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"SOLIDARISMUS" IM SPEKTRUM DER LÖSUNGSANSÄTZE ZUR SOZIALEN FRAGE Man kann Rudolf Diesel nicht gründlicher mißverstehen, als wenn man sein Solida- rismuskonzept als utopisch abtut - und sei es auch in der gut gemeinten Absicht, Verständnis dafür zu wecken, daß Diesels Solidarismus nicht realisiert wurde. Einer- seits wird dabei von einem nur unwissenschaftlichen, eher volkstümlichen Utopiebe- griff ausgegangen, der 'Utopie' (griech. ou topos "kein Ort", d. h. Nirgendsland) als bloße Schwärmerei mißversteht, wobei dann vernachlässigt wird, daß Diesel von der Realität ausging, für diese Wirklichkeit schrieb und in ihr "in Taten umgesetzte Soli- darität" 1 forderte. Andererseits wird Diesels Solidarismus in einem Versuch Horst Hausens "als bewußte Utopie und Gegenwelt" 2 gewürdigt, wofür dann eine mehr konstruierte "Verwandtschaft der Gedankengänge Diesels mit den Vorstellungen von Morus" 3 herhalten soll. Legt man Hausens Kategorisierungsversuch den in der Wis- senschaft eingeführten Begriff "bewußte Utopie" zugrunde, worunter per defini- tionem ein Modell, das die realen Erwartungen übersteigt, zu verstehen ist, so belehrt ein Blick in die Solidaris-musschrift und in Diesels Biographie eines Besseren: Diesel ging nicht nur von der Wirklichkeit aus, sondern hegte sehr wohl auch reale Erwar- tungen; das belegen Anhang 1 bis 9 zum ersten Buch 4 , in denen Diesel statistische Berechnungen auf der Grundlage der Wirklichkeit seiner Zeit für sein Konzept an- stellt. Auch die Anfänge zur Verwirklichung, denen Diesel sich mit viel Elan und Auf- wand widmete 5 , haben doch wohl reale Erwartungen im Blick. Aber wann immer im Zusammenhang mit einer Konzeption der Begriff Utopie gefallen ist, findet sich auch jemand, der eine Verbindung zu Thomas Morus knüpft oder konstruiert. Hausen kon- statiert, Diesel habe "den Übergang von der humanistisch-adeligen, bürgerlichen Gesellschaft zum modernen Industriezeitalter mit den feinen Antennen seines unru- higen Geistes" 6 gespürt, und unterläßt es zu erläutern, was denn in der Zeit Bis- marcks oder Wilhelms II. "humanistisch-adelig" 7 gewesen wäre. Der "Übergang zum modernen Industriezeitalter" war 1903 wohl längst vollzogen, wie auch die Charakte- risierung der Jahrhundertwende als "Frühzeit des Kapitalismus" 8 in der historischen Zunft zumindest unüblich ist. Abgesehen von diesen sowohl historischen als auch gedanklichen Gewaltakten, auf die inhaltlich weiter einzugehen sich im Hinblick auf unser Thema nicht lohnt, führt der utopiebezogene Ansatz jedoch auch methodolo- gisch auf ein falsches Gleis, was im Fall Rudolf Diesels nur scheinbar durch die Quellenlage unterstützt wird. Für sein Buch zum Solidarismus habe Diesel "jahrzehn- telang Beobachtungen und Notizen gesammelt" 9 und "zahllose Schriften in sich auf- genommen" 10 , berichtet sein Sohn und Biograph Eugen Diesel. Diese Schriften scheinen jedoch Rudolf Diesels Aufräumaktion vor seinem Freitod zum Opfer gefal- len zu sein 11 , und einzig seine Bemerkungen zu Léon Bourgeois' Buch 'Solidarité' 12 sind zu der Frage, welche Quellen Diesel für seine Arbeit am Solidarismuskonzept benutzt oder gekannt habe, auf uns gekommen. Aber ausgerechnet von dieser Schrift distanziert Diesel sich heftig, und so sind Spekulationen wie den oben ange- deuteten, scheinbar unterstützt durch die Quellenlage, Tür und Tor geöffnet, genauso