recht und gerechtigkeit – verfahren und kriterien bei der priorisierung im gesundheitswesen

4
1 3 TagungsberichT Die Diskussion um die ausgestaltung eines Priorisierungssystems medizinischer Leistun- gen in der gesetzlichen Krankenversicherung (gKV) hat bisher zu keinem Konsens geführt. Dabei ist ein öffentlicher und disziplinübergreifender Diskurs über die relevanz und Kon- sequenzen vorgeschlagener Priorisierungskriterien dringend angeraten, um die notwendige akzeptanz der Versicherten zu schaffen. Die vom Zentrum für gesundheitsethik an der evangelischen akademie Loccum gemeinsam mit dem institut für sozialrecht der ruhr- universität bochum und der interdisziplinären DFg-Forschergruppe FOr 655 „Priorisie- rung in der Medizin“ organisierte Tagung richtete sich daher auch an alle Personen mit einem interesse an ethisch-rechtlichen grundsatzfragen zum gesundheitswesen. Die drei einleitenden beiträge von Mitgliedern der Forschergruppe gingen der Frage nach, ob Kriterien bei der Priorisierung medizinisch oder nichtmedizinisch sein sollten. Dabei wurden grundlegende Positionen und begrifflichkeiten beteiligter Disziplinen erläu- tert. Der Philosoph und Ökonom hartmut Kliemt von der Frankfurt school of Finance and Management identifizierte und korrigierte mögliche irrtümer hinsichtlich der begriffe Rationierung und Priorisierung. im hinblick auf den rechtlichen rahmen der Priorisierung wies er zudem darauf hin, dass die gesellschaft durch das Definieren rechtlicher Pflichten ansprüche erzeugen könne, wobei sie sich aussuchen dürfe, welche ansprüche sie mit wel- cher Priorität zuteilt. hier gelte jedoch das gebot der rechtsstaatlichkeit. Priorisierung sei dann ein Mittel zur rationalen, transparenten und expliziten Zuteilung von rationen. Dabei habe das setzen von Prioritäten ein ausdrücklich politischer Prozess unter einbeziehung medizinischer expertise zu sein, so dass weder gerichte noch Mediziner oder ethiker über entsprechende regeln bestimmen könnten. auch der bochumer Jurist stefan huster hob in seinem Kommentar hervor, dass es sich bei der Festlegung dessen, was ein gemeinwesen leisten soll, um eine politische entscheidung handle. hierzu habe der gesetzgeber einen Leistungskatalog auf der grundlage nachvollziehbarer Kriterien zu bestimmen. huster erläu- Recht und Gerechtigkeit – Verfahren und Kriterien bei der Priorisierung im Gesundheitswesen Hannover, 31. März – 1. April 2011 Lars Schwettmann Dr. L. schwettmann () Wirtschaftswissenschaftlicher bereich, Martin-Luther-universität halle-Wittenberg, universitätsring 3, 06108 halle (saale), Deutschland e-Mail: Lars.[email protected] Online publiziert: 25. Dezember 2011 © springer-Verlag 2011 ethik Med (2012) 24:163–166 DOi 10.1007/s00481-011-0173-5

Upload: lars

Post on 25-Aug-2016

215 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Recht und Gerechtigkeit – Verfahren und Kriterien bei der Priorisierung im Gesundheitswesen

1 3

TagungsberichT

Die Diskussion um die ausgestaltung eines Priorisierungssystems medizinischer Leistun-gen in der gesetzlichen Krankenversicherung (gKV) hat bisher zu keinem Konsens geführt. Dabei ist ein öffentlicher und disziplinübergreifender Diskurs über die relevanz und Kon-sequenzen vorgeschlagener Priorisierungskriterien dringend angeraten, um die notwendige akzeptanz der Versicherten zu schaffen. Die vom Zentrum für gesundheitsethik an der evangelischen akademie Loccum gemeinsam mit dem institut für sozialrecht der ruhr-universität bochum und der interdisziplinären DFg-Forschergruppe FOr 655 „Priorisie-rung in der Medizin“ organisierte Tagung richtete sich daher auch an alle Personen mit einem interesse an ethisch-rechtlichen grundsatzfragen zum gesundheitswesen.

