Jahren Pflanzen und Tiere und schließlich der Mensch. Ursprünglich glaubte der Mensch, er befinde sich im Mittelpunkt des Alls, und die gesamte Welt sei nur für ihn gemacht. Er erfand Götter, die nach seinen Vorstellungen die Welt beherrschten und dem menschlichen Dasein seinen Sinn gaben. [...] Er versteht, dass er in Zukunft ohne Götter leben muss und dass er für sein Schicksal selbst verantwortlich ist.“

Fritzsch beschließt sein Buch mit folgenden Worten: „Das Universum ist mehr als eine Ansammlung von Elektronen, Quarks und Galaxien, mehr als Raum und Zeit. Auch jene vielgestaltige, ineinander verwobene Welt der Erde, die uns geschaffen hat, gehört dazu. Nicht nur uns gegenüber haben wir die Pflicht, diese Welt zu erhalten. Das Universum selbst verpflichtet uns dazu.“

Was sind in diesen Texten naturbildhafte Aussagen – also Aussagen, die sich unmittelbar aus der Methodik und Arbeits­weise der Naturwissenschaften ergeben?

Wo finden sich Aussagen, die das Naturbild überschreiten in Richtung eines Weltbildes – also Aussagen, die ethische Begriffe oder Ansprüche enthalten und Sinnfragen bzw. Fragen nach einem letzten Grund des Seins aufgreifen?

Unterstreichen Sie die jeweiligen Aussagen mit unterschiedlichen Farben!

Welche Unklarheiten und Missverständnisse (können) entstehen, wenn Naturbild und Weltbild miteinander vermischt werden?

Hinweise für die Lehrkraft (beim Kopieren abdecken):

Weltbildhafte Aussagen im Text von H. Fritzsch sind vor allem folgende:

� „Am Anfang war das Nichts, weder Raum noch Zeit ... Alles entstand aus dem Nichts ...“: Das Nichts ist kein natur-wissenschaftlicher Begriff, eine physikalische Kosmologie kann nur Aussagen über einen möglichen Anfangszustand (Urknall) machen, nicht aber über ein Vorher und Jenseits der Welt

� „Er [der Mensch] erfand die Götter ...“: Dahinter steht eine vorwissenschaftliche Entscheidung für den Atheismus, die sich in keiner Weise aus den Naturwissenschaften ergibt

� „Nicht nur uns gegenüber haben wir die Pflicht, diese Welt zu erhalten. Das Universum selbst verpflichtet uns dazu“: Hier werden plötzlich ethische Kategorien eingeführt, die über eine rein naturwissenschaftliche Sicht hinausgehen

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M7 Wie sieht ein religiöser Mensch die Welt?

Abraham Heschel: Ein Vermächtnis zu staunen

Verwunderung oder Staunen gegenüber der Geschichte und der Natur sind die Hauptkennzeichen für die Haltung des religiösen Menschen. Eins aber liegt ihm völlig fern: Dinge für selbstverständlich zu halten und Geschehnisse als den natürlichen Ablauf der Dinge anzusehen. Es bedeutet für ihn keine Antwort auf sein fundamentales Stau­nen, wenn er eine ungefähre Ursache für ein Phänomen findet. Er weiß, es gibt Gesetze, die den Ablauf natürlicher Vorgänge regeln. Er ist sich der Stetigkeit und der immer gleichen Struktur der Dinge bewusst. Solches Wissen mindert aber nicht sein nie endendes Staunen über die Tatsache, dass es überhaupt Tatsachen gibt. Wenn er die Welt betrachtet, sagt er: „Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder in unseren Augen” (Psalm 118,23).

Fundamentales Staunen hat einen weiteren Horizont als jeder andere menschliche Akt. Jeder Akt der Wahrnehmung oder des Erkennens hat einen ausgewählten Ausschnitt der Wirklichkeit zum Gegenstand; radikales Staunen bezieht sich auf die gesamte Wirklichkeit, nicht nur auf das, was wir sehen, sondern auch auf den Akt des Sehens als solchen, ebenso wie auf unser eigenes Ich, auf das Ich, das sehen und über seine Fähigkeit zu sehen staunen kann.

