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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg17

Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 17 (2010)

http://dx.doi.org/10.12946/rg17/204-210

Rg172010 204 – 210

Heinz Mohnhaupt

Lehr- und Lernstücke für Europa?

Dieser Beitrag steht unter einer

Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Lehr- und Lernstücke für Europa?*

Das materialreiche Buch ist im Verlag »Eu-ropa Law Publishing« erschienen, der sich aufPublikationen zum »European Union Law« spe-zialisiert hat. Damit ist schon eine Programma-tik angezeigt, die die Dissertation aus der Schulevon W. J. Zwalve aus Leiden verfolgt. Van denBerg (vdB) hat sich zum Ziel gesetzt, die euro-päische Kodifikationsgeschichte des 18. und frü-hen 19. Jahrhunderts in den Dienst aktuellerEuropa-Politik zu stellen. Rechtsgeschichte sollfür die Gestaltung des europäischen Gemein-schaftsrechts nutzbar gemacht werden, ihre Di-alogfähigkeit beweisen und Legitimationskraftfür Europa und seine Einigung entfalten. Dasist ein ehrgeiziges und sympathisches Unter-fangen, das Macht und Ohnmacht von Rechts-geschichte am Beispiel europäischer Gesetz-gebungsgeschichte zu beleuchten vermag. DasUntersuchungsmaterial bilden die vier großen,teils von der Aufklärung inspirierten und teilsvon der Französischen Revolution getragenenKodifikationen: das »Allgemeine Landrecht fürdie preußischen Staaten« (ALR 1794), der fran-zösische »Code civil« (Cc 1804), das »WetboekNapoleon ingerigt voor het Koningrijk Holland«(Wetboek 1809) und das österreichische »All-gemeine Bürgerliche Gesetzbuch« (ABGB 1811);vorangestellt ist eine kurze Beschreibung derRechtsverhältnisse im Alten Reich. Schon derObertitel des Buches betont die politische Di-mension der europäischen Kodifikationsdebatteund politisiert so zugleich die historische Dimen-sion des Untersuchungsgegenstandes. Folglichbilden die Europaverträge von Rom (1.1.1958)bis Nizza (2001) sowie auch die Entschließungdes Europa-Parlaments von 20021 mit ihreninstitutionellen Integrationszielen, die »Lando-

Commission« für ein europäisches Vertragsrechtund vor allem die Resolution des Europa-Parla-ments vom 26. Mai 1989 und von 1994 für dieVorbereitung eines »common European code ofprivate law«2 den Ausgangspunkt und den Rah-men der Untersuchung für die als historischeVorläufer gewerteten Kodifikationen: »the ideaof using codification as an instrument to unifyEuropean private law« (4).

So unbestreitbar die Rechtseinheit ein wich-tiges Ziel aktueller Europapolitik ist, so wider-sprüchlich sind die Ansichten über die Metho-den, den Umfang und die Rechtsmaterien, dieeine »unity of law« bewirken sollen und können.Das zeigen auch die Debatten, die sich um denVorschlag von Reinhard Zimmermann3 höchstkontrovers ranken, das »ius commune« Alt-Eu-ropas als ehemals größtenteils gemeines Rechtwieder inhaltlich zur »Re-Europeanization« zugebrauchen.4 vdB zielt nicht auf eine solcheinhaltliche materiellrechtliche Reaktivierung rö-mischrechtlicher Traditionsbestände, sondernauf die rechtstechnische Möglichkeit, diese an-gestrebte Privatrechtseinheit in der Form einerKodifikation zu schaffen. In diesem Sinne ver-weist Ewoud Herman Hondius im Vorwort aufdie »similarity of the present-day discussion withcodification debates which took place in theearly nineteenth century« (VII). Sein Vergleichder Kodifikations-Befürworter und -Gegner vondamals und heute lässt ihn sogar fragen: »IsLando5 the XXth century Thibaut and Legrandthe present-day Savigny?« (VII). Es geht vdB umdie Klärung der Rolle der »politics« im histo-rischen Kontext und »in the present codificationdebate in Europe«. Vor allem diese Debattenbilden das Vergleichsmaterial und das Untersu-

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* Peter A. J. van den Berg, ThePolitics of European Codification.A History of the Unification ofLaw in France, Prussia, the Aus-trian Monarchy and the Nether-lands, Groningen: Europa LawPublishing 2007, XVI, 325 S.,ISBN 978-90-76871-48-6

1 In: ZEuP 2002, 634.2 In: Official Journal of the Euro-

pean Communities 1989, Nr. C158/400.