wie es leicht ist, Einflüsse anderer Lösungsversuche zu demselben Problem auf Ru- dolf Diesel schlichtweg und ohne weitere Begründung zu leugnen 13 . "Aber das Thema lag in der Luft", stellt Theodor Rolle in seinem Beitrag zum diesjäh- rigen Jahresbericht des Rudolf-Diesel-Gymnasiums zutreffend fest, und es lag nicht nur in der Luft, sondern es war seit rund einhundert Jahren manifest und betraf Mil- lionen von Menschen existentiell sowie andere, wenigere, als ethische Herausforde- rung. Thema und Herausforderung lagen in der sogenannten Sozialen Frage, also -

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"SOLIDARISMUS" IM SPEKTRUM DER LÖSUNGSANSÄTZE ZUR SOZIALEN FRAGE Man kann Rudolf Diesel nicht gründlicher mißverstehen, als wenn man sein Solida-rismuskonzept als utopisch abtut - und sei es auch in der gut gemeinten Absicht, Verständnis dafür zu wecken, daß Diesels Solidarismus nicht realisiert wurde. Einer-seits wird dabei von einem nur unwissenschaftlichen, eher volkstümlichen Utopiebe-griff ausgegangen, der 'Utopie' (griech. ou topos "kein Ort", d. h. Nirgendsland) als bloße Schwärmerei mißversteht, wobei dann vernachlässigt wird, daß Diesel von der Realität ausging, für diese Wirklichkeit schrieb und in ihr "in Taten umgesetzte Soli-darität"1 forderte. Andererseits wird Diesels Solidarismus in einem Versuch Horst Hausens "als bewußte Utopie und Gegenwelt"2 gewürdigt, wofür dann eine mehr konstruierte "Verwandtschaft der Gedankengänge Diesels mit den Vorstellungen von Morus"3 herhalten soll. Legt man Hausens Kategorisierungsversuch den in der Wis-senschaft eingeführten Begriff "bewußte Utopie" zugrunde, worunter per defini-tionem ein Modell, das die realen Erwartungen übersteigt, zu verstehen ist, so belehrt ein Blick in die Solidaris-musschrift und in Diesels Biographie eines Besseren: Diesel ging nicht nur von der Wirklichkeit aus, sondern hegte sehr wohl auch reale Erwar-tungen; das belegen Anhang 1 bis 9 zum ersten Buch4 , in denen Diesel statistische Berechnungen auf der Grundlage der Wirklichkeit seiner Zeit für sein Konzept an-stellt. Auch die Anfänge zur Verwirklichung, denen Diesel sich mit viel Elan und Auf-wand widmete5 , haben doch wohl reale Erwartungen im Blick. Aber wann immer im Zusammenhang mit einer Konzeption der Begriff Utopie gefallen ist, findet sich auch jemand, der eine Verbindung zu Thomas Morus knüpft oder konstruiert. Hausen kon-statiert, Diesel habe "den Übergang von der humanistisch-adeligen, bürgerlichen Gesellschaft zum modernen Industriezeitalter mit den feinen Antennen seines unru-higen Geistes"6 gespürt, und unterläßt es zu erläutern, was denn in der Zeit Bis-marcks oder Wilhelms II. "humanistisch-adelig"7 gewesen wäre. Der "Übergang zum modernen Industriezeitalter" war 1903 wohl längst vollzogen, wie auch die Charakte-risierung der Jahrhundertwende als "Frühzeit des Kapitalismus"8 in der historischen Zunft zumindest unüblich ist. Abgesehen von diesen sowohl historischen als auch gedanklichen Gewaltakten, auf die inhaltlich weiter einzugehen sich im Hinblick auf unser Thema nicht lohnt, führt der utopiebezogene Ansatz jedoch auch methodolo-gisch auf ein falsches Gleis, was im Fall Rudolf Diesels nur scheinbar durch die Quellenlage unterstützt wird. Für sein Buch zum Solidarismus habe Diesel "jahrzehn-telang Beobachtungen und Notizen gesammelt"9 und "zahllose Schriften in sich auf-genommen"10, berichtet sein