Voll unendlichen Staunens steht der Mensch der Bibel vor den „großen Dingen, die nicht zu erforschen sind, den Wundern, die nicht zu zählen sind” (Hiob 5,9). Er trifft sie an in Raum und Zeit, in Natur und Geschichte, nicht nur in den ungewöhnlichen, sondern auch in den alltäglichen Geschehnissen der Natur. Nicht nur die Dinge, die außer ihm liegen, erwecken das Staunen des Menschen der Bibel; sein eigenes Sein erfüllt ihn mit bewundernder Ehrfurcht. „Ich danke dir dafür, dass ich so wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl” (Psalm 139,14).

Rainer Oberthür: Tatsache und Geheimnis

Alle Dinge, die wir sehen,können wir doppelt anschauen: als Tatsache und als Geheimnis.Nun kommen Tatsache und Geheimnis im Staunen zusammen:

Vordergrund und Hintergrund, Außen und Innen, Oberfläche und Tiefe.Wenn wir die Tatsachen kennen [wie die Welt angefangen hat und sich entwickelte],

können wir staunen,können nach dem Geheimnis und nach Gott fragen.

Die Unfassbarkeit aller Ereignisse vom Urknall bis zum Leben, das nach dem Grund von allem Anfang und aller Entwicklung fragt,

ist ein guter Grund, an einen Schöpfer der Welt zu glauben,aber kein Beweis dafür, dass es Gott gibt.

Gott ist nicht einfach die Erklärung für alles, was wir nicht verstehen.Gott ist nicht der Lückenbüßer für fehlende Antworten,

aber Gott kann uns helfen, die Lücken auszuhalten, damit zu leben,tiefer zu fragen nach dem Grund, warum es die Welt gibt,

tiefer das Wunder zu erleben, warum es uns gibt,tiefer ergriffen zu sein von dem Unbegreiflichen.

Arbeitsauftrag

1. Menschen, die aus dem Vertrauen auf Gott und seine Liebe leben, haben einen neuen Blick auf die Wirklichkeit, eine veränderte Lebensperspektive. Was sind nach Heschel und Oberthür Merkmale dieser Sichtweise des Glaubens?

2. In welchem Verhältnis steht diese Sichtweise zum naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt? Nehmen Sie auch hier Bezug auf beide Texte!

3. Überlegen Sie: Was folgt aus der Sichtweise des Glaubens für den Umgang mit anderen Menschen und mit der Schöpfung? Ändert sich dadurch das Handeln im Alltag?

4. Lesen Sie folgende Bibeltexte (ggf. arbeitsteilig): Ps 136,1-15 und 23-26; Ps 23; Mt 6,25-34; Lk 10,25-37. Wo und in welcher Weise kommt hier die Sichtweise und Grundhaltung des Glaubens zur Sprache?

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M8Glaubenswege – ein Interview mit dem Theologen Jürgen Moltmann

Jürgen Moltmann, geboren 1926 in Hamburg, stammt aus einer atheistischen Lehrerfamilie. Krieg und Gefangenschaft haben den späteren Theologen geprägt. Er lehrte zuletzt von 1967 bis 1994 Systema-tische Theologie an der Universität Tübingen. In der „Systematischen Theologie“ (einem Fachgebiet innerhalb der Theologie) geht es darum, die Inhalte des christlichen Glaubens zu reflektieren und auf dem Forum der Vernunft zu verantworten. Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ (1964) zählt zu den folgenreichsten theologischen Büchern aus Deutschland.

[...] Was ist Gott für Sie?

Es ist ein Doppelgefühl. Zum einen ist Gott ein Gegenüber, zu dem ich bete und der mich im Gebet erweckt, der meine Sinne wachruft, so dass ich aufmerksamer lebe. Ein Gegenüber, zu dem ich schreie und spreche, danke und lobe, und vor dem ich mein Leben führe. Zum anderen ist Gott eine große Umgebung. Eine große Atmosphäre des Vertrauens, die mich von allen Seiten umgibt. So, wie es im Psalm 139 anklingt: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Dieses Doppelgefühl von Gegenüber und Gegenwart weist für mich auf Gott hin.

Im Gebet richten Sie sich auf dieses Gegenüber aus?

Ja. Ich bin ein sprechendes und hörendes Wesen. Im Gebet erfahre ich, wie meine Augen, meine Sinne geöffnet werden für das Leben.

Erinnern Sie sich noch, wie dieser Dialog mit Gott für Sie begonnen hat? War das 1943, als Ihre Geburtsstadt Hamburg in den Bombennächten zerstört wurde?