3 Vgl. R. Zimmermann, Das rö-misch-kanonische ius communeals Grundlage europäischerRechtseinheit, in: JZ 47 (1992)8–20, und vor allem ders., TheLaw of Obligations, Cape Townu. a. 1990.

4 Vgl. hierzu B. Diestelkamp, »JusCommune« – Rechtsgeschichte alsArgument in der Unifizierung vonEuropäischem Recht, in: Rättshis-toria i förändring, Lund 2002,

205–211; J. Rückert, Privat-rechtsgeschichte und Traditions-bildung, in: RJ 11 (1992) 122–144 sowie andere Beiträge zu die-sem Thema in: RJ 12 (1993) 259–345.

5 Vgl. O. Lando, Why codify theEuropean law of contract?, in:European Review of Private Law 5(1997) 525–535; Towards aEuropean Civil Code, hg. vonA. S. Hartkamp, Nijmegen 1994.

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chungskriterium für die vier Kodifikationsge-schichten, um die Argumente im pro und contrader historischen Auseinandersetzungen überRechtseinheit erkennbar zu machen und sozum Verständnis heutiger politischer Prozessefür eine europäische Privatrechtskodifikationbeizutragen.

Diese Kodifikationsdebatten und deren Zie-le sind im Wesentlichen bekannt, werden vonvdB jedoch mit großer Sorgfalt nachgezeichnetund neu akzentuiert. Die historische Darstellungund Analyse erhält ihren Erkenntnis förderndenbesonderen Wert dadurch, dass die vier Kodifi-kationen entsprechend ihrer Entstehungszeit ver-gleichend nebeneinander gestellt und behandeltwerden. Ein gemeinsamer Befund besteht imextremen Rechtsquellenpluralismus und der da-raus resultierenden Uneinheitlichkeit sowie Un-gewissheit des »Rechts«, das nach Quantitätund Qualität nur als eine Vielzahl von »Rech-ten« wahrgenommen werden konnte. Ständi-sche, territoriale, regionale, lokale Rechte ge-hören in allen vier Ländern zum tradiertenRechtsbestand, der sich noch zusätzlich inRechtsgattungen ganz unterschiedlicher Her-kunft und Eigenschaft wie Gesetze, Gewohn-heitsrechte, Privilegien, römisches und kanoni-sches Recht auffächern lässt, die wiederum ganzunterschiedliche Rechtsträger, Rechtsadressatenund Systementwürfe repräsentieren. Auch diePräjudizien als Produkte der Rechtsprechunggehören in diesen Kreis normativ wirkenderQuellen, die vdB jedoch nicht in den Blicknimmt. Dieser Tatbestand gehört zur allgemei-nen Signatur des Ancien Régime und bildete denAusgangspunkt für die Kodifikationsbewegungdes 18. Jahrhunderts, um auf der Grundlage vonGleichheit und territorialer Einheit die Unge-wissheit des Rechts zu beseitigen und Rechts-sicherheit als ein Freiheitselement für den Bürger

zu garantieren. Dies konnte nur gelingen, wenndie Kodifikation zur ausschließlichen Rechts-quelle wird und alle anderen Normenbeständeihre Gültigkeit verlieren.