Sohn und Biograph Eugen Diesel. Diese Schriften scheinen jedoch Rudolf Diesels Aufräumaktion vor seinem Freitod zum Opfer gefal-len zu sein11 , und einzig seine Bemerkungen zu Léon Bourgeois' Buch 'Solidarité'12 sind zu der Frage, welche Quellen Diesel für seine Arbeit am Solidarismuskonzept benutzt oder gekannt habe, auf uns gekommen. Aber ausgerechnet von dieser Schrift distanziert Diesel sich heftig, und so sind Spekulationen wie den oben ange-deuteten, scheinbar unterstützt durch die Quellenlage, Tür und Tor geöffnet, genauso wie es leicht ist, Einflüsse anderer Lösungsversuche zu demselben Problem auf Ru-dolf Diesel schlichtweg und ohne weitere Begründung zu leugnen13. "Aber das Thema lag in der Luft", stellt Theodor Rolle in seinem Beitrag zum diesjäh-rigen Jahresbericht des Rudolf-Diesel-Gymnasiums zutreffend fest, und es lag nicht nur in der Luft, sondern es war seit rund einhundert Jahren manifest und betraf Mil-lionen von Menschen existentiell sowie andere, wenigere, als ethische Herausforde-rung. Thema und Herausforderung lagen in der sogenannten Sozialen Frage, also -

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um es versuchsweise auf eine Formel zu bringen - in dem Problem, welche Lö-sungsmöglichkeiten es gebe und welche Wege zu beschreiten seien, um die Not der Arbeiter zu beheben und sie sinnvoll und verantwortungsbewußt in Staat und Gesell-schaft zu integrieren. War auch die große Politik dieser Problemstellung, wo immer sie konnte, lange Zeit in die Rolle des 'Nachtwächterstaats' ausgewichen, der durch Polizei- und Militäreinsatz für Ruhe und Ordnung sorgte und sozusagen den Deckel auf dem immer heftiger brodelnden Topf festhielt, und hatte dieser Staat erst reagiert, als er sich selbst bedroht fühlte, so war die Soziale Frage für verantwortungsbewußte Menschen doch die ganze Zeit über eine Herausforderung geblieben, die zu den un-terschiedlichsten theoretischen und praktischen Lösungsversuchen führte. Gesetzt den Fall, für Diesels Arbeiten zur Entwicklung seines vor nun einhundert Jahren der Öffentlichkeit vorgestellten Motors wäre die Quellenlage ebenso desolat wie zu seinen vorbereitenden Studien zum Solidarismus, und weiter gesetzt, es kä-me nun jemand auf die Idee zu behaupten, ein Einfluß der vorangegangenen natur-wissenschaftlichen Forschungen, insbesondere der letzten 150 Jahre, zur Entwick-lung der Antriebsmaschinen sei nicht feststellbar, dafür aber bestehe eine mehr oder weniger unmittelbare gedankliche Verwandtschaft zu Isaac Newton - landauf, landab wäre ein belustigtes und freilich auch berechtigtes Kopfschütteln die Folge. Im Falle des Solidarismus bleibt dieses Kopfschütteln offensichtlich aus, wenngleich es naiv wäre, davon auszugehen, Diesel habe sich mit den Schriften zur Sozialen Frage nicht ausführlich eingelassen oder seine Konzeption sei "im luftleeren Raum entwik-kelt"14 worden. Beides wird dem Menschen, wie ihn uns die Biographie seines Soh-nes zeigt, und vor allem dem Ingenieur nicht gerecht - und keine Arbeit zum Solida-rismus versäumt es, darauf hinzuweisen, daß es der Techniker und Konstrukteur sei, der hier seine Gedanken entwickle. Nun ist es aber doch gerade ein wesentlicher Teil der Methode eines Ingenieurs, der vor einem Problem steht, sich damit auseinander-zusetzen, was zur Problemlösung schon gedacht und unternommen wurde, welche Experimente angestellt wurden, warum sie fehlschlugen, wo