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HMD 266 43 Kerstin Gerke, Gerrit Tamm Qualitätsmanagement zur Steuerung von IT-Prozessen auf der Basis von Referenzmodellen und Process Mining Die Qualität von Geschäftsprozessen entschei- det zunehmend über den wirtschaftlichen Er- folg eines Unternehmens. Die Geschäftsprozesse werden immer stärker durch IT-Prozesse unter- stützt. Der Beitrag zeigt, wie die IT-Prozesse auf der Grundlage des Referenzmodells IT Infrastruc- ture Library (ITIL) optimiert und mithilfe von Kennzahlen und Process Mining gesteuert wer- den können. Hierfür werden auf Basis der Refe- renzprozesse Sollprozesse bestimmt und Soll- kennzahlen festgelegt. Die Istprozesse und deren Kennzahlen werden mithilfe von Process Mining ausgewertet und anschließend mit den Sollprozessen verglichen. Insgesamt können Verbesserungspotenziale identifiziert und Hand- lungsempfehlungen abgeleitet werden. Die Gestaltung und Steuerung ITIL-basierter Custo- mer-Support-Prozesse werden anhand eines Praxisfalles aus einem Customer-Relationship- Management-System erprobt. Vorgehensmodell und Ergebnisse werden in diesem Beitrag vor- gestellt. Inhaltsübersicht 1 Aufgabenstellung und Zielsetzung 2 Grundlagen 2.1 Referenzmodell IT Infrastructure Library (ITIL) 2.2 Process Mining 3 Qualitätsmanagement mit ITIL und Process Mining 3.1 Vorgehensmodell der Service Operation gemäß ITIL 3.2 Vorgehensmodell der Service Operation auf der Basis von Process Mining 4 Qualitätsmanagement in der Praxis 4.1 Beschwerdemanagement einer Fluggesellschaft 4.2 Kontinuierliche Serviceverbesserung (KSV) 5 Erkenntnisse 6 Literatur 1 Aufgabenstellung und Zielsetzung Unternehmen sehen sich einem immer stärker werdenden Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Die Globalisierung und ein schneller technolo- gischer Wandel werden häufig als Treiber dieser Entwicklung angeführt. Um in diesem Umfeld bestehen zu können, benötigen Unternehmen optimal gestaltete Geschäftsprozesse. Dabei sind nicht einmalig optimierte Geschäftspro- zesse entscheidend, sondern die Fähigkeit, schnell auf neue Entwicklungen reagieren und die betroffenen Geschäftsprozesse flexibel an- passen zu können. Dabei müssen die Geschäfts- prozesse effektiv durch Informationstechnolo- gien (IT) unterstützt und sichergestellt werden. Referenzmodelle wie ITIL und CobiT (Control Objectives for Information and related Techno- logy) stellen bewährte Vorgehensweisen (Best Practices) und Kennzahlen zur Gestaltung und Steuerung von IT-Services zur Verfügung [OGC 2007c]. Der Einsatz von Referenzmodellen ver- spricht einerseits, die Qualität der IT-Prozesse zu erhöhen und die Compliance mit Gesetzen und vertraglichen Vereinbarungen zu erleich- tern [ITGI 2007]. Andererseits müssen die IT-Prozesse der Unternehmensstrategie und deren Ziele entsprechen. Daher stellt sich für ein Unternehmen die Frage, wie Best Practices in der spezifischen Unternehmensumgebung implementiert werden können. Eine weitere Herausforderung besteht darin, die Befolgung der Referenzprozesse zu überprüfen sowie die Einhaltung der IT-Abläufe im Hinblick auf neue

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Kerstin Gerke, Gerrit Tamm

Qualitätsmanagement zur Steuerung von IT-Prozessen auf der Basis von Referenzmodellen und Process Mining

Die Qualität von Geschäftsprozessen entschei-det zunehmend über den wirtschaftlichen Er-folg eines Unternehmens. Die Geschäftsprozessewerden immer stärker durch IT-Prozesse unter-stützt. Der Beitrag zeigt, wie die IT-Prozesse aufder Grundlage des Referenzmodells IT Infrastruc-ture Library (ITIL) optimiert und mithilfe vonKennzahlen und Process Mining gesteuert wer-den können. Hierfür werden auf Basis der Refe-renzprozesse Sollprozesse bestimmt und Soll-kennzahlen festgelegt. Die Istprozesse undderen Kennzahlen werden mithilfe von ProcessMining ausgewertet und anschließend mit denSollprozessen verglichen. Insgesamt könnenVerbesserungspotenziale identifiziert und Hand-lungsempfehlungen abgeleitet werden. DieGestaltung und Steuerung ITIL-basierter Custo-mer-Support-Prozesse werden anhand einesPraxisfalles aus einem Customer-Relationship-Management-System erprobt. Vorgehensmodellund Ergebnisse werden in diesem Beitrag vor-gestellt.