Da habe ich zum ersten Mal nach Gott geschrien. [...] Es war so: Die „Operation Gomorrha“, wie die Engländer die geplante Zerstörung der ersten deutschen Großstadt getauft hatten, richtete neun Nächte lang ein unbeschreibli­ches Inferno an. Ich war eingezogen als Luftwaffenhelfer. In der letzten oder vorletzten Nacht traf eine Sprengbom­be die Plattform mitten auf der Alster, wo wir mit unserem Kommandogerät aufgebaut standen. Die Splitter zerris­sen meinen Schulfreund neben mir. Ich erhob mich wieder, taub und geblendet, mit nur geringen Splitterwunden an Schulter und Wangenknochen.

Wundern Sie sich noch heute darüber, dass Sie überlebten?

Ja, das war wirklich ein Wunder. In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Gott geschrien und mein Leben in seine Hände gelegt. Ich war wie tot und habe danach jeden neuen Tag wie ein Geschenk emp­funden. Meine Frage war nicht: Warum lässt Gott das zu? Sondern: Mein Gott, wo bist du? Damit fing mein Suchen nach Gott an.

Was gab Ihnen die Gewissheit, dass Sie nicht einer Illusion nachjagten?

Ich hatte das Gefühl, dass ich Gott nicht suchen würde, wenn er mich nicht ziehen würde. Oder wenn er mich nicht schon gefunden hätte. Warum sonst sollte ich nach Gott suchen? Da muss schon irgendetwas sein, das mich gefunden hatte.

Sie waren als Kriegsgefangener der Briten fünf Jahre lang eingesperrt in Kasernen und Lagern. Hat diese Ge-fangenschaft Ihre Widerstandskraft gestärkt?

Nein, am Anfang überwog die Depression über die Kriegszerstörungen und diese Gefangenschaft ohne absehbares Ende. [...] Es gab [aber] zwei Erfahrungen, die für mich eine Wende zu neuer Lebenshoffnung bedeuteten. Zum ei­nen erlebte ich in dem Lager an der schottischen Küste viele menschenfreundliche Begegnungen mit den einheimi­schen Arbeitern und ihren Familien. Zum anderen wurden Bibeln verteilt und ich las abends darin. Die Klagepsalmen im Alten Testament sprachen mir aus der Seele. Dann las ich die Passionsgeschichte im Markus­Evangelium und vernahm den Todesschrei Jesu: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ich erfuhr zwar keine Erleuchtung, aber ich spürte die wachsende Gewissheit: Da ist jemand, der dich versteht, der die gleiche Verlassenheit gefühlt hat, in der du jetzt bist! Das brachte mir neuen Lebensmut. [...] Ganz langsam, aber sicher ergriff mich eine große Hoffnung auf die Auferstehung in Gottes „weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr ist“, wie es im Buch Hiob heißt.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M8 Fortsetzung: Glaubenswege

Diese Hoffnung ist Ihr Lebensthema geworden. Sie bezeichnen sie als Zentrum und Lebenskraft der christli-chen Existenz. Warum?

Die große Hoffnung sagt: Eine andere, eine gerechtere Welt ist möglich. Gib dich nicht auf, setz‘ dich ein! Jedes Kind, das zur Welt kommt, verkörpert einen erneuten Anlauf zu diesem Gelingen. In jedem Kind wartet Gott sozu­sagen auf den menschlichen Menschen.

Das stellt eine unerhörte Aufwertung des Menschen dar, die vielen von uns heutzutage gar nicht geläufig ist.

Aber diese Wertschätzung macht das Leben erst menschlich. Das menschliche Leben ist angenommenes, gelieb­tes und erlebtes Leben. Wo Leben nicht angenommen, geliebt und erlebt werden kann, haben wir es nicht mehr mit menschlichem Leben zu tun. Wenn ein Kind nicht erfährt, dass es angenommen wird, wird es krank. Wenn ein Mensch sich selbst nicht annimmt, verliert er seine Lebendigkeit. Er wird müde und gibt sich auf. [...] Wir Menschen sind Gottes große Liebe. Das ist die Botschaft des Evangeliums. Und Gott hofft auf das Gelingen seiner riskanten Geschöpfe. Er hofft darauf, dass wir die Gottesebenbildlichkeit, die in uns angelegt ist, verwirklichen werden. Wir können sagen: Menschsein ist Menschwerden. Wir werden erwartet.

Gott wartet auf uns. So lautet die Verheißung der Bibel. Aber können wir diesen Auskünften tatsächlich vertrauen?