der Material- oder Re-chenfehler lag, wie der Versuchsaufbau zu ändern oder ob er grundsätzlich neu zu gestalten sei. Seine Problemlösung bleibt dennoch seine eigene Leistung, und wird seine Konstruktion verwirklicht, so ist sein Ruhm um so größer, je länger an dem Problem schon gearbeitet wurde und je mehr Wissenschaftler sich daran schon 'die Zähne ausgebissen' hatten. So muß man also eher davon ausgehen, daß der sozial-reformerische Ingenieur Rudolf Diesel alles heranzog, was ihm an Material über Lö-sungsversuche zu dem Problem, das ihn beschäftigte, nur zur Verfügung stand. Bei seiner Gründlichkeit und seinem Arbeitspensum dürfte das nicht gerade wenig gewe-sen sein, und die Diesel-Forscher wären gut beraten, lieber noch eine Schrift und noch eine zu Rate zu ziehen und getrost als gedankliche Voraussetzung anzuneh-men. - Das kann nun hier im Rahmen eines Beitrags zum Jahresbericht nicht annä-hernd geleistet werden, wenngleich es doch angebracht ist, im Zusammenhang mit der Würdigung des Sozialreformers Rudolf Diesel nach der inhaltlichen Vorstellung seines Konzepts wenigstens ansatzweise die gedankliche Problemsituation, in deren Zusammenhang sein Lösungsvorschlag steht, zu skizzieren. Während der mit den Namen Karl Marx und Friedrich Engels verknüpfte Wis-senschaftliche Sozialismus sich nicht nur mit der Analyse gegenwärtiger Zustände beschäftigte, sondern sich vor allem als wissenschaftlicher Grundlage der Geschich-te zuwandte und diese als Geschichte von Klassengegensätzen und Revolutionen uminterpretierte, um so aus der Gegenwartsanalyse die zwangsläufige Notwendigkeit einer neuen Revolution ableiten zu können, ist Diesel diese Perspektive fremd. Seine

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Legitimation bezieht er nicht aus einer wie auch immer gearteten Betrachtung der Vergangenheit oder zwangsläufig perspektivischen soziologischen Analyse, sondern aus einer im Sinne des Wortes rechnerischen Bestandsaufnahme der Gegenwart seiner Zeit. Mußte der Wissenschaftliche Sozialismus ein komplettes philosophisches Gebäude errichten, um seine Analyse der Produktionsverhältnisse und die sich dar-aus ergebenden Konsequenzen zu erklären, sind Diesels Berechnungen von einer bestechenden Klarheit und könnten mutatis mutandis mit aktualisierten Zahlen auch als Raster für heutige Analysen dienen. Beide Modelle berühren sich in der Kapitals- und Eigentumsfrage als Dreh- und Angelpunkt, wobei beide, wie noch zu zeigen sein wird, diese nicht neu aufgeworfen hatten. Sie unterscheiden sich jedoch in der Rich-tung des Wegs, der zur Lösung dieser Frage einzuschlagen sei, um 180 Grad. Der Wissenschaftliche Sozialismus will Privateigentum abschaffen, Besitzende enteig-nen, vorhandenes Eigentum vergesellschaften, so daß am Ende der Eigentumsbe-griff in seiner eigentlichen Bedeutung hinfällig wird. Gewalt und Revolution sind dabei - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht nur legitime Mittel, sondern geschichtli-che (Grundlage des Wissenschaftlichen Sozialismus!) Notwendigkeit. Diesel hinge-gen will nicht abschaffen, sondern auf neuen Wegen neues Kapital aufbauen, um so neue Bedingungen zu schaffen, ja eigentlich zu erschaffen. Gewalt ist hier ebenso abwesend wie Zwang oder äußere Zwangsläufigkeit, denn sein Modell beruht auf Freiwilligkeit (mit der Möglichkeit der persönlichen Revidierbarkeit der Zustimmung des einzelnen), auf der Überzeugungskraft