Das war eine Kernfrage, an der sich der Streitzwischen den Vertretern des Gleichheitsprinzipsund den Traditionalisten bzw. den Unitaristenund Partikularisten als Interessen- und Politik-Konflikt entzündete. vdB unterscheidet drei Ar-gumentationsrichtungen im Streit um eine rechts-vereinheitlichende Kodifikation: 1. die justizielle(Rechtssicherheit, kurze Prozesse), 2. die poli-tisch-theoretische (Uniformität des Rechts, bür-gerliche Freiheit), 3. die praktisch-politische(Zentralisierung und Stärkung der Staatsmacht,Förderung der Wirtschaft und des Nationalge-fühls, ausschließliche Herrschaft über die Rechts-produktion). Die entsprechende Gegenbewegungverteidigte die Pluralität der Rechte als Tradi-tionswert und als Garanten kleinräumiger, stän-disch-korporativer Freiheiten und Privilegien, dieallein eine absolutistische Staatsform und -praxisverhindern könnten. Rechtsvielfalt wurde mitMontesquieu als Differenzierungsgebot im Sinneder Anpassung an unterschiedliche Bedingungengerechtfertigt. Daraus wurden die Autonomieprovinzialer und ständischer Strukturen sowieRechte abgeleitet, die auch der Bewahrung desumfangreichen privilegialen Rechtsstoffs diente.Mit erstaunlichem Gleichklang – wenn auch mitunterschiedlichen Akzentuierungen – tauchenalle diese Argumente in den Diskussionen in allenvier Ländern immer wieder auf und zeigen dasSpannungsverhältnis zwischen vorsichtiger Be-wahrung (ALR, ABGB) und revolutionärer Er-neuerung (Cc, Wetboek), die in Frankreich undin den Niederlanden durch eine Verfassung ge-tragen und gesichert wurde. vdB sieht in den vierKodifikationen die Verwirklichung einer neuenStaatsformierung, indem der Staat nun die Herr-

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schaft über seine gesellschaftlich und territorialgetrennten Teile übernimmt, diese integriert so-wie das Rechtsetzungsmonopol gewinnt undeben dadurch eine neue Staatsqualität repräsen-tiert. Insofern hat sich die praktisch-politischeArgumentation durchgesetzt, wie sie sich ins-besondere im Kodifikationsvotum von Portaliszeigt (211).

So richtig und überzeugend vdB die histori-sche Aufbereitung der unterschiedlichen Positio-nen in dieser Kodifikationsbewegung gelungenist, so sind doch teils ergänzende, teils kritischeAnmerkungen zu machen. Es ist zu fragen, wasaus der dargelegten Kodifikationsgeschichte fürdie Bemühungen um die heutige RechtseinheitEuropas folgt.

1) Zunächst ist zu bedauern, dass vdB auf eineinhaltliche Bestandsaufnahme zum vielgestalti-gen Kodifikationsbegriff, seine uneinheitliche Be-deutung, Verwendung und Definitionsgeschichteverzichtet hat. Nur ganz kurz wird er gestreift(6). Mit einer solchen umfassenden historischenAnalyse hätte die Linie zur gestellten heutigenAufgabe einer Privatrechts-Kodifikation und ih-rer Erfüllbarkeit einleuchtender gezogen werdenkönnen, denn der Kodifikationsoptimismus des18. und 19. Jahrhunderts ist heute einer begrün-deten Skepsis gewichen.6 Auch diese Skepsis unddie – gemessen an dem ursprünglich hohen auf-klärerischen Anspruch – eingetretene Enttäu-schung sind ein Ergebnis rechtshistorischer Er-fahrung, die nutzbar gemacht werden kann undmuss. Diese Erfahrung beruht weitgehend aufeiner Strukturschwäche des Gesetzes, durch dieKodifikation eine materielle Vollständigkeit desRechts zu erreichen, wie sie z. B. das ALR mitseiner extremen Kasuistik zu erreichen hoffte.Die Redaktoren von Code civil, ABGB und nie-derländischem Wetboek hatten dagegen schon