Für das Volk Israel war die Verheißung oder vielmehr der verheißende Gott deshalb so gewiss, weil sie aus der Gefangenschaft in Ägypten tatsächlich heil herausgekommen sind. Das Gelobte Land sah dann zwar etwas an­ders aus, als sie geträumt hatten, aber sie haben auf ihrer Wanderung offenbar die Treue Gottes erfahren. [...] Für die Christen ist das Treueereignis Gottes die Auferweckung Jesu Christi. Oder allgemeiner gesagt: das Kommen Christi, in dem der göttliche Lebensgeist war. Von ihm sind Lebens­ und Heilungskräfte ausgegangen zu den Men­schen hin. Weil er gekommen ist, ist die Hoffnung auf die Zukunft Gottes und die neue Erde, auf der Gerechtigkeit herrscht, gewiss.

Aber weshalb soll sich ein halbwegs aufgeklärter Mensch heute auf die Aussagen der Bibel verlassen?

Es gibt keine naturwissenschaftlichen Beweise. Aber es gibt Zeugen. Wenn ich an Menschen denke wie Dietrich Bonhoeffer oder an Martin Luther King, fühle ich mich in meiner Zuversicht gestärkt.

Am Ende sind es also Menschen, denen wir glauben müssen?

Ja. So ist es im menschlichen Leben überall und immer wieder. Mit Menschen erleben wir diese Wirklichkeit. Denn menschliches Leben ist auf natürliche und soziale Kommunikation angewiesen und existiert nur darin. Leben ist Beziehung und Austausch.

Und in diesem Bereich des Zwischenmenschlichen können wir Gott finden?

Richtig. Der Geist Gottes ist das, was lebensfördernd zwischen den Menschen stattfindet: die Liebe und die Gerechtigkeit.

[...]

Aufgaben

1. Moltmann erzählt von seinem persönlichen Glaubens- und Lebensweg. Wie kommen darin die vier Quel-len des Glaubens vor, von denen G. Theißen spricht (Bibel, Tradition, Erfahrung, Vernunft)? Markieren Sie die entsprechenden Stellen mit vier verschiedenen Farben – und beachten Sie dabei auch die biographi-schen Angaben. Können manche Aussagen mit mehreren Farben markiert werden?

2. Für den Glauben und die Theologie Moltmanns spielt der Begriff der „Hoffnung“ eine zentrale Rolle – sowohl als Hoffnung vonseiten Gottes als auch der (glaubenden) Menschen. Erläutern Sie diesen Zusammenhang!

3. Sie haben das Interview mit Moltmann (z. B. im Rahmen einer Talkshow) als Zuhörer verfolgt und können ihm abschießend noch eine oder zwei Fragen stellen. Was fragen Sie (und warum)?

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M9Gerhard Lohfink: Verschiedene Zugangsweisen zur Wirklichkeit

Stellen wir uns ein Bild des Vincent van Gogh (1853­1890) vor, zum Beispiel eine seiner Landschaften aus der Zeit in Arles oder Saint­Rémy. Man kann durchaus mit naturwissenschaft­licher Methode an ein solches Bild herangehen. Man kann messen, wie groß es ist. Man kann feststellen, wie schwer die Leinwand ist, und ihre textile Struktur bestimmen. Man kann eine chemische Analyse der verwendeten Farben vornehmen. Man kann Van Goghs Pinselführung bis ins Kleinste untersu­chen: kurze, energische Striche; aufgetupfte Lichtpunkte. Das alles ist äußerst aufschlussreich. Es hilft zum Beispiel, einen echten Van Gogh von Fälschungen zu unterscheiden. Aber an das Eigentliche des Bildes ist man mit den geschilderten Ana­lysen noch keineswegs herangekommen. Nicht einmal seine Geschichte ist damit geklärt. Wann genau und wo wurde es gemalt? Charakterisiert Vincent das Bild in einem Brief an sei­nen Bruder? Stammt die Bildidee von ihm selbst oder malte er nach einer Vorlage? Welchen Einfluss hatten andere Maler? […] [Aber trotz dieser Einflüsse] ist sein Bild eine Neuschöp­fung. Es ist in ein völlig anderes Licht getaucht. Die Welt, die Vincent hier malt, glüht in Blau, Gelb und Braun. Also Abhän­gigkeit – und doch eruptiv Neues! Über derartige Beziehungen kann ein Physiker oder Chemiker mit seinen Möglichkeiten und Versuchsanordnungen keine Aussagen mehr machen. Dazu bedarf es kunstgeschichtlicher Untersuchungen, die mit einer anderen Methode arbeiten.