seiner mathematischen Berechnungen und auf dem Glauben an die Fähigkeit des Menschen zur vernunftbegründeten Ein-sicht. Was eine Entwicklung zum Besseren in Gang setzt, ist ihm nicht eine für die Zukunft nicht beweisbare Zwangsläufigkeit der Geschichte, sondern der Wille des Menschen zur Tat, den er zweifellos in sich selbst spürte. So konnte er seiner Schrift den Untertitel "Natürliche wirtschaftliche Erlösung des Menschen" geben und sich damit von einer revolutionären Heilsbotschaft abgrenzen, indem er den evolutionären und zugleich konstruktiven Grundgedanken seines Konzepts betonte. Diesels Glau-ben an die Kraft des Willens der einzelnen im Ganzen teilt sich dem Betrachter des Titelsymbols der Solidarismusschrift mit, bei dem aus einem Kraftzentrum sich strah-lend "Gerechtigkeit, Liebe, Brüderlichkeit, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit (und) Wahr-haftigkeit"15 ausbreiten. Bleibt die Beschreibung der nachkapitalistischen Gesell-schaft bei Marx und Engels seltsam wenig differenziert, so legt gerade auf die Zu-kunftsberechnung die Solidarismusschrift einen ihrer Schwerpunkte. Auf die Bedeutung von Kapital, Eigentum und Eigentumsverhältnissen hingewiesen zu haben, ist das Verdienst der ausgesprochen facettenreichen Gruppe der Frühso-zialisten. Von ihnen entlehnten Marx und Engels wesentliche Grundvorstellungen und Teile ihres terminologischen Instrumentariums, grenzten sich jedoch deutlich ab, indem sie deren Sozialismus in durchaus polemischer Absicht als utopisch bezeich-neten, während sie für ihre Theorien wissenschaftliche Grundlagen reklamierten. Die Spannweite der Frühsozialisten reicht von den Anhängern der Schule Saint-Simons (der eigentlich selbst kein Sozialist war, 1760-1825), als deren prominentester Schü-ler sich Napoleon III. (1808-1873) verstand und die eine zentrale Organisation der Arbeit und einen gelenkten Ausgleich zwischen Produktion und Konsumtion forder-ten, auch schon die Gesellschaft im wesentlichen in zwei Schichten differenzierten und den Begriff des Klassenkampfs kannten, zu Louis Blanc (1813-1882), der sich für Produktivgenossenschaften, die Arbeiter gründen sollten und die vom Staat zu unterstützen seien, einsetzte; in der Konkurrenz mit den herkömmlichen Pro-duktionsbetrieben würden sich diese Genossenschaften als überlegen erweisen; von Charles Fourier (1772-1837), der die Menschen in Phalangen, das sind Gruppen von

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maximal 2000 Menschen, einteilen und jeder Phalange eine Quadratmeile Land zu-weisen wollte und davon ausging, daß innerhalb dieser Gruppe sowohl die Arbeit als auch der erzielte Überschuß sich problemlos und gerecht verteile, zu seinem Schüler Victor Considérant (1800-1893), der es unternahm, in den 50er Jahren Fouriers Vor-stellungen in einem (fehlgeschlagenen) Versuch in Texas zu realisieren; von Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) und seiner häufig verkürzten und deshalb falsch zitier-ten These, daß Eigentum Diebstahl sei (es ging dabei nur um das durch Nichtstun entstandene Eigentum), der durch eine Tauschbank ein mutualistisches System auch in einem (gescheiterten) Versuch durchsetzen wollte, zu den Deutschen Wilhelm Weitling (1808-1871), der die Vernichtung der bestehenden Ordnung postulierte und seine Forderung im "Evangelium eines armen Sünders"16 , das in Unternehmerohren wie Blasphemie klingen