erkannt, dass der notwendige Rechtsstoff zurgezielten Gestaltung und Ordnung von Staatund Gesellschaft durch eine Kodifikation nichtin einem einmaligen Gesetzgebungsakt be-herrscht werden kann. Die Funktionsfähigkeiteiner Kodifikation bestimmt sich deshalb auchnach ihrer gesetzestechnischen Ausformung, d. h.nach dem Grad möglicher Abstraktheit oderkasuistischer Konkretheit, nach der Verwendungvon Generalklauseln und formulierten Rechts-prinzipen, nach zwingenden und dispositivenRechtssätzen, nach der Systematik, nach einge-räumten Ermessensspielräumen und bewusst ge-lassenen Lücken oder gar einer nur kompilatori-schen Kodifikationsgestaltung, die vdB kurzerwähnt (134, 160), und nach möglichen ver-fassungsmäßigen Vorgaben und Einbindungen.Eine in dieser Richtung vorgenommene Über-prüfung der vier Kodifikationen hätte dahererkennbar machen können, wie wenig oder vieldie gesetzestechnische Gestaltung der Kodifika-tion den Anforderungen nach einem allgemei-nen, einheitlichen, moderne Staatlichkeit reprä-sentierenden Gesetzbuch zu entsprechen vermag,das exklusiv – d. h. autonom als alleinige Rechts-quelle – den Regelungsbedarf für Staat und Ge-sellschaft übernehmen kann. Das ALR verbotnebenwirkende normative Konkurrenzen in Ge-stalt von Richterrecht und rechtswissenschaft-licher Kommentierung; der Code civil dagegenermächtigt und verpflichtet in Artikel 4 denRichter, trotz des Fehlens einer gesetzlichen Ent-scheidungsgrundlage ein Urteil zu fällen. Damittritt der Richter mit in den Prozess der Rechts-fortbildung ein, unabhängig davon, ob mandiese richterliche Tätigkeit als quasi-legislatori-sche Tätigkeit oder nur als im System der Kodifi-kation angelegte Konkretisierungsarbeit ansehenwill. Es kommt darauf an, das komplexe Ver-hältnis zwischen der Kodifikation und ihrer An-

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6 Zuletzt G. Hager, Rechtsmetho-den in Europa, Tübingen 2009,280–282.

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wendung durch die Gerichte auch als eine histo-rische Frage zu erkennen und in seinem notwen-digen Zusammenspiel dieser beiden Rechtsins-tanzen zu untersuchen. Angesichts permanentergesellschaftlicher und vor allem wirtschaftlicherVeränderungen und Zwänge, die die mehr sta-tischen Regelungsangebote und Ziele eines Ge-setzes regelmäßig überholen, ist die vermeintlichin sich geschlossene Kodifikation bereits im Zeit-punkt ihrer Inkraftsetzung dauerhaft auf Anpas-sungsarbeit angewiesen. Dies verdeutlicht dasheute geflügelte Wort von der »alternden Kodi-fikation« oder von dem »entzauberten Gesetz-buch«,7 das bis zu einer »Episode der Sozialge-schichte« herabgestuft erscheinen kann.8 DieserBefund hat auch Folgen für den Kodifikations-begriff. Mit Irtis 1979 erschienenem Buch – vdBerwähnt es nicht – über »Dekodifikation«9 alseinem neuen zeitgebundenen Rechtsphänomenwird der gegenläufige Prozess der Zergliederungdes ehemals einheitlichen privatrechtlichen Sys-tems und seiner ökonomisch bedingten Mate-rienvermehrung zu erfassen versucht. Aus dieserEinsicht ist das harte Urteil Friedrich Küblers zuverstehen: »Das nicht zuletzt vom EuropäischenParlament propagierte Vorhaben eines europä-ischen Zivilgesetzbuchs ist eine Schimäre.«10 Soviel steht fest und ist als von der Gegenwartbestätigtes historisches Faktum zu beachten, dassdie Worte eines Gesetzes auf die Interpretations-arbeit des Richters oder eines sonstigen Anwen-ders angewiesen sind. Das bedeutet, dass derheute bestehende Pluralismus der Interpreta-tionsmethoden den historischen Rechtsquellen-pluralismus abgelöst hat oder doch überlagert.»Die Kodifikation ist heute weniger denn jealleinige Rechtsquelle.«11 Sie wird notwendiger-weise durch Rechtsprechung als normativ wir-kende Unterstützung angereichert. Aber auch derumgekehrte Weg vom Richterrecht zur Kodifika-