Und selbst dabei würde man mit einer rein historischen Me­thodik einem großen Gemälde noch nicht gerecht – so hilf­reich sie ist. Es käme ja darauf an, die ästhetische Dimension des betreffenden Bildes zu erfassen. Wie sieht van Gogh die Welt? Wie hat er die Bildkomposition angelegt? Welche Far­

ben hat er gewählt? In welchem Verhältnis stehen sie zuei­nander, und was drückt er mithilfe dieser Farben aus? Wie verhalten sich bei ihm Abbildung der Welt und Neuschöp­fung von Welt zueinander? Haben die Felder, die Bäume, die Wolken, die er malt, eine Tiefendimension, die seelische Bewegungen mitaussagen? Erst mit Fragen dieser Art würde man anfangen seinen Bildern als Bildern gerecht zu werden. Angesichts dieser eigentlichen Wahrnehmung großer Kunst muss die reine Naturwissenschaft, muss sogar die Kunstge­schichte ihre Grenzen erkennen. Die ästhetische Welt eines Bildes und seine Sinndimensionen sind mit naturwissen­schaftlichen Methoden schlechterdings nicht erfassbar.

Und nun gilt: So wenig die Naturwissenschaft die Sinndimen­sionen eines Bildes erfassen kann, so wenig kann sie den Sinn der Welt erfassen. Sie kann unendlich viel darüber wissen, wie, auf welche Weise die Prozesse der materiellen Welt ablaufen. Aber sie kann nichts darüber sagen, warum es die Welt gibt und ob sie ein Ziel, einen Sinn hat. Die Naturwissenschaft kann, um es noch radikaler zu formulieren, in keiner Weise die Frage beantworten, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Man darf die Welt nicht auf das reduzieren, was an ihr sichtbar, zählbar und messbar ist, und dann allen anderen Erkenntnisweisen die Qualität wahrer Erkenntnis absprechen. Wahre Wissenschaft ist für viele verschiedene Erkenntnisebe­nen offen. Wissenschaftlich denken heißt gerade: Mit Größen rechnen, die mit der eigenen Methode nicht erfassbar sind, für die es aber vielleicht andere Zugangsweisen gibt.

Ich bin extrem dankbar, wenn mein Zahnarzt über die mo­dernsten Geräte und Techniken verfügt, die heute in der Zahnmedizin zur Verfügung stehen und wenn er sich in der neuesten Zahnforschung auskennt. Doch halte ich ihn nicht unbedingt für kompetent, wenn es um die Frage nach dem Sinn meines Lebens geht. […] Sachgerecht wäre es, dazu – zumindest auch – das Alte und Neue Testament zu befragen bzw. Menschen, die in der Tradition dieses Buches leben. Die Bibel ist gesammelte Erfahrung. Der christliche Glaube ist die Frucht einer langen Glaubensgeschichte. Er ist die verdich­tete, immer wieder erneuerte Summe von Erfahrungen vie­ler Generationen, von Erfahrungen, die Menschen mit dem Gott Israels gemacht haben. Solcher Gotteserfahrung die (mögliche) Qualität echter Erkenntnis abzusprechen, würde gerade nicht wissenschaftliche Offenheit verraten, sondern vielmehr eine sehr eingeschränkte und eindimensionale Sicht der Wirklichkeit.

Aufgaben

1. Vergleichen Sie die von Ihnen formulierten Fragen mit denen, die im Text vorkommen.

2. Übertragen Sie das hier gewählte Beispiel auf den Bereich der Musik, z. B. eine Komposition von J.S. Bach, und beschreiben Sie verschiedene Wahrnehmungsperspektiven und Zugangsweisen.

3. Erörtern Sie folgende These Lohfinks: „Wahre Wissenschaft ist für viele verschiedene Erkenntnis ebenen offen“.

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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M10Schaubild: Naturwissenschaft und Religion

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WAS IST WIRKLICH?