mußte, begründete, und Moses Heß (1812-1875), der seit der Mitte des Jahrhunderts immer wieder die Umsetzung der Philosophie in die Tat forderte. Schließlich ist in dieser Reihe der Engländer Robert Owen (1771-1858), der sich aus kleinsten Verhältnissen als Selfmademan zum Textilunternehmer hocharbei-tete und mehrfach immer wieder gescheiterte Versuche unternahm, seine Vorstel-lungen von einem genossenschaftlich organisierten Gemeindewesen (in einem Fall übrigens auch mit einer Tauschbank) zu realisieren. Daß Diesel sich nicht eingehend mit den Strömungen des Frühsozialismus befaßt haben sollte, ist unwahrscheinlich, denn gerade die immer wieder unternommenen Versuche, die Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft auf friedlichem We-ge in die Praxis umzusetzen, das Experiment, das der Theorie immer wieder folgte, war etwas, das den Ingenieur eigentlich ansprechen und interessieren mußte. Zu-mindest kann die Hypothese, daß Diesel sich ausführlich mit dem Schrifttum des Frühsozialismus befaßt habe, die gleiche Wahrscheinlichkeit beanspruchen wie die pauschale Ablehnung gedanklicher Verbindungen Diesels zu diesen Ideen17. Jene kann indes für sich ins Feld führen, daß die Grundideen von zusammenhängenden parzellierten genossenschaftlichen Betrieben und einem internen Warenwirtschafts-system bei Diesels Solidarismus eine gewisse Entsprechung finden. Wer freilich eine "Verwandtschaft der Gedankengänge Diesels mit den Vorstellungen von Morus"18 entdeckt haben will, muß nicht nur andere Verbindungen ablehnen, sondern auch den geläufig gewordenen- Begriff Utopischer Sozialismus für Frühsozialismus ver-melden, weil hinter der Gedankenfülle dieser Strömung und den doch auffallenden Entsprechungen Thomas Morus' Utopia in diesem Zusammenhang verblassen könn-te. Betriebliche Sozialmaßnahmen und patriarchalische Fürsorge des Fabrikherrn für seine Arbeiter, wie sie im Erscheinungsjahr der Solidarismusschrift in mehreren Be-trieben längst eingeführt waren, konnten Diesels Ansprüchen nicht genügen, denn im Sinne einer Lösung der Sozialen Frage ernstgemeinte Versuche, wie z. B. die glück-hafte Carl-Zeiss-Stiftung Ernst Abbes, konnten ihre sozialen Zwecke "durch die Stif-tung ausschließlich vermöge statutenhafter Verwaltung ihrer Gewerbsinstitute und innerhalb dieser ... erfüllen"19 , d. h. sie blieben auf diesen einen Betrieb begrenzt. Andere, wie Friedrich Harkort, griffen darüber hinaus nur Teile der notwendigen Maßnahmen, wie z. B. Bildung und Erziehung, heraus, wiesen die Eigentumsfrage weit von sich oder versuchten, sie ad absurdum zu führen, und waren bemüht, ihre Arbeiter zu beruhigen: Für den, der fleißig arbeite, werde sich schon alles zum Guten richten. Ob Rudolf Diesel seinen Bienenbegriff in ganz bewußter Umkehrung der nach dem Bild auf ihrer Titelseite mittlerweile 'Bienenkorb-Brief‘ genannten Schrift Friedrich Harkorts20 gewählt hat, zumal es dort um die Eigentumsfrage und vorgebli-