tion verdeutlicht den Zusammenhang von Ge-setz und Urteilspraxis sowie das »Wechselspiel«zwischen Rechtsprechung und Reformgesetz-gebung im modernen Staat.12 Eine Autonomieder Kodifikation als alleiniges gesetzgeberischesRechtsgestaltungsinstrument besteht nicht. Eineinterpretatorische Unterstützungsarbeit für dieKodifikation leistet jedoch auch die Rechtswis-senschaft im Zusammenspiel von Gesetz undUrteilspraxis,13 so dass in der Tat von einer»akademischen« und »forensischen« Rechtswis-senschaft gesprochen werden kann.14 Gesetz,Rechtsprechung und Rechtswissenschaft führenkein Eigenleben. Vom Gesamtzusammenhangdieser drei Rechtsgattungen als einer organischenEinheit ist auch Savigny ausgegangen, wenn erbetont, dass ein »gesunder Zustand des Rechts… nur da vorhanden (ist), wo die rechtsbil-denden Kräfte harmonisch zusammen wirken,also keine derselben von denen anderen sichisoliert«.15 Insofern wird das eingangs ange-führte Zitat von Hondius der Position Savignysnicht gerecht, diesen im Vergleich mit Legrandnur als einen Kodifikationsopponenten zu sehen.

Wenn vdB auf der Grundlage des histori-schen Befundes die Kodifikation als Modell undInstrument für Rechtseinheit in Europa behan-delt, so hätten auch die konkurrierenden Rechts-gattungen Rechtsprechung und Rechtswissen-schaft mit in den Blick genommen werdenmüssen, um etwas über die Erfolgsaussicht derPrivatrechts-»Kodifikation« für Europa aussa-gen zu können. Da die nationalen Gesetzgeberschon ihre Schwierigkeiten haben, ihre nationa-len Rechtsordnungen mit Hilfe einer »Kodifika-tion« regeln zu können,16 wiegen diese kodifi-katorischen Rechtsgestaltungsprobleme auf derinternational-europäischen Ebene umso schwe-rer. Diese aus dem historischen Befund herauserklärbaren negativen Kodifikationsbedingun-

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7 P. Caroni, Das entzauberte Ge-setzbuch, in: ders., Gesetz undGesetzbuch, Basel u. a. 2003,125–163.

8 Ebd., IX.9 N. Irti, L’età della decodificazio-

ne, Milano 1979.10 F. Kübler, Traumpfade oder

Holzwege nach Europa?, in: RJ 12(1993) 307.

11 So Hager, Rechtsmethoden(Fn. 6) 285.

12 Vgl. dazu zuletzt H. Fleischerund F. Wedemann, Kodifikationund Derogation von Richterrecht,in: AcP 209 (2009) 597–627.

13 Zum Anteil der Rechtsprechungvgl. H. Mohnhaupt, Rechtsein-heit durch Rechtsprechung?, in:Juristische Theoriebildung undrechtliche Einheit, hg. von C. Pe-terson, Lund 1993, 117–143,127 f.

14 So treffend O. Behrends, Die eu-ropäische Privatrechtskodifika-tion und die Gefährdung ihrerSystemmitte, in: Die Kodifikationund die Juristen, hg. von C. Pe-terson, Stockholm 2008, 15 f.

15 F. C. Savigny, System des heutigenrömischen Rechts I, Berlin 1840,49.

16 Vgl. St. Meder, Die Krise desNationalstaates und ihre Folgenfür das Kodifikationsprinzip, in:

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gen hat vdB – gemessen an dem hohen Anspruchaktualisierender Rechtsgeschichte – leider nichtmit in seine Arbeit einbezogen, wenn er auchzum Schluss die Möglichkeit einer europäischenKodifikation als »part of a process of stateformation« (277 f.) wesentlich zurückhaltenderbeurteilt.