„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS

M11Irmintraud Eckard: Einen Schöpfungspsalm durch Sprechen, Tönen und Bewegen gestalten

Eines der Hauptinstrumente unserer Persönlichkeit ist unsere Stimme. Dies wird uns meist erst dann bewusst, wenn wir heiser werden, wenn wir vor Aufregung „einen Kloß im Hals haben“, wenn uns „die Luft wegbleibt“ oder wenn es uns „die Sprache verschlägt“. Andererseits erleben wir es als befreiend, wenn wir fließend sprechen kön­nen, wenn wir tief durchatmen können und die Worte aus dem Herzen kommen können.

Um die Stimme zur Ausdrucksgestaltung eines Psalms einsetzen zu können, sollten wir einige Körperübungen machen, um die drei wesentlichen Gestaltungs­Elemente Sprechen, Atmen und Herz bewusst wahrzunehmen. […]

Um einen Psalm mit unserer Stimme zu gestalten, können wir folgende Möglichkeiten einsetzen. Jede einzelne Variante wird gemeinsam erprobt:

� Wichtige Worte werden wiederholt, auch mehrfach,

� die Lautstärke wird variiert, lautes oder leises Sprechen,

� das Sprechtempo wird verändert, schnell oder langsam,

� die Tonhöhe wird moduliert, hell, dumpf, klar, klangvoll

� Pausen werden bewusst eingesetzt,

� die Stimme wird durch die Körperhaltung und Bewegung beeinflusst, ein Aufstehen an bestimmten Stellen, ein Emporschwingen der Arme oder ein akzentuierter Schritt verändern unsere Stimmqualität.

Wichtig ist, dass wir das, was wir sprechen wollen, zuvor denken und uns vor unserem inneren Auge vorstellen.

Beispiel: Psalm 8 (nach Luther)

Material: vorgedruckter Psalmtext mit Raum für Notizen (großer Zeilenabstand!), Stifte

Gestaltungszeit: ca. 30­40 Minuten

Jeweils vier Personen bilden eine Gruppe.

Der ausgewählte Psalm wird in der Gruppe bewusst tonlos miteinander im Chor gesprochen. Jede/r sagt, welche Textstelle sie/ihn besonders aufmerken ließ. Der Text wird strukturiert, in Abschnitte aufgeteilt, wich­tige Worte oder Sätze werden unterstrichen. Ein Thema wird benannt.

Miteinander werden Stimm­Modulationen erprobt, verändert und in Stichworten auf dem Textblatt als Ge­dankenstütze notiert. Der Psalm als Ganzes wird nach den ausgewählten Sprach­Gestaltungsmitteln ge­sprochen.

Die Vorstellung der Ergebnisse erfolgt unkommentiert im Plenum. Die expressive Klangdeutung wirkt sehr emotional und weckt bei den Zuhörenden Bilder und Erfahrungen, die sehr tief gehen können. Das Spre­chen eines Psalms in dieser Form kann auch Teil eines Gottesdienstes sein.

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WIE SEHEN WIR DEN MENSCHEN?

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WAS IST WIRKLICH?

AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“

M12 Gerhard Lohfink: Evolution, Schöpfungsglaube und Kreationismus

Über die Evolution lässt sich naturwissenschaftlich unendlich viel sagen. Aber nichts da­von widerlegt den Gottesglauben und den Glauben an die Welt als Schöpfung Gottes. [...] Leider gibt es christliche Fundamentalisten, die hier aus einem falschen Bibelver­ständnis heraus noch immer anderer Meinung sind. Sie lehnen die Evolutionstheorie ra­dikal ab und haben nicht begriffen, was es heißt, die Bibel wörtlich zu nehmen. Denn „wörtlich“ nimmt man die Bibel gerade dann, wenn man die Art, in der sie redet, ernst nimmt – das heißt, wenn man ihre Textgattungen beachtet. Den Text von der Schöpfung in Gen 1 zum Beispiel nehmen wir nur dann wörtlich, wenn wir ihn nicht als naturhisto­rische Dokumentation lesen, sondern als eine hochtheologische Erzählung, die Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde zeigen und zugleich die Institution des Sabbats von der Schöpfungsordnung her begründen will. Deshalb arbeitet Gott sechs Tage lang und ruht sich am siebten Tag von seiner Arbeit aus.