Die drei einleitenden beiträge von Mitgliedern der Forschergruppe gingen der Frage nach, ob Kriterien bei der Priorisierung medizinisch oder nichtmedizinisch sein sollten. Dabei wurden grundlegende Positionen und begrifflichkeiten beteiligter Disziplinen erläu-tert. Der Philosoph und Ökonom hartmut Kliemt von der Frankfurt school of Finance and Management identifizierte und korrigierte mögliche irrtümer hinsichtlich der begriffe Rationierung und Priorisierung. im hinblick auf den rechtlichen rahmen der Priorisierung wies er zudem darauf hin, dass die gesellschaft durch das Definieren rechtlicher Pflichten ansprüche erzeugen könne, wobei sie sich aussuchen dürfe, welche ansprüche sie mit wel-cher Priorität zuteilt. hier gelte jedoch das gebot der rechtsstaatlichkeit. Priorisierung sei dann ein Mittel zur rationalen, transparenten und expliziten Zuteilung von rationen. Dabei habe das setzen von Prioritäten ein ausdrücklich politischer Prozess unter einbeziehung medizinischer expertise zu sein, so dass weder gerichte noch Mediziner oder ethiker über entsprechende regeln bestimmen könnten. auch der bochumer Jurist stefan huster hob in seinem Kommentar hervor, dass es sich bei der Festlegung dessen, was ein gemeinwesen leisten soll, um eine politische entscheidung handle. hierzu habe der gesetzgeber einen Leistungskatalog auf der grundlage nachvollziehbarer Kriterien zu bestimmen. huster erläu-

Recht und Gerechtigkeit – Verfahren und Kriterien bei der Priorisierung im GesundheitswesenHannover, 31. März – 1. April 2011

Lars Schwettmann

Dr. L. schwettmann ()Wirtschaftswissenschaftlicher bereich, Martin-Luther-universität halle-Wittenberg, universitätsring 3, 06108 halle (saale), Deutschlande-Mail: [email protected]

Online publiziert: 25. Dezember 2011© springer-Verlag 2011

ethik Med (2012) 24:163–166DOi 10.1007/s00481-011-0173-5

Page 2: Recht und Gerechtigkeit – Verfahren und Kriterien bei der Priorisierung im Gesundheitswesen

164

1 3

L. schwettmann

terte, dass sich individuelle ansprüche auf Teilhabe am existierenden Versorgungsystem aus den verfassungsrechtlich verankerten gleichheitsrechten ableiten ließen. Überlegun-gen zur Priorisierung und rationierung seien aber in diesem rahmen zulässig. schließlich beschrieb der Lübecker bevölkerungsmediziner heiner raspe den engen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und medizinischen Priorisierungskriterien. Demnach fungiere die klinische Medizin gewissermaßen als agent der gesellschaft und erfülle dabei einen sozialen Vertrag, der ihr Werte und Ziele vorgebe. Die hierin verankerte basis bildeten sowohl der unwert Krankheit/Kranksein als auch die Menschenwürde sowie bestimmte Menschenrechte, zu deren schutz auch Wissenschaftsstandards in der Medizin dienten.

Die nachfolgenden Vorträge betrachteten die auswirkungen der jüngsten gKV-Finan-zierungsreform. so diskutierte der Konstanzer gesundheitsökonom Friedrich breyer ihre elemente und Ziele und kam zu dem schluss, dass es kurzfristig gelungen sei, die ausga-ben zu stabilisieren und auch die Finanzierungsgrundlage zu stärken. allerdings würde der sozialausgleich weiterhin nicht gerecht gestaltet, da beiträge lohnbezogen und mit einer bemessungsgrenze ausgestattet sind. Zudem hätten bürger mit hohem einkommen immer noch die Möglichkeit des ausweichens in die privaten Krankenversicherungen. auch das Ziel der schaffung eines funktionsfähigen Wettbewerbs werde durch lohnabhängige bei-träge kaum erreicht, denn Versicherte reagierten auf beitragsveränderungen in Lohnpro-zenten deutlich schwächer als auf Änderungen in konkreten beträgen. breyer stellte den gegenwärtigen regelungen die im Koalitionsvertrag der jetzigen regierung vereinbarte gesundheitsprämie als bessere alternative gegenüber, führe sie doch durch einen (einkom-men)steuerfinanzierten sozialausgleich zu mehr gerechtigkeit.

