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Gedanken aus Schwerkraftland Prosafragmente und Erzählungen von Alexander Graeff Illustrationen von Guglielmo Manenti

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Lesend und schauend tun sich in Graeffs Texten Welten auf, die sonst unter der Alltagsober­fläche verborgen liegen oder gar ein noch heimlicheres Dasein in tieferen Schichten des Ichs führen. … Der Autor spielt mit Assoziationen und Erinnerungseinbrüchen, welche die Realität für die Dauer der Geschichte an den Rand drängen, ohne jedoch das Alltägliche gänzlich aus den Augen zu verlieren. http://www.belletristik-berlin.de/gedanken-aus-schwerkraftland

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Gedanken aus SchwerkraftlandProsafragmente und Erzählungen von Alexander Graeff

Illustrationen von Guglielmo Manenti

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»Lesend und schauend tun sich Welten auf, die sonst unter der Alltagsober-

fläche verborgen liegen oder gar ein noch heimlicheres Dasein in tieferen Schichten des Ichs führen. Alexander Graeff spielt mit Assoziationen

und Erinnerungseinbrüchen, welche die ›Realität‹ für die Dauer der Geschichte an den Rand drängen,

ohne jedoch das ›Alltägliche‹ gänzlich aus den Augen zu verlieren. Ein besonders gelungenes Beispiel für

das locker verwobene Netz von Alltag und Transzen-denz, Exotik und allzu Vertrautem.« Anja Kümmel

»In einer vermeintlich alltäglichen Umgebung bricht – nein, kein phantastisches Element, sondern geradezu

ein metaphysisches ein. Statt eine herkömmliche Handlungslinie zu zeichnen, schaut Graeff

hinter das vermeintlich Normale.« Dominik Irtenkauf

»Fragmentarische, experimentelle Kurz-Prosa, die sich an ein Publikum wendet, das das Unge-

wöhnliche sucht und auch bei der Lektüre mit Traditionen brechen möchte.«

Irene Salzmann

Q 04

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Gedanken aus Schwerkraftland

Prosafragmente und Erzählungen von Alexander GraeffIllustrationen von Guglielmo Manenti

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Kindsein

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Er hat ein Kind. Also, er besitzt es nicht, es gehorcht ihm ja nicht einmal. Ich rede von einem, nennen wir ihn: Nachbarn. Dieser Nachbar erzählte mir, dass er sich zwar bereit dazu fühle, ein Kind zu erziehen, aber an der Praxis scheitere. Warum erzählte er mir das?Sein Bild von einem Kind sei von den Erinnerungen an die eigene Kind-heit geprägt. Er betonte, dass mit der verklärten Erinnerung irgendwann Schluss sein müsse. Er legte die eigene Kindheit ab, wie einen Mantel. Er konnte das Kindsein nicht begreifen.

Neulich besuchte ich meinen Freund Anton in seinem Gebraucht-warenladen. Wir saßen zwischen dem Unrat, den Anton Antiquitäten nennt, und tranken eine Tasse Kaffee. Das grüne Licht der Lampe regte zum Nachdenken an: Ich erinnerte das Gespräch mit dem Vater, jenem Nachbarn, der das Kindsein nicht begreifen konnte. Gedankenverloren fragte ich Anton, ob er Kinder habe. Er tat sich damit schwer, so wollte er wissen, wie ich auf diese Frage käme. Ich berichtete von dem Gespräch mit dem Vater, minderte aber zugleich die Situation, indem ich mich über den Rededrang des Vaters amüsierte. Einfach hatte es der Vater nicht. Sein Kind war nämlich ein kleiner Zerstörer, zumindest berichtete er mir das. Auf meine Frage hin, ob dies nicht etwas übertrieben sei, erntete ich nur überhebliches Lachen. Immer wenn der Vater so lacht, lacht er in sich hinein, nicht aus sich heraus. Er befreit sich nicht von dem schrecklich amüsanten Gefühl, sondern bestätigt seine verkopften Strategien. Er unter-mauert mit dem Lachen das Bild, das er im Kopf trägt: Sein Kind ist eine wahre Plage! Anton unterbrach mich: »Tun das nicht alle Kinder?«Ich hielt inne. Der Vater hielt inne. Wir überlegten.

Nein, nicht alle Kinder bringen die Eltern an den Rand der Verzweiflung. Es gebe auch wohlerzogene. Er, der Vater, sei wohlerzogen gewesen. Erneut langes Nachdenken. Ja, er sei ein wohlerzogenes Kind gewesen, da war sich mein Nachbar sicher. Er war mehr der schüchterne Typ. Sein Kind sei draufgängerisch.