Inhaltsübersicht1 Aufgabenstellung und Zielsetzung2 Grundlagen

2.1 Referenzmodell IT Infrastructure Library (ITIL)

2.2 Process Mining3 Qualitätsmanagement mit ITIL und

Process Mining3.1 Vorgehensmodell der Service Operation

gemäß ITIL3.2 Vorgehensmodell der Service Operation

auf der Basis von Process Mining4 Qualitätsmanagement in der Praxis

4.1 Beschwerdemanagement einer Fluggesellschaft

4.2 Kontinuierliche Serviceverbesserung (KSV)

5 Erkenntnisse6 Literatur

1 Aufgabenstellung und ZielsetzungUnternehmen sehen sich einem immer stärkerwerdenden Wettbewerbsdruck ausgesetzt. DieGlobalisierung und ein schneller technolo-gischer Wandel werden häufig als Treiber dieserEntwicklung angeführt. Um in diesem Umfeldbestehen zu können, benötigen Unternehmenoptimal gestaltete Geschäftsprozesse. Dabeisind nicht einmalig optimierte Geschäftspro-zesse entscheidend, sondern die Fähigkeit,schnell auf neue Entwicklungen reagieren unddie betroffenen Geschäftsprozesse flexibel an-passen zu können. Dabei müssen die Geschäfts-prozesse effektiv durch Informationstechnolo-gien (IT) unterstützt und sichergestellt werden.Referenzmodelle wie ITIL und CobiT (ControlObjectives for Information and related Techno-logy) stellen bewährte Vorgehensweisen (BestPractices) und Kennzahlen zur Gestaltung undSteuerung von IT-Services zur Verfügung [OGC2007c]. Der Einsatz von Referenzmodellen ver-spricht einerseits, die Qualität der IT-Prozessezu erhöhen und die Compliance mit Gesetzenund vertraglichen Vereinbarungen zu erleich-tern [ITGI 2007]. Andererseits müssen dieIT-Prozesse der Unternehmensstrategie undderen Ziele entsprechen. Daher stellt sich fürein Unternehmen die Frage, wie Best Practicesin der spezifischen Unternehmensumgebungimplementiert werden können. Eine weitereHerausforderung besteht darin, die Befolgungder Referenzprozesse zu überprüfen sowie dieEinhaltung der IT-Abläufe im Hinblick auf neue

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oder geänderte Geschäftsprozesse zu gewähr-leisten.

Zunächst benötigen Unternehmen Trans-parenz über ihre IT-Prozesse. In vielen Unter-nehmen ist eine aktuelle Beschreibung der Pro-zesse nur unzureichend gegeben, da die Model-lierung eine zeitaufwendige und teure Aktivitätist. Nicht selten wird das Prozessmodell nacheiner Systemeinführung nicht gepflegt, sodassdas Modell nicht mit der betrieblichen Realitätübereinstimmt. Diese Diskrepanz kann durchdie Nutzung von Process Mining geschlossenwerden, indem sie das in den Informations-systemen (IS) implizit vorhandene Prozesswis-sen extrahiert und in Form von Prozessmodel-len abbildet. Process Mining eröffnet ein Auto-matisierungspotenzial, dessen Nutzung denKosten- und Zeitfaktor der Modellierung nach-haltig verbessern kann. Weiterhin benötigendie Unternehmen Transparenz über die Leistun-gen ihrer IT-Prozesse. Mithilfe von Kennzahlenkönnen die Effizienz und Effektivität der IT-Pro-zesse gemessen werden. Sie zeigen, ob die Errei-chung eines Prozesszieles gefährdet ist. ProcessMining stellt zu den bisherigen Steuerungs-instrumenten die Prozessmodelle zur konti-nuierlichen Verbesserung der IT-Prozesse zurVerfügung. Ein Vergleich der Sollmodelle mitden durch Process Mining gewonnenen Ist-modellen zeigt, ob die IT-Prozesse mit den Ge-schäftsanforderungen übereinstimmen. Die In-formation, wo Abweichungen auftreten, trägtdazu bei, Ursachen für die Veränderungen auf-zuzeigen. Bei der Identifizierung möglicher Ver-besserungspotenziale unterstützen Reifegrad-modelle, die bei der Bewertung der aktuellenSituation helfen und Handlungsalternativenaufzeigen.