Der Frankfurter Jurist ingwer ebsen betrachtete in seinem Vortrag ebenfalls gerechtig-keitsfragen der jüngsten reform. auch aus seiner sicht werden bisherige ungerechtigkeiten nicht beseitigt. Der umfang des sozialen ausgleichs sei jedoch bei jedem alternativvorschlag von zentraler bedeutung. ebsen erläuterte die Möglichkeit einer progressiven beitragserhe-bung, gab jedoch zu bedenken, dass auch auf der ausgabenseite soziale unterschiede durch reduzierungen des Leistungskatalogs verstärkt werden könnten, da zusätzliche private Vor-sorge wiederum einkommensabhängig sei.

Den abschluss des ersten Tages bildete die Diskussion eines Fallbeispiels, welches durch heiner raspe vorgestellt wurde. aufgrund von Produktionsausfällen bei der herstellung des Wirkstoffs imiglucerase, welcher zur behandlung des gaucher-syndroms eingesetzt wird, kam es zwischen Juni 2009 und november 2010 schlagartig zu einer weltweiten Knapp-heitssituation. eine sofort ins Leben gerufene arbeitsgruppe, in der Kliniker, Patienten- sowie Firmenvertreter mitwirkten, gab Therapieempfehlungen ab, die eine Differenzierung zwischen Patienten zuließen. Die resultierenden Prinzipien umfassten vor allem die Dring-lichkeit, aber auch Kriterien wie den schweregrad der erkrankung oder die erfolgsaus-sichten einer behandlung, während aspekte wie (Kosten-)effizienz oder Prävention keine rolle spielen sollten. in seinem Kommentar zu dem Fall ging Thorsten Kingreen, Jurist an der universität regensburg, insbesondere auf die regeln für die Lösung des vorgestellten Knappheitsdilemmas ein. auch Kingreen wies darauf hin, dass es im einfachen recht – mit ausnahme des Transplantationsrechts – keine regeln für die Verteilung knapper gesund-heitsgüter gibt. Die grundrechtlichen Maßstäbe leiteten sich hingegen aus dem grundrecht auf Leben und gesundheit sowie dem allgemeinen gleichheitssatz und speziellen Diskri-minierungsverboten ab. Der gesetzgeber habe aber im bereich der grundrechtsausübung wesentliche entscheidungen selbst zu treffen (Parlamentsvorbehalt) und könne sie daher nicht delegieren. Dies sei etwa für das Verhältnis zwischen Dringlichkeit und erfolgsaus-sichten notwendig, da gerade dringliche Fälle oftmals weniger aussicht auf erfolg hätten.

Page 3: Recht und Gerechtigkeit – Verfahren und Kriterien bei der Priorisierung im Gesundheitswesen

165

1 3

recht und gerechtigkeit – Verfahren und Kriterien bei der Priorisierung

Zudem kritisierte der Jurist das arzneimittelneuordnungsgesetz (aMnOg), weil es orphan drugs eine sonderstellung einräume und Leistungsausschlüsse erschwere.

Der schwerpunkt der ersten beiden Vorträge des zweiten Tages lag auf der betrachtung der Teilnehmenden am Verfahren zur Priorisierung in der Transplantationsmedizin. Der rechtswissenschaftler und Philosoph Thomas gutmann von der universität Münster disku-tierte eingangs die relevanz der zuvor von Thorsten Kingreen vorgetragenen Kritikpunkte an den gegenwärtigen rechtlichen regelungen zur Verteilung knapper gesundheitsgüter für die Festlegung von Kriterien zur Organallokation. so wies er auf den Parlamentsvorbehalt hin, betonte das erforderliche abwägen zwischen den Kriterien Dringlichkeit und erfolgs-aussicht durch den gesetzgeber und kritisierte die aus seiner sicht weiterhin fehlende, aber unbedingt notwendige Publizität von normen. Dann widmete er sich den Verfahrensbetei-ligten. gutmann wies darauf hin, dass die bundesärztekammer nicht demokratisch legiti-miert und der eurotransplant-Verbund nicht mit den notwendigen hoheitsrechten ausgestat-tet sei. Weiterhin kritisierte er, dass es nur ein Teil der geeigneten Patienten schaffe, auf die Warteliste zu kommen, eine staatliche aufsicht und ein Fehlerfolgenregime fehlten und dass schließlich Mindestbedingungen des verfassungsrechtlichen gebots effektiven rechtschut-zes im gegenwärtigen regelungsmodell nicht erfüllt würden. Zuletzt beleuchtete der Jurist die beteiligung betroffener am Verfahren kritisch. ihnen fehle in der regel sowohl die not-wendige Kompetenz als auch die Legitimation, über die Zuteilung von Lebenschancen an Dritte zu entscheiden.