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che rechnerische Gegenbeispiele geht, muß offen bleiben. Wieder andere, wie z. B. Alfred Krupp, taten zwar viel für ihre Arbeiter, bauten Werkswohnungen, richteten Schulen ein, bewirtschafteten Kantinen, zahlten auch Unterstützungen und schufen Betriebskrankenkassen - alles jedoch mit der Zielsetzung, die Arbeiter an ihren Be-trieb zu binden und von der Politik, v. a. der Sozialdemokratie, fernzuhalten. Unmiß-verständlich wurde dahinter der 'Herr-im-Haus'-Standpunkt sichtbar, und Entlassung drohte dem, der den "Aposteln der Sozialdemokraten ... Gehör"21 schenken würde. Auch die aus dem praktischen Verständnis des Christentums angestoßenen Lö-sungs-, besser Hilfsversuche konnten den Anforderungen Diesels an eine Bewälti-gung des Problems nicht genügen, denn sowohl bei den auf Eigeninitiative einzelner beruhenden als auch bei den auf die Institutionen zurückgehenden Maßnahmen handelte es sich um ein Herumdoktern an den Symptomen, keineswegs jedoch um eine Aufarbeitung der Ursachen, wie sie der Solidarismus vorsieht. - Ebenso befaßte sich die staatliche Sozialpolitik bei ihrer Sozialgesetzgebung, selbst wenn sie bei-spielgebend für andere Länder werden sollte, nur mit den Symptomen der Sozialen Frage, und dies auch nur in dem Maße, wie es nötig war, um eine Versöhnung der Arbeiterschaft mit dem Staat zur Bekämpfung des Sozialismus zu erreichen. Denn, um es auf einen Nenner zu bringen, die Taktik der Arbeiterparteien bestand darin, per ‚Revolution mit dem Stimmzettel' eine Selbsthilfe durch Politik im Parlament zu erreichen. In beiden Fällen war der Lösungsansatz an staatliche Institutionen gebun-den und vernachlässigte oder unterdrückte gar die den Menschen innewohnende Kraft, auf die Diesel setzte, und verhinderte die Freiheit der persönlichen Entschei-dung über sich sowie deren Revidierbarkeit, die für Diesel nicht zur Disposition stan-den. Am nächsten kam Diesels Konzeption der Grundgedanke der Gewerkschaftsbewe-gungen, wenn diese auch unter liberalen, christlichen und sozialistischen Richtungen uneins waren. Hier wurde auf Selbsthilfe durch Solidarität gesetzt, so daß Diesel hof-fen konnte, Resonanz und praktische Bereitschaft für den Solidarismus zu finden. So ist sein Auftreten am 14. Januar 1904 auf dem Genossenschaftstag der Konsumver-eine in Hamburg zu verstehen, das für ihn zu einem persönlichen Debakel wurde22 . Dies hatte seine Ursache jedoch nicht darin, daß Diesel dort eine Utopie vorgetragen hätte - wozu er sich als praktisch orientierter Mensch wohl kaum verstanden hätte. Vielmehr lag der Grund in organisatorischen Mängeln der Tagung22a . Für Diesel stand fest, daß er nach und neben allen anderen Lösungsversuchen, wie sie hier holzschnittartig in ihren Grundzügen angesprochen wurden, nicht einen wei-teren Versuch vorgelegt, sondern die Soziale Frage tatsächlich gelöst, hatte: "... mei-ne Hauptleistung ist, daß ich die soziale Frage gelöst habe"23 ; kein Konjunktiv und kein Wort von 'Versuch'. Ausdrücklich und bewußt wehrte er sich gegen eine Etiket-tierung als Utopist: "Es wurde euch in diesem Kapitel bewiesen, daß der Solidaris-mus keine Utopie ist; bewiesen nicht durch allgemeine Betrachtungen, auf Grund mehr oder weniger unsicherer Annahmen, sondern durch nüchterne Zahlen, ge-schöpft mitten heraus aus dem wirklichen Leben ..."24. Christoph Brede M. A. Anmerkungen: 1)Rudolf Diesel: Solidarismus. Natürliche wirtschaftliche Erlösung des Menschen, München/ Berlin (1903), S. 25, Die Hervorhebung bei Diesel. 2)Horst Hausen: Rudolf Diesel und sein tragisches Ende unter besonderer Berücksichtigung seines