Vor diesem Hintergrund untersucht der Bei-trag, wie ein ITIL-konformer Referenzprozessauf der Basis von Process Mining umgesetztund mithilfe von Qualitätskennzahlen ge-steuert werden kann.

2 Grundlagen

2.1 Referenzmodell IT Infrastructure Library (ITIL)

Das Office of Government Commerce (OGC)entwickelt seit 1989 eine prozessorientierteSammlung von Best Practices für die Planung,Steuerung und Verbesserung von IT-Services.Im Mittelpunkt steht die konsequente Ausrich-tung an den Kundenanforderungen. Die ITIL hatsich zu einem internationalen De-facto-Stan-dard entwickelt. In der dritten Version werdendie Inhalte in fünf Büchern [OGC 2007a] geglie-dert, die den gesamten Lebenszyklus von IT-Ser-vices beschreiben; angefangen von der Strate-gie (Service Strategy) über den Entwurf (ServiceDesign) und die Überführung in den Betrieb(Service Transition) bis zum operationellen Be-trieb (Service Operation). Diese Phasen und diedamit verbundenen Aktivitäten unterliegeneinem kontinuierlichen Verbesserungsprozess(Service Improvement).

2.2 Process MiningDie Process-Mining-Technologie kann als einspezielles Data Mining verstanden werden. DieZielsetzung besteht darin, aus großen Datenbe-ständen Prozesswissen zu extrahieren. DenAusgangspunkt bilden Aufzeichnungen derzielgerichteten Ausführung von Prozessen. DasProzesswissen besteht darin, was, wie, wannund wo zu tun war. Dieses Wissen wird in Formvon Prozessmodellen expliziert [Aalst et al.2003; Medeiros et al. 2007]. Process Mining un-tersucht das Prozesswissen aus unterschied-lichen Perspektiven [Dongen et al. 2005]. DerKontrollfluss beschreibt die Reihenfolge, in derdie einzelnen Aktivitäten ausgeführt werden.Eine an die Organisation angelehnte Sichtweiserekonstruiert das Verhalten der Ausführendender Aktivitäten. Die Perspektive Instanz be-trachtet eine konkrete Prozessausführung. ImRahmen unserer Forschung haben wir dieProcess-Mining-Plattform ProM ausgewählt[Dongen et al. 2005].

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3 Qualitätsmanagement mit ITIL und Process Mining

Es soll am Beispiel des Incident-Management-Prozesses beschrieben werden, wie ein ITIL-kon-former Referenzprozess auf der Basis von Pro-cess Mining umgesetzt und mithilfe von Quali-tätskennzahlen gesteuert werden kann.

3.1 Vorgehensmodell der Service Operation gemäß ITIL

Viele Unternehmen mit intensivem Kunden-kontakt nutzen ITIL für die Optimierung ihrerIT-Prozesse. Da in diesem Beitrag der Betriebund die Verbesserung der IT-Services im Mittel-punkt stehen, werden die Lebenszyklen »Ser-vice Operation« und »Service Improvement« be-schrieben. Die Schnittstelle zu den Kunden wirdinnerhalb der Service Operation durch ein Ser-vice-Desk gebildet. Die Aufgaben umfassenAufnahme, Bearbeitung und Überwachung vonSupport-Anliegen. Ziel des Problem Manage-ment ist es, die für das Auftreten von Störungenverantwortlichen Probleme zu identifizierenund zu beheben. Für den Änderungsprozess hatdas Change Management standardisierte Pro-zesse bereitzustellen [OGC 2007c]. Die Publi-kation »Service Improvement« fordert eine kon-tinuierliche Verbesserung der in den Betriebüberführten IT-Services. Um die IT-Prozessesteuern zu können, ist es außerordentlich wich-tig zu verstehen, was und warum etwas ge-messen werden muss. Zunächst geht es darum,mit den Key Goal Indicators (KGIs) und denzugehörigen Sollwerten zu überprüfen, ob diedefinierten Prozessziele (Effektivität) erreichtwerden [ITGI 2007]. Key Performance Indicators(KPIs) definieren Messgrößen, die in Verbin-dung mit Trenddaten aufzeigen, ob die Perfor-mance von Prozessen die Erreichung eines Pro-zesszieles gefährdet (Effizienz). Zu den Kenn-zahlen des Incident Management zählen u. a.die Anzahl der Incidents und die Reaktionszeit.Die permanente Auseinandersetzung zwischendem Ist- und Sollzustand wird in 7 Schritten vor-genommen [OGC 2007b]:

1. Definiere, was gemessen werden soll: Mit derGestaltung der Prozesse sind die Kriterienund Ziele festzulegen, um die Prozesse hin-sichtlich ihrer Qualität, Performance undCompliance zu überprüfen.

2. Definiere, was gemessen werden kann: ImRahmen der Zielvorgaben werden relevanteKennzahlen aus den Anforderungen der Ge-schäftsprozesse, der IT-Ressourcen und demvorhandenen Budget identifiziert.

3. Sammle Daten: Es werden die Daten erho-ben, mit deren Hilfe die Ursachen von Ab-weichungen identifiziert und belegt werdensollen.

4. Bearbeite Daten: Um die Daten von verschie-denen disparaten Quellen in einen vergleich-baren Zustand zu bringen, werden die Datenin einen konsistenten Zustand überführt.

5. Analysiere Daten: Die Kennzahlen werden alsMesspunkte in das Prozessmanagement in-tegriert und periodisch analysiert. Die Datensind jeweils als Trend und in Bezug zum Soll-wert darzustellen. Im Rahmen von Bench-marks wird eine gemeinsame Vergleichs-basis sichergestellt.

6. Präsentiere und nutze Informationen: Die er-forderlichen Korrekturmaßnahmen sind zu-nächst im Unternehmen zu kommunizierenund anschließend nach Kosten-Nutzen-Ge-sichtspunkten hinsichtlich ihrer Ergebnis-wirkung zu beurteilen.

7. Implementiere Korrekturmaßnahmen: Einumfassender Implementierungsplan wirdgemäß den Empfehlungen des ITIL-Bands»Service Transition« erstellt und umgesetzt.Im Anschluss beginnt der Verbesserungspro-zess von Neuem.

3.2 Vorgehensmodell der Service Operation auf der Basis von Process Mining

Abbildung 1 zeigt das Vorgehensmodell auf Ba-sis von Process Mining. Viele Unternehmen ver-wenden für die Ausführung ihrer Customer-Support-Prozesse IS, die auf der Grundlage vonSollprozessmodellen (M2) konfiguriert werden (2).

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Pb

Pa

Pz

MXML

Lu

MXML

EvaluationEngine

La

Lc

Reifegrad -modelle

Sollabläufe, Zielvorgaben

MiningEngine3)

Kennzahlen

Ziele

ITIL

CobiT

ISO

SCOR

pa1

pan

(1) (2) (3) (4) (5) (6)

(M1) (M2) (M3)