anschließend präsentierte Kathrin alber, sozialwirtin an der universität bayreuth und Mitarbeiterin in der DFg-Forschergruppe, empirische befunde zur beurteilung verschiede-ner Priorisierungskriterien in der Transplantationsmedizin durch stakeholdergruppen wie Ärzte, Pflegekräfte, Patienten und deren angehörige, aber auch unbeteiligte Bürger. Ziel der arbeit sei die exploration eines möglichst umfassenden sets an relevanten Kriterien. Mit hilfe der qualitativen inhaltsanalyse wertete sie hierzu 41 semistrukturierte interviews aus. Die ergebnisse zeigten eine große heterogenität im hinblick auf die beurteilung von Kriterien durch die verschiedenen betrachteten gruppen. Die akzeptanz einzelner Kate-gorien war zudem abhängig von den geschilderten erkrankungen. Vor allem medizinische Kriterien wurden eher akzeptiert. allgemein gaben professionalisierte stakeholder diffe-renziertere antworten als Laien. Während jedoch Patienten regelmäßig Priorisierungsent-scheidungen durch Ärzte wünschten, forderte gerade diese gruppe häufig eine gesamt-gesellschaftliche Diskussion über Verfahren und Kriterien der Priorisierung. alber wies abschließend darauf hin, dass insbesondere auch prozedurale aspekte, wie etwa die rolle einzelner gremien oder die Frage, wie entscheidungen herbeigeführt werden sollen, noch zu diskutieren seien.

im letzten Vortrag widmete sich arnold ganser, Mediziner an der Medizinischen hoch-schule hannover und assoziiertes Mitglied der DFg-Forschergruppe, der Priorisierung in der Onkologie. er beschrieb einleitend den enormen anstieg der Kosten für neue Krebsme-dikamente. hier sei die wissenschaftlich basierte nutzenbewertung neuer Onkologika, die häufig orphan drug-status erhielten, von großer bedeutung. allerdings wiesen die entspre-chenden Zulassungsstudien einige Probleme auf. hierzu zählte der Mediziner unter ande-rem eine fehlende bewertung des Patientennutzens, den vorzeitigen abbruch von studien bei positiven ergebnissen in Zwischenanalysen oder einen möglichen sponsorenbias. er machte aber auch deutlich, dass sich die situation in jüngster Zeit verbessere. Zudem seien die Kosten im stationären bereich durch das Drg-system gut abgebildet. Dennoch sind laut ganser weitere Maßnahmen notwendig, um auch in Zukunft eine hochwertige onko-logische Versorgung sicherzustellen. so seien neben rationalisierungen, Preisregulierun-

Page 4: Recht und Gerechtigkeit – Verfahren und Kriterien bei der Priorisierung im Gesundheitswesen

166

1 3

L. schwettmann

gen und systemischen Optimierungen vor allem evidenzbasierte nutzenbewertungen und die nutzenbewertung entsprechend aMnOg notwendig. Zudem betonte der Mediziner die bedeutung industrieunabhängiger studien nach der arzneimittelzulassung.

Die Tagung wurde beschlossen durch eine Podiumsdiskussion, an der neben Friedrich breyer und Thomas gutmann auch die hannoveraner Oberkirchenrätin cornelia coenen-Marx sowie Thorsten Meyer von der Medizinischen hochschule hannover teilnahmen. Dis-kussionsgrundlage bildete der 2010 erschienene und von coenen-Marx eingangs erläuterte eKD-Text 110 „Das Prinzip der solidarität steht auf dem spiel“. Wie schon nach den voran-gegangenen Vorträgen, entwickelte sich auch hier eine ausgesprochen lebhafte Diskussion. es zeigte sich, wie wichtig und lehrreich solche Tagungen sind: Für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer ergab sich ein deutlicher erkenntnisgewinn, denn der öffentliche Diskurs zu Fragen der Priorisierung im gesundheitswesen steht trotz derartiger Veranstaltungen gerade erst an seinem anfang.