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Das fand er paradox. Dem Vater schien es, als wolle sein Kind alles, wofür er stand — also die Ordnung zu Hause und anderswo — zerstören, rücksichtslos zertreten. Das Kind lege es darauf an, triumphierend einen Tanz auf jenem Scherbenhaufen zu veranstalten, unter dem seine Eltern begraben lägen. Meine Zeit war knapp, ich trennte mich von dem Vater.Anton fand den Vergleich paradox, nicht das gegensätzliche Gemüt von Kind und Vater. Schließlich ist der Vater selbst Kind. Das machte mich wütend. Das war eine Wut, die sich nicht an ihrer Ursache reibt. Das war eine Wut, vergleichbar mit dem Gefühl, das mich überkommt, wenn sich der Dalmatiner aus dem dritten Stock dann im Treppenhaus schütteln muss, wenn er einen ausgiebigen Regenspazier-gang hinter sich hat und ich gerade die Treppe herunter komme. Diese Wut ist kein Groll auf den Dalmatiner, sondern mehr eine unbändige Wut, die dem Hundehalter gilt. Genauso entsteht die Wut auf das eigene Kind, auf die nachfolgende Generation, obwohl es eine Wut ist, die das eigene Wesen betrifft, weil man selbst Kind ist. »Ich bin wütend auf mein Kind«, das bestätigte auch mein Nachbar. Aber nicht nur Eltern hegen derartige Empfindungen, auch die Kinder em-pfinden ähnlich. Zumindest dann, wenn sie lernen zu begreifen, wie sie sein sollen. Hier liegt das Problem: Sollte das Kind das verstanden haben, nimmt es Stellung dazu. Meistens ist es Abwehr. Das macht mich wütend. Wenn Kinder auf ihre Eltern und Väter und Mütter auf ihre Kinder wütend sind, dann nähern wir uns doch einem grandiosen Chaos. Einem gigan-tischen Scherbenhaufen, der Antons Gerümpel in seinem Gebraucht-warenladen an Unordnung noch übertrifft. So wie jene Gegenstände vergangener Tage in Antons Gebrauchtwarenladen wahllos umherstehen, liegt auch die Beziehung zwischen den Generationen, nach unzählbaren Kämpfen, in Scherben. Das sind Kämpfe um die Vorstellungen jener Kinder, die beginnen, selbst zu denken, selbst zu handeln.

Anton nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse, dann intonierte er: »Sie pflügen die Zeitalter!« Das feierliche Pathos in seiner Stimme wirkte sphärisch, irgendwie unwirklich.

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»Wir sind selbst Teil der Wut auf unsere Eltern. Sie verkörpern ihre Gene-ration, engen ein, zementieren Fundamente. Jedes Kind lehnt sich dagegen auf!« Aber warum ist diese Beziehung so beschaffen? Anton meinte, dass es der kindliche Drang zum Anderssein sei, der Väter und Mütter von ihren Kindern unterscheide, grundlegend, unwiderruflich und überzeitlich. Die Eltern sind schon anders, das Kind muss es noch werden.Aus dem kleinen, hilflosen Säugling, der auf den Schutz der Eltern angewie-sen ist, entpuppt sich das zerstörende, stets kritisierende Monster, welches weder Ordnungen kennt, noch Ordnungen akzeptieren kann. Nur so wird es zu dem, was kindgemäß ist: Es findet zu sich selbst. Doch, halt! Ist es denn wirklich so, dass das Kind keine Ordnung akzep-tieren kann? Ist das Wesen des Kindes so einfach zu beschreiben, als dass dies ein Gebrauchtwarenhändler bei einer Tasse Kaffee tun könnte? Das Kind errichtet eigene Ordnungen. Das Chaos ist nur eine schöpferische Quelle, der das Kind als Mensch entsteigt. Vergleichbar mit einer Königin, die sich selbst krönt: Es weiß seine eigenen Strukturen zu errichten. Das muss es tun, um zu werden.

Das Wesen des Kindes ist komplex; es strebt, findet aber kein Ziel. Letztlich aber bleibt es ein tanzender Gott, ein kreativer Tod und ein lachender Geist, im Kern gespalten, im Kern entzweit. Das Kind zeichnet die Grenzen der Generation neu. Nicht mit technischer Genauigkeit, sondern mit Hilfe eines dicken Wachsmalstiftes verwandelt es die vorge-nerationalen Institutionen in bunte Schöpfungen. Ohne den ängstlichen Blick in die Zukunft zu kultivieren, wie es die Eltern tun, werden zarte Strukturen kategorieloser Empfindung aus dem Chaos erschaffen. Es sind die artikulierten Erwartungen, die Appelle vieler Väter und Mütter, die der Kindeskraft den Garaus machen. Es ist die abgründige Zukunftslo-sigkeit der jungen Generation, die einen in düsteren Zukunftsvisionen die wahre Aufgabe des Kindes übersehen lässt. Denn nur das Kind offen-bart und erfüllt die Zukunft, nicht die Eltern. Das Kind ist Tod, Wut und Schöpfung.

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Anton antwortete nicht. Meine Frage blieb offen. Der Vater blickte unter sich, schüttelte leicht den Kopf, wünschte einen schönen Tag und ging langsam die Treppe hinauf. »Ich war dieses Kind, habe dasselbe erlebt, dieselben Schlachten schlagen müssen.«, flüsterte er.

Jetzt weiß ich auch, warum meine Hände zittern, wenn ich in der U-Bahn versuche, bestimmte Zeilen in Bretons Surrealistischen Mani-festen zu markieren. Bisher erklärte ich mir die gekritzelten Linien immer mit der schlechten Schienenlage der Untergrundbahn. Doch es ist ein seelischer Tremor, welcher mich erzittern lässt, wenn ich mit mir selbst ringe — stille Kämpfe führe: Meine heutige Lebenssituation gegen den kindlichen Wahnsinn! Beim Lesen denke ich an die Bilder der Kind-heit, während doch eigentlich kein Platz dafür ist. Ich bin erwachsen.

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