…pc1

pcn

AB

C

{A,B}

…pb1

pbn

Redesign1 – geplant2

ProzessmodelleP = {Pa, Pb, …,Pz }

Log-Dateien

Instanzenpa ∈ Pa

ProcessMining

SteuerungReferenzmodell

1) Abstraktionsebene 2) Eigenschaft3) Gegenstand

Ausnahmebehandlung1 – ad hoc 2

Die Prozessmodelle beschreiben formal dieGeschäftsprozesse. Mithilfe von Referenzpro-zessmodellen (M1) erhalten Unternehmen hilf-reiche Hinweise zur Umsetzung eigener Pro-zesse (1). Zu den Referenzmodellen zählen u. a.ITIL, SCOR (Supply Chain Operations ReferenceModel) und CobiT. Zu Beginn einer Prozessaus-führung wird eine Instanz angelegt, die aus ver-schiedenen Aktivitäten, z. B. dem Eingang einerKundenbeschwerde, bestehen kann (3). Die Aus-übung der Aktivitäten wird i.d.R. vom IS proto-kolliert und in Log-Dateien gespeichert (4). Ab-bildung 1 zeigt, dass bis auf Prozess Pb alleInstanzen aufgezeichnet werden. Die Log-DateiLa enthält nur die Aktivitäten A und B. Die ma-nuell ausgeführte Aktivität C wird nicht auf-gezeichnet. Für die Prozessanalyse werden dieLog-Dateien zunächst zusammengeführt undformalisiert. Bei der Formalisierung wird die fürProM erforderliche Mining Extensible MarkupLanguage (MXML) [Dongen & Aalst 2005] ein-gesetzt. Auf Basis der Log-Datei Lu expliziert dieProcess-Mining-Engine unter Berücksichtigungvon Kennzahlen und Zielen das in den Log-Dateien implizit vorhandene Wissen (5) ineinem Istprozessmodell (M3). Die Evaluation-Engine (6) vergleicht die aktuellen Prozesse(M3) mit den Referenz- und Prozessmodellen

(M1, M2). Ziel ist es, kontinuierlich den Grad derÜbereinstimmung (Compliance) zwischen denModellen zu ermitteln. Dadurch können dieProzesse im Hinblick auf Verbesserungspoten-ziale untersucht werden. Zudem erfassen dieim Vorgehensmodell integrierten Reifegrad-modelle das Qualitätsniveau des Customer-Support-Prozesses und geben Handlungsemp-fehlungen zur Verbesserung der Prozessquali-tät. Je nach Abstraktionsstufe kann eine Anpas-sung auf der Modellebene (M1, M2) oder auf derInstanzebene erforderlich werden.

4 Qualitätsmanagement in der Praxis

4.1 Beschwerdemanagement einer Fluggesellschaft

Es wird das Beschwerdemanagement einerdeutschen Fluggesellschaft untersucht, die fürdie Bearbeitung ihrer Beschwerden das Interac-tion Center (IAC) des SAP CRM-Systems ein-setzt. Die Applikation ermöglicht die Erfassungvon Interaktionen zwischen Geschäftspartnern.Interaktionen werden als Aktivitäten erfasstund umfassen Services wie z. B. das Auslösen ei-ner Zahlungsanweisung. Neben der Beschwer-debeschreibung können weitere Informationenwie z. B. Ansprechpartner, Bearbeitungsstatus

Abb. 1: Vorgehensmodell der Service Operation auf der Basis von Process Mining

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oder eine Priorität erfasst werden. Der Prozessbeginnt mit dem Eingang einer Kundenbe-schwerde. Ist es möglich, die Beschwerde mit-hilfe einer vordefinierten Regulierungsprozedurzu lösen, wird die Aktivität »CommunicationOperation« angelegt, ein Antwortschreiben anden Geschäftspartner ausgelöst und der Vor-gang beendet. Ist eine detailliertere Bearbei-tung erforderlich, wird in Abhängigkeit des Be-schwerdegegenstands eine Aktivität der Kate-gorie »Customer Relations«, »Lost & Found«oder »Customer Payment« angelegt. Beschwer-den über verlorene oder aufgefundene Gegen-stände werden z. B. von »Lost & Found« bearbei-tet. Ist eine übergreifende Bearbeitung erfor-derlich, wird die Beschwerde weitergeleitet,indem im System eine Folgeaktivität erzeugtwird.

4.2 Kontinuierliche Serviceverbesserung (KSV)

Die KSV wird mit der von ITIL empfohlenen7-Schritt-Vorgehensweise unter Nutzung vonProcess Mining angestrebt.

1. Zu den strategischen Herausforderungender Fluggesellschaft gehört ein erfolgreichesKundenmanagement. Die in den Kundenbe-schwerden enthaltenen Hinweise auf vorhan-dene Qualitätsmängel bieten Potenzial, dieKundenzufriedenheit zu erhöhen. Eng damitverbunden ist das Ziel, die Beschwerdebearbei-tung zu optimieren, um den Umgang mit Be-schwerden zu vereinfachen und zu standardi-sieren. Daher soll Folgendes gemessen werden:

! Der Umfang der ITIL-Compliance des IT-Ser-vice »Beschwerdemanagement«

! Der Reifegrad des IT-Prozesses

2. Es stehen 3 Modelle zur Verfügung: ein an dieITIL angelehntes Referenzmodell (M1), einSollmodell, das der Zielsituation der Fluggesell-schaft entspricht (M2), und ein Istmodell, dasdie Beschwerdeabwicklung im CRM-System wi-derspiegelt (M3).