2) Aber noch eine zweite Überlegung ist anzu-stellen, wenn es darum geht, Vereinheitlichungdes Rechts durch eine einheitliche Privatrechts-kodifikation auch als ein Problem der politischenEinheit Europas zu erfassen. Die im 18. undfrühen 19. Jahrhundert bestehende Oppositions-front gegen eine umfassende Kodifikation, diesich auf Differenzierung und einen auf Partiku-larität gestützten Freiheitsbegriff berief, ist imLichte heutiger kultureller Identitätsgarantienin der europäischen Gemeinschaft ernster zunehmen, als dies im Zuge machtstaatlicher Ent-wicklung im Konkurrenzkampf der werdendenNationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert ge-schehen konnte. Die Argumente, durch eine dieRechtseinheit schaffende Kodifikation auch in-ternational Machtpositionen – vor allem in Han-del und Wirtschaft – aufbauen zu können, findensich vielfach in den von vdB sorgfältig geschilder-ten Debatten. Diese Situation hat sich heutegrundlegend geändert, da das Verhältnis dereuropäischen Staaten verrechtlicht wird durchVerfassungsvertrag und die Staaten vernetzendeRegelungen, die heute Konkurrenzverhältnissetransparent steuern. In den heutigen Debattenhat der Begriff der »Region« oder »Provinz« inEuropa maßgeblich eine kulturelle Bedeutungerlangt, die auch rechtskulturell geprägt ist undin diesem Sinne interpretiert wird. Es gehört zumempirischen Befund europäischer Verfassungsge-schichte, dass die Wirkungskraft regionaler oderföderaler Staatsstrukturen, wie sie besonders in

den Niederlanden herrschten und herrschen, auseiner Opposition zum absolutistischen Zentra-lismus erwachsen sind. Das kulturelle europä-ische Spezifikum von Partikularität und Uni-versalität findet sich auch in der Dimension deseuropäischen Rechts und seiner Geschichte.Heute ist die Bewahrung kultureller Eigenartals Form regionaler und sozialer Identifikationim europäischen Verfassungsvertrag rechtlichverankert. Die »Déclaration de Bordeaux« von1978 hat das z. B. schon sehr früh als Leitlinieprogrammatisch festgelegt: »Composante essen-tielle de l’Etat, la Région est un élément fonda-mental de la richesse d’un pays … Le droit dechaque Européen à sa région est un des élémentsde son droit à la difference … La régionalisationne favorise pas seulement l’Union dans la diver-sité, elle est aussi l’une des conditions de l’Unioneuropéenne elle-même«.17 Historisch gesehenkann darin das Gebot zur Beachtung des Klimas,der natürlichen Bedingungen und Eigenarteneiner Landschaft, einer Region, einer Provinzim Sinne des von Montesquieu so bezeichneten»physique du pays« gesehen werden, auf densich die Gegner einer vereinheitlichenden Kodifi-kation im Ancien Régime immer wieder mitNachdruck berufen haben. Das bedeutete eineRelativierung der Vernunftrechtsgrundsätze vonGleichheit und Allgemeinheit für die Gesetz-gebung. Rechtsvereinheitlichung im nationalen– und erst recht im europäisch-supranationalen –Rahmen bleibt abhängig von den politisch-sozia-len Strukturen auch der kleinen Verfassungs-einheiten, seinen Regionen und seinem »ius par-ticulare«. Die Machbarkeit von Einheitsrecht zuLasten der partikularen Rechtsfelder befreitnicht von der Notwendigkeit, die Anwendungund Interpretation von Einheitsrecht vor demHintergrund der historisch gewachsenen Inter-essen-, Rechts- und Bewusstseinslagen vorzuneh-

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JZ 2006, 477–484 (IV.: »Krise desKodifikationsprinzips«).

17 Erklärung des Conseil de l’Europe,Assemblée parlamentaire (30.1.–1.2.1978), hier zitiert nach H.Maier, Föderalismus – Ursprüngeund Wandlungen, in: AöR 115(1990) 228, Fn. 37.