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Werks "Solidarismus", in: MAN Nutzfahrzeuge Aktiengesellschaft (Hrsg.): Leistung und Weg. Zur Ge-schichte des MAN Nutzfahrzeugebaus, Berlin/Heidelberg (1991), S. 241-280; S. 271 3)ibid. 4)Diesel, Solidarismus, S. 71-84(a) 5)Eugen Diesel: Diesel. Der Mensch. Das Werk. Das Schicksal, Hamburg (1937), S. 366ff. 6)Hausen, Rudolf Diesel, S. 268 7)Hervorhebung d. Verf. 8)Hausen, Rudolf Diesel, S. 272 9)Eugen Diesel, Diesel, S. 367 10)idem, S. 372 11)Eugen Diesel: Jahrhundertwende. Gesehen im Schicksal meines Vaters, Stuttgart (1949), S. 290ff. 12)Diesels zehnseitige Bemerkungen zu Léon Bourgeois befinden sich im Historischen Archiv der MAN AG in Augsburg. 13)Hausen, Rudolf Diesel, S. 265 14)idem, S. 257 15)Diesel, Solidarismus, "Eigenes Handexemplar" im Historischen Archiv der MAN AG in Augsburg, inneres Titelblatt 16)entstanden 1843; Eduard Fuchs (Hrsg.): Sammlung gesellschaftswissenschaftlicher Aufsätze. Heft 4 und 5, München (1897) 17)Hausen, Rudolf Diesel, S. 265 18)vgl. Anm. 2 19)Ernst Abbe: Gesammelte Abhandlungen; Bd. III. Vorträge, Reden und Schriften sozialpolitischen und verwandten Inhalts, Jena (1906), S. 262ff. Das Statut wurde 1905 nach dem 1896 abgefaßten Entwurf vom Großherzoglich Sächsischen Staatsministerium, Departement des Innern genehmigt. 20)Karl E. Jeismann (Hrsg.): Friedrich Harkort. Schriften und Reden zur Volksschule und Volks-bildung, Paderborn (1969), S. 101ff. 21) Zu diesem Standpunkt beispielhaft: Alfred Krupps Briefe 1826-1887. Im Auftrage der Familie und der Firma Krupp herausgegeben von Wilhelm Berdrow, Berlin (1928); hier: S. 343-348 22)Eugen Diesel, Diesel, S. 373 22a)Nach Redaktionsschluß zum Jahresbericht hielt Prof. (FH) Dr. Wilhelm Liebhart am 6.5.1993 in der Fachhochschule Augsburg einen Vortrag zum Thema "Rudolf Diesel - Phänotyp seiner Zeit?", der in seinem vorletzten Abschnitt knapp auf das Thema unseres Beitrags eingeht. Wilhelm Liebhart will "wenn schon, dann ... Diesels Vorbilder im Genossenschaftsgedanken eines Wilhelm Raiffeisen ... und bei den weltanschaulich liberalen Gewerkschaften (Hirsch-Dunkersche Gewerkvereine) ..." su-chen. Bei dieser Schwerpunktsetzung wird allerdings übersehen, daß sich bei Raiffeisen zwar der genossenschaftliche Gedanke von regionalen Zentralkassen und einer Generalbank sowie die Verei-nigung von Geld- und Warenwirtschaft, nicht jedoch ein internes mutualistisches Warenwirtschaftssy-stem findet. Hierfür muß eben doch weiter als bis 1864 (Heddesdorfer Spar-und Darlehenskassenver-ein), nämlich auf die erwähnten Versuche der Frühsozialisten zurückgegriffen werden. - Die "Leitsätze des Verbandes Deutscher Gewerkvereine" fügen sich kaum zu Diesels Vorstellungen. Während jene "die Weckung und Entwicklung eines begeisterten Standesbewußtseins" als Grundlage fordern, über-windet Diesels 'Brüdergedanke' eben alle Standes- oder Klassenunterschiede. Die Gedankenferne gerade dieses Teils der Gewerkschaftsbewegungen zeigt sich auch darin, daß unter den "großen Zeitidealen ... das nationale Ideal" an erste Stelle gerückt und darüber hinaus ein umfangreicher Kata-log staatlicher Maßnahmen gefordert wird. Nationalismus war Diesels Konzeption fremd, und sein Solidarismus sollte sich frei von jeglicher staatlichen Reglementierung verwirklichen. (Die "Leitsätze des Verbandes Deutscher Gewerkvereine" wurden am 25./26.1.1908 auf der Konferenz des Zen-tralrats in Berlin beschlossen; zitiert nach: Wilhelm Kulemann: Die Berufsvereine, Jena 2.Aufl. 1908, Bd. II, S.22f.) 23)idem, S. 374 24)Diesel, Solidarismus, S. 42. Die Hervorhebung bei Diesel. (aus dem Jahresbericht 1992/93 des Rudolf-Diesel-Gymnasiums, S. 64-70)