! Aussagen über die Compliance werden je-weils aus dem Vergleich zweier Modelle ge-wonnen. Der Vergleich des Referenzmodellsmit dem Sollmodell (M1, M2) liefert Aussagenüber den Grad der ITIL-Compliance. Auch De-fizite in Referenzmodellen können ermitteltund kommuniziert (Community) werden. DerVergleich des Referenzmodells mit dem Ist-modell (M1, M3) erlaubt zusätzlich eine Analy-se der technischen Reife der IT-Prozesse. EineBewertung des Service-Desks wird durch denVergleich des Soll- mit dem Istmodell (M2, M3)ermöglicht.

! Der Reifegrad wird mithilfe des Reifegradmo-dells auf Basis des CobiT-Prozesses »ManageService Desk and Incidents« [ITGI 2007] be-wertet. Das Modell besteht aus 6 Phasen(0-5), die in Abbildung 4 dargestellt sind. Ausdem Ergebnis der Compliance-Analyse kanndie aktuelle Situation abgeleitet und derangestrebten Situation gegenübergestelltwerden. Aus den Abweichungen könnenHandlungsalternativen zur Verbesserung derProzesse definiert werden.

3. Entsprechend der konzeptionellen Ansätzeder ITIL ist das Referenzmodell (vgl. Abb. 2, Mo-dell M1) für die Beschwerdeabwicklung in Formeiner EPK abgeleitet worden. Zu den Funktionenzählen u. a. »Incident erfassen«, »zuständigenMitarbeiter zuordnen«, »Incident kategorisie-ren« und »Incident priorisieren«. Das Sollmodellist manuell in Form einer EPK in Abstimmungmit der Fluggesellschaft modelliert worden (vgl.Abb. 2, Modell M2). So ist z. B. eine Online-Be-schwerdeerfassung geplant. Das Istmodell sollmit Process Mining erstellt werden. Da das In-teraction Center (IAC) keine Logging-Funktiona-litäten unterstützt, müssen alle Aktivitäten undderen Abhängigkeiten im CRM-System identifi-ziert werden, die zu einem Beschwerdefall ge-hören.

4. Aus den selektierten Beschwerden wer-den entsprechend den in [Weber et al. 2007]aufgeführten Process-Mining-AnforderungenEreignisse generiert und in das MXML-Format

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übersetzt. Die Extraktion des Prozessmodellserfolgt mit dem »Genetic Algorithm Plugin«[Medeiros et al 2007]. Jeder Prozessknoten inAbbildung 2 (Modell M3) zeigt ein Ereignis mitdem Bearbeitungsstatus und der Auftrittshäu-figkeit. Die Knoten sind mit gerichteten Kantenverbunden, die die Abhängigkeiten angeben.Vorbereitend für die Compliance-Analyse wer-den die vorliegenden Modelle in ProM in Petri-netze konvertiert. Anschließend wird ein Map-ping zwischen den Ereignissen vorgenommen,da die Ereignisse in verschiedenen Granulari-täten vorliegen.

5. Es wird das ProM-Plugin »ConformanceChecker« [Rozinat & Aalst 2008] verwendet, umdie Compliance zu quantifizieren. Mithilfe derFitnessfunktion wird analysiert, wie gut dasVerhalten einer Log-Datei im Prozessmodell re-produziert werden kann. Das Ergebnis variiertzwischen 0 und 1. Je größer der Wert ist, destomehr Verhaltensweisen können reproduziertwerden.

Abbildung 3 zeigt den Vergleich zwischenM2 und M3. Die positiven Zahlen in den Kreisengeben an, wie häufig Aktivitäten (dunkelgrau)nicht ausgeführt worden sind, obwohl sie hät-ten ausgeführt werden sollen. Die negativenZahlen liefern die Anzahl der Aktivitäten, dieausgeführt worden sind, obwohl die Ausfüh-rung nicht vorgesehen war (hellgrau). Weißdargestellte Aktivitäten sind in der Log-Dateinicht vorhanden. Die Zahl auf den Kanten gibtdie Gesamtzahl der Ausführungen an. Die Akti-vität »Problem mit vordef. Code klassifizieren«ist z. B. 858-mal ausgeführt worden. In 687 Pro-zessen wird die Klassifizierung nicht ausge-führt. 843-mal ist klassifiziert worden, obwohldiese Aktivität nicht vorgesehen war (-843).Zieht man von den ausgeführten Aktivitätendie ausgelassenen Aktivitäten ab und addiertdiejenigen, die abweichend von dem Modellausgeführt worden sind, erhält man dieSumme der ausgeführten Vorgängeraktivi-täten: 858-843+687 = 702.

