leseprobe | auch ich war in armenien

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Denis Donikian Wanderung durch das Hochland von Syunik Auch ich war in Armenien Hay Media Verlag f

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Leseprobe | Auch ich war in Armenien von Denis Donikian

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Denis Donikian

Wanderung durch das Hochland von Syunik

Auch ich war in Armenien

Hay Media Verlagf

Denis Donikian Auch ich war in Armenien

Denis Donikian

Auch ich war in Armenien Wanderung durch das Hochland von Syunik

ins Deutsche übertragen von Christa Nitsch

mit 14 Abbildungen

Hay Media Verlag

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«… prall und üppig, glänzend wie Satin, überragt von einer Brust-warze, die dem Mund eines Gargantua angepasst zu sein scheint.» - Bergkuppe auf dem Weg nach Sissian. Foto © Denis Donikian

EROTIK DER ERDE In Armenien wandert mir zur Seite eine Frau. Sie tanzt in den Formen der Landschaft. Wenn ich sie aus den Augen verliere, suche ich sie. Und wenn ich lang genug suche, finde ich sie immer. Dies Wechselspiel ihres Auf-tauchens und Verschwindens hält mich in Atem. Es eröffnet die Bühne für die geomorphen Verschiebungen, die meine Schritte gleichsam als physischer Zuspruch der Erde umgeben. Wie eine sichtbare Antwort auf die Sehn-süchte meines Geistes, denen die Stimme versagt blieb. Bewirken der aufsteigende Tod und das Gefühl einer sich

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allmählich verflüchtigenden Kraft, dass ich Gesteinsmas-sen oder vor meinem Auge sich auftuende Spalte als köst-liche Vorzüge erkenne, die in die Schönheit einer von der Fantasie naiv umgestalteten Welt eingelassen wurden? Wahrscheinlich. Da ich mich aber einer Kontemplation nicht überlassen kann, die den Marschrhythmus beeint-rächtigen würde, muss ich mich damit begnügen, in Fotos jene Landschaften einzufangen, die mich vage dazu ein-laden, vor Erstaunen stille zu stehen. Zu Hause werde ich diese suggestiven Fotografien hervorholen können, die sich in ihrer Gesamtheit zu einem Blason zusammenfü-gen, der in einer lyrischen descriptio personae den Ruhm eines zum weiblichen Körper sublimierten Landes ver-kündet.

So wird mein Auge bereits auf der Straße, die in Ser-pentinen Richtung Sissian aufwärts steigt, vom Reiz ei-ner Bergkuppe verzaubert, die wuchtig ist wie ein Natur-denkmal. Ihre regelmäßige Form erinnert an eine weibli-che Brust, die gerade das Ende ihres Wachstums erreicht hat: prall und üppig, glänzend wie Satin, überragt von einer Brustwarze, die dem Mund eines Gargantua ange-passt zu sein scheint. Nichts hat sie gemeinsam mit ei-nem schlaffen Euter, das im eigenen Fett wabbelt wie ein wassergefüllter Schlauch. Die geschmeidige Haut der Wiesen spannt sich über fettes Erdreich, das sich zu ei-nem Hügel aufwölbt, während auf dem Gipfel, den flüch-tigen Berührungen der weißen Nebelschwaden entgegen-gestreckt, ein Fels aufragt.

Mächtig, schwindelerregend das Schauspiel, das sich euch von der Höhe der Straße aus bietet, die nach der Satani Kamurdsch in Richtung Goris abbiegt: der Fluss Vorotan an der Nahtstelle zweier Berghänge. Er fließt

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heimlich in einem Spalt des Felsgesteins, der dann und wann halboffene Lippen erscheinen lässt, dann und wann in der üppigen Vegetation ertrinkt. Wenn ich hier eine Fotografie mache, so deshalb, weil ich der Eingebung nachgebe, die dieser Anblick einer Dreiecksform, deren untere Spitze in geheimnisvoller Weise zerrissen ist, meiner Fantasie zu schenken scheint. Unser einheimi-scher Führer hatte uns, mit dem Orte vertraut, diese Rast vorgeschlagen, ohne zu ahnen, welch eine Gestalt die extravaganten Anwandlungen einer okzidentalen Einbildungskraft der Landschaft verleihen würden. Zwi-schen dem Blinden, der nur das sieht, was er sieht, und dem Seher, der die Grenzen der physischen Wirklichkeit einer Landschaft überschreitet, gibt es einen Unter-schied, der sich aus dem Gebrauch erklärt, den jeder der beiden von der Welt macht. Mein Gastgeber denkt an sein Business, das durch die Schönheit der Gegend geför-dert wird. Ich aber bin bemüht, die Offenbarung eines Schamdreiecks für mich zu behalten, in dem die Liebko-sungen des Himmels zusammentreffen. Ich allein werde den also gedeuteten Anblick als die mich ergreifende Gemütsbewegung entziffern können, mit der ich eine Gefährtin begrüße, die trunken ist von dieser Erde. Wanderung: September 2009/ Niederschrift: Februar 2010.