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men. Dafür kann europäische Rechtsgeschichtegerade in Bezug auf Gesetzgebung, Rechtspre-chung und Rechtswissenschaft wichtige Erfah-rungswerte beisteuern. Ein Ziel der Rechtsge-schichte muss die Selbstvergewisserung überrechtskulturelle Identitäten und Differenzen imvertikalen Vergleich sein, um deren positive wieauch negative Bedeutung für rechtliche Verein-heitlichungen durch Kodifikation oder Recht-sprechung unter Mitwirkung von Rechtswissen-schaft zu überprüfen und zu ermöglichen. DieErmittlung des Grades angemessener Rechts-einheit und gebotener Differenzierung – d. h.die Balance zwischen der lex generalis und lexparticularis bei der Gestaltung von Rechts-räumen – ist letztlich ein Dauerproblem bei derAuswahl gesellschaftlicher, politischer und recht-licher Ordnungsmodelle.18 Das legt es nahe, in

der rechtsgeschichtlichen Forschung auch vonaktuellen Problemlagen auszugehen, mit denensich Gesetzgebung, Rechtsprechung, Rechtswis-senschaft sowie Staats- und Verfassungsrechtkonfrontiert sehen. Die Rechtsgeschichte als his-torische Rechtserfahrung und eine aktuelleRechtsproblematik stehen in einem dialektischenWechselspiel und fördern einerseits den rechts-historischen Erkenntnisprozess, der andererseitswieder zurückstrahlt auf Rechtsaktualität. Ein-fache und gültige Rezepte gibt es nicht, wohlaber – um mit Savigny zu sprechen – ein Beden-ken von rechtshistorischen Erfahrungswerten inGestalt von »Muster oder Warnung«.19 Um dieLetztere geht es hier. Das Buch von Peter van denBerg gibt dazu vielfachen Anlass. Auch das istein Verdienst.

Heinz Mohnhaupt

Dünner als die Polizei erlaubt*

Im Vorwort dankt der Autor unter anderemseinem Doktorvater, der »streng, aber fair« ge-wesen sei (V). Vielleicht hätte der Arbeit noch einwenig mehr Strenge gut getan, und wenn manüberlegt, dass der nun vorgelegte schmale Banddie Frucht einer mindestens dreijährigen Arbeitsein muss, dann ist die Ausbeute eher mager. Undwas an lobenswerten und weiterführenden An-sätzen allenthalben zu spüren ist, wird von dermit der Lektüre wachsenden Enttäuschung über-wuchert. Es bleibt vor allem der Eindruck flei-ßiger Archivarbeit, die zwar die Quellen gesuchtund gefunden hat, aber ungefasst weiterplät-schern lässt.

Der Kanton Zürich war ein von der Oligar-chie seiner Hauptstadt regiertes Staatswesen, in

dem bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die»Landschaft«, inklusive der dort durchaus vor-handenen (Klein-)Städte, wenig praktische Au-tonomie hatten. Erst mit der liberalen Verfassungvon 1831 – wir lassen das kurze Zwischenspielin der napoleonischen Zeit um die Jahrhundert-wende als bloßen Vorboten des Kommendenbeiseite – wurde die Vorherrschaft der StadtZürich gebrochen und erhielten die Bezirke undGemeinden in relevantem Umfang Kompetenzenund Gestaltungsfreiheit. Dazu gehört das Ver-ordnungsrecht, also insbesondere kommunalePolizeiverordnungen (im Rahmen des überge-ordneten Rechts) zu erlassen. Diese lokalen Er-lasse wurden bisher nicht erforscht und entspre-chend findet sich dazu in der Literatur auch

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18 Vgl. H. Mohnhaupt, Zum Ver-hältnis von Region und »ius par-ticulare« in Europa während des16. bis 18. Jahrhunderts, in:L’Europa e le sue regioni, hg. vonE. Sciacca, Palermo 1993, 226–238.

19 Savigny, System (Fn. 15) X.

* Philip W. Kupper, Die kommu-nalen Zürcher Polizeiverordnun-gen der Städte Zürich undWinterthur. Eine rechtshistorischeStudie zu deren Entwicklung vonEnde des 18. Jahrhunderts bis zurGegenwart (Zürcher Studien zurRechtsgeschichte 61), Zürich:Schulthess 2009, XXV, 138 S.,ISBN 978-3-7255-5857-5