Abb. 2: Modellhierarchie für das Beschwerdemanagement

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Die Fitness von (M2, M3) beträgt 0,005, von (M1,M3) 0,39 und von (M1, M2) 0,25. Diese absolutenZahlen sind wenig aussagekräftig. Sie lassennur die Erkenntnis zu, dass die Modelle starkvoneinander abweichen. In der Literatur gibt esaufgrund fehlender Praxisbeispiele keine Refe-renzwerte für einen Benchmark. Ein Versuchzeigt, dass sich die Kennzahl signifikant von0,39 auf 0,6 verändert, wenn die Reihenfolgezweier Aktivitäten im Referenzmodell ver-tauscht wird. Die Fitnesswerte werden als Refe-renzwert für weitere Vergleiche dienen. Mit Zu-nahme der technischen Reife des IS wird eineAnnäherung der Modelle erwartet. Trotzdemliefert der Vergleich wertvolle Informationen.Insbesondere ist die hohe Anzahl an weißenAktivitäten festzustellen. Dies ist darauf zurück-zuführen, dass das Sollmodell geplante Aktivi-täten beinhaltet. So werden zurzeit viele Akti-vitäten manuell durchgeführt, die später durcheine geplante Online-Erfassung vom Kundendirekt im System vorgenommen werden. DieAnalyse lässt erkennen, dass die Beschwerdenweder priorisiert noch weitergeleitet werden.Es wird nicht erfasst, wie und ob eine Lösunggesucht wird. Die Ergebnisse fließen als ersteEinschätzung über die aktuelle Situation in dasReifegradmodell ein.

6. Die notwendigen Maßnahmen zur Erhö-hung des Qualitätsniveaus sind im Rahmeneines Workshops im Unternehmen erarbeitetworden. Nach der Verabschiedung der vorlie-

genden Analyse werden weitere Maßnahmeneingeleitet. Mithilfe der gewonnenen Transpa-renz über die IT-Prozesse werden die Erhöhungder Standardisierung, die Integration von Pro-cess Mining sowie die Optimierung der Steue-rungsmöglichkeit der IT-Services angestrebt.

7. Eine Anpassung der Software ist hinsicht-lich der Definition von Eingabefeldern geplant,die von den Agenten des IAC unbedingt auszu-füllen sind. Weiterhin sollen Änderungen imSystem in Form von Änderungsbelegen auf-gezeichnet werden, um die Fortschreibung rele-vanter Ereignisse zeitgerecht protokollieren zukönnen.

5 Erkenntnisse

Ein Vorgehensmodell zur Steuerung der Quali-tät der IT-Prozesse ist mithilfe von Process Mi-ning und ITIL anhand eines Praxisbeispiels er-probt worden. Die Prozessmodellierung mitProcess Mining erlaubt eine objektive und auto-matisierte Feststellung der Istsituation, derenNutzung den Kosten- und Zeitfaktor der Model-lierung nachhaltig verbessern kann. Die neu-trale Aufnahme ist die Voraussetzung für einenautomatisierten Vergleich der Ist- und Sollsitua-tion auf der Basis von Prozessmodellen. DieFluggesellschaft erhält mithilfe des Vorgehens-modells Transparenz über ihre aktuellen Custo-mer-Support-Prozesse. Die Prozesse werden an-hand von Qualitätskennzahlen kontinuierlich

Abb. 3: Das Plugin »Conformance Checker«

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Qualitätsmanagement zur Steuerung von IT-Prozessen