Die biblische Schöpfungsgeschichte zeigt übrigens selbst, dass sie nicht als kosmolo­gische bzw. biologische Dokumentation gelesen sein möchte. Es gibt nämlich in Gen 1­2 zwei Schöpfungserzählungen, die sich grundlegend voneinander unterscheiden.1 [...] Nun haben aber die Redaktoren der Genesis beide Schöpfungserzählungen aneinander­gereiht und miteinander verfugt. Sie wussten durchaus, dass sie dabei mit unterschied­lichem Erzählmaterial arbeiten. Wir würden heute sagen: Sie haben mit verschiedenen Weltentstehungs­Theorien gearbeitet. Aber gerade diese Freiheit im Umgang mit je verschiedenem Erfahrungsmaterial zeigt: Sie wollten gar nicht in erster Linie bio­logische oder kosmologische Theorien vertreten. Sie wollten vielmehr theologisch herausarbeiten, dass Gott alles erschaffen hatte. Selbstverständlich taten sie das mit den Mitteln ihrer Zeit.

Weil das so ist, nehmen Fundamentalisten, die mit Gen 1 und 2 kosmologisch oder biologisch argumentieren, den biblischen Text gerade nicht wörtlich. Die Bibel kann deshalb nicht gegen die Evolution ins Feld geführt werden. Übrigens kann sie das auch deshalb nicht, weil die große Schöpfungserzählung in Gen 1 wenigstens an einer Stelle selber ein Stück weit evolutiv denkt. Die Pflanzen und die Tiere werden nämlich von Gott nicht direkt, mit eigener Hand geschaffen, sondern die „Erde“ bringt sie hervor (Gen 1,11f. 24f) und lässt sie aus sich heraus entstehen. Und doch hat Gott die Pflanzen und die Tiere „gemacht“. Dies wird schon dadurch ausgedrückt, dass Gott ja der Erde den Befehl gibt, Pflanzen und Tiere entstehen zu lassen. Hat der Erzähler von Gen 1 schon geahnt, dass die Formen des Lebens nicht unmittelbar von Gott geschaffen sein müssen, sondern dass Gott in seine Schöpfung die Kraft gelegt hat, Leben zu entwickeln und hervorzubringen? Wir wissen es nicht. Aber eines wissen wir: Eine sachgerechte Bibelauslegung hat mit der Evolutionslehre nicht die geringsten Schwierigkeiten – solange diese ihre Grenzen nicht überschreitet. Konkret: Wenn Biologen von „sich selbst organisierender Natur“ reden oder vom „Experi­mentieren der Evolution“ oder der „Kreativität der Evolution“, so ist solche Redeweise theologisch durchaus akzeptabel. Sie muss – in sich gesehen – nicht ausschließen, dass diese Natur Schöpfung Gottes ist. Gott hat die Welt so geschaffen, dass sie sich hochentwickeln soll zu immer höherer Selbständigkeit – und zwar als „Natur“, das heißt, als das Aus­sich­selbst­He­rauswachsende. Die Hominisation, die Menschwerdung des Menschen, ist dann ganz das Werk Gottes und ganz das Werk der Natur. Aber diese Natur ist von Gott so geschaffen, dass sie als die Spitze der Evolution den Menschen hervorbringt. Die Geistseele, die den Menschen grundlegend von jedem Tier unterscheidet, ist Geschenk Gottes – und dennoch Geist, auf den die Schöpfung schon immer angelegt war. […]

Gott trägt die Welt durchgehend als transzendente Ursache2 und als alles zu sich heranziehendes Ziel. Deshalb ist die gesamte Evolution von Gott gewollt und inspiriert – und doch Selbsthervorbringung der Natur mit ständigem Probieren, mit Misslingen und Gelingen, mit evolutiven Sackgassen und mit einer im Ganzen irritierenden Nicht­Geradlinigkeit. Das gerade ist die unge­heure Freiheit, in der Gott seine Schöpfung will. Damit sollte klar sein: Dass sich der Mensch aus dem Tierreich hochentwickelt hat, schließt Gott als Schöpfer in keiner Weise aus. Die Evolutionstheorie ist alles andere als ein Beweis gegen Gott. Sie muss die Gottesfrage offen lassen.

1 Neben der jüngeren Erzählung in Gen 1,1 – 2,4a, in der Gott eher abstrakt dargestellt wird (er spricht und seine Worte werden Wirkli-chkeit), steht die ältere Schöpfungserzählung in Gen 2,4b – 25; hier wird von Gott auffallend anthropomorph gesprochen, zum Beispiel als Gärtner oder Töpfer. [JW]

2 Das meint: Gott ist keine „innerweltliche Ursache“, sein schöpferisches Handeln liegt außerhalb der kausalen Wechselwirkungen der Natur und ermöglicht diese. [JW]