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0 - Nicht-existent

1 - Initial

2 - Intuitiv

3 - Definiert

4 - Ausgeführt

5 - Optimiert Automatisierung und Optimierunghin zum Best-Practice-Niveau

Überwachung und Messung von Prozessen; folgen Best Practices

Standardisierte und in Schu-lungen kommunizierte Prozesse

Gleichartige Verfahrensweisen existieren; stark personenbezogen

Bedarf identifiziert, aber nur Ad-hoc- und Individuallösungen

Kein Prozess erkennbar; Bedarf wird nicht gesehen

Aktuelle Situation (M3) Zielsituation (M1, M2)

bewertet und mithilfe von Reifegraden einge-ordnet. Es werden qualitätshemmende und-steigernde Faktoren in den IT-Abläufen er-kannt. Das Unternehmen nutzt die Complianceals Indikator bezüglich der Relevanz, Anwend-barkeit und Umsetzbarkeit der ITIL-Referenz-prozesse. Maßnahmen zur Prozessverbesse-rung tragen zu einer Optimierung der Qualitätder IT-Prozesse bei. Zusammenfassend könnenfolgende Nutzenpotenziale beschrieben wer-den:

! Transparente Customer-Support-Prozesse! Steuerung der Prozessqualität durch quanti-

fizierbare Informationen! Messbarer Einsatz über den Umfang der um-

gesetzten Referenzprozesse! Verbesserung des Qualitätsniveaus auf Basis

eines Reifegradmodells

Die folgenden Maßnahmen erwiesen sich indem betrachteten Unternehmen als kritisch fürdie technologische Umsetzung der Best Practi-ces auf Basis von Process Mining:

! Es gibt Daten, die außerhalb der Reichweitevon Process Mining liegen. So werden ma-nuell ausgeführte oder nicht aufgezeichneteAktivitäten nicht im Vorgehensmodell be-

rücksichtigt und beschränken die Aussage-kraft der Istprozessmodelle und der Compli-ance-Analyse.

! Aufgrund fehlender Praxisbeispiele existierenkeine Benchmarks zur Interpretation der Fit-ness.

! Referenz- und Prozessmodelle liegen i.d.R. inunterschiedlichen Granularitäten vor. EinMapping wird nicht ausreichend unterstützt,sodass ein Vergleich zurzeit nur mit hohemmanuellem Aufwand möglich ist.

! Es liegt eine Überbetonung in der Einhaltungder Reihenfolge der ausgeübten Aktivitätenvor. Best-Practices entstehen, indem ExpertenVorgehensweisen beobachten und diese ab-strahieren, um generische Empfehlungendaraus abzuleiten. Diese Vorgehensweisemuss jedoch nicht für ein spezielles Unter-nehmen zwingend sein.

Der Einsatz von Process Mining erfordert Pro-zesse, denen sogenannte »Fälle« zugrunde lie-gen. Ein Fall setzt sich aus einer Sequenz vonAktivitäten zusammen, zwischen denen Ab-hängigkeitsbeziehungen bestehen. Das Vor-gehensmodell kann daher nur auf »fallorien-tierte« Prozesse übertragen werden. Aufgrundder gewonnenen Erkenntnisse soll das Vorge-

Abb. 4: Reifegradmodell »Manage Service Desk and Incidents«

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hensmodell bei weiteren Prozessen eingesetztwerden, um dessen Allgemeingültigkeit zu er-härten.

6 Literatur[Aalst et al. 2003] van der Aalst, W. M. P.; van Don-

gen, B. F.; Herbst, J.; Măruşter, L.; Schimm, G.;Weijters, A. J. M. M.: Workflow Mining: A Surveyof Issues and Approaches. 2003, S. 237-267.

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[Dongen et al. 2005] van Dongen, B. F.; de Medeiros,A. K. A.; Verbeek, H. M. W.; Weijters, A. J. M. M.;van der Aalst, W. M. P: The ProM Framework: ANew Era in Process Mining Tool Support. Miami,USA, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2005,S. 444-454.

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[OGC 2007b] Office of Government Commerce: Ser-vice Improvement. Stationery Office Books, Lon-don, 2007.

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[Weber et al. 2007] Weber, B.; van Dongen, B. F.;Pesic, M.; Günther, C. W.; van der Aalst, W. M. P.:Supporting Flexible Processes Through Recom-mendations Based on History. 2007.

Dipl.-Betriebswirtin (FH) Kerstin GerkeSAP AGSAP Research, CEC DresdenChemnitzer Str. 4801187 [email protected]

Prof. Dr. Gerrit TammHumboldt-Universität zu BerlinInstitut für WirtschaftsinformatikBerliner Forschungszentrum Ko-RFID(Kollaboration und RFID)Spandauer Str. 110178 [email protected]://iwi.wiwi